08.11.16 Probleme der Urteilsfähigkeit bei ethischen Entscheidungen mit und für Patienten Symposium klinische Ethik in der Psychiatrie UPK Basel 3. November 2016 Prof. V. Dittmann Präsident Ethikbeirat UPK Wesentliche juristische Grundlagen der Behandlung und Pflege • Autonomieprinzip: Primär entscheidet der urteilsfähige Patient allein: Grundrecht auf körperliche und psychische Integrität und informationelle Selbstbestimmung • Grenzen der Autonomie: Gesetze, „Sittenwidrigkeit“, Rechte der Behandler • Bei Urteilsunfähigkeit: besonders im Notfall Handeln im mutmasslichen Interesse des Patienten • Gesetzlicher Vertreter kann für urteilsunfähigen Patienten rechtswirksam einwilligen Sterbehilfe im schweizerischen Strafrecht I • Direkte aktive Sterbehilfe: gezielte Handlung zur unmittelbaren Beendigung des Lebens eines Patienten in der Sterbephase = Tötungsdelikt! • Unter besonderen Umständen strafrechtlich Milderungsgründe anerkannt • Öffentliche und parlamentarische Diskussionen über Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen • Gesetzesänderung aber in absehbarer Zeit nicht zu erwarten Komplexe Prozesse im psychiatrisch- ethisch-juristischen Diskurs: • Ethische und juristische Konzepte • Übersetzung in medizinischpsychologische Sachverhalte und wieder zurück • Informationsgewinnung • Kommunikation • Diagnostische Konzepte und transparente Beurteilungsinstrumente Rechtliche Grundlage für jede medizinische Handlung (diagnostisch oder therapeutisch) erforderlich, sonst juristisch Straftat (Körperverletzung, schlimmstenfalls Tötung): • Primär Zustimmung des Patienten • Sekundär Zustimmung einer anderen berechtigten Person (z.B. Vormund) • Zwangsbehandlung auf gesetzlicher Grundlage (fürsorgerische Unterbringung, (früher FFE) bei schweren psychischen Störungen; Epidemiengesetz) • Notfallbehandlung des urteilsunfähigen Patienten nach dessen mutmasslichem Willen Art. 114 Tötung auf Verlangen Wer aus achtenswerten Beweggründen, namentlich aus Mitleid, einen Menschen auf dessen ernsthaftes und eindringliches Verlangen tötet, wird mit Gefängnis bestraft. 1 08.11.16 Sterbehilfe im schweizerischen Strafrecht II • Passive Sterbehilfe: Massnahmen werden unterlassen, die notwendig wären, um den Todeseintritt bei einem Sterbenden zu verhindern oder hinauszuzögern • Auf ausdrücklichen Wunsch des urteilsfähigen Patienten strafrechtlich unproblematisch, da Wille des Patienten bindend • Bei urteils- oder äusserungsunfähigen Patienten Ermittlung des mutmasslichen Willens Der Suizid im schweizerischen Strafrecht • Suizid und Suizidversuch sind nicht strafbar • strafrechtlich relevante Beihilfe setzt einen Straftatbestand voraus • daher ist auch Beihilfe zum Suizid prinzipiell nicht strafbar • Voraussetzung ist, dass der urteilsfähige Suizidwillige selbst handelt • Problem: mechanische Handlungsunfähigkeit bei Lähmung etc. Sterbehilfe und Rechtspraxis • Art. 114 StGB, Tötung auf Verlangen: maximal 1-2 Fälle pro Jahr, entscheidend Urteilsfähigkeit des Patienten, sonst wie „übliches“ Tötungsdelikt behandelt • Art. 115 StGB, strafbare Beihilfe zum Selbstmord: nur Einzelfälle in den letzten Jahren, entscheidend Urteilsfähigkeit und Tatherrschaft des Sterbewilligen • Tatsächliche Prävalenz strafbarer Handlungen am Lebensende in der Schweiz wegen des grossen Dunkelfeldes wahrscheinlich stark unterschätzt Sterbehilfe im schweizerischen Strafrecht III • Indirekte aktive Sterbehilfe: unbeabsichtigte aber unvermeidbare Nebenfolge einer Palliativtherapie (z. B. Opiattherapie zur Schmerzbehandlung führt zu respiratorischen Komplikationen) • Bei Zustimmung des urteilsfähigen Patienten unproblematisch • Oft schwierige Abgrenzung von direkter aktiver Sterbehilfe (Dokumentation, Dosisproblem!) • für Straffreiheit darf die Lebensverkürzung nicht primäres Behandlungsziel sein Art. 115 Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wurde, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft. Art. 16 ZGB: Urteilsfähigkeit Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln. 2 08.11.16 Art. 18 ZGB: Fehlende Urteilsfähigkeit Wer nicht urteilsfähig ist, vermag unter Vorbehalt der gesetzlichen Ausnahmen durch seine Handlungen keine rechtliche Wirkung herbeizuführen. Struktur des menschlichen Geistes nach KANT: Vernunft seit KANT • Schlussfolgerungen aus Einzelereignissen ziehen • Zusammenhänge erkennen • Bedeutung zuweisen • Verbindung mit eigener Lebenssituation herstellen • Handlungen vorbereiten und begründen Freuds «Seelenapparat» Verstand Vernunft Urteilskraft Wie handeln Menschen meistens? • Der grösste Teil unserer Entscheidungen und Handlungen wird durch «Bauchentscheidungen» (mit)bestimmt. • Menschen sind nur bedingt rational handelnde Wesen. 3 08.11.16 Urteilsfähigkeit • Fähigkeit, vernunftgemäss zu handeln • Relativ, d.h. immer bezogen auf konkretes Rechtsgeschäft, bestimmte Handlung • Unvernünftigkeit der Handlung allein kein ausreichendes Kriterium • Systematische mehrstufige Abklärung erforderlich Psychiatrische Abklärung der Urteilsfähigkeit • Diagnose einer erheblichen psychischen Störung? • Zuordnung zu Rechtsbegriffen: – geistige Behinderung – psychische Störung – Rausch – „ähnliche Zustände“ Erkenntnisfähigkeit • Die handelnde Person muss in der Lage sein, die Aussenwelt zumindest in ihren Grundzügen richtig zu erkennen und • sich ein adäquates Bild von der Realität zu verschaffen. Forensisch-psychiatrische Abklärung der Urteilsfähigkeit • nach Zuordnung der Diagnose zu Rechtsbegriffen • prüfe 2 kognitive und 2 voluntative Elemente: • Erkenntnisfähigkeit • Wertungsfähigkeit • Willensbildung • Willenskraft Wertungsfähigkeit • Fähigkeit zu rationaler Beurteilung • Vermögen, sich über die Tragweite und die Opportunität der in Frage stehenden Handlung ein vernünftiges Urteil zu bilden. • Wertungsfähigkeit beruht auf der Erkenntnisfähigkeit, fehlt bereits diese, weitere Überlegungen nicht mehr notwendig • → Urteilsunfähigkeit 4 08.11.16 Willensbildung Willenskraft • Fähigkeit aufgrund gewonnener Einsicht und eigener Motive einen nach aussen wirksamen Willen zu bilden und • bei verschiedenen denkbaren Möglichkeiten eine begründete Entscheidung zu treffen • Fähigkeit gemäss gewonnener Einsicht und eigenem Willen zu handeln • über die Fähigkeit zu verfügen, dem Versuch einer fremden Willensbeeinflussung in normaler Weise Widerstand zu leisten Abklärung der Urteilsfähigkeit: Minimal Standards Kriterien für Einsichtsunfähigkeit • psychischer Befund: Hinweise auf erhebliche Störung? – Orientierung – Konzentration – Auffassungsgabe – Gedächtnis – Denkvermögen – Affektivität – Besondere Symptome (Wahn, Halluzinationen, Zwänge, Phobien etc.) • Kein Hinweis auf psychische Störung: keine weitere Abklärung erforderlich: urteilsfähig • Aber: Bereits bei Zweifeln vertiefte Abklärung notwendig • • • • • • • • Fehlende Einsicht in die eigene Situation Fehlende Krankheitseinsicht Mangelndes Informationsverständnis Durch Verhalten erkennbares Unvermögen, verschiedene Wahlmöglichkeiten zu nutzen Fehlende Umsetzungsmöglichkeit einer an sich verstandenen Information in eine realitätsbezogene, vernünftige, angemessene Entscheidung Fehlende Fähigkeit, sich selbst authentisch nach seinen eigenen persönlichkeitsgebundenen Werten, Zielen und Haltungen zu entscheiden Fehlende Kommunikationsfähigkeit Fehlende Beständigkeit einer getroffenen Entscheidung Dissertation Lötscher 2015: 361 Fälle Suizidbeihilfe IRM Basel 2001-2014 5 08.11.16 Beispiele aus „Attesten“ über Urteilsfähigkeit Positives Beispiel: • „Frau X. ist für ihren Suizid 100 % zurechnungsfähig“ • „Herr Y. ist seit Jahren schwer depressiv, aber ich kann seinen Todeswunsch gut verstehen und für mich ist er deshalb absolut urteilsfähig“ • „ Der geistige Abbau von Frau Z. ist weit fortgeschritten, an ihrer Urteilsfähigkeit besteht aber keinerlei Zweifel.“ Fazit • Die Urteilsfähigkeit des Patienten ist für alle medizinisch-ethischen Entscheidungen von zentraler Bedeutung. • Nur der urteilsfähige Patient kann autonome, ihn und andere bindende Entscheidungen treffen. • In der Praxis erfolgen in Zweifelsfällen noch zu wenige Abklärungen durch unabhängige, kompetente Fachgutachter. • Für die forensisch-psychiatrische und die darauf basierende juristische Bewertung der Urteilsfähigkeit ist das Vorhandensein einer erheblichen psychischen Störung entscheidend. • Die ethisch-moralische Bewertung der Entscheidung oder Handlung nach dem Wertesystem des Untersuchers darf keine Rolle spielen: • In unserer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung darf jeder nicht psychisch schwer beeinträchtigte Mensch unvernünftig, selbstschädigend, unmoralisch, für andere nicht nachvollziehbar etc. handeln. • Seien wir froh darüber! 6