10. Mai 2015 Optogenetik Die UNO hat 2015 zum Jahr des Lichts ausgerufen. Hierzu passt wunderbar die zunehmende Verbreitung der Vorstellung, was Optogenetik bedeutet, erhoffen und befürchten lässt. Der Begriff ist zusammengesetzt aus Optik und Genetik. Er bezeichnet die erst etwa zehn Jahre alte Forschungsdisziplin, bei der Hirnzellen mit Licht gesteuert werden. Diese Technik erklärte die renommierte Wissenschaftszeitschrift Nature Methods zur Forschungsmethode des Jahres 2010. Das Verfahren fasziniert viele Forscherinnen und Forscher, von Moskau bis Stanford. Es weckt hohe Erwartungen. Öffentliche Gelder und industrielles Engagement beflügeln die Entwicklung. Welche Befunde von Untersuchungen mit Würmern, Fliegen, Fischen, Vögeln, Mäusen, Ratten und mittlerweile vereinzelt Affen wann und wie auf Menschen übertragbar und zu ihrem Wohlbefinden einsatzfähig sein werden, steht dahin. Der Psychiater Karl Deisseroth, der als (einer der) Begründer von Optogenetik gilt, sieht die Chance, dass wir endlich Wissen „über die Ursachen von Störungen wie Depression oder Schizophrenie“ erlangen und psychiatrische Krankheiten besser behandeln können. Hierfür „benötigen (wir) neue Techniken zur Untersuchung menschlicher Hirnfunktionen“, schreibt er in seinem Magazinbeitrag „Lichtschalter im Gehirn“. (1) Sollte es bei Menschen gelingen, sehr präzise durch „mit Licht aktivierbare Proteine ... Nervenzellen selektiv an- und abzuschalten“, resultiert mit dieser Technologie „großes Potenzial für biomedizinische Anwendungen – etwa die Wiederherstellung des Sehvermögens bei bestimmten Erblindungen ...“ (Website der Max-Plack-Gesellschaft). Es könnte „Tiefenhirnstimulation zur Therapie von Parkinsonpatienten“ führen. (2) Nachvollziehbar ist Carl Petersens Begeisterung für sein Forschungsgebiet: „Unglaublich aufregend“. Der Leiter des Labors für die Verarbeitung von Sinneseindrücken am Brain Mind Institute der Eidgenössisch Technischen Hochschule in Lausanne erläutert, „man sei dabei zu verstehen, wie einzelne Nervenzellen in Netzen verschaltet werden, die das Verhalten steuern.“ (3) Die neue Methode eignet sich vielleicht irgendwann dazu, bis anhin unheilbare Krankheiten und Handicaps zu lindern oder gar zu überwinden. Sie dient obendrein – im Erfolgsfall – zu zusätzlichen Verbesserungen bei schon erzielten Erkenntnissen und erprobten Vorgehensweisen. Gehörlosigkeit ist mittels Cochlea Implantat in der Regel abwendbar, jedoch mit Einschränkungen etwa bezüglich Musikgenuss und Störgeräuschen. Ist es möglich, Hörnerven über optischen Impuls zu reizen, Elektroden mit ihrer unangenehm breiten Stimulation durch Leuchtdioden – genau auf die jeweils wesentlichen Neuronen zielend - zu ersetzen? Die im ersten Moment überraschenden Überschriften des Artikels „Optogenetik für`s Hören?“ und des Interviews „Projekt Lichthören“ erweisen sich als stimmig (4). Es geht um Forschungen in Göttingen und Freiburg i. Br., zu deren Unterstützern Med-El zählt. Spannende Lektüre, gerade für interessierte Laien. Erfreulicherweise ist in dem Interview offen ausgesprochen, dass das neue Werkzeug mit seinen Eingriffen und Manipulationen Bedenken hervorrufen kann und ethischer Prüfung bedarf. Was ist unverantwortbar und abzulehnen, was sollte strafbar sein? Welches Land, welche Kultur wird diesen oder jenen Rahmen setzen? Für Hörgeschädigte ergibt sich aktuell keine Änderung. Die neue Signalverarbeitung mit Licht wird noch lange nicht die herkömmliche beim CI ablösen, sofern überhaupt die kühnen Ideen Realität werden. Wer an sich den Anspruch stellt, früh, gut und umfassend orientiert zu sein oder zu informieren, befasst sich (spätestens) ab dem „Jahr des Lichts“ mit Optogenetik und denkbarer Auswirkung auf CI-Träger. Hierzu haben die Hörgeräteakustiker der Schweiz demnächst bei ihrem Kongress einen Fachvortrag auf dem Programm und zeigen somit, dass sie über das Tagesgeschäft hinaus ambitioniert sind. Es wäre schön, wenn grosse Verbände und Institutionen diesem Beispiel folgten. Eine gewisse Ahnung von den Anstrengungen der Forscher – Biologen, Biochemiker, Zellbiologen, (Elektro-)Ingenieure, Mediziner, Neurologen, Physiker, Psychologen – zur späteren Optimierung der eigenen Lebensqualität kann Hörbeeinträchtigten nicht schaden. Auch für Angehörige, Freunde und erst recht Beratende von Hörbehinderten mag es reizvoll sein, neugierig den oft abenteuerlichen Weg zu verfolgen, mit dem mutig „Unwissen in Wissen“ verwandelt wird. Das Ende dieses Wegs ist offen. Wahrscheinlich zeigt der Ausgang „uns geheimnisvolle neue Welten des Unwissens“, erklärt der Biochemiker Gottfried Schatz in seinem leidenschaftlichen Plädoyer für Forschung. (5) Das umgangssprachlich derzeit sehr beliebte, Endgültigkeit suggerierende Wort definitiv meiden zukunftsgewandte Gelehrte. ©Susi Ungricht REX (1) (2) (3) (4) (5) www.spektrum.de 21. Januar 2011 www.mpg.de - Forschung/Perspektiven/2010/Optogenetik Optogenetik. Im Licht der Zellen. Die Zeit 10. Januar 2011 www.iaf.fraunhofer.de /Wissen/Neurotechnologie/Audio infos n° 133/Mai 2012. S. auch Helga Rietz: Musikgenuss trotz Hörschädigung. High Fidelity für Cochlea Implantate. Neue Zürcher Zeitung 29. Januar 2014 (im Internet abrufbar) Echte Bildung anstatt nur Wissensvermittlung. Die wahren Aufgaben der Universitäten. In: Neue Zürcher Zeitung, 17. April 2015