GESCHMACKSSENSORIK MPA Die Elektronische Zunge als innovatives Mustererkennungsinstrumentarium Eine schwachselektive, ionenempfindliche Elektrodenanordnung aus verschiedenen Materialien, die elektrochemische NERNST-Spannungen in ionenhaltigen Objekten generiert, wird populär als »Elektronische Zunge« bezeichnet. Sie gestattet, viele Erkennungsaufgaben einfach und schnell nach einer Anlernphase zu erledigen, wenn sie mit mathematischen Objekt bzw. Mustererkennungsverfahren gekoppelt wird [1]. D as biologische Vorbild der Zunge erfasst den Geschmack über vier Grundgeschmacksrezeptoren. Das ist in vielen Veröffentlichungen zu lesen. Die Untersuchung der Nervenimpulse zeigt aber, dass an den sie einsammelnden Nervenfasern immer eine Pluralität der auslösenden chemischen Reize wirkt [2]. Bild 1: Obige Empfindlichkeiten der Nervenfasern (Chorda tympani) einer Ratte zeigen, dass jede der Fasern die Pluralität/Gesamtheit der Reize aus den angebotenen Chemikalien registriert. Eine Elektronische Zunge muss daher nicht die Chemikalien einzeln, d. h. selektiv, ermitteln. Auch wenn nur Muster gewonnen werden, lässt sich daraus eine verwertbare Information ermitteln. Das bedeutet, dass es müßig ist, die einzelnen Geschmacksrichtungen genau verorten zu wollen: Unsere menschlichen Rezeptoren erfassen alle Reize zusammen schwachselektiv als Muster. Diese Muster werden vom Gehirn erfasst und mit angelernten Erfahrungen verglichen. Erst dann schmecken sie süß, sauer, salzig, bitter und entsprechend den von den gemessenen Produkten gelieferten Geschmacksmischungen spezifisch, eben die gesamte Palette unserer Speisen, Getränke und Gewürze. Bild 3: Die Elektroden sind in einem Substrat von 10 mm Durchmesser eingebracht und ragen 300 µm heraus. Dieser Messkopf wird auf das zu messende Objekt aufgesetzt oder eingedrückt. Bildquelle: www.multisensoric.de Wichtig ist daraus für die Konstruktion einer Elektronischen Zunge, dass diese auf Muster zu reagieren hat und diese einer Klassifizierung zu unterziehen sind. NERNST-Spannungen Prof. NERNST aus Berlin hat vor etwas mehr als 100 Jahren die Formel abgeleitet, welche die Ionenkonzentrationen Die Autoren Hochschuldozent Dr.-Ing. habil. et Dr. sc techn. Horst Ahlers, Multisensoric GmbH, Jena, und Christian Keil, Student zum „State-certified Engineer“ (Bachelor professional). 22 s22_s25.indd 22 Bild 2: Für eine Weltgeschmacksdatenbank kann für jedes Objekt mit Ionen eine objektive Zustandsbeschreibung mit einem Vektor aus NERNST-Spannungen zu seiner eindeutigen und objektiven Charakterisierung erzeugt werden. mpa 10-2014 13.10.14 11:24 GESCHMACKSSENSORIK mit den generierten elektrischen Spannungen verknüpft [3]. Sie enthält die Temperatur und - was für die Zungenfunktion wichtig ist – den Logarithmus naturalis der Ionenkonzentrationen. UNERST ~ T * ln(f(Ionen)) Der Klammerausruck ist ganz allgemein als eine Funktion angegeben, ohne diese genauer zu definieren. Dazu wird postuliert, dass jede Elektrodenkombination eine andere Wechselwirkung mit den vorliegenden Ionen aufweist. Das wird zur Mustergenerierung ausgenutzt. Wird eine gemeinsame Referenzelektrode eingesetzt, so braucht man z. B. 8 plus1 Elektroden unterschiedlicher Materialien für 8 Messkanäle. Diese bauen einen Beschreibungsvektor mit 8 Vektorkomponenten auf. Auch hierbei kann diese – wie bei der populären Zungenbezeichnung – populär als Fingerprint bezeichnet werden, die das erfasste Objekt charakterisieren. Das System erfordert somit elektrisch leitende Elektroden, die in ionischen Objekten / Elektrolyten elektrische Spannungen erzeugen. Elektrolyte sind nicht nur chemische, sondern auch biologische Indikatoren. Insbesondere der biologische Elektrolyt »Haut« ist interessant für medizinische und chemische Fragestellungen. Interessanterweise umfasst es nicht nur den Geschmack des Sinneseindrucks aus den Nahrungsmitteln, sondern im übertragenen Sinn auch den »Geschmack« unendlich vieler Objekte der uns umgebenen Welt [4]. Dies gestattet, jedem solcher Objekte einen elektronischen Fingerabdruck als neuartige und innovative Beschreibung zuzuordnen, und zwar einen objektiven und nicht subjektiven, wie es beim menschlichen Geschmack immer der Fall ist. Somit kann das Ziel einer Objektivierung des elektrochemischen Geschmacks im weltweiten Kontext ausgegeben werden [5]. Es ist realisierbar mit geeigneten standardisierten Konstruktionen Elektronischer Zungen. Zungenkonstruktion Der Einsatz des Prinzips der NERNST-Spannungen erfordert es, stromlos elektrische Spannungen (im V- bis mVBereich und auch darunter) zu messen. Damit wird ein zu messendes Objekt nicht mit einem Messstrom belastet, was für alle lebenden Objekte, beispielsweise in der Medizin, ein unbedingter Vorteil ist. Für viele Objekte reicht aber ein endlicher Eingangswiderstand eines nachfolgenden Messgeräts, der einen geringen bis vernachlässigbaren Eingangsstrom nach sich zieht. Dabei wirkt das zu messende Objekt als Spannungsgenerator mit Innenwiderstand. Mit anderen Worten heißt das, dass immer zwei Messelektroden aus unterschiedlichen Materialien mit dem zu messendem Objekt ein galvanisches Element bilden. In Bild 3 wird ein solcher Messkopf gezeigt, der 19 Elektroden unterschiedlichen Materials für maximal 18 Messkanäle kombiniert, die 18 Vektorkomponenten ermitteln können. Beim Berühren des zu messenden Objekts entsteht so ein Fingerprint als dessen elektronische Zustandsantwort [6]. Dieser Fingerprint-Vektor kann nun noch vervollstän- mpa 10-2014 s22_s25.indd 23 23 13.10.14 11:24 GESCHMACKSSENSORIK digt werden, indem weiteres Wissen über das zu messende Objekt hinzugefügt wird. Das können Analysewerte sein, Beurteilungen von Human-Sensorikern, Wortbeschreibungen, Meinungen, Anwendungshinweise, Giftigkeit, Preise, Verfügbarkeit usw. Damit wird das zu messende Objekt umfassend beschrieben. Vieles davon ist subjektiv gefärbt, außer den Analysewerten. Diese beschreiben die elektrochemischen Vektorkomponenten in Bits und Bytes als elektronischen Fingerprint objektiv. Dies kann als recht schneller Mess-und Mustererkennungsvorgang ausgeführt und dann mit dem Internet gekoppelt werden. Eine chemische Analyse ist da viel aufwändiger und teurer, d. h. die »Elektronische Zunge« ist das Mittel der Wahl für den täglichen Alltag. Jenaer Elektronische Zunge Multiionen-Sensoriccard wird. Der Vektor ist dann nur der objektive Hintergrund zur Erkennung, der unbestechlich das gemessene Objekt charakterisiert. Diese einfache Vor-Ort-Erkennung wird allerdings erkauft durch den Aufwand beim Anlernen. Die erforderliche Klassenzuordnung beim Erkennungsvorgang ist dann durch heutige Rechnerkapazitäten dagegen unbedeutend im Aufwand. Letztlich gewinnt das neue innovative Instrumentarium erfreulicherweise durch den Zugang zum Internet und seinen Möglichkeiten. Das öffnet somit ein »weites Feld« der Betätigung in jeglicher Hinsicht nicht nur für den Ingenieur, sondern auch für die weltweite Nutzerschaar. Der menschliche Geschmack ist dabei nur ein interessantes aber kleines Anwendungsgebiet; die uns umgebene Welt dagegen lässt die Anwendungen nahezu ins Unendliche wachsen (Bild 2 [5]). Medizin: Dialyse Die Jenaer Elektronische Zunge Multiionen-Sensoriccard stellt eine erprobte Beispiellösung zur Demonstration der Anwendungsbreite einer technischen Elektronischen Zunge dar [1] [4] [5] [6] [7] [8]. Sie zeigt, dass das neue Instrumentarium einer Elektronischen Zunge Objekte, die als Elektrolyte mit Ionen wirken, für den praktischen Vor-Ort-Einsatz geeignet beschreiben können. Bisherige Beschreibungen (Analytik, Humansensorik, Wortumschreibungen, …) werden durch einen Vektor ersetzt. Dieser ist für jedes Individuum mit einem einfachen etwa visitenkartengroßen Gerät zu bestimmen. Die Messzeit wurde auf 0,4 s eingestellt. In dieser Zeit werden 10 Einzelmesswerte erzeugt. Die bisherigen Beschreibungen können diesem Vektor hinzugefügt werden, um den Bruch der Innovation mit der Gewöhnung bzw. Historie nicht zu groß werden zu lassen. Eigentlich braucht der Kunde diesen Vektor auch gar nicht zu kennen, wenn ihm nur das Zustandsergebnis ausreichend plausibel mitgeteilt Werden über den linken Zeigefinger eines Dialysepatienten z. B. Hautpotenziale generiert und gemessen, so ist der Reinigungserfolg des Blutes an dem Gang der Messkanalspannungen bereits nach wenigen Minuten abzulesen (Bild 4). Werden nun parallel diese Daten mit denen der Dialysemaschine korreliert, lässt sich auf einfache Weise am einzelnen Patienten (Individualisierte Medizin) feststellen, inwieweit er therapiert ist. Das ist vielleicht nicht so sehr ins Gewicht fallend, da ja auch an der Maschine Messparameter zur Verfügung stehen. Wichtig wird es aber für einen Patienten mit neuer, z. B. dritter Niere, zu Hause die Überwachung einfach vornehmen zu können. Mit den Kurven in Bild 4 ist nachgewiesen, dass die Haut die Nierenfunktion adäquat abbildet. EURO-ID- Medizin: Tumordetektion Die unterschiedliche Verstoffwechselung in Krebszellen und in gesunden Zellen ergibt unterschiedliche Ionen und Ionenkonzentrationen. Für zwei Tumore im Gehirn ist dies in Bild 5 mitgeteilt. Das ist für eine Vor-Ort-Detektion während einer Operation ein unschätzbarer Vorteil, nicht erst eine z. B. morphologische Begutachtung in einem Labor zu veranlassen, sondern im Bruchteil einer Sekunde auf die notwendige Information zugreifen zu können. Lebensmittel: Weindetektion Zeit Schon oft wurden sowohl in der Literatur als auch in TVSendungen Weingeruch und Weingeschmack mit verschiedenen elektronischen Nasen und Zungen als detektierbar vorgestellt. Bisher konnten aber durch das BeharrungsverBild 4: Gezeigt werden ausgewählte Messkanäle mit ihren normierten Spannungsverläufen zum Nachweis der Detektierbarkeit des Dialysevorganges über die Haut. Messungen in Dialysestation Postcarré Jena, Patient Bö, Messender: Dipl-Ing. W. Kratzenberg, Bad Schauenburg 25.11.2011. 24 s22_s25.indd 24 mpa 10-2014 13.10.14 11:24 GESCHMACKSSENSORIK klassen einmalig angelernt und dann Vor-Ort wiedererkannt werden [9]. Das ist dann eine einfache und ständig wiederholbare Kontrollmöglichkeit. KONTAKT Multisensoric GmbH www.multisensoric.de Bild 5: Für unterschiedliche Tumore werden auch unterschiedliche Vektorkomponenten ermittelt. Bild 6: Für diese Weinproben ergeben sich charakteristische NERNST-Spannungen. mögen der Weinbranche und durch die vorgestellten Geräte nicht recht von einem Durchbruch gesprochen werden. Ein neuer Vorstoß mit der Jenaer Elektronischen Zunge Multiionen-Sensoriccard zeigt, dass innerhalb des Bruchteils einer Sekunde ein Beschreibungsvektor gewonnen werden kann, der mit 9 Komponenten eine einfache und objektive Mustererkennung gestattet. Lebensmittel: Möhrendetektion Die Frische von Obst und Gemüse ist ein wichtiges Verkaufsargument. Mit einer Elektronischen Zunge ist dies verEURO-ID-World_2014_ANZ_D_213_151 07.03.14 15:50 Seite 1 hältnismäßig einfach festzustellen. Dazu müssen Frische- Literatur [1] H. Ahlers, R. Reisch, L. Wang: Elektronisch riechen, schmecken etc., Elektronische Sinnessensorik für Lebensmittel, Medizin, Umwelt und Technik. 2010 Beuth-Verlag, Behr´s- Verlag [2] R.F. Schmidt, F. Lang, M. Heckmann(Hrsg): Physiologie des Menschen, Springer 2007 [3] W. Nernst. Zeitschrift Elektrochemie 6 (1899), S.41 [4] H.Ahlers. Wie schmeckt denn nun Beton? BFT (2011)7,S.20-22 [5] H. Ahlers. Lebensmittelsicherheit- Ein Menschheitstraum / Überwacht mit Elektronischer Sinessensorik / Weltgeschmacksdatenbank. Eingereicht bei Fleischwirtschaft [6] BMWI-Projekt 62/99 (1999-2001): Elektronische Zunge. Jenasensoric e.V. / Ahlers [7] www.multisensoric.de [8] H. Ahlers, Ch. Keil: Nach biologischem Vorbild: Geschmackserkennende Elektronische Zunge. Eingereicht bei Naturwissenschaftlicher Rundschau [9] M. Wagner, D. Wötzel, T. Keil, H. Ahlers: Frischeklassen einfach und schnell bestimmen. Fleischwirtschaft (2013) 8, S. 23-28