Christoph Dönges / Wolfram Hilpert / Bettina Zurstrassen Didaktik der inklusiven politischen Bildung Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autorinnen und Autoren die Verantwortung. Die Inhalte der zitierten Internetlinks unterliegen der Verantwortung der jeweiligen Anbietenden; für eventuelle Schäden und Forderungen übernehmen die Herausgebenden sowie die Autorinnen und Autoren keine Haftung. Bonn 2015 © Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86, 53113 Bonn Lektorat und Redaktion: Verena Artz Projektkoordination: Wolfram Hilpert Titelfoto: © Soeren Stache/dpa. Veranstaltung der »Aktion Mensch« beim Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Umschlaggestaltung, Satzherstellung und Layout: Naumilkat – Agentur für Kommunikation und Design, Düsseldorf Druck: Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt / Main ISBN: 978-3-8389-0617-1 www.bpb.de Bettina Zurstrassen Inklusion durch Leichte Sprache? Eine kritische Einschätzung Im Rahmen der Kompetenzdebatte hat die OECD den Zusammenhang von Lesekompetenz und gesellschaftlicher Integration herausgestellt und auf ihrer Website Lesekompetenz »[…] als die Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen und zu nutzen, über sie zu ref lektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potential weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen« definiert (OECD). Dass die Kulturtechnik »Lesen« auch für »Menschen mit Lernschwierigkeiten« (Selbstbeschreibung der Menschen mit einer geistigen Behinderung, die im Artikel verwendet wird) eine wichtige Fähigkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe und Inklusion ist, darüber besteht inzwischen in Wissenschaft und Politik ein weitreichender Konsens (Ratz 2012, S.111). Der Forschungsstand ist jedoch noch rudimentär. Das gilt auch für die politische Bildung, die dem Thema »politische Lesekompetenz« als Teil der Civic Literacy bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat (Zurstrassen 2014). Im Zuge der Inklusionsdebatte ist aus der Praxis der heil- und sonderpädagogischen Arbeit in Zusammenarbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten das Konzept der Leichten Sprache entwickelt worden. Leichte Sprache (easy to read) wurde ursprünglich in der US-amerikanischen People First-Bewegung entwickelt und wird nun in unterschiedlichen Sprachen adaptiert. Es wird der Anspruch erhoben, dass durch Leichte Sprache Menschen mit Lernschwierigkeiten bessere gesellschaftliche Partizipationschancen hätten und so der gesellschaftliche Prozess der Inklusion forciert werden könnte, weil sozial-sprachliche Differenzen abgebaut würden. Ist Leichte Sprache auch ein Konzept für die politische Bildung? Im vorliegenden Beitrag soll das Konzept der Leichten Sprache einer kritischen sozialwissenschaftlich-fachdidaktischen Analyse unterzogen werden. Die Darstellung erschöpft sich aber nicht in einer Kritik am Konzept der Leichten Sprache. Es wird am Ende des Beitrags das Konzept der Civic Literacy skizziert, das mit dem Ansatz der »ref lexiven-ideologiekritischen« Lesekompetenz stärker auf politische Mündigkeit zielt. 126 Definition und Regelwerk der Leichten Sprache Leichte Sprache wird gegenwärtig in der Inklusionsdebatte als ein Königsweg zur Erweiterung der Chancen gesellschaftlicher und politischer Teilhabe von Menschen mit (und auch ohne) Lernschwierigkeiten propagiert. Eine einheitliche Definition zum Konzept der Leichten Sprache, ihrem Regelwerk und ihrer Zielgruppe(n) liegt in Deutschland nicht vor. Zunehmend gelingt es aber dem Netzwerk Leichte Sprache, seine Definition des Begriffs und sein Regelwerk durchzusetzen. Das Netzwerk präsentiert auf seiner Website in den Informationen für die Presse folgende Definition: »Bei Leichter Sprache geht es darum, dass Texte und Sprache einfach zu verstehen sind. Z.B. indem man kurze Sätze schreibt, auf Fremdwörter verzichtet und Inhalte sinnvoll strukturiert.« Kuhlmann hat unterschiedliche Regelwerke für Leichte Sprache sprachwissenschaftlich vergleichend analysiert und folgende Merkmale der Leichten Sprache herausgearbeitet (2013, S. 45 ff.): t Lexika: Basierend auf Erkenntnissen der Leseforschung wird empfohlen, Wörter zu verwenden, die in der Gesellschaft häufig angewandt werden, da dies die Verständlichkeit positiv beeinf lusst (»Wortbekanntheitseffekt«). In Lexika für Leichte Sprache werden Begriffserläuterungen präsentiert. Die Auswahl der Begriffe ist jedoch vielfach nicht sprachwissenschaftlich abgesichert und scheint beliebig zu sein. Dieser Eindruck entsteht, wenn z.B. Begriffe wie »Deakzession« (Bestandsbereinigung einer Sammlung, z. B. in einer Bibliothek) aufgeführt werden (Huraki – Wörterbuch für Leichte Sprache). Es fehlen zudem Kriterien, wonach der Schwierigkeitsgrad eines Wortes eingestuft wird. t Morphologie: Wortlänge. Es wird die Empfehlung ausgesprochen, lange Wörter durch Bindestrich zu untergliedern, z.B. Amts-Gericht. Nicht beachtet wird jedoch, dass es zu semantischen Verschiebungen kommen kann, z. B. Bundes-Tag, Tag des Bundes? t Syntax: Satzlänge und Satzbau haben Einf luss auf die Verständlichkeit. Entsprechend wird empfohlen, kurze Sätze zu bilden und bei der Übersetzung lange Sätze in kurze zu untergliedern. Empirisch gut belegt, ist folgende Reihe aufsteigender Satzschwierigkeiten: aktiv-deklarative Sätze, Fragesätze, Passivsätze, Negativsätze, negative Fragesätze und negativ-passive Fragesätze (Groeben/Christmann 1989, S.178). t Text: Die Empfehlungen beziehen sich auf die Organisation des Textes, indem z.B. pro Absatz nur ein Gedanke (Proposition) ausformuliert wird, der Text stringent gegliedert ist, Zwischenüberschriften verwendet werden und bei längeren Texten advance organizer (Zusammenfassung) vorangestellt werden. Inklusion durch Leichte Sprache? ––––– 127 127 t Interpunktion: Sonderzeichen, z.B. das Semikolon, sollen vermieden werden. t Druckbild: Es werden Regel zur Verwendung von Schriftart, Schriftgröße etc. aufgestellt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Leichte Sprache einen Ratgeber herausgegeben, in dem exemplarische Umsetzungsbeispiele präsentiert werden (BMAS 2014). Leichte Sprache wird in Abgrenzung zur Einfachen Sprache definiert. Kellermann unterscheidet beide Konzepte wie folgt: »Anders als bei der Leichten Sprache gibt es für die Einfache Sprache kein Regelwerk. Sie ist durch einen komplexeren Sprachstil gekennzeichnet. Die Sätze sind länger, Nebensätze sind zulässig und sämtliche im Alltag gebräuchlichen Begriffe werden als bekannt vorausgesetzt. Fremdwörter sollten allerdings auch hier nach Möglichkeit vermieden werden, ansonsten sind sie zu erklären. Nach Satzzeichen und Satzabschnitten muss nicht zwingend ein Absatz folgen, solange der Text überschaubar bleibt. Auch das optische Erscheinungsbild von Schrift und Bild ist weniger streng geregelt.« (2014, S. 9). Ungeklärt bleibt dennoch, wieso mit Leichter Sprache eine eigene »Sprachwelt« entwickelt wird, obwohl man auch bei Einfacher Sprache unterschiedliche Anspruchsniveaus graduieren könnte. Einschränkend soll bereits hier erwähnt werden, dass die Ergebnisse der Sprachforschung in diesem Beitrag nur knapp referiert werden können. Sie stehen nicht im Mittelpunkt des Beitrags und vielfach können auch nur Vermutungen aufgestellt werden, weil der sprachwissenschaftliche, soziolinguistische und psychologische Forschungsstand zur Leichten Sprache – ähnlich wie der politikdidaktische – derzeit noch rudimentär ist. Ausgewählte Forschungsergebnisse der Sprachforschung werden referiert, um die kritischen Ausführungen abzurunden. Ausgewählte Kritik am Konzept der Leichten Sprache Unzureichende sprachwissenschaftliche Fundierung Das Regelwerk der Leichten Sprache wurde aus der Praxis der heil- und sonderpädagogischen Arbeit entwickelt. Obwohl viele Erkenntnisse der Sprachforschung berücksichtigt wurden, fehlt dem Konzept der Leichten Sprache dennoch eine wissenschaftlich-theoretische Fundierung und empirische Überprüfung. Legitimiert wird Leichte Sprache mit Verweis auf die Einbindung von Menschen mit Lernschwierigkeiten bei der Entwicklung des Regelwerks und der Überprüfung von Übersetzungen in 128 ––––– Teil 1.4 Bettina Zurstrassen 128 Leichte Sprache durch einzelne geschulte Expertinnen und Experten aus der Zielgruppe. Es bedarf jedoch der Expertise mehrerer Personen, um im Durchschnitt verlässlichere Aussagewerte über die Verständlichkeit eines Textes zu erhalten (Bamberger/Vanecek 1984, S.65, Kuhlmann 2013, S. 38, Fußnote 43). Biere betont zudem, dass man keine Aussagen über die Textverständlichkeit machen könne ohne den Bezug auf das rezipierende Individuum (1991, S. 4, ebenso Universität zu Köln). Als weiteres Abgrenzungskriterium zwischen Leichter und Einfacher Sprache wird ausgeführt, dass Leichte Sprache an den schriftlichen und mündlichen Sprachfähigkeiten der Menschen mit Lernschwierigkeiten ansetze und damit barrierefreie Kommunikation sicherstelle. Der Leichten Sprache liege im Gegensatz zur Einfachen Sprache kein pädagogischdidaktisches Konzept zugrunde, das auf die Förderung von Lesekompetenz abziele, sondern die Idee der Inklusion. Die kognitiven Voraussetzungen, so Kuhlmann, werden als gegeben betrachtet und stattdessen die behindernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst (2013, S. 15). Überzeugend ist diese Argumentation nicht, denn auch Leichte Sprache ist didaktisiert, weil bei der Übersetzung inhaltliche Auswahl- und Deutungsprozesse stattfinden. Biere führt aus, dass Überarbeitungen eines Textes, die der Erhöhung der Verständlichkeit dienen, als Erklärungsbzw. Lehr-Lern-Situation vorgestellt werden müssen (1991, S. 4). Auch der Anspruch einer barrierefreien Kommunikation, die an den Fähigkeiten der Menschen mit Lernschwierigkeiten ansetzt, kann nicht erfüllt werden. Bei Leichter Sprache wird offenbar von einem relativ homogenen Fähigkeitsniveau ausgegangen. Untersuchungen der Leseforschung weisen aber darauf hin, dass auch innerhalb der Gruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten die schriftsprachlichen Fähigkeiten äußerst heterogen sind (Ratz 2012, S. 127). Lehrkräfte, die im Rahmen einer Studie in Bayern befragt wurden, stuften die Lesekompetenz ihrer Schülerinnen und Schüler mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung wie folgt ein: 29,3 % lesen (noch) überhaupt nicht, 6,8 % lesen auf der logographischen Stufe (z. B. Erraten von Wörtern), 31,9 % auf der alphabetischen Stufe (Benennen von Lautelementen, buchstabenweises Lesen) und 32 % auf der orthographischen Stufe (fortgeschrittenes Lesen, automatisiertes Worterkennen) (Ratz 2013, S. 345). Auch Leichte Sprache kann also überfordern, oft aber auch unterfordern und damit sogar die Lesemotivation beeinträchtigen, wenn z. B. in Lernsituationen keine alternativen Texte zur Verfügung gestellt werden.1 Ein derart hoher Grad an Individualisierung der übersetzten Texte in Leichte Sprache, um sie den heterogenen schriftsprachlichen Fähigkeiten der Zielgruppe anzupassen und barrierefreie Kommunikation sicherzustellen, kann aber auch nicht geleistet werden. Inklusion durch Leichte Sprache? ––––– 129 129 Gesellschaftliche Exklusion durch Leichte Sprache? Leichte Sprache wird, wie einleitend schon ausgeführt wurde, mit dem Anspruch propagiert, Menschen mit Lernschwierigkeiten eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und den Prozess der Inklusion zu fördern. Durch die Bereitstellung verständlicher Texte kann in der Tat der Zugang zu gesellschaftlichen und politischen Informationen niederschwelliger ermöglicht werden. Dennoch sind auch Zweifel angebracht: 1. Sprachwissenschaftlich und soziolinguistisch muss untersucht werden, ob Leichte Sprache mit ihrem eigenen Regelwerk nicht sogar die Ausgrenzung von Menschen mit Lernschwierigkeiten fördern kann, wenn diese auf den zunehmend normierten Schreib- und Sprachstil der »Leichten Sprache« hin sozialisiert werden. 2. Des Weiteren muss die Forschung prüfen, ob Leichte Sprache im Vergleich zu Einfacher Sprache aufgrund ihres begrenzenden Regelwerks (z.B. die Regel, Fremdwörter zu vermeiden) die Zielgruppe in ihren sprachlichen und kognitiven Entwicklungschancen nicht sogar einschränkt. Aus politikdidaktischer Perspektive ist Einfache Sprache zu bevorzugen, weil Fremdwörter zwar verwendet, aber erläutert werden und sie daher einen stärkeren aufklärenden Anspruch hat (Zurstrassen 2014, S. 112). 3. Sprache gehört nach Bourdieu (1982) zum »kulturellen Kapital«. Sie ist ein Mittel sozialer Distinktion (Abgrenzung). Leichte Sprache kann zwar den Zugang zu Informationen eröffnen. Sie kann aber die gesellschaftliche Praxis der sozialen Distinktion durch Sprache nicht auf heben. Sie kann sogar die Exklusion verfestigen, weil sich andere sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen von Menschen mit Lernschwierigkeiten abgrenzen, indem sie die Nutzung der Leichten Sprache ablehnen (Kuhlmann 2013, S.19). 4. Die Einbindung von »Expertinnen und Experten aus der Zielgruppe« bei der Übersetzung in Leichte Sprache wird vom Netzwerk Leichte Sprache zum Gütekriterium erklärt und bei der Zertifizierung eines übersetzten Textes mit einem Gütesiegel vorausgesetzt. Die Problematik des »positiven Rassismus«, die hinter dieser gutgemeinten Praxis steht, wird nicht ref lektiert. Die Zielgruppe wird als einzig legitimer Experte ihrer Lebenswelt definiert und ihr exkludierender Sonderstatus damit verfestigt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass im Zuge der Inklusionsdebatte eine eigene Sprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten entwickelt wird. Ungeachtet der bis hierhin ausgeführten Kritik am Konzept der Leichten Sprache, die im öffentlichen Raum bislang sehr verhalten geäußert 130 ––––– Teil 1.4 Bettina Zurstrassen 130 wird, hat die Leichte Sprache in den letzten zehn Jahren eine beachtliche politische Karriere gemacht. Die Ökonomisierung der Leichten Sprache Die Forderung nach Leichter Sprache durch Behindertenverbände und vor allem aus den Reihen des Verlags- und Bibliothekswesens lässt sich aus dem Grundgesetz ableiten, hat aber durch die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) erst ihre politische Dynamik entwickelt. In der deutschen Übersetzung wird nicht der Begriff »Leichte Sprache«, sondern der Begriff »Einfache Sprache« (Artikel 2) oder die Formulierung »leicht lesbar und verständlich« (Artikel 9) verwendet. In der englischen Version finden sich je einmal die Formulierungen easy to read (Artikel 9) und easy to understand (Artikel 29). Das Konzept der Leichten Sprache lässt sich aus der UN-BRK also nicht zwingend ableiten. In Deutschland hat sich das Netzwerk Leichte Sprache formiert, das bezugnehmend auf die UN-Behindertenrechtskonvention Leichte Sprache politisch propagiert. Hinter dem Netzwerk stehen zentrale Organisationen der Sozialwirtschaft, z. B. die Arbeiterwohlfahrt (AWO) und die Lebenshilfe, die zu den lobbystarken Akteuren im Feld der Wohlfahrtspf lege gehören. Der Begriff »Sozialwirtschaft« beschreibt den Teil des Wirtschaftssystems, der im Wesentlichen soziale Dienstleitungen für und mit Menschen anbietet, um das Ziel individueller und gesellschaftlicher Wohlfahrt herzustellen. Die Sozialwirtschaft ist gekennzeichnet durch das Dreiecksverhältnis von Politik (Staat, öffentliche Einrichtungen), Organisationen der freien Wohlfahrtspf lege und privaten Unternehmen (Sozialwirtschaft: Anbieter) sowie den Nutzern der Angebote. Die Organisationen der Wohlfahrtspf lege und private Unternehmen werden beauftragt, Dienstleitungen, die mit »öffentlichen« Mitteln oder Mitteln der Sozialversicherungen finanziert werden, für die Anspruchsberechtigten (Nutzer) zu erbringen. In diesem Dreiecksverhältnis wird Leichte Sprache zunehmend ökonomisiert. Es entwickelt sich um Leichte Sprache ein Anbietermarkt von Übersetzungsbüros und Fortbildungsinstitutionen, die zum Teil für mehrere 1 000 Euro Seminare für Fortbildungen zu Leichter Sprache offerieren. Es handelt sich bei den Anbietern einerseits um neu gegründete private Unternehmen und andererseits um die klassischen Organisationen der freien Wohlfahrtspf lege, die ihre Angebote ausgeweitet haben. Die zunehmende Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen in Deutschland (Buestrich/Wohlfahrt 2008) lässt sich nahezu exemplarisch am Beispiel der Leichten Sprache aufzeigen. Inklusion durch Leichte Sprache? ––––– 131 131 Es gehört in diesem Zusammenhang zur politischen Dramaturgie von Interessengruppen, die Gruppe der »Betroffenen« möglichst weit zu definieren, um mit dem Verweis auf die gesellschaftliche Relevanz der eigenen Forderung Nachdruck zu verleihen. Bei der Definition der Nutzerinnen und Nutzer der Leichten Sprache werden nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten aufgelistet, sondern generalisierend auch »alte Menschen« oder »Analphabeten«. Es werden stereotype Vorstellungen aufgegriffen, obwohl diese wissenschaftlich widerlegt sind. Analphabetismus kann durch kognitive Einschränkungen begründet sein, oft aber ist z. B. eine unzureichende familiäre Lesesozialisation oder eine mangelhafte schulische Vermittlungsmethodik und Förderung ursächlich. Viele Analphabeten weisen durchschnittliche oder sogar überdurchschnittliche Intelligenzwerte auf. Auch Alt-Sein ist nicht zwangsläufig mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten verbunden. Soziologisch und auch sprachwissenschaftlich ist es zweifelhaft, dass Leichte Sprache von der Zielgruppe der »Alten« oder der Analphabeten angenommen wird, weil soziale Distinktionsbestrebungen dem entgegenwirken. Das Netzwerk Leichte Sprache hat in Deutschland mittlerweile weitgehend das Definitionsmonopol über das Regelwerk der Leichten Sprache erlangt. In einer von der SPD-Bundestagsfraktion eingereichten Kleinen Anfrage zu Leichter Sprache und auch in der Antwort der Bundesregierung wird ausschließlich auf das Netzwerk Leichte Sprache Bezug genommen. Ein erheblicher Anteil öffentlicher Übersetzungsaufträge oder die Entwicklung von Informationsbroschüren wird an das Netzwerk oder an Mitglieder des Netzwerks vergeben, beispielsweise die Entwicklung des Ratgebers Leichte Sprache des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS 2014). Leichte Sprache und Civic Literacy In den nachfolgenden Ausführungen soll nun der Fokus stärker auf die politikdidaktische Kritik am Konzept der Leichten Sprache gerichtet werden. Überwältigung durch interpretative Übersetzung Im bereits erwähnten Ratgeber des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales heißt es, dass bei der Übersetzung Teile von Texten weggelassen und Beispiele eingefügt werden können, wobei die Expertinnen und Experten aus der Gruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten entscheiden, welche Textpassagen gestrichen werden können (BMAS 2014, S.51). Kri132 ––––– Teil 1.4 Bettina Zurstrassen 132 terien, die die Entscheidungsprozesse transparent machen, werden jedoch nicht aufgeführt. Problematisch ist zudem, dass in den in Leichter Sprache verfassten Dokumenten oft nicht deutlich gemacht wird, dass es sich bei ihnen um eine interpretative Übersetzung, in die immer auch normative Deutungen des/der Übersetzenden bzw. der Prüfenden einf ließen, handelt. (Im Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen 2012 wurde deshalb explizit darauf hingewiesen, dass das Dokument in Leichter Sprache nicht rechtsverbindlich sei.) Damit birgt Leichte Sprache die Gefahr der politischen Überwältigung, zumal dann, wenn die Rezipienten nicht zu einer textkritisch-distanzierten Haltung sozialisiert werden. Die schriftsprachlichen Ausführungen (enger Lesebegriff ) in Publikationen mit Leichter Sprache werden oft mit Instrumenten des erweiterten Lesebegriffs kombiniert, z. B. »Situationenlesen« (Das Deuten von Bildern, Personen, Tieren im situationalen Kontext), mit Bildern oder Symbolen (Ratz 2013, S. 346). Personen, die im engeren Sinne nicht lesen können, soll über zeichenhafte Darstellung der Alltagswelt gesellschaftliche Kommunikation und Teilhabe ermöglicht werden. Auf der Ebene des »engen Lesebegriffs« wird ein Fähigkeitsniveau angesetzt, das vergleichbar ist mit der Kompetenzstufe 1 der PISA-Studie. Es dominiert bei Leichter Sprache ein kognitives Verständnis von Lesekompetenz. Das Fähigkeitsprofil auf Stufe 1 »Oberf lächliches Verständnis einfacher Texte« wird bei PISA wie folgt operationalisiert: »Schülerinnen und Schüler, die über Kompetenzstufe I nicht hinauskommen, verfügen lediglich über elementare Lesefähigkeiten. Sie können mit einfachen Texten umgehen, die ihnen in Inhalt und Form vertraut sind. Die zur Bewältigung der Leseaufgabe notwendige Information im Text muss deutlich erkennbar sein, und der Text darf nur wenige konkurrierende Elemente enthalten, die von der relevanten Information ablenken könnten […].« (Baumert u. a. 2002, S. 15) Die Fähigkeit zum ref lexiven, kritischen Umgang mit Texten kann von diesen Lernenden (noch) nicht geleistet werden. Dennoch ist die kognitivistische Orientierung auf Kompetenzstufe 1 der PISA-Studie im Hinblick auf die Erkenntnisse der Lesesozialisationsforschung und des Konzepts der politischen Lesekompetenz im Sinne der Civic Literacy zu eng. Civic Literacy – unzureichende Fachspezifik der Leichten Sprache In der Linguistik geht man von unterschiedlichen literalen Praktiken, die Menschen im Alltag anwenden, aus. Die New-Literacy-Forschung deutet Lesen als »soziale und situierte Praxis«, das bedeutet, dass Lesen in Wechselwirkung zwischen der Disposition des Individuums und dem situalen Inklusion durch Leichte Sprache? ––––– 133 133 Kontext des Lesens stattfindet. Es wird deshalb auch von Literacies oder Multiliteracies gesprochen. Hiervon ausgehend muss die politische Bildungsforschung die konzeptionelle Entwicklung und empirische Überprüfung der Civic Literacy intensivieren. Was kennzeichnet diese? Es gibt unterschiedliche konzeptionelle Vorstellungen und folglich Definitionen von Civic Literacy. Kidwell hat eine umfassende Arbeitsdefinition aufgestellt: »Civic literacy is one critical aspect of civic education that addresses the skills needed for citizenship development as well as the connections to ex isting standards in reading, writing, speaking, listening, and critical thinking skills.« (2006) Zentral für politisch-gesellschaftliche Mündigkeit ist die Fähigkeit des ref lexiven Lesens. In der BMBF-Expertise zur Förderung von Lesekompetenz wird folgende Definition präsentiert: »Ref lexives Lesen beinhaltet […] die Verbindung von Ref lexion im Sinne des Aufwerfens von Problemen und des Hinterfragens von Inhalten und Argumenten und zum anderen die kritische Ref lexion im Sinne eines Bewusstwerdens des eigenen Denkens und seiner Prämissen als Grundlage für potentielle Perspektivveränderung.« (BMBF 2007, S. 22) Ref lexives Lesen geht einher mit Persönlichkeitsentwicklung, die über instrumentelle Fähigkeiten hinausgeht. Die Civic Literacy lehnt sich stärker an das Fähigkeitskonzept der Lesesozialisation an, die mit der Orientierung am ref lexiven, gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt eine normative Leitidee verfolgt (Hurrelmann 2006). Ref lexives Lesen ist eine Grundhaltung, die jedoch durch fachspezifische Kenntnisse und Fähigkeiten untermauert werden muss. Zur politisch sensiblen Analyse von Texten bedarf es fachlicher Kenntnisse, die ermöglichen die folgenden Fragen zu beantworten: t Was ist politische Kommunikation (in Schrift und Sprache)? t Was sind Merkmale und Instrumente der politischen Kommunikation (z.B. Textsorten, Stilmittel, Instrumente)? t Was sind die Zielsetzungen politischer Kommunikation? Die Kenntnis typischer Merkmale einer Textsorte z.B. hat einen positiven Einf luss auf die Textverarbeitung und das Textverständnis (BMBF 2007, S. 23 f.). Exemplarisch soll dies an der Textsorte »Politischer Kommentar« dargestellt werden, die folgende Merkmale aufweist: t Funktion: - Persönliche Stellungnahme eines Autors bzw. einer Autorin; - Autor/Autorin bezieht politisch Position; - keine darstellende bzw. informierende Funktion; - politische Einordnung des kommentierten Sachverhalts; - dient der Beeinf lussung und Orientierung der Rezipienten und politischen Positionierung der Zeitung etc. 134 ––––– Teil 1.4 Bettina Zurstrassen 134 t Stilmittel (z. B.): - pointiertes, überspitztes Herausarbeiten der Argumente; - Struktur: Antithese, Pro-These, Synthese, Positionierung. Es hat sich zudem mittlerweile mit der Politiklinguistik eine Forschungsrichtung etabliert, die für die Entwicklung des Civic Literacy-Konzepts fruchtbare Ergebnisse hervorbringt (Diekmannshenke/Niehr 2013, Kilian/Niehr 2013, Niehr 2014). Die Ergebnisse können hier nicht dezidiert dargestellt werden. Stattdessen soll ein Modell skizziert werden, mit dem ref lexiv-ideologiekritisches Lesen in der politischen Bildung umgesetzt werden kann (s. Kasten). f Modell des reflexiv-ideologiekritischen Lesens 1. Erschließungsphase t Fähigkeit, politische Texte zu identifizieren (z. B. Textsorte: politische Rede, Kommentar, Karikatur) t Inhaltliche Erschließung durch Anknüpfen an Vorwissen t Erschließung der Fachtermini und Fachkonzepte 2. Phase der Inhalts- und Sprachanalyse t Analyse des dargestellten Inhalts t Analyse der Stilmittel politischer Sprache (z. B. Metaphern, Euphemismen, rhetorische Fragen) 3. Phase der ref lexiv-ideologiekritischen Interpretation t Hier bietet sich die Anwendung der Lasswell-Formel an, die leicht ergänzt wird: Wer sagt was, wie, mit welcher Absicht zu wem, mit welchen Auswirkungen für mich und für die Gesellschaft? Ref lexive Lesekompetenz zielt auf die Entwicklung der Persönlichkeit. Der Erwerb politischer Lesefähigkeit ist eng verbunden mit der Entwicklung des politisch denkenden, kritisch-ref lexiven mündigen Bürgers. Der Einwand, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten kognitiv nicht in der Lage sind, diese Analysen durchzuführen, ist nicht von der Hand zu weisen. Dennoch haben auch sie das Recht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Analyseverfahren zu lernen und eine kritische Grundhaltung zu erwerben und so befähigt zu werden, politische und sozial-gesellschaftliche Kommunikation distanziert und differenzierter zu bewerten. Insbesondere auch deshalb, weil es sich um eine Sozialgruppe handelt, die umfangreiche Erfahrung mit Bevormundung und Entmündigung hat. Inklusion durch Leichte Sprache? ––––– 135 135 Ein kurzes Fazit In diesem Beitrag konnte die Kritik am Konzept der Leichten Sprache nur schlagwortartig dargestellt werden; partiell ist sie deshalb etwas grobschnittartig. Die Bereitstellung von Texten in verständlicher Sprache ist demokratisch und gesellschaftlich dringend notwendig. Es spricht vieles dafür, einheitliche Standards für Leichte/Einfache Sprache zu entwickeln; dies einerseits, um Nutzer nicht zu stark zu verwirren, andererseits, um Qualitätsstandards zu setzen. Ob es hierfür des Konzepts der Leichten Sprache bedarf, muss öffentlich intensiver diskutiert und sprachwissenschaftlich sowie soziolinguistisch erforscht werden. Die Autorin sieht es kritisch. Problematisch ist, dass mit Leichter Sprache ein Sprachregelwerk als Norm gesetzt wird, das sprachwissenschaftlich nicht erforscht ist, dessen gesellschaftliche Auswirkungen soziologisch kaum analysiert sind und das im Hinblick auf die Befähigung zu politischer Partizipation und Mündigkeit zu wenig ref lektiert ist. Anmerkungen 1 Leichte Sprache wird zunehmend auf orale Kommunikation übertragen, obwohl die Fähigkeiten hier deutlich besser ausgeprägt sind. Trotz Sprach- und Sprechstörung können 61,4 % der Kinder und Jugendlichen mit Förderschwerpunkt »geistige Entwicklung« Sätze mit Haupt- und Nebensätzen sprechen (expressive Sprache) und 90,1 % werden von den Lehrkräften so eingeschätzt, dass sie Wörter, einfache Sätze oder auch komplexe Sätze verstehen (rezeptive Sprache). Bei 9,9 % der Lernenden konnte das Sprachverständnis in der zitierten Studie nicht eingeschätzt werden ( Wagner/Kannewischer 2012, S. 109). Literatur Bamberger, R./Vanecek, E. (1984): Lesen – Verstehen – Lernen – Schreiben. Die Schwierigkeitsstufen von Texten in der deutschen Sprache. Wien. Bauerlein, M. (2012): Civic Literacy. In: Academic Questions. Heft 3. S. 328 – 333. Baumert, J./Artelt, C./Klieme, E. u. a. (Hrsg.) (2002): PISA 2000. Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Zentrale Befunde. Verfügbar unter: https://www.mpib-berlin.mpg.de/Pisa/PISA_E_Zusammenfassung2.pdf (Zugriff: 07.04.2015). Bazil, V. 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