1 Professionelle Beziehung und Sozialmarkt. Theologisch

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Professionelle Beziehung und Sozialmarkt.
Theologisch-anthropologische Überlegungen zu einer diakonischen Kultur der
Achtsamkeit
Bad Boll, Jahrestagung Diakonie-Sozialstationen 2010
1. Professionelle Beziehungen – Interpretationen des 21. Jahrhunderts
In der Medizin- und Pflegeethik herrscht Übereinstimmung darüber, dass sich die
professionelle Beziehung in helfenden Berufen in den letzten 100 Jahren signifikant
geändert hat. Die ältere Vorstellung eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen
Azt/ Ärztin und Patient/innen war geprägt durch eine heute als ‚Paternalismus’
kritisierte Haltung der Fürsorge. Sie basierte auf der Vorstellung eines dem Arzt oder
der pflegenden Person eigenen allumfassenden Wissens, das vom Patienten
akzeptiert und vertrauensvoll angenommen wurde. Diese vertrauensvolle Beziehung
ist nach Ansicht von Medizinethikder/innen überholt.1 Jürgen R. Bierich konstatiert
2005 kritisch: „An die Stelle einer Verantwortungsethik, bei der vornehmlich der
behandelnde Arzt die Verantwortung trägt, tritt die Vertragsethik.“2 Treffend
charakterisiert Bierich die Situation und verweist auf Analogien zu angelsächsischen
Ländern in denen juristische Fragen um Kunstfehler und Regressforderungen nach
ärztlichen Eingriffen den medizinischen Alltag dominieren. Bierich stellt fest:
„Grundlage des Denkens in vertragesethischen Normen ist der große Wert, der der
freien Selbstbestimmung des Menschen drüben (in den USA, A-N.) zugesprochen
wird, mithin auch der Autonomie und freien Entscheidung des Kranken. Notwendige
Voraussetzung ist die detaillierte Aufklärung durch den Arzt. Der Patient verlangt
ausführlichste
und
genaueste
Informationen
über
Pro
und
Contra,
über
Erfolgsaussichten und Risiken des Eingriffs und der Behandlung. Die letzte
Entscheidung liegt allein bei ihm. Er dokumentiert seine Entscheidung durch eine
schriftliche Einwilligung, den sog. informed consent.“3 Dieses Paradigma der Medizin
– und ich ergänze auch der Pflege, Sozialen Arbeit und der Heilpädagogik - hat
1
Vgl. z.B. Seidler, E., Ärztliches Selbstverständnis im Umbruch, in: Schockenhoff, E. u.a. (Hg.), Medizinische
Ethik im Wandel, Ostfildern 2005, 235ff., bes. 244ff.
2
Bierich, J. R., Arzt und Kranker. Wandlungen des Menschenbildes der Medizin, in: Schockenhoff, E., u.a. (Hg.),
Ethik im Wandel, Ostfildern 2005, 281.
3
Bierich, a.a.O., 281. Vgl. auch Graumann, S., Autonomie als moralisches Recht – eine Grundlage für die
politische Gestaltung des Gesundheitswesens? In: Dies./ Katrin Grüber (Hg.), Patient – Bürger – Kunde. Soziale
und ethische Aspekte des Gesundheitswesens (Mensch – Ethik- Wissenschaft Bd. 1), Münster 2004, 49ff.
Dörries, A., Autonomie und Fürsorge im Arzt-Patienten-Verhältnis, in: DEKV (Hg.), Sterbebegleitung und
2
zunehmend Einzug gehalten in der deutschen Medizinethik. Die Entwicklung wird
allgemein begrüßt. Dennoch wird nicht nur von Bierich kritisch angemerkt, dass diese
Haltung nicht nur einen Vertrauensverlust zwischen Arzt und Patient/in, Pflegenden
und Bewohner/innen mit sich bringt, sondern dass sie auch auf Misstrauen und
Skepsis basiert. Kritisch hinterfragt wird auch, dass das Verhältnis der Pflegenden
und Ihrer Patient/innen – analog zum Paradigma des globalisierten Marktes – als
Kaufvertrag definiert wird. „Der Arzt“ – so stellt Bierich fest – „liefert ein Stück
Gesundheit oder Therapie, der Patient erwartet, fordert und honoriert dies.
Gesundheit und Therapie werden zur Ware, zur Sache verdinglicht…“
Der für die Medizinethik aufgezeigte Paradigmenwechsel lässt sich auch in der
Sozialethik aufzeigen. Zu nennen wäre hier die Debatte um die Ambulantisierung
stationärer Einrichtungen von Menschen mit Assistenzbedarf. Auch das persönliche
Budget folgt der Logik der Vertragsethik und des selbstbestimmten Kunden/ Kundin.
Erweiterung von Handlungsspielräumen im Sinne von mehr Selbstbestimmung,
Eigenverantwortung
und
sozialer
sozialpädagogischer
Interventionen.
Integration
Methoden
ist
des
das
Ziel
Empowerment
zahlreicher
und
der
Ressourcenorientierung zielen in diese Richtung. In der Behindertenhilfe und der
Sozialpsychatrie wird das Konzept ‚Community Living’ diskutiert. Es zielt auf die
Integration von Menschen mit Assistenzbedarf in das Gemeinwesen und damit auf
Erweiterung selbstbestimmter Lebenskonzepte. Anne Dore Stein hat die Entwicklung
in Assistenzberufen folgendermaßen charakterisiert: „Um ihre Rechte und volle
Teilhabe an der Gesellschaft wahrzunehmen, brauchen Menschen mit Behinderung
Zugang zu umfassenden Qualitätsdienstleistungen mit Sitz in der Gemeinde. Das
bedeutet unabhängig in der Gemeinde zu leben, in kleinen Wohneinheiten oder
alleine, passgenaue Unterstützung, die auf den Bedürfnissen des Einzelnen aufsetzt.
Es bedeutet auch, Zugang zu haben zu Bildung, Beschäftigung sowie zum sozialen
und kulturellen Leben in der Gemeinde. Das heißt, Wahlmöglichkeiten zu haben und
in Würde zu leben.“4 Die von Stein zurecht eingeforderte Erweiterung von
Selbstbestimmung ist zu begrüßen, insbesondere, wenn sie mit einer Erweiterung
von Teilhabe und Mitwirkung im Gemeinwesen einhergeht. Autonomie und
Selbstbestimmung sind Werte, die das soziale Handeln nach einer Zeit der
fürsorglichen Bevormundung von Menschen mit Assistenzbedarf lange geprägt
Palliativmedizin. Dokumentation der Fachtagungen des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes
2003/2004, Berlin, 31ff.
3
haben und die insbesondere in der Behindertenhilfe zu einer Emanzipation und
programmatischen Neuausrichtung geführt hat 5. Heiner Bielefeld hat die Autonomie
als „Leitidee der Moderne“ bezeichnet.6 Auch heute sind die Konzepte des
Empowerment und der selbstbestimmten Teilhabe grundlegend für die Gestaltung
von professionellen Beziehungen in der Sozialen Arbeit, in der Pflege und in
Assistenzberufen.
Zu wenig wird m.E. aber reflektiert, dass eine Orientierung allein an Autonomie und
Selbstbestimmung der Lebenssituation von Menschen mit Unterstützungsbedarf
nicht gerecht wird. Sie führt zu einer verkürzten Beschreibung der professionellen
Beziehung und in deren Folge auch zu einer eingeschränkten Ziel- und
Handlungsorientierung. Die anthropologische Wirklichkeit von Angewiesenheit und
Fehleranfälligkeit des Menschen wird außer Acht lässt. Dieser Mangel wurde seit den
70er Jahren des 20. Jahrhunderts von den Vertreter/innen einer Ethik der
Achtsamkeit benannt, findet aber bis heute erst langsam Einzug in unsere ethischen
und professionellen Debatten. Er zeigt eine große Nähe zur theologischen
Anthropologie und ist deshalb für eine diakonische Kultur der Pflege und Sozialen
Arbeit aufschlussreich.
2. Achtsamkeit und professionelle Beziehungsarbeit
Bundespräsident Horst Köhler hat anlässlich des Jahrestages des Amoklaufs von
Winnenden zu einer Kultur der Achtsamkeit aufgefordert. „Aber das Wichtigste liegt
an uns selbst...“ resümiert der Bundespräsident am Ende seiner Rede „Das
Wichtigste ist: Wir können alle lernen, gut miteinander umzugehen. Wir können
darauf achten, dass niemand abseits bleibt. Wir können mehr Anteil nehmen
4
Stein, A.-D., Was ist Community Living? In: Community Living. Bausteine für eine Bürgergesellschaft, hg.v.
Maas, Th., Hamburg 2007, 17
5
Vgl. die schon 50 jährige Entwicklung in Kanada, Schweden und anderen Ländern: dazu Th. Maas (Hg.),
Community Living. Die volle Teilhabe von Menschen mit Behinderung und Psychiatrie-Erfahrenen am
gesellschaftlichen Leben sicherstellen, in: Soziale Psychiatrie 03/ 2006, 34f. und z.B. Initiativen wie community
Living toronto, die ihre Wurzeln 1948 zurückverfolgen (www.communitylivingtoronto.ca oder das reasurch train
center on community living in Minnesota (www.rtc.umn.edu) vgl. auch die Initiative von Marco Basaglia in Italien,
die 1978 zur Auflösung aller ‚Irrenhäuser’ in Italien per Gesetz führte (M. Basaglia, ). In der deutschen Debatte
hat insbesondere Klaus Dörner die ‚institutionelle Gewalt’ kritisiert: Ders., Institutionelle Gewalt, in: N. Collmar/ A.
Noller (Hg.), Menschenwürde und Gewalt. Probleme stationärer Unterbringung, Stuttgart 2006, 186ff.
6
Bielefeld, H., Autonomie, in: Handbuch der Ethik, hg. v. M. Düwell u.a., Stuttgart / Weimar 2006, 311; vgl. auch
Vorstenbosch, J., Autonomie, in: Wils, J.-P./ Hübenthal, Ch. (Hg.), Lexikon öder Ethik, Neukirchen-Vluyn 2006,
23ff.
4
aneinander, statt achtlos vorüberzugehen... Alle Menschen brauchen Zuwendung.“7
Mit den Begriff Achtsamkeit greift Köhler ein Postulat einer an Beziehung und
Fürsorge orientierten Ethik auf, die nicht allein das selbstbestimmte Subjekt, sondern
insbesondere auch den auf Kontakt und Zuwendung angewiesenen Menschen in
den Blick nimmt.
„Take Care – Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit“8, so heißt der Titel der
Doktorarbeit von Elisabeth Conradi, die im Jahr 2001 erschienen ist. Conradis
feministischer Ansatz der Ethik zeichnet sich durch eine breite Kritik abendländischer
Ethikkonzeptionen aus. Diese haben sich nach ihrer Ansicht vor allem am Paradigma
des selbstbestimmten, vernunftbegabten autonomen Menschen (insbes. des
Mannes) orientiert. Der Bereich der Fürsorge, Sorge, die Einsicht in die gegenseitige
Verwiesen- und Angewiesenheit des Menschen, die Notwendigkeit sozialer
Netzwerkarbeit und Verbundenheit wurde und wird nach Conradi in den bisherigen
ethischen Diskussionen in den Bereich des Privaten, des Gefühls und - so ergänze
ich des Religiösen - (Barmherzigkeit, Mildtätigkeit und Nächstenliebe) verschoben.
Sie
gehören
nach
Conradi
in
den
traditionell
weiblich
konnotierten
Lebenszusammenhang von Pflege, Hingabe und (Selbst)- Aufopferung. Achtsamkeit,
soziale Bezogenheit und Sorge füreinander aber muss über den Bereich des
Privaten und des Gefühls hinaus als ethisches Prinzip, als Leitziel ethischen
Handelns verstanden und formuliert werden. Einer Theorie und Praxis der Ethik –
und ich ergänze des Sozialen – fehlt ein gewichtiger Aspekt, wenn die gegenseitige
soziale Angewiesenheit nicht als fundamentale Daseinsaufgabe begriffen wird. 9
In der philosophischen, insbesondere in der feministischen Ethik der Fürsorge/
Achtsamkeit (Care-Ethik) wurde übereinstimmend mit der theologischen Tradition die
geteilte Verletzlichkeit und das gegenseitige Angewiesensein von Menschen
beschrieben.10 Jean-Pierre Wils bezeichnet Verletzlichkeit und Abhängigkeit als
„anthropologische Urszene“.11 Während Autonomie und Selbstbestimmung den
7
Köhler, H., „Achtsam miteinander umgehen“ Rede von Horst Köhler anlässlich des Jahrestages des Amoklaufes
von Winnenden (11.März 2010), (www.stuttgarter-zeitung.de, 12.03.2010)
8
Conradi, E., Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt/ New York 2001.
9
Conradis Kritik knüpft an an die in den siebziger und achtziger Jahren geführte feministische Kritik Carol
Gilligans an herrschenden Ethikansätzen. Vgl. Gilligan, C., Moralische Orientierung und Moralische Entwicklung,
in: Büttner, G. u.a. (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 79ff., dies., Die andere
4
Stimme, Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1984/ 1990 vgl. auch Conradi, Take Care, 26ff., 96;
Wendel, S., Feministische Ethik. Zur Einführung, Hamburg 2003.
10
Vgl. Wils, J.- P., Autonomie und Passivität. Tugenden einer zweiten Aufklärung im medizinischen Kontext, in:
Baumann-Hölzle, R., u.a. (Hg.), Leben um jeden Preis? Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin, Bern u.a.
2004, 43ff.; Schnabl, Ch., Fürsorge zwischen kirchlicher Tradition und feministischer Kritik, in: Lob-Hüdepohl, A.
(Hg.), Ethik im Konflikt der Überzeugungen, Freiburg/ Schweiz 2004, 138ff.
11
Wils, J.-P., Autonomie und Passivität, 52.
5
Menschen als in sich selbst und nach eigenen Maßstäben agierendes Subjekt
betrachten, kommt die Ethik der Achtsamkeit12 zu dem Ergebnis, dass Menschen
radikal aufeinander angewiesen sind. Die Care-Ethik geht von der gegenseitigen
Bezogenheit von Menschen aus. Das Individuum existiert nicht autonom, sondern
stets in Beziehung und Bedeutung für andere. Eine Kultur der Achtsamkeit schließt
die Erkenntnis der Fehleranfälligkeit des Menschen ebenso ein wie die Interpretation
der Würde „als Zeichen einer geteilten Verletzlichkeit und Verletzbarkeit des
Menschen“13, die auch das Ungewollte und nicht Rationale des Handelns von
Individuen in Rechnung stellt. Diese geteilte Verletzlichkeit erfordert unterstützendes
Handeln, das nicht allein die Förderung der Autonomie im Blick hat, sondern auch die
Bewahrung und Achtsamkeit gegenüber den Menschen, die verletzbar und verletzt
sind.
Achtsamkeit wird nach Elisabeth Conradi charakterisiert: „als Weltsicht der
Verbundenheit, als ein an Bedürfnissen orientierter Kontakt und als sorgende
Aktivität.“14 Der Begriff Achtsamkeit drückt „das Anliegen aus, dass Menschen
füreinander von unermesslicher Bedeutung sind“15 – und zwar, so ergänze ich,
unabhängig von ihrer Kaufkraft und ihrer individuellen Leistungsfähigkeit.
Bemerkenswert ist, dass Achtsamkeit nach Conradi über die traditionellen
Vorstellungen von Achtung hinaus geht, weil sie keine Gegenseitigkeitsvorstellung im
Sinne autonomer und ebenbürtiger Menschen voraussetzt. Sie geht über klassische
Ethikansätze hinaus, weil sie nicht nur verbale, ‚vernünftige’ Kommunikation zu
Grunde legt, sondern die soziale Bezogenheit in Denken, Fühlen und Handeln
reflektiert. In der Ethik wurde bisher vor allem die Gegenseitigkeit im Gegenüber von
selbstbestimmten erwachsenen Individuen betont (Gesellschaftsvertrag, goldene
Regel, Diskursethik, Verantwortungsethik, Vertragsethik etc.). Eine Ethik der
Achtsamkeit geht dagegen davon aus, dass die gegenseitige Verwiesenheit nicht nur
in symmetrischen Beziehungen stattfindet, sondern gerade auch in assymetrischen
Verhältnissen, auch in Abhängigkeit, ihre Verwirklichung finden kann.16 Assymetrie
bedeutet dabei nicht nur einseitige Machtverhältnisse, sondern eine spezifische Art
12
Gilligan, C., Moralische Orientierung und Moralische Entwicklung, in: Büttner, G. u.a. (Hg.), Die religiöse
Entwicklung des Menschen, Stuttgart 2000, 79ff., dies., Die andere Stimme, Lebenskonflikte und Moral der Frau,
4.
München 1984/ 1990 ; Schnabl, Fürsorge, 138ff.; Kittay, E.F., Behinderung und das Konzept der Care-Ethik, in:
Graumann, S. u.a. (Hg.), Ethik und Behinderung, Frankfurt/ New York 2004, 67ff.; Conradi, E., Take Care.
Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit, Frankfurt/ New York 2001; dies., Feministische Ethik, in: Dingel, I. (Hg.),
Feministische Theologie und Gender-Forschung, Leipzig 2003, 155ff.
13
Josephine Butler, zit. in: Wils, Autonomie und Passivität, 54.
14
Conradi, Take care, 21.
15
Conradi, ebd., 24.
6
der Kommunikation, in der die einen die aktiv Zuwendung geben, die anderen aber
ebenso aktiv diese Zuwendung annehmen. Assymmetrische Kommunikationen sind
Merkmal der Ethik der Achtsamkeit. Assymmetrtie in der Kaufkraft wäre hier
mitzudenken.
Zusammenfassend kann man festhalten: ‚Normalität’ verwirklicht sich nicht allein in
selbstbestimmter
Lebensführung,
sondern
ebenso
in
der
biografisch
wiederkehrenden Angewiesenheit auf personale und soziale Unterstützung (Kindheit,
Krankheit, Alter). Unterstützungsbedarf ist nicht Merkmal von Menschen mit
Krankheiten oder Behinderungen, sondern Krankheit und Behinderung ist im
gesamten Lebensverlauf Merkmal aller Menschen. Der stets unabhängige,
vernünftige, entscheidungskompetente und kaufkräftige Mensch ist – darin muss
man der Ethik der Achtsamkeit Recht geben – eine ‚un-menschliche’ Fiktion. Denkt
man vor diesem Hintergrund über die Gestaltung professioneller Beziehungen nach,
so kann sich diese nicht allein am Paradigma des autonomen, auf Erweiterung von
Selbstbestimmung und Teilhabe ausgerichteten Menschenbildes orientierten, auch
nicht am Paradigma des selbstbestimmten Kunden allein. Eine Reflexion der
helfenden Beziehung muss vielmehr auch im Sinne einer Ethik der Achtsamkeit das
Irrationale, Fehleranfällige und die Angewiesenheit von Menschen in Situationen der
Krankheit, Demenz, Pflege, sozialer Verwahrlosung und Verarmung reflektieren.
Nicht allein die Vermeidung von Abhängigkeit ist das Ziel, sondern auch die
sorgsame und fürsorgende Gestaltung von asymmetrischen Beziehungen ist
unerlässliche Aufgabe einer professionellen Haltung.
3. Theologische Anthropologie und Ethik der Achtsamkeit
Im Unterschied zu einer Interpretation der professionellen Beziehung im Paradigma
des Vertrages mit selbstbestimmten Kunden, interpretiert die Diakonie und ihre
christliche Anthropologie die helfende Beziehung im Kontext der biblischen
Theologie.17 Diese beschreibt den Menschen als Geschöpf Gottes. Die Beziehung
16
17
Conradi, 24, 51ff.
Vgl. zur Theologie der Diakonie z.B. Haslinger, H., Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der
Kirche, Paderborn 2009, hier: 205ff.; zum diakonischen Menschenbild z.B.: Weth, R., Ecce homo –
Vom neuen Sehen des Menschen in der Diakonie. Biblisch-theologische Impulse zum diakonischen
Menschenbild, in: Bell, D./ Maaser, W./ Schäfer, G.K. (Hg.), Diakonie im Übergang, Bochum 2007,
68ff.
7
Gottes zu seinen Geschöpfen konkretisiert sich in der Erzählung von der Errettung
aus der Sklaverei, diakonisches Selbstverständnis entwickelt sich im Zusammenhang
einer Theologie der Rechtfertigung von Sünder/innen durch Gottes versöhnendes
Handeln und dem Ende des Leides im Licht der Auferstehung, die helfende
Beziehung wird nicht zuletzt in der Tradition der Nächstenliebe zu dem unter die
Räuber gefallenen Mitmenschen interpretiert. Sie gipfelt in der Vorstellung, dass der
Dienst am notleidenden Bruder oder Schwester ein Dienst am notleidenden Christus
selbst ist (Mt 25).
Diakonische Anbieter bewegen sich heute auf einem Pflege- und Sozialmarkt, der die
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Handelns und damit auch die Gestaltung
der Beziehung zu den Personen bestimmt, die diakonische Dienste in Anspruch
nehmen. Trotz des Einflusses, den die Ökonomisierung des Sozialen auf
diakonisches Handeln nimmt, muss kritisch reflektiert werden, ob das Paradigma des
autonomen, kaufkräftigen Kunden bzw. der Kundin die helfende Beziehung nach
einem christlichen Verständnis sachgerecht beschreiben kann oder ob diakonische
Anbieter nicht mit der Verwendung des Kundenparadigmas und einer alleinigen
Ausrichtung an Konzepten der Selbstbestimmung in Konflikte geraten zu einem
biblischen Menschenbild, das eine große Nähe zur Ethik der Achtsamkeit zeigt.
Zwei
Grundgedanken
der
biblischen
Theologie
widersprechen
dem
Kundenparadigma als einer hinreichenden Metapher zur Beschreibung von
helfenden Beziehungen. Zuerst ist hier die Rechtfertigung des Sünders und der
Sünderin
ohne
Verdienst
zu
nennen.
In
der
christlichen,
insbesondere
reformatorischen Theologie gibt es einen zentralen Gedanken, der hilfreich ist, zu
verstehen, weshalb der Mensch als ‚Krone der Schöpfung‘ (Gen 1, 26f.) dennoch
verletzbar ist und trotz seiner Vernunft und moralischen Begabung Fehler begeht,
schuldig wird. Die lutherische Sündenlehre besagt, dass der Mensch, mit Gnade und
Herrlichkeit gekrönt, zugleich unfähig ist, immer das Gute zu tun (Röm 7, 18f.) Sünde
ist untrennbarer Teil der menschlichen Existenz, obwohl Menschen als Gottes
Ebenbild
wunderbar
erschaffen
sind
(Gen
1,26f;
Ps
139,
14).
Diese
Unvollkommenheit des Menschen ist prinzipiell im Menschsein angelegt. Die
einzelnen Fehlleistungen sind Ausdruck einer grundsätzlichen Fehleranfälligkeit. Die
in der Schöpfung geschenkte Gottebenbildlichkeit ist durch die Sünde getrübt. Der
8
Mensch ist auf Gnade angewiesen.18 Diese schenkt Gott in Christus und zwar ohne
Verdienst,
allein
aus
Gottes
Gnade
(Röm
3,
21ff.).
Der
Gedanke
der
Unvollkommenheit des Menschen bei gleichzeitiger Akzeptanz Gottes ohne
Verdienst und Gegenleistung gehört zu den biblischen Grundaussagen, die
Konsequenzen haben für eine diakonische Gestaltung der helfenden Beziehung.
Auch im alltäglichen Zusammenleben sind Menschen darauf angewiesen, in ihrer
Verletzlichkeit und in Schuld angenommen und akzeptiert zu sein. Die christliche
Interpretation der ‚dignitas humana‘ durch den Rechtfertigungsgedanken ist für die
soziale und pflegende Professionen deshalb hilfreich, weil sie deutlich macht, dass
jeder Menschen unabhängig von seiner / ihrer Kaufkraft, unabhängig auch von der
eigenen Leistungsfähigkeit, unabhängig vom sozialen Status oder Herkunftsland auf
die Zuwendung des Mitmenschen Anspruch hat. Der Rechtfertigungsgedanke kann
erklären, dass ein Täter/ eine Täterin – auch die schwerer Gewaltdelikte – zwar
schuldig geworden ist, deshalb aber dennoch die Würde nicht verliert. Einander in
Gnade anzusehen, wie Gott seine Geschöpfe ansieht, bedeutet auch, mit Versagen,
Vermeidung und Rückfällen zu rechnen und sie als ethische und humane Aufgabe im
Miteinander zu betrachten.19 Gegen eine Kultur der permanenten Leistung und
Selbstrechtfertigung stellt die christliche Ethik die Erkenntnis der Annahme ohne
Verdienste, der Rechtfertigung ohne Gegenleistung. Das bedeutet auch: Kein
Mensch kann die von Gott geschenkte Würde durch sein Handeln letztlich zerstören.
Jeder Mensch hat aufgrund seiner Geschöpflichkeit das Recht auf Leben und
professionelle und soziale Unterstützung. Das bedeutet aber auch, dass jeder
Mensch um seiner selbst willen gefördert und unterstützt wird und nicht aufgrund
seiner Leistungen, Fortschritte, nicht aufgrund seiner/ihrer Angepasstheit und
Erfüllung von Normalitätsnormen – geschweige denn aufgrund einer Kaufkraft.
Ein zweiter Grundgedanke der biblischen Anthropologie widerspricht einer
ausschließlichen Orientierung am Paradigma des autonomen Kunden bzw. der
Kundin. Der Theologe Hennig Luther hat in einem Plädoyer für die Fragmentarität in
der anthropologischen Konzeption gezeigt, dass erst die Fähigkeit zu leiden,
verletzbar und fehlbar zu sein die Fähigkeit zu lieben, eröffnet. Sie eröffnet die
18
3
3
Härle, W., Dogmatik, Berlin 2007 ; Barth,. H.-M., Dogmatik, Gütersloh 2008 ; Jüngel, E., Der Gott
entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur christlicher
3
Anthropologie, in: Ders., Entsprechungen: Gott - Wahrheit - Mensch, Tübingen 1980/ 2002 , 290ff.
19
Vgl. dazu: Huber, W., Art. Menschenrechte, Menschenwürde, in: Theologisches Reallexikon (TRE )
Bd. XXII, Berlin/ New York 1992, 577ff., hier: 591f.
9
Fähigkeit Beziehungen einzugehen, sie ermöglicht Hoffnung und eröffnet Zukunft.20
In
Abgrenzung zu
einer Konzeption des
Menschen als
abgeschossenes,
vollkommenes - und ich ergänze autonomes - Subjekt votiert Luther auf dem
Hintergrund des biblischen Menschenbildes für eine Interpretation des Lebens als
„Fragment“. Als Menschen sind wir nach Luther „immer auch Ruinen unserer
Vergangenheit“21, die Erfahrungen von Verlust, Trauer und Versagen bergen, in
Erinnerung bringen. Eine alleinige Orientierung an einem sich vervollkommnenden
Subjekt wird dem Menschen nicht gerecht und führt zu Verdrängungen und
Pathologien. „Wir sind“ nach Luther „auf jeder Stufe unseres Lebens Fragmente und
Entwürfe der Zukunft. Wir sind Baustellen, von denen wir nicht wissen, ob und wie an
ihnen weitergebaut wird“22. Der fragmentarische Charakter des Menschen ermöglicht
Sehnsucht, Zukunftsfähigkeit und Unabgeschlossenheit, er ist der Grund der
Hoffnung. „Wir sind nach Luther „nur wir selbst, insofern wir verletzlich sind und offen
sind für andere.“23 Eine autonome, in sich abgeschlossene Ganzheit des Menschen
bedeutete nach Luther den Verzicht auf Liebe, auf Beziehung.
Die biblische Anthropologie ist durch die Annahme geprägt, dass die Fähigkeit zu
lieben, zu hoffen, aber auch zu trauern, zu versagen und schuldig zu werden den
Menschen in seiner Menschlichkeit ausmacht. Der Mensch ist Ebenbild Gottes nicht
nur in seiner Vollkommenheit, sondern gerade auch im Leiden, in den Abgründen
des Lebens, in Krankheit, Schuld und Unvollkommenheit. Ulrich Bach hat das
christliche Gottesbild treffend charakterisiert, wenn erschreibt, dass der biblische Gott
nicht nur ein Wünsche erfüllender Schönwettergott ist, sondern auch der “dunkle,
jähe Wüstengott, dessen Liebeswerk – laut Bibel darin gipfelt, daß Jesus von
Nazareth schreiend am Kreuz stirbt.“24. Das Defizitäre und die Angewiesenheit des
Menschen gehört zur anthropologischen Konzeption der Bibel. Nicht nur in der
Vollkommenheit der Schöpfung, sondern auch in Leiden und Unvollkommenheit, in
Schmerz und Versagen sind Menschen Ebenbilder des gekreuzigten Gottes, in
dessen Leiden und Sterben die Vollkommenheit der Auferstehung durchscheint. In
der Ohnmacht des Kreuzes wird der Sieg über den Tod errungen (vgl. 1. Kor 15,1ff.).
In den konkreten Situationen der Angewiesenheit und der Hilflosigkeit werden
20
H. Luther, Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit, in: WzM 1991, 262ff. Vgl. ders., Identität und
Fragment, in: Theologie Practica 20/ 4/ 1985, 317ff.
21
Luther, Leben als Fragment, 268.
22
Luther, Leben als Fragment, 269.
23
Luther, Leben als Fragment, 269. Vgl. Rezeption Bei Klaus Dörner, Leben als Fragment. Die Politik der
Lebensführung vom Anderen her, in: WzM 52/ 2000, 128ff.
10
Menschen füreinander zum Nächsten und damit zu Adressaten und Adressatinnen
diakonischen Handelns. Auf die Frage des Schriftgelehrten : „Wer ist denn mein
Nächster“ (Luk 10, 29) antwortet Jesus in der Erzählung vom barmherzigen
Samariter nicht mit einer formalen Beschreibung, die etwa lauten könnte: Dein
Mitmensch, deine Mitbürgerin, der Kunde deiner Pflegestation, deine Nachbarin, oder
die Leistungsberechtigte nach dem Sozialgesetzbuch. Jesus antwortet mit der
spontanen Empathie und der im Augenblick der Not entstehenden Beziehung
zwischen dem hilflos am Wegrand Liegenden und dem samaritanischen Ausländer,
der erkennt, dass er für diesen Mensch in seiner Verletztheit und Hilfebedürftigkeit
zum Nächsten werden muss, ums sein Leben zu retten. Folgerichtig fragt Jesus:
„Wer glaubst du, ist zum Nächsten geworden dem, der unter die Räuber gefallen
ist?“ (Lk 10, 36)25. In dieser diakonischen Schlüsselerzählung wird das Hilfehandeln
weder durch einen autonomen Akt der Selbstbestimmung noch durch die Kaufkraft
des
Hilfesuchenden
motiviert,
sondern
allein
durch
seine
Angewiesenheit,
Hilflosigkeit und Bedürftigkeit – durch die existenzielle Bedrohtheit des unter die
Räuber Gefallenen. Die Achtsamkeit des Vorbeireitenden, seine Empathie und
Hilfsbereitschaft retten sein Leben.
3. Achtsamkeit, Selbstbestimmung und Freiheit
Die theologische Anthropologie und die Ethik der Achtsamkeit stimmen in der Kritik
an der Selbstbestimmung als Inbegriff einer Konzeption des Humanen überein. Das
diskreditiert aber die Selbstbestimmung nicht als Ziel des diakonischen Handelns.
Insbesondere dort, wo Autonomie nicht als Selbstverwirklichung im Sinne einer an
Lust und Vermeidung orientierten Spaßgesellschaft verstanden wird, sondern
vielmehr wie in der Philosophie Kants als Zustimmung des vernunftbegabten
Subjektes
zu
den
die
individuellen
Freiheiten
wahrenden
Gesetzen
des
Gemeinwesens steht Selbstbestimmung nicht im Widerspruch zur theologischen
Anthropologie. Autonomie bedeutet in der philosophischen Tradition nach Kant die
Freiheit, dem Guten aus Vernunft zu zustimmen.26 Die Ethik der Achtsamkeit
24
Bach., U., Der behinderte Mensch als Thema der Theologie, in: Moltmann, J.; Diakonie im Horizont des
2
Reiches Gottes, Neukirchen 1984/ 1989 , 96.
25
Zur Übersetzung vgl. Bovon, F., Das Evangelium nach Lukas (EKK, Bd. III/2) Zürich/ Düsseldorf
1996, 81ff, hier: 91f.
26
2
Anzengruber, A., Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992/ 2002 , 99ff.
11
widerspricht auch nicht den aus der Psychologie und Heilpädagogik stammenden
Ansätzen der Selbstbestimmung. Selbstbestimmung ist in den psychologischen und
philosophischen Fachdiskursen wie der biblische Freiheitsbegriff nicht allein am
kognitiven Agieren orientiert, sondern breiter als „die (relativ) freie Verfügbarkeit des
Menschen über sich selbst und sein Verhalten“ bestimmt.27 Selbstbestimmung zählt
in der Heilpädagogik und Psychologie zur Entwicklung und Entfaltung der
Persönlichkeit, die sich in Abgrenzung und Bezogenheit zur Umwelt vollzieht.
Selbstbestimmung entspricht dem Drang des Menschen nach Selbstorganisation,
Selbsterhaltung und Entfaltung der Persönlichkeit im Kontext eines nach den
individuellen Bedürfnissen gestalteten Lebensumfeldes. Georg Theunissen und
Wolfgang Plaute unterscheiden zwei Grundpositionen von Selbstbestimmung.
Selbstbestimmung wird einerseits als ein ‚individualistische Kategorie’ und
andererseits als eine ‚soziale Kategorie’ verstanden. In der individualistischen
Version stehen egoistische Rigorosität und Individualismus im Vordergrund, die
überwiegend an den eigenen Bedürfnissen orientiert sind. In der sozialen Konzeption
von
Selbstbestimmung
dagegen
geht
es
nach
Theunissen
/Plaute
um
Handlungsspielräume, die sich im Zusammenleben mit anderen Menschen eröffnen,
um die Entwicklung des Ich’s im Dialog und in Bezogenheit auf ein Du, bzw. wir.28
Die
biblische
Anthropologie
widerspricht
dem
fachlich
reflektierten
Selbstbestimmungsbegriff nicht, korrespondiert vielmehr mit seinen Grundgedanken.
In der Bibel begegnet wiederholt der Gedanke, dass die Freiheit des Menschen in
der liebenden und befreienden Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen wurzelt. Im
Buch Exodus wird die Freiheit des Menschen aus der Versklavung in politischer
Knechtschaft erzählt. Der befreiende Gott stellt den Menschen in die Freiheit und gibt
dem wandernden Gottesvolk den Auftrag die von Gott gestiftete Gemeinschaft zu
gestalten. Im Reden und Handeln Jesu begegnet der Ruf in die Freiheit als Vision
vom Reich Gottes, das Gerechtigkeit und Frieden heraufführen wird. Der Sohn
Gottes, der sein Leben dahingibt zur Erlösung des Menschen ruft in die Nachfolge
und darin in die Freiheit der Kinder Gottes. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal
5,1) schreibt der Apostel Paulus und bringt damit zum Ausdruck, dass die im
27
Keller, J./ Novak, F., Kleines Pädagogisches Wörterbuch. Grundbegriffe – Praxisorientierungen – Reformideen,
Freiburg/ Basel/ Wien 1993, 313. Zur Selbstbestimmung als Leitziel der Heil- und Sonderpädagogik vgl. auch:
Rittmeyer, Ch., Zur Bedeutung von Selbstbestimmung in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen
Behinderung, in: Sonderpädagogik 31/ 3/ 2001, 141ff.; Stinkes, U., Selbstbestimmung - Vorüberlegungen zur
Kritik einer modernen Idee, in: Bundschuh, K. (Hg.): Wahrnehmen - Verstehen - Handeln. Perspektiven für die
Sonder- und Heilpädagogik im 21. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2000,169ff.
28
Theunissen. G./ Plaute, W. (Hg.), Empowerment und Heilpädagogik. Ein Lehrbuch, Freiburg i.Br. 1995, 51ff.
12
Glauben geschenkte Gnade frei macht zu einer mündigen und eigenverantwortlichen
Lebensgestaltung, die auch die Nöte und Bedürfnisse des Nächsten in den Blick
nimmt. Die im Glauben Gerechtfertigten sind frei zur Erneuerung ihrer Beziehungen,
frei zur Gestaltung ihres Lebens und des Gemeinwesens.29 Diese ‚Freiheit eines
Christenmenschen, wie Martin Luther sie genannt hat’30, hat Folgen für das
diakonische Handeln. Menschen sind – wie Jürgen Moltmann sagt – „nicht Objekte
christlicher Wohltätigkeit, Mildtätigkeit und Liebe. Sie sind zuerst ‚Reichsgenossen’
(Mt 5,3)... sie sind Subjekte im Reich Gottes, nicht Objekte unseres Mitleids“31. Das
heißt konkret: Diakonie wird dort zum Miteinander des wandernden Gottesvolks, wo
Glaubenssolidarität Vorrang hat vor fürsorglicher Bevormundung. Die von Moltmann
beschriebene Reichsgenossenschaft – oder Glaubenssolidarität des Volkes Gottes –
wird sichtbar, wo
Eigeninitiativen von Pflegebedürftigen gefördert werden, wo
Initiativen und Begabungen von Menschen mit Assistenzbedarf gewürdigt und
unterstützt werden. ‚Reichsgenossenschaft’ der im Glauben Befreiten wird dort
gelebt, wo Mitarbeitende ihre Kompetenzen einbringen, um Mobilität und Initiative
von Patient/innen zu fördern und zu entdecken. Das Reich Gottes wächst schon in
dieser Welt, wo Selbstständigkeit gefördert, Mobilität erhalten und Eigeninitiativen,
auch eigensinnige Lösungsstrategien entdeckt und unterstützt werden. Der Glaube
inspiriert eine diakonische Personalführung, die die Gaben und Begabungen der
Mitarbeitenden fördert und als Beitrag zur Mitarbeit am Reich Gottes würdigt.
‚Reichsgenossenschaft’ tritt ein für eine Pflege und Soziale Arbeit, die die Nächsten
als Partner/innen der Heilung, Partner/innen der Integration sieht, als zu achtende
und wertgeschätzte Mitmenschen, deren Ideen und Leistungen Wertschätzung und
Würdigung verdienen. Aber: Das Reich Gottes scheint auch da auf – und das ist
wichtig zu betonen -, wo in Achtsamkeit und Achtung vor dem Nächsten die Grenzen
der Belastbarkeit akzeptiert und Unterstützung in Situationen der Hilflosigkeit und
Angewiesenheit gewährt wird, wo gemeinsam getrauert wird um unwiederbringbare
Lebensperspektiven
und
die
Ohnmacht
angesichts
austherapierter
Krankheitssituationen miteinander bis zum Ende getragen wird.
Kritikwürdig erscheint zusammenfassen aus einer biblischen Anthropologie der
Beziehung nicht der Gedanke der Selbstbestimmung und Freiheit an sich, sondern
vielmehr eine Alleinstellung des Autonomie und Leistungsgedankens der Moderne.
29
30
Vgl. K. Barth, KD IV/1.
M. Luther, WA 7, 20ff.
13
Kritikwürdig erscheint insbesondere die Verbindung mit dem ökonomisch motivierten
Kundenbegriff.
5. Diakonische Kultur und Sozialmarkt
Die Interpretation und Gestaltung der professionellen helfenden Beziehung hat sich
seit der Gründerzeit der modernen Diakonie im 19. Jh. wiederholt gewandelt. Die
helfende Beziehung wurde im 19. Jahrhundert durch die Nächstenliebe bzw.
‚Liebespflege’ (Wichern) interpretiert. Sie war eingebunden in eine diakonische Kultur
der Lebenshingabe der Gründergeneration, die durch Spenden und persönlichen
Einsatz für die durch die Industrielle Revolution ausgegrenzten, verarmten und unter
die Räder gekommenen Mitmenschen gestaltet war. Die helfende Beziehung war
durch persönlichen Lebenseinsatz (Diakone/ Diakonissen, Hausgenoss/innen32)
geprägt. Mit der subsidiären Einbindung der Freien Wohlfahrtspflege in den
Sozialstaat setzt eine Professionalisierung und fachliche Aufwertung der helfenden
Berufe ein, die dazu führt, dass diakonisches Handeln im 20. Jahrhundert zum Beruf
wird, der Rechtsanspruch der Bedürftigen wird durch Entgelte und Pflegesätze
finanziert. Die helfende Beziehung wird fachlich als professionelle Beziehung zum
Klienten mit Rechtsansprüchen und Unterstützungsbedarf beschrieben. Mit der
Einführung des Sozialmarktes im 21. Jahrhundert wandelt sich das Verhältnis zum
Adressaten der Hilfe erneut. Im Zuge der Verknappung der Ressourcen und des
Postulats der Eigenverantwortung werden Klient/innen zu selbstbestimmten Kunden
bzw. eigenverantwortlichen Kundinnen. War die diakonische Kultur im 20.
Jahrhundert eingebettet in einen an Fachlichkeit und sozialer Gerechtigkeit
orientierten Diskurs, so ist sie im Sozialmarkt dominiert von einer Kultur der
Ökonomisierung aller Lebensbereiche und dem Diskurs um Leistungsgerechtigkeit
versus Subvention.33 .
31
Jürgen Moltmann, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes, 2. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1989, 26. Ders.,
Theologie der Hoffnung, München 1964.
32
Die Grundform der Lebenshingabe an das Werk war bei Wichern, Fliedner, Gustav Werner und
anderen Gründervätern – und müttern ähnlich: Sie motivierten Menschen, ihre Arbeitskraft und ihr
Leben ganz in den Dienst der diakonischen Gemeinschaft zu stellen.
33
Die Ökonomisierung des Sozialsektors wird mit der Einführung der Pflegeversicherung (1994) angesetzt, vgl.
Olk, Th., Träger der Sozialen Arbeit, in: Handbuch der Sozialarbeit/ Sozialpädagogik, hg.v. H.-U. Otto
u. H. Thiersch, Neuwied 2001, 1910ff.; Vgl. dazu z.B. Wilken, U. (Hg.), Soziale Arbeit zwischen Ethik
und Ökonomie, Freiburg i.Br. 2000; Ulshöfer, G./ Bartmann, P./ Segbers, F./ Schmidt, K.W. (Hg.),
Ökonomisierung der Diakonie, Frankfurt a.M. 2004.
14
Die Interpretation der helfenden Beziehung durch das Paradigma des bzw. der
Kundin knüpft an an die fachlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, an den
Konzepten
des
Empowerments,
der
Gemeinwesenorientierung
und
der
Selbstbestimmung. Franz Segbers beschreibt die zunächst positive Wirkung des
Kundenbegriffs für die Gestaltung professioneller Beziehungen, die darin lag, einen
„patriarchalen Gestus einer Hilfe von oben“ abzuwehren und stattdessen den
„Kunden als König“ als Subjekt seiner Bedarfe und Entwicklungsmöglichkeiten in den
Fokus des Hilfehandelns zu stellen.34 Trotz dieser positiven Intention sieht auch
Segbers die Diakonie vor einer „Kulturwende“, die unter anderem durch den
Kundenbegriff impliziert wird: „Die Ökonomisierung hat das Binnenverhältnis
zwischen Hilfebedürftigen und dem Erbringer eines sozialen Dienstes grundlegend
gewandelt. An die Stelle einer verantwortungsethischen Motivation des diakonischen
Handelns tritt mit den Kundenparadigma eine Vertragsethik, welche die Autonomie
des
Hilfebedürftigen zum
obersten
Prinzip
erhebt.“35 Damit ist
zwar der
Selbststeuerung des Kunden bzw. der Kundin Rechnung getragen, die professionelle
Beziehung nimmt aber die Gestalt eines Kaufvertrages an, der sich von anderen
Kaufverträgen u.a. dadurch unterscheidet, dass er im Kontext von ‚Fördern und
Fordern’ auch mit Sanktionen gegen den Kunden, die Kundin einhergehen kann.
Neben der Verdinglichung der Dienste wird kritisiert, dass die Leistung zu einem
Konsumgut wird und dass angesichts der Verknappung von Ressourcen auf dem
‚Sozialmarkt’ die Gefahr besteht, dass nur der kaufkräftige Kunde und die solvente
Kundin die Leistung in einer guten Qualität erwerben können. Segbers kritisiert m.E.
zurecht, dass das Kundenparadigma nicht nur die Interpretation des Adressaten als
Klient/innen abgelöst hat, sondern auch die Vorstellung des Rechtsanspruchs eines
Bürgers, einer Bürgerin im Sozialstaat. Die Kundin ist gegenüber dem Bürger in einer
rechtlich schwächeren Position, die Einführung des Kundenbegriffs geht einher mit
einem Abbau von rechtlichen Ansprüchen im Zuge der Sanierung des Gesundheitsund Sozialwesens.36 Mit der Einführung des Kundenbegriffs treten nicht nur die
bürgerlichen und rechtlichen Dimensionen in der professionellen Beziehung in den
Hintergrund, sondern auch die theologischen, an der Not des Mitmenschen
orientierten Aspekte des Beziehungsgeschehens. Die theologische und menschliche
Tiefe einer diakonischen Kultur wird – trotz überzeugender Leitbilder und
34
Segbers. F., Die Menschenfreundlichkeit Gottes und die Kundenfreundlichkeit der Diakonie, in: Ulshöfer, G./
Bartmann, P./ Segbers, F./ Schmidt, K.W. (Hg.), Ökonomisierung der Diakonie, Frankfurt a.M. 2004, 129.
35
Segbers, Menschenfreundlichkeit Gottes, 138.
15
Imagekampagnen - angesichts der Ressourcenverknappung immer schwerer
glaubwürdig vermittelbar.
Diakonische Träger müssen sich mit ihren Angeboten auf dem Sozialmarkt
professionell bewegen – das ist unbestritten. Die Regeln und Instrumentarien des
Marktes und der Ökonomie zu kennen und verantwortlich zu handhaben ist
notwendig und hilfreich für diakonisches Handeln - zumal in Zeiten knapper Kassen,
aber auch im Sinne und zum Nutzen von Patient/innen, Ratsuchenden,
Notleidenden, Klient/innen und Kund/innen. Hier sind vor allem die Kirchenbezirke
und Träger diakonischer Einrichtungen in der Verantwortung für eine fachlich
innovative und zeitgemäße Aufstellung von Diakonie- und Pflegestationen. Dennoch
ist die Frage erlaubt, ob sich diakonische Träger unkritisch das Vokabular und damit
auch die Inhalte der Ökonomisierung zu eigen machen sollen. Sozialmarkt und
Kundenbegriff sind keineswegs Ausdruck von wertneutralen, wirtschaftlichen
Konzepten, sondern sie sind ihrerseits theorie- bzw. ideologiegeladen: Das zeigen
Statements wie die des Münchner Wirtschaftsethikers Karl Homann, der zum
Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik 2002 referiert: „Marktwirtschaft löst die alte
Mildtätigkeit ab, sie ist die effizienteste Form der Caritas, die die Weltgeschichte
bisher gesehen hat.“37
Die Ökonomisierung des Sozial- und Gesundheitssektors ist Ausdruck eines
Politikwechsels der dem Paradigma des solidarischen Gemeinwesens das
Paradigma des alles regulierenden Marktes gegenüberstellt. Franz Xaver Kauffmann,
emeritierter Professor für Sozialpolitik und Soziologie an der Universität Bielefeld, hat
in einer Publikation aus dem Jahr 2003 in überzeugender Weise gezeigt, dass die
Organisation von Wohlfahrtsstaaten (USA, Europa und Russland) den je eigenen
kulturellen Tradition unterliegt.38 Aufschlussreich ist insbesondere, dass z.B. die an
Freiheitswerten orientierte amerikanische Kultur der aus Europa ausgewanderten,
und
dort
unterdrückten
religiösen
Minderheiten
ein
Wirtschafts-
und
Wohlfahrtssystem entwickelt hat, das insbesondere die Freiheit des Marktes und des
Individuums propagiert. Dieser Kultur entsprechen wurde bis zur Präsidentschaft
36
Segbers, Menschenfreundlichkeit Gottes, 129f.
Homann, K., zitiert bei: Segbers, Menschenfreundlichkeit Gottes, 128 (Originalzitat aus: CASH,
Wirtschaftsmagazin vom 1.2.2002)
38
Kauffmann, F.X., Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen
Vergleich, , Frankfurt a.M. 2003; vgl. auch: Schmidt, M.G./ Ostheim, T./ Siegel, N.A./Zohlnhöfer, R.
(Hg.), Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich, 2007.
37
16
Barak Obamas und damit bis zum Jahr 201039 keine flächendeckende, für alle USBürger/innen zugängliche Krankenversicherung entwickelt. Konservativen Teilen der
Bevölkerung und der amerikanischen Politik war sie einer sozialistischen
Reglementierung
der
Freiheit
verdächtig.
Die
in
Europa
angesiedelten
Wohlfahrtsstaaten dagegen haben aufgrund ihrer christlichen Sozialtraditionen und
aufgrund der Orientierung an bürgerlichen Sozialstaatsmodellen eine größere soziale
Sicherung aufgebaut. Das gilt insbesondere für die skandinavischen Länder und ihre
hohe Sozialstaatstradition. Überaus aufschlussreich ist die Tatsache, dass
Kauffmann
im
Vergleich
der
wirtschaftlichen
Grunddaten
zeigt,
dass
die
Wirtschaftskraft eines Landes nicht in einer direkten Abhängigkeit von den jeweiligen
Organisationen
Wertetraditionen
der
Wohlfahrtssysteme
und
und
Steuerungssystemen
ihren
zugrundeliegenden
(Sozialabgaben
Steuern
Sozialausgaben), steht. Die von Kauffmann dargestellten Staaten im OECD
Vergleich zeigen, dass z.B. die skandinavischen Staaten bei einer hohen
Sozialleistungsquote zugleich eine hohe Beschäftigungsquote aufweisen. Die aus
angelsächsischen Traditionen hervorgegangenen Staaten (USA/ Australien/ Canada/
Neuseeland) zeigen am Ende des 20. Jahrhunderts bei einer niedrigen
Sozialleistungsquote ebenfalls ein hohes Beschäftigungsniveau. Irland fällt auf in der
Reihe
der
angelsächsischen
Sozialleistungen
und
Staaten
einer
mit
niedrigen
einem
niedrigen
Niveau
Beschäftigungsquote.
der
Die
kontinentaleuropäischen Länder fallen auf durch eine hohe Sozialleistungsquote und
ein vergleichbar niedrigeres Beschäftigungsniveau.40 Daran hat sich auch 2010
nichts geändert: Die Statistik der Eu-Kommission vom November 2009 zeigt, dass
weiterhin Länder wie beispielsweise Dänemark, Luxemburg, Niederlande und
Schweden bei hohen Sozialausgaben vergleichsweise niedrige Arbeitslosenquoten
(im Vergleichszeitraum 200-2010) aufweisen, während Zypern beispielsweise bei
niedrigen Sozialausgaben eine vergleichsweise ebenfalls niedrige Arbeitslosenquote
aufweist.41 Auch im Jahr 2009 liegt Deutschland mit einer relativ hohen
Arbeitslosenquote
(8,7
%
im
Zeitraum
2000-2010)
bei
ebenfalls
hohen
Sozialausgaben (8.186 Euro pro Einwohner/in im Jahr 2007) ähnlich im Feld wie
39
Im März 2010 konnte Präsident Obama grundlegende Entscheidungen für eine allen USBürger/innen zugänglichen Krankenversicherung durchsetzen.
40
Kauffmann, Varianten des Wohlfahrtsstaates, 313 (Tabellen von 1998).
41
Vgl. Pro-Kopf-Sozialausgaben im Vergleich 2007. Sozialausgaben je Einwohner, und:
Sozialausgaben Werte 2007; Sozialquote 2000-2007 (www.wko.at), Stand November 2009. Hilfreich
sind auch die Statistiken des Statistischenbundesamtes (www.destatis.de).
17
noch 1998. Kauffmann, Schmidt und andere zeigen, dass eine direkte Abhängigkeit
von Sozialausgaben und Arbeitslosigkeit ebenso wenig nachgewiesen werden kann,
wie eine Abhängigkeit von Steuerlast und Arbeitslosigkeit zum Wirtschaftswachstum.
Die immer wieder behaupteten Zusammenhänge zwischen niedrigen Steuern,
niedrigen Sozialausgaben und hoher Beschäftigung und Arbeitsmarktentwicklung
können statistisch im europäischen und internationalen Vergleich nicht belegt
werden. Länder mit hohen Steueraufkommen und hohen Sozialleistungen stehen im
internationalen Vergleich nicht regelmäßig wirtschaftlich schlechter da als Länder mit
niedriger Sozialleistung und niedrigen Steuern. Sie stehen ebenso wenig
nachweisbar besser da.42 Die Wirtschaftsleistung eines Landes scheint vielmehr von
anderen Faktoren wie z.B. der Bildung, der Innovationskraft, der Infrastruktur,
Energieressourcen, sozialem Frieden, Bevölkerungsdichte, Einwanderung und von
Wertekulturen (z.B. Arbeitsmotvationen, Verlässlichkeit etc). abzuhängen. Die Frage
der Sozialausgaben und der Steuerlast wiederum gehört in den Bereich der sozialen
Übereinkunft und Wertetraditionen. Sie ist abhängig von der Akzeptanz niedriger
Einkommensunterschiede und der Akzeptanz von sozialem Ausgleich zwischen
Milieus und Einkommensschichten.
Die Liberalisierung des Marktes und die Einführung von Marktstrategien im Bereich
des Sozialen, die Deregulierung der Kosten bei gleichzeitiger Senkung von Steuern
kann als Kulturwende im deutschen Sozialstaatssystem beschrieben werden, die auf
einem bewusst vollzogenen Politikwechsel basiert. Dabei wurde mit wirtschaftlichen
Notwendigkeiten argumentiert, die aber von Expert/innen nicht ungeteilt bestätigt
werden. Die politischen Weichenstellungen des beginnenden 21. Jahrhunderts
werden vielmehr – im Zuge der durch die deregulierten Märkte bedingten Finanzkrise
- zunehmend der Kritik unterzogen.43. Dass mit diesem Politikwechsel auch die
Armuts- und Reichtumsverteilung, die Umverteilung der Vermögen von unten nach
oben, die prekäre Situation von Familien und Arbeitnehmer/innen im unteren
Lohnsektor ebenso einhergeht wie die Verknappung der Mittel im Gesundheits- und
Sozialbereich sei nur am Rande erwähnt.44 Der eigenverantwortliche Kunde, die
42
Vgl. die Steuerrsätze in Europa, Japan und den USA, abgebildet bei: www.wko.at (Steuersätze:
Einkommen-Körperschaft- und Mehrwertsteuer), Stand November 2009.
43
Vgl. dazu das Interview mit Jens Beckert und Wolfgang Streek über ein Forschungsprojekt des Max
Planck Instituts für gesellschaftliche Forschung zur Notwendigkeit regulativer Beschränkung und
moralische Handlungsorientierung in der Ökonomie (MPIfG Jahrbuch 2009-2010, www.mpifg.de)
44
Vgl. die innerdeutschen und europäischen Daten des Statistisches Bundesamtes und Eurostat
(www.destatis.de), vgl. auch den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2008
(www.bmas.de).
18
solvente Kundin ist Teil der Deregulierung des Sozialen zugunsten einer Etablierung
von
Sozialmarkt,
Wettbewerb
und
Kostensenkung,
die
einherging
mit
gesellschaftlichen Umverteilungsprozessen.
6. Schluss
Diakonische Kulturen der Achtsamkeit und Sozialmarkt – wie können beide
voneinander
profitieren?
Diakonische
Bezirkstellen,
Diakoniestationen
und
diakonische Träger tragen zur sozialen Gestaltung des Gemeinwesens bei – in der
Form des Sozialmarktes nicht weniger und auch nicht weniger erfolgreich als in ihrer
bisherigen Geschichte. Auch in dieser Gestalt wird das Evangelium von Jesus
Christus in Wort und Tat an Menschen in seelischen und leiblichen Nöten verkündigt,
geschieht praktische Unterstützung und Zuwendung für den Nachbarn, die
Mitbürger/in, den bzw. die Nächste. Sozialmanagement und Qualitätsmanagement
sind hilfreiche Methoden, um die Diakonie auch im 21. Jahrhundert fachlich innovativ
aufzustellen. Eine Orientierung an einer diakonischen Kultur der Achtsamkeit
entbindet nicht von der Notwendigkeit, sachgerecht und den gegenwärtigen
Erfordernissen entsprechend zu agieren. Dennoch gilt es, die Instrumentarien des
Sozialmarktes in eine christliche Kultur und Tradition der Achtung und Achtsamkeit
gegenüber dem/ der Nächsten einzubinden, diese Kultur in den Einrichtungen und
Diakoniestationen zu pflegen, Mitarbeitende zu motivieren und im Gespräch mit
Kostenträgern, politisch Verantwortlichen und in der Öffentlichkeitsarbeit eine
diakonische Kultur zu thematisieren, die breiter ist als die Perspektiven des Marktes
und des Kundenbegriffs. Der Kundenbegiff kann eine ökonomisierte Dimension der
helfenden Beziehung im Paradigma des Vertrages beschreiben. Dafür ist er hilfreich,
aber nicht ausreichend, um die Gesamtheit der Beziehungsebenen zu beschreiben,
die dem diakonischen Handeln zugrunde liegen. Auch sollten die mit dem
Kundenparadigma transportierten weltanschaulichen Untertöne und inhaltlichen
Beimischungen kritisch geprüft werden. Ob das Hilfehandeln als Zuwendung zum
Nächsten, zum Klienten oder zur Kundin interpretiert wird, der tiefere Sinn besteht
darin, dass in der Beziehung zum Mitmensch, in Leiden, Trauer, Angewiesenheit,
Selbstbestimmung und Eigenverantwortung stets die Menschenfreundlichkeit Gottes
und die Solidarität der ‚Reichsgenoss/innen’, des wandernden Gottesvolkes
19
durchscheint. Der Sinn diakonischen Handelns besteht auch im 21. Jahrhundert
darin, unter Rezeption moderner und sachgerechter Methoden zur Gestaltung von
professionellen Beziehungen beizutragen. Diese Beziehung fragt in Nähe und
Distanz nach dem Mitmenschen in Nachbarschaft und im Gemeinwesen, wendet sich
ihm oder ihr zu in seinen individuellen Lebensfragen und Lebensrisiken, will ein
Gegenüber sein, das um das Wohlergehen besorgt und engagiert ist, das
Eigenwilligkeit und eigene Ressourcen respektiert und aktiviert und darin im
konkreten Handeln eine Gestaltwerdung, eine Konkretisierung der Liebe Gottes in
den alltäglichen Bedürfnisse und Bedarfen erkennt und lebt.
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