Schulabsentismus aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht Prof. Dr. Katja Becker Philipps-Universität Marburg & Universitätsklinikum UKGM, Marburg Fachtagung „Phänomen Schulverweigerung“, 13. April 2011, Marburg Bild von Schulklasse/Schülern mit psychischen Störungen abrufbar auf der Homepage der Stiftung Achtung! Kinderseele http://www.achtung-kinderseele.org/psychische-storungen/psychische-storungen Begriffe • Schulverweigerung impliziert die willentliche Entscheidung des Schülers nicht mehr die Schule zu besuchen und macht damit Annahmen über die Ursachen der Abwesenheit • Schulabsentismus deskriptiver, sagt aus, dass Schüler Schule nicht mehr besucht (1) entschuldigtes Fehlen wegen körperlicher Erkrankungen oder (2) unentschuldigtes Fehlen auf Grund von Umfeld-, sozialen, psychiatrischen oder anderen Bedingungen* Kearney 2008 Gründe fürs Fernbleiben von der Schule • Schulverweigerung impliziert die• ökonomische willentliche Entscheidung des Schülers nicht Gründe mehr die Schule besuchen undvon macht damit Annahmen • zur zu Verheimlichung Misshandlungsfolgen über die Ursachen der Abwesenheit • zur Verhinderung der Entführung durch Expartner/in • zum Schutz des Kindes vor Übergriffen oder Bedrohungen in Schule • Schulabsentismus Kindaus, mussdass (psychiatrisch) erkranktem deskriptiver,• sagt Schüler Schule nicht mehr Elternteil zuhause helfen besucht (1) entschuldigtes Fehlen wegen körperlicher Erkrankungen oder (2) unentschuldigtes Fehlen auf Grund von Umfeld-, sozialen, psychiatrischen oder anderen Bedingungen* Kearney 2008, Kearney 2004 Kind besucht Schule mit Auffälligkeiten (somatoforme Beschwerden, Wutausbrüche) Kind geht morgens zwar zur Schule, verlässt diese aber wieder während Schulzeit Kind geht tageweise nicht mehr zur Schule Kind geht überhaupt nicht mehr zur Schule Fehlen wegen körperlicher Erkrankungen • 8,3% der 0-17jähr. leiden an Asthma und 14,7 Mio Schultage wurden im Jahr 2002 wegen Asthma verpasst • Kinder und Jugendliche mit Asthma fehlen 1,5 bis 3mal häufiger in der Schule • die Wahrscheinlichkeit, dass Schüler mit Asthma in der Schule fehlen ist größer, wenn sie - jünger sind - in armen Verhältnissen leben - weniger gut medizinisch versorgt sind - in einer Umgebung leben mit Staub, Schimmel u.ä... - die Mutter ebenfalls an Asthma leidet - niedrigere Lebensqualität haben - exponiert sind gegenüber Zigarettenrauch Center for Disease Control and Prevention 2004 Kearney, 2008 Schulabsentismus Schulverweigerung ≈ Schulabsentismus „Schulphobie“ „Schulangst“ Schulschwänzen „fremdgesteuerte Trennungsangst Angst vor aversiven Schulunlust mit Schulversäumnisse“ Erfahrungen in der Schule Überwechseln in (Ricking, 2003; lustbetonte Kearney 2008) Verhaltensweisen „nicht-dissoziale Schulverweigerung“ / „angst-assoziierte Schulverweigerung“ oft im Rahmen einer Störung des Sozialverhaltens Angststörungen nach Quaschner, 2010 Psychiatrische Diagnosen bei Schulabsentismus Schüler mit angst-assoziertem Schulabsentismus wiesen in 24,5% eine kinderpsychiatrische Diagnose auf ● Depression 13,9% ● Trennungsangst 10,8% ● oppositionelle Störung 5,6% ● Störung des Sozialverhaltens 5,0% ● soziale Phobie 3,2% ● generalisierte Angststörung 2,2% Schüler mit Schulschwänzen wiesen in 25,4% eine kinderpsychiatrische Diagnose auf ● Störung des Sozialverhaltens 14,8% ● oppositionelle Störung ● Depression ● Substanzabusus 9,7% 7,5% 4,9% Egger et al., 2003 Wichtige Fragen bei Schulabsentismus 1.) Wo ist das Kind bei Abwesenheit von der Schule? 2.) Ängste? Fokus der Ängste: Angst vor der Trennung vs. Angst vor der Schule Machen sich Trennungsängste auch in anderen Situationen bemerkbar? Ist die Symptomatik schlimmer nach dem Wochenende und nach den Ferien? Hinweise auf Leistungsängste? Schulische Überforderung? Gibt es Hinweise auf Angst vor dem Lehrer? Gibt es Hinweise auf Angst vor Mitschülern? 3.) Wie verhält sich das Kind in der Familie? 4.) Krankschreibungen? Art der körperlichen Beschwerden? 5.) Ferngehalten durch Eltern? 6.) Disziplinschwierigkeiten, dissoziale Symptome? Spezifische Phobie Trennungsangst* Generalisierte Angststörung Soziale Ängste* Panikstörung Leistungsängste, Angst vor Versagen Angst vor Mitschülern Emotionale Störung mit Trennungsangst ICD-10 F93.0 • unrealistische und anhaltende Besorgnis über - mögliches Unheil, dass Hauptbezugspersonen zustoßen könnte, oder über möglichen Verlust (z.B. Furcht, dass sie weggehen und nicht mehr wiederkommen könnten) - dass ein unglückliches Ereignis das Kind von der Hauptbezugsperson trennen würde (z.B. dass das Kind verloren gehen, gekidnappt oder getötet werden könnte) • aus Angst vor Trennung resultierende, andauernde Abneigung oder Weigerung die Schule zu besuchen • Trennungsschwierigkeiten am Abend (mit z.B. anhaltender Abneigung ins Bett zu gehen, ohne dass Hauptbezugsperson dabei ist oder Aufstehen nachts, um Anwesenheit der Hauptbezugsperson zu überprüfen) (1) Emotionale Störung mit Trennungsangst ICD-10 F93.0 • anhaltende unangemessene Furcht, allein ohne Hauptbezugsperson zu Hause zu sein • wiederholte Alpträume zu Trennungsthemen • wiederholtes Auftreten somatischer Symptome wie Übelkeit, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Erbrechen bei Trennung von einer Hauptbezugsperson (z.B. vor Schulbesuch) • Extremes und wiederholtes Leiden in Erwartung, während oder unmittelbar nach der Trennung von einer Hauptbezugsperson • Beginn vor 6. Lebensjahr (2) Störung mit sozialer Ängstlichkeit bzw. Soziale Phobie - phobisch besetzte Situationen sind prüfendes Betrachten, Kritik, Angesprochen-werden - Symptomatik kann – situationsabhängig – auch Bekannte betreffen - vegetative Begleitsymptome: Erröten, Zittern, Weinen, Übelkeit mit Brechreiz, Harndrang, Stuhldrang - Paniksymptome: Herzrasen, Brustschmerz, Erstickungsgefühl, Schwindel, Depersonalisation, Derealisation Psychopathologische Faktoren • dissoziale Tendenzen: Tendenzen Fernbleiben vom Unterricht und Aufsuchen attraktiverer Orte bzw. Nachgehen interessanterer Tätigkeiten • Störungen im Arbeits- und Leistungsverhalten: Leistungsverhalten Schule, Anstrengung und Leistung werden als aversiv erlebt und deswegen vermieden • depressiv-apathische Tendenzen: Tendenzen überwiegend negative Sicht von sich selbst und der Zukunft und erlebt Schule als sinnlos. Reagiert mit Apathie und kann sich nicht mehr überwinden zur Schule zu gehen • Leistungsängste: ngste mündliche Leistungen oder schriftliche Tests sind so angstbesetzt, dass der Schüler diese Situation meidet Döpfner, 2005 Psychopathologische Faktoren • Soziale Ängste: ngste Ängste vor Lehrern und/oder Mitschülern, hindern den Schüler daran in die Schule zu gehen • Trennungsängste: ngste aufgrund von Ängsten, dass ihm selbst oder den Eltern etwas passieren könnte, gelingt es dem Schüler nicht, sich von den Eltern zu trennen • andere Ängste: ngste der Schüler geht nicht zur Schule aus Angst vor einer plötzlichen Panikattacke, die unvermittelt auftreten könnte (Panikstörung) oder aus Angst vor Kontrollverlust auf dem Schulweg oder in der Schule oder weil er vor einem spezifischen Objekt Angst hat (z.B. Hundephobie; und Hund auf Schulweg) Döpfner, 2005 Wie entwickeln sich Angststörungen? Schulbezogene Angststörungen - im Vorfeld häufig Schüchternheit oder Ängstlichkeit - Gefühl geringer Selbsteffektivität wirkt verstärkend - überprotektive Erziehung wirkt verstärkend - ungünstige Lehrer-Schüler-Beziehung - allgemeine oder spezifische Leistungsschwächen, soziale Defizite - Manifestation bei Erreichen der Leistungsgrenzen - Generalisierung bis zur Schulvermeidung Döpfner, 2000 Behandlungsprinzipien Oberstes Ziel Schulbesuchs möglichst rasche Wiederaufnahme des • multimodales, auf den Einzelfall zugeschnittenes Behandlungskonzept (kognitive, behaviorale, ggf. medikamentöse u. umfeldbezogene Interventionen) • stationäre Behandlung: schrittweises Heranführen an regelmäßigen Schulbesuch • enge Kooperation der an der Behandlung Beteiligten (Arzt/Psychotherapeut, Lehrer, 2te Chance, Jugendamtmitarbeiter, SPFH, Jugendhilfemitarbeiter…) • schlüssiges, plausibles Störungs- und Behandlungsmodell für Patient und Eltern • Rückfallprophylaxe und Stabilisierung im Lebensumfeld (u.U. auch Unterbringung in Jugendhilfeeinrichtung, ggf. mit interner Beschulung) nach Elliot, 1999 Suhr-Dachs & Döpfner 2005, zitiert bei Steinhausen 2010 Gestufte Behandlung Behandlungskonzept in Form eines Stufenplans • umschriebener ambulanter Behandlungsversuch (deutliche Symptomlinderung innerhalb weniger Wochen) wenn nicht ausreichend: • stationäre Intensivphase • teilstationäre sowie ambulante Nachbehandlung • bei Rezidiven ggf. erneute Aufnahme (bei ausgeprägten Störungen sinnvoll auch z.B. zwei Tage vor Ende Sommerferien Aufnahme und Unterstützung bei Schulstart nach Ferien!) mod. nach Walter, 2010 Stationäre Aufnahme …ohne ambulanten Vorversuch • Fernbleiben aus der Schule länger als sechs Monate • keine Änderungsmotivation seitens Kind/Jugendlichen • hohe Einbindung der Eltern/Hilflosigkeit der Eltern Interventionen Trennungsangst Therapieziel Überwinden der Trennungsangst, so dass außerfamiliäre Alltagsanforderungen (z.B. Schulbesuch) wieder möglich sind Methodik und zu wählendes Setting u.a. abhängig von Schweregrad der Störung, Alter des Kindes und familiärem Umfeld Ansatzpunkte der Interventionen Kind Eltern Eltern-Kind-Interaktionen Behandlungsregeln bei Trennungsangst • die Trennung ist phobisch besetzt, dass muss immer wieder verdeutlicht werden • manche Eltern, die in symbiotischer Beziehung mit ihren Kindern leben, bedürfen einer individuellen Behandlung, die mit der Behandlung der Trennungsangst des Kindes nicht vermischt werden sollte • Kindern Trennung zumuten, stärkt ihre Autonomie, heißt ihnen etwas zutrauen • irrationale Erziehungsregeln („mein Kind soll angstfrei aufwachsen“) sind bezüglich dieser Trennungsangst außer Kraft zu setzen Therapie der Trennungsangst 1.) keine Befreiung vom Schulbesuch! 2.) Psychoedukation Eltern und Kind (Schulbesuch = gemeinsames Therapieziel; sonst stationäre Therapie) 3.) Schulbesuch wieder herstellen (wenigstens stundenweise); Lehrer über Hintergrund der Störung informieren 4.) kein Heimschicken des Kindes aus der Schule bei somatischen Beschwerden 5.) stundenweise Schulbesuch ausdehnen, sonst stationäre Behandlung Therapie der Trennungsangst 6.) bei stationärer Behandlung Eltern über Sinn, nämlich Trennung, aufklären. Keine Einwilligung des Kindes voraussetzen (Kind in entsprechende Therapieabsichten ambulant mit einbeziehen) 7.) Trennungserfahrung einüben 8.) ggf. familientherapeutische Intervention 9.) Besuchskontakte ausdehnen, wenn Trennung ohne Schwierigkeiten gelingt Therapie der Trennungsangst 10.) bei stationärer Therapie schulische Belastung im klinischen Rahmen 11.) externer Schulbesuch von Klinik aus, ggf. schrittweise einleiten 12.) eigene Probleme der Eltern, wenn vorhanden, bearbeiten 13.) Vorstellung und Durchführung des Schulgangs im entspannten Zustand einüben 14.) volle schulische Belastung ohne Begleitung erreichen Therapie der Trennungsangst 15.) bei voller schulischer Belastung tageweise Schulbesuch zu Hause, sobald Kind dazu in der Lage ist (ggf. in Klasse vorbereiten) 16.) keine Entlassung unmittelbar vor Ferien 17.) engmaschige nachgehende Kontrolle; Wiederaufnahmevereinbarung Heimatschule + ambulante Therapie Belastungserprobungen + Heimatschule teilstationär + Heimatschule ohne Begleitung vollstationär + Heimatschule* mit Begleitung vollstationär + Klinikschule * oder Außenschule Erwerb von Kompetenzen - Sozialkompetenz - Problemlösefertigkeiten Kind Kognitive Therapie dysfunktionaler Grundannahmen Gestufte Exposition Operante Verfahren positive Konsequenzen bei erfolgreicher Bewältigung einer ängstigenden Situation + Verminderung positiver Verstärkung bei vermeidendem Verhalten Aufbau Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit Erlernen effektiver Arbeitsstrategien Erhöhung Frustrationstoleranz Reduktion oppositionellen und dissozialen Verhaltens ggf. zusätzlich Medikation „Probleme kann ich lösen!“ • basiert auf dem „FRIENDS-“ (Barrett et al.) bzw. „FREUNDE-“ Programm (Essau et al.) und ist ein kognitiv-behaviorales Behandlungsprogramm • ist sowohl zur Prävention als auch zur Intervention geeignet und wird in beiden Bereichen eingesetzt Kurse Eimecke & Pauschardt Der 6-Block-Problemlöseplan 1. 2. 3. 4. 5. 6. Was ist das Problem? Was könnte ich tun? (Schreibe alle Ideen auf!) Was könnte bei dieser Lösung passieren? (Folgen) Such dir die beste Lösung aus (auf der Grundlage dessen, was passieren könnte) Setze deinen Plan in die Tat um! (Tu es!) Hat es geklappt? (gute Punkte / schlechte Punkte) Der Stufenplan Zusammengefasst: Was lernen die Kinder? • • • • • • • • • Bewusstsein für / Umgang mit Körpersignale(n) und Gefühlen Erkennen innerer Gedanken / Führen unterstützender „Selbstgespräche“ sich aktiv wohl fühlen sich Unterstützung organisieren Probleme in zu bewältigende Schritte unterteilen Lösungsmöglichkeiten entwickeln Teilerfolge wahrnehmen sich selbst belohnen Probleme angehen / sich Ängsten stellen Wie lernen die Kinder? • • • Einzel- und Gruppenaufgaben Rollen- und Gedankenspiele Hausaufgaben • gemeinsames Spiel Präventions- und Interventionsprogramme … • ... lindern aktuelle Belastungen / Störungen • ... stärken die kindlichen Kompetenzen • ... können die Gefahr der Krankheitsentstehung reduzieren bzw. einer Chronifizierung entgegenwirken Strategien zur Reduktion von Schulabsentismus • Reduktion von Gewalt und Mobbing an Schulen • gute Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern • positives Schulklima • einfache(re) Übergänge zw. Schulen • familienunterstützende Dienste • Aufgreifen von schulabsenten Schülern durch Polizei und Begleitung in Schule mit Konsequenzen nach Keaney, 2008 Kinderärzte Allgemeinmediziner Hausärzte ErziehungsBeratungsstellen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Psychotherapeuten Kinder- und Jugendpsychiater Koordinierungsstellen Schulpsychologischer Dienst Politik Schulen Sozialarbeit Polizei 2te Chance Einrichtungen der Jugendhilfe u.a. Ausblick • sowohl für die Praxis als auch die Forschung ist eine noch bessere Vernetzung der beteiligten Institutionen zu wünschen • Konzepte, wohnortnahe Angebote und gesicherte Finanzierung von Beschulung für innerhalb des Regelschulsystems nicht (mehr) beschulbare Kinder und Jugendliche sind notwendig • Prävention und Frühintervention kann Chronifizierung und ungünstigen Verlauf reduzieren