Lizentiatsarbeit am Philosophischen Seminar an der

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Lizenziatsarbeit der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich
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Kein Verstehen ohne fundamentale Ontologie
Eine philosophische Analyse des Werks
von Winfried Georg Sebald aufgrund der
„existentiellen Psychoanalyse“ Jean-Paul Sartres
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Referent:
PD Dr. Wolfgang Rother
Verfasser:
Anton Distler
September 2007
INHALT
EINLEITUNG
1.
2.
3.
Thema
Untersuchungsgegenstand
Methodik
2
6
8
ERSTES KAPITEL: FUNDIERUNG
1.
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
Sartres philosophisches Konzept
Transzendenz des Ego
Präreflexives Bewusstsein und Bewusstsein
An-sich-sein
Für-sich-sein
Der Andere
Zur Freiheit verurteilt
10
14
16
17
20
22
2
2.1
2.2
3.
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
4.
Sartres Geschichtsverständnis: Zerstörung
Phänomenologisch-ontologisch
Dialektisch
Sartres Konzeption der „existentiellen Psychoanalyse“
Sartres Auffassung
Sartres Ablehnung
Sartres Alternative
Sartres Aspekt des Verstehens des Unsagbaren: die gelebte Erfahrung
Konsequenzen
Sartres Philosophie in seiner Literatur
24
25
28
30
31
33
34
36
38
40
ZWEITES KAPITEL: ANALYSE
1.
1.1
1.2
1.3
2.
2.1
2.1.1
2.1.2
2.1.3
2.2
2.2.1
2.2.2
2.2.3
2.2.4
2.2.5
Sebalds der Zerstörung gewidmete, geschichtswissenschaftliche Sozialisation und
sein Geschichtsverständnis in Anlehnung an
Walter Benjamin
Theodor W. Adorno
Max Horkheimer
Existentielle Psychoanalyse auf das Sebaldsche Werk angewendet
Analyse des literaturwissenschaftlichen Werks
Falsches Bewusstsein und Verhalten
Sebalds „Finte“
„Lehre vom richtigen Leben“
Analyse des schriftstellerischen Werks
Schwindel, Ekel: eine Grundstimmung
Bildlichkeit: ein permeables Verknüpfungselement
Kontingenz oder die Krux mit dem Leben und dem Tod
„Bessere Sehnsucht“ als Mittler zwischen der „Metaphysik der Geschichte“ und
der „Metaphysik der Koinzidenz“
Versuch der Restitution
SCHLUSS
48
57
61
64
67
68
69
72
74
77
86
91
92
96
LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS
LEBENSLAUF
1
„Meine Damen und Herren!
Dostojewski hat gesagt: Jeder Mensch ist
gegenüber allen für alles verantwortlich.
Dieser Ausspruch wird von Tag zu Tag
wahrer. Je mehr sich die nationale
Gemeinschaft
in
die
menschliche
Gemeinschaft integriert, je mehr sie jedes
Individuum in die nationale Gemeinschaft
integriert, kann man sagen, daß für jeden von
uns die Verantwortlichkeit wächst und sich
erweitert.“ 1
EINLEITUNG
1. Thema
Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Winfried Georg Sebald ist vor allem nach seinem Tode
im Jahre 2001 zu einem hochdiskutierten, deutschsprachigen Autor avanciert. Er geniesst nicht im
deutschen Sprachraum allein, sondern auch in Großbritannien und insbesondere in den Vereinigten
Staaten von Amerika als dort meistdiskutierter, zeitgenössischer deutscher Autor grosses Ansehen. 2
Als Autor ragt W.G. Sebald vor allem mit seinen späten prosaischen Texten heraus, gefolgt von seinen
literaturwissenschaftlichen Werken, insbesondere zur österreichischen Literatur und zu randständigen
Protagonisten. Sein literaturwissenschaftliches Frühwerk hingegen, das heisst seine Magisterarbeit
über Carl Sternheim aus dem Jahre 1969 und seine Dissertation über Alfred Döblin von 1973, die
1980 in Druck ging, wird dabei in der deutsch- und englischsprachigen Rezeption grösstenteils vernachlässigt. 3 Zu Unrecht, wenn man beachtet, wie sehr philosophiegeschichtlich fundiert und durch1
2
3
Jean-Paul Sartre: Die Verantwortlichkeit des Schriftstellers. Vortrag zur Gründung der UNESCO am 1. November
1946 an der Sorbonne, S. 17, in: Jean-Paul Sartre: Schwarze und weiße Literatur. Aufsätze zur Literatur 19461960, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 17-38.
Vgl. zur englischsprachigen Sebald-Rezeption Scott Denham: Die englischsprachige Sebald-Rezeption, in: Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei,
Berlin 2006. (= Philologische Studien und Quellen; Heft 196), S. 259-268. „Man kann es als ein Phänomen bezeichnen, dass W.G. Sebald ab etwa 1996 in der gehobenen angloamerikanischen Kulturwelt mehr Aufsehen und
Anerkennung erhalten als in der deutschen. Er wird als „wichtigster“, „talentiertester“, oder „bedeutendster“
deutschsprachiger Autor der letzten Generation oder gar seit dem Zweiten Weltkrieg gehandelt. Teilweise wurde
Sebald in den USA und England so bejubelt und besungen, als ob er die deutschsprachige bzw. die deutsche Literatur der Gegenwart neu erfunden habe.“ (Scott Denham: Die englischsprachige Sebald-Rezeption, S. 259.)
Eine Ausnahme ist mit Martin Klebes` Aufsatz Sebald`s Pathogrsaphies zu benennen. (Martin Klebes: Sebald`s
Pathographies, in: Scott Denham / Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma, Berlin/New
York 2006, S. 63-75. (=Interdisciplinary German Cultural Studies, Vol. 1., Herausgegeben von Scott Denham, Irene Kacandes und Jonathan Petropoulos) Die andere, hervorragende Ausnahme bildet der fundierte Band Sebald.
Lektüren. (Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren., Eggingen 2005.) Darin sticht der Beitrag Ulrich Simons heraus, der explizit auf das frühe literaturwissenschaftliche Werk Sebalds einlenkt und ihn als „Provokateur“ einordnet. Vgl. Ulrich Simon: Der Provokateur als Literaturhistoriker. Anmerkungen zu Literaturbegriff und Argumentationsverfahren in W.G. Sebalds essayistischen Schriften, S. 78-104. Klebes liest Sebald jedoch
von der Perspektive individueller und kollektiver Pathologie her, die Sternheim und Döblin zugrunde liegen würden. Hier aber soll die Abstrahierung stattfinden, die auf eine behauptete Sebaldsche „Metaphysik der Koinzi-
2
dacht seine sämtlichen Arbeiten sind. Nur aufgrund seiner wissenschaftlichen Sozialisation in jungen
Jahren aber – die verbunden ist mit seinem Studienbeginn an der Universität Freiburg im Breisgau –
wird sich das Spätwerk W.G. Sebalds, das heisst vor allem seine prosaischen Arbeiten seit den 90iger
Jahren, angemessen einordnen lassen. Des weiteren wird sich daran der Stellenwert der vielseitig verwendeten, typisch anmutenden Bildlichkeit Sebalds (unter anderem durch „Wort-Bilde“ und des ambivalenten Einsatzes von Schwarz-Weiß-Fotographien), bemessen lassen.
Die literaturwissenschaftliche und philosophische Einordnung in ein Genre, insbesondere der
Prosawerke, fällt schwer, vor allem wegen des autobiographischen Vermischens von (oftmals halluzinatorischer) Fiktion und (zum Teil authentischer) Dokumentation. Der Versuche gibt es viele, wobei
die einen dazu tendieren, Sebalds Texte, die, so Claudia Albes, „gegenwärtig unter dem Schlagwort
„postmodernes Schreiben“ gehandelt“ werden, „mit kunstvoller Oberflächlichkeit und Redundanz
gleich[zusetzen].“ 4 „Deutsche Berufskollegen wie Georg Klein“ hingegen, hält Rüdiger Görner fest,
werfen ihm unter anderem „ein problematisch leidensselig-masochistisches Verhältnis zur Vergangenheit und eine unzulässige Intimität mit den Toten“ 5 vor.
Es steht wohl ausser Frage, dass W.G. Sebald ein bekennender, erkenntniszweifelnder, zutiefst
melancholischer und sich dennoch um stete Selbstvergewisserung bemühender Mensch war. Er entwickelte sich allmählich vom „Literaturwissenschaftler zum Schriftsteller, zum Maler, genauer: zum
Porträtmaler in impressionistischer Manier.“ 6 Wie aber konnte diese Transformation vollzogen werden, so dass dessen Erzählstil nichts desto trotz oder gerade deshalb vor allem in Grossbritannien und
in den USA bei Leser und Kritiker gleichermassen überwiegend positive Resonanzen 7 hervorrief - und
hervorruft? Was hat es mit der von Marcel Atze so bezeichneten „Koinzidenzpoetik“ auf sich, die auf
einen „eigentliche[n] Beziehungswahn“ Sebalds schliessen lässt, wenn dieser „mit einer Art unerklärbarer Metaphysik der Geschichte“ zeit- und raumgreifende „Wahrnehmungen, Erinnerungen und Literaturzitate zueinander in Verbindung bringt.“? 8 Was war Sebalds Motivation, sich gegen das Schwei-
4
5
6
7
8
denz“ zielt und somit auch den biographischen Pathologien eine andere Wertschätzung entgegenbringen kann, die
Sebald ihnen so nicht zukommen lassen will. Vgl. hierzu eingehender das Zweite Kapitel dieser Arbeit. Auch
Reinbert Tabbert, ein ehemaliger Kollege und einst auch guter Bekannter Sebalds, benennt in seinem Statement
Max in Manchester. Außen- und Innenansicht eines jungen Autors, S. 22, in: Akzente. W.G. Sebald zum Gedächtnis, Heft 1/Februar 2003, München 2003, S. 21-30, diesen Mangel: „Die Bedeutung der genannten Theoretiker
[gemeint sind u.a. Adorno, H. Marcuse, Benjamin, Gabel; d. Verf.] für den Schriftsteller Sebald (zumal der auch
stilistisch wirksame Einfluß Adornos, mit dem er von Manchester aus über Sternheim stritt) scheint mir noch
nicht erkannt worden zu sein. Nur der von ihm schon früh geschätzte Walter Benjamin wird von Sigrid Löffler zu
Recht in bezug auf Sebalds Art, die Welt zu sehen und darzustellen, angeführt.“
Claudia Albes: Die Erkundung der Leere. Anmerkungen zu W. G. Sebalds „englischer Wallfahrt“ Die Ringe des
Saturn, S. 279, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur, Stuttgart 2002, S. 279-304.
Rüdiger Görner: Im Allgäu, Grafschaft Norfolk. Über W.G. Sebald in England, S. 27, in: Arnold, Heinz Ludwig
(Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, W.G. Sebald, (Heft 158) IV/03, München 2003, S. 23-29.
Heinz Ludwig Arnold: W.G. Sebald: 1944-2001, S. 5, in Ebenda, S. 3-5. In Die Ringe des Saturn assoziiert Sebalds Erzähler die dem Engel beigestellten Werkzeuge aus Dürers Stich Melencolia mit der ihnen inhärierenden
Zerstörung. (Vgl. W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, Frankfurt am Main 42001, S. 18 f.)
Vgl. zu dem „Phänomen Sebald“ und in Referenz zu Claudia Öhlschläger und Michael Niehaus das Vorwort von
Scott Denham in: Scott Denham / Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma, Berlin/New
York 2006, S. 1-6. (=Interdisciplinary German Cultural Studies, Vol. 1., Herausgegeben von Scott Denham, Irene
Kacandes und Jonathan Petropoulos)
Zit. nach Hannes Veraguth: W.G. Sebald und die alte Schule. „Schwindel. Gefühle.“, ,,Die Ausgewanderten“,
„Die Ringe des Saturn“ und „Austerlitz“: Literarische Erinnerungskunst in vier Büchern, die so tun, als ob sie
wahr seien, S. 36, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, W.G. Sebald,
3
gen zu entscheiden, jene Wahl des durch die Kindheit vorgezeichneten Lebenswegs nach Sartre, um
der Verantwortung gerecht zu werden, nicht nur der impliziten Darstellung des Holocaust – niemals
expressis verbis –, sondern der „zerstörerischen“ Geschichte insgesamt, eine Ausdrucksform zu geben?
Eine für Sebald markante und grundlegende Stelle des Fragens nach dem Sinn, der Bedeutung
bzw. der Bedeutsamkeit und der teleologischen Ordnung von Geschichte und Mensch vermittelt uns
der Ich-Erzähler Austerlitz im gleich lautenden, letzten großen Prosatext:
Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft
der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur
verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die
9
Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können.
Zutreffend dürfte die Behauptung sein, dass Sebalds Schreiben Lawrence Langers Behauptung, wonach „das Universum des Sterbens, das Auschwitz war, […] nach einer Sprache, die vom Makel der
Normalität befreit ist, [schreit]“, 10 geradezu exemplifiziert. Es geht aber hier nicht darum, eine treffende, gängige literaturtheoretische Diagnose zu stellen, um eine wie oben zitierte, exemplarische
Passage des Schriftstellers Sebald zu analysieren. Vielmehr geht es darum, wie Jean-Paul Sartre im
Vorwort zu Gustave Flauberts mehr als zweitausend Seiten umfassender, biographischer Studie Der
Idiot der Familie an sich selbst die Forderung stellte, den Menschen als Ganzes in den Blick zu bekommen.
Dabei steht man vor mancher, altbekannter struktureller Schwierigkeit: Tritt der Autor als
Mensch zu Gunsten seiner Fiktion hinter seinem Werk zurück oder lässt sich im schriftstellerischen
Werk der Mensch ganz und gar als Autor auffinden? Sartre plädiert sicher für letzteres. Wie aber kann
der Mensch im Werk hinreichend analysiert werden? Sartre macht sich seine existentialistische, phänomenologisch-ontologische Philosophie als Werkzeug zu nutze. Er wird jenes hermeneutische Instrumentarium, in Abgrenzung zu Freuds Theorie des Unbewussten, in seinem ersten Hauptwerk Das
Sein und das Nichts als „existentielle Psychoanalyse“ bezeichnen. Zudem stellen sich grundsätzliche
literaturtheoretische Fragen, die schon Sartre zu beantworten versuchte: „Was ist Literatur? Was ist
schreiben? Warum schreiben?“ Nicht zuletzt: „Für wen schreibt man?“ 11
Sebald setzte sich mit ähnlichen Fragen auseinander, wie sein moralisierender Standpunkt zur
„Lehre vom richtigen Leben“ und sein pauschalisierendes Urteil über deutsche Literaten erkennen
lassen:
[Es] hat mich immer gewundert, mit welcher Perfektion diese Generation imstande war, den Holocaust
aus ihrem Gedächtnis zu eliminieren. Das stimmt auch für die Autoren der Nachkriegsliteratur. Schrift-
9
10
11
S. 30-42. Marcel Atze versucht Sebalds Koinzidenzpoetik auf vier Ebenen zu fassen, vom sich bis zur Paranoia
steigernden Beziehungswahn, über ausgewiesene Prätexte mit den Erlebnissen des Erzählers bis hin zu Koinzidenzen, die der Leser aus eigene Lektüre erkennt bzw. sie recherchiert, um sie sich zu erschliessen. (Vgl. Marcel
Atze: Koinzidenz und Intertextualität. Der Einsatz von Prätexten in W.G. Sebalds Erzählung „All`estero“, S. 153
ff., in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, Eggingen 1997, S. 151-175. (=Porträt 7 Edition Isele)
W.G. Sebald: Austerlitz, München 2001, S. 265.
Lawrence Langer, zit. nach Geoffrey Hartmann: Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin 1999, S. 13.
Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur?, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 13, 36, 56 ff.
4
steller wie Böll oder Andersch waren ja auch Zeugen, haben sich in ihren Büchern aber nie richtig darauf eingelassen.
12
Was bewog Sebald dazu, aufgrund der ihm gewährten, zweifelhaften „Gnade der späten Geburt“ 13 am
Ende des Zweiten Weltkrieges, in, wie die meisten der Kritiker ihm konstatierten, typisch melancholisch-sardonischer Manier, seine summarisch pessimistische Sichtweise der Benjaminschen (Natur)Geschichte zu elaborieren? Warum musste er seine zuletzt im Anti-Roman Austerlitz ausformulierte,
„schrittweise Annäherung an eine Art Metaphysik der Geschichte“, 14 in variierender schriftlicher
Form wieder und wieder tradieren?
Es wird sich zeigen, dass die vor allem motivisch orientierte Literaturtheorie hierauf nicht angemessen antworten kann, vor allem dann nicht, wenn sie aus „objektivistischen“ Gründen versucht,
den (auto-)biographischen Anteil auszublenden und „im Objektivitätsanspruch der Literaturwissenschaft [auf die] implizierte klare Trennung zwischen Interpreten und Interpretiertem“ 15 besteht. Selbst
wenn man Sebald ein ihm widerfahrenes, nur schwer erinnerbares und vor allem unbewältigtes Trauma unterstellte, wäre dies als Erklärung zu kurz gegriffen. Als ein solches Trauma könnte zwar zum
Beispiel der, von seiner zur nämlichen Zeit mit ihm schwangeren Mutter erlebte Feuersturm während
der Bombenangriffe auf Nürnberg 1943, gelten. Das Trauma würde sich in seiner Wirkung als immer
wiederkehrendes Motiv, so und nicht anders zu schreiben, manifestieren. 16
Mit Sartre könnte dieser Annahme aber entgegengehalten werden, dass der Mensch zur Freiheit
verurteilt sei. Er kann sich somit auch zum Trauma, der Freudschen Übertragung, Gegenübertragung,
der Verschiebung bzw. der Rückführung und der Verdrängung frei verhalten. Selbst dem Benjaminschen Geschichtsverständnis, wonach jeder von Anfang an irgendwie traumatisiert ist, kann der
Mensch sich entgegengesetzt verhalten.
Auch die alleinige Heranziehung der mehr oder weniger literaturtheoretischen Schrift Sartres,
Was ist Literatur?, könnte Sebalds Werk nicht befriedigend erhellen. Es fehlte sozusagen immer noch
das annähernd ganze Fundament des Autors. Es fehlte das, was ihn (psychologisch) konstituiert, was
ihn (historisch-soziologisch) bedingt, was ihn in einer konkreten Situation der je individuelle, freie
Mensch im Allgemeinen sein lässt. Es fehlte die Grundlage für die Phänomene, dass jede und jeder
sich aufgrund seiner „Verurteilung zur Freiheit“ wählt, nach dem Sartreschen Paradoxon abgeleitet,
das zu sein, was er nicht ist und nicht das zu sein, was er ist. Es fehlte das Fundament dafür, dass der
Mensch sich somit zur Situation irgendwie verhalten muss.
Nun hat Sartre sich mit dem einen Hauptwerk Das Sein und das Nichts selbst ein philosophisches Grundgerüst geschaffen, das ihn und, so die hier geäußerte Behauptung, auch Sebald stützt, denn
12
13
14
15
16
Vgl. Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 135, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald,
135-137. (Kursivsetzung durch den Verfasser)
W.G. Sebald: Nach der Natur, Frankfurt am Main 1995, S. 73.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 18 f.
Vgl. hierzu Uwe Schütte: „In einer wildfremden Gegend“ - W.G. Sebald`s Essays über die österreichische Literatur, S. 67, in: Rüdiger Görner (Hg.): The Anatomist of Melancholy. Essays in Memory of W.G. Sebald, München
2
2005, S. 63-74.
Sebald stützt wohl diese Annahme, wie Beatrice von Matt über einen Besuch bei Sebald anlässlich Die Ringe des
Saturn schreibt: „Da kam Sebald auf das brennende Nürnberg zu sprechen, die Heimatstadt seiner Familie – und
wie er sich daran erinnere. Das sei möglich trotz Jahrgang 44. Seine Mutter, die mit ihm schwanger war, habe auf
einer Reise die Zerstörung der Stadt mit angesehen – Panik könnte sich wohl übertragen auf ein ungeborenes
Kind. Jedenfalls sei da diese Erinnerung.“ Vgl. Beatrice von Matt: Archäologie einer Landschaft. Erkundungen
um W.G. Sebalds neues Buch, S. 106, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, S. 102-108.
5
wie bereits der Titel seines ersten Hauptwerks suggeriert: „was eine Erklärung ist, kann nicht unabhängig von einer vorgegebenen Ontologie entschieden werden.“ 17 Dieses philosophische Grundgerüst,
und darin vor allem die „existentielle Psychoanalyse“ nebst der „progressiv-regressiven Methode“,
wird eingehend betrachtet werden müssen, um zu verstehen, wie Sartre, neben seinen umfangreichen
biographischen Arbeiten wie Saint Genet, Komödiant und Märtyrer oder Baudelaire, eine solch voluminöse Studie zu Gustave Flaubert anfertigen konnte. 18 Es wird daher ebenso dazu geeignet sein, Sebald und sein gesamtes literarisches Werk darauf hin zu untersuchen, weshalb sich Sebald letzthin mit seinem der Zerstörung gewidmeten Leben uneins geblieben – so und nicht anders verhielt und
schrieb, als er es tat.
Wie also könnte Sebalds „Urwahl“ 19 und sein eingeschlagener (und nachzuzeichnender) Denkweg ausgesehen haben? Mit Sartre gesprochen: „Warum ist dieses Sein [des Für-sich; der Verfasser]
so und nicht anders?“ 20
2. Untersuchungsgegenstand
Es wurde in der bisherigen noch jungen, äußerst produktiven Rezeptionsgeschichte, vor allem des
englischsprachigen Raums mit seiner Fixierung Sebalds auf Holocaust, Traum und Erinnerung, 21 keine direkte Verbindung Sebalds zu Sartre hergestellt. Soweit ersichtlich, hatte Sebald seine wissenschaftliche und geschichtsphilosophische Orientierung viel mehr an Walter Benjamin, an Theodor W.
Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, demnach Vertreter der Frankfurter Schule und der
Kritischen Theorie, vorgenommen. Dies spiegelt sich in einem hohen Masse in seinen frühen Arbeiten zu Carl Sternheim und Alfred Döblin wider. 22 In vielem liesse sich auch die Bezugnahme auf Wil17
18
19
20
21
22
Alfred Dandyk: Unaufrichtigkeit. Die existentielle Psychoanalyse Sartres im Kontext der Philosophiegeschichte,
Würzburg 2002, S. 12. (Kursivsetzung durch den Verfasser)
Traugott König zufolge ist es Sartre „hier gelungen, auf der Grundlage seiner Philosophie eine ganz spezifische
Methode der Lektüre, Betrachtung und Deutung literarischer Werke zu entwickeln, die entgegen der heute üblichen Interpretationsweise von der Biographie des Autors ausgeht.“ Traugott König (Hg.): Jean-Paul Sartre. Den
Menschen erfinden. Ein Lesebuch, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 13.
Vgl. Jean-Paul Sartre: Baudelaire. Ein Essay, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 16: „Hier begegnen wir der „choix
originel“, der Urwahl seiner selbst, die Baudelaire getroffen hat, jenem absolutem Engagement, durch das ein jeder von uns in einer bestimmten Situation darüber entscheidet, was er sein wird und was er ist.“
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg
7
2001, S. 173.
Claudia Öhlschläger und Michael Niehaus weisen in ihrem Vorwort zu W.G. Sebald. Politische Archäologie und
melancholische Bastelei treffend darauf hin. Die Herausgeber jedoch verschieben den Akzent auf eine „unvoreingenommene Perspektive“ hin, wonach „Sebalds literarisches Projekt einer archäologischen Spurensicherung politischer, nationaler, kollektiver, und individueller Katastrophen eine politische Dimension besitzt, die sich weniger
thematisch als poetologisch und verfahrenstechnisch artikuliert.“ (in: Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger
(Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, S. 8 f. (= Philologische
Studien und Quellen; Heft 196))
Vgl. hierzu den hervorragenden Aufsatz von Graham Jackman: „Gebranntes Kind“? W.G. Sebald`s „Metaphysik
der Geschichte“, in: German Life and Letters, 57;4 Oxford/ Malden Oktober 2004, S. 456-471. Graham arbeitet
in seinem Aufsatz ein für ihn typisches Sebaldsches Motiv heraus, nämlich das Feuer und das damit einhergehende, zumeist zerstörerische Verbrennen, das fast allen Werken Sebalds und selbst ihm als „gebranntem Kind“
zugrunde läge. Dieses Motiv wäre seitens der Psychoanalyse dazu geeignet, als Trauma auslösendes Ereignis zu
gelten, das sowohl der Freudschen als auch der Benjaminschen Lesart Rechnung tragen würde. Ein weiteres
Trauma-Motiv wäre die frühe Todeserfahrung, die Sebald, laut Oliver Pfohlmann, mit fünf Jahren machte, „beim
Blättern in einem Fotoalbum; eine Aufnahme zeigte einen toten Soldaten, der 1933 bei einem Autounfall umge-
6
helm Dilthey vermuten, gerade wenn es Sebald um das mühsame partikulare Verstehen seiner Protagonisten und „der“ bzw. ihrer Geschichte, es ihm also insgesamt um das Verstehen des Lebenszusammenhanges geht. 23
In Die Ringe des Saturn, bereits in der späteren Schaffensphase entstanden, findet sich jedoch
ein indirekter Hinweis zumindest auf ein gemeinsames Interessensgebiet mit Sartre. Sebald läßt von
einer geschätzten Universitätskollegin, Janine Rosalind Dakyns, erzählen, die als Expertin für Flaubert
gilt. Er zitiert sie, über ihre nach einer Ordnung sinnierende Arbeit sprechend, folgendermassen: „Der
Sand erobere alles… In einem Sandkorn, sagte Janine, hat Flaubert die ganze Sahara gesehen.“ 24 Hier
klingt schon das Ganze an, das ominöse Hologramm und dessen Dechriffierung, nach denen Sebald
eindringlich sucht.
In seinem Essay Das Geheimnis des rotbraunen Fells über Bruce Chatwin geht Sebald auf dessen Vorliebe für Flauberts Trois Contes ein, nun jedoch auf den subjektiven, teilhaftigen Charakter
bezogen. Er könne, heisst es, „keine Seite dieser schreckensvollen, aus der zutiefst hysterischen Disposition ihres Autors entstandenen Geschichte [„vom heiligen Julian, der das blutige Laster seiner Jagdleidenschaft sühnen muss auf einer langen Fahrt durch die heißesten und kältesten Zonen der Erde“]
lesen, ohne Chatwin zu sehen, so wie er gewesen ist [...].“ 25 Sebald bewegt sich in diesem pars pro
toto als Vermittlerinstanz mit offenem Ausgang, was den Sinn des Ganzen betrifft.
Es scheint sinnvoll, das gemeinsame, wohl recht unterschiedliche Verhältnis Jean-Paul Sartres
und W.G. Sebalds einerseits zum Individuum, respektive zur Biographie und andererseits zur Gesellschaft zu untersuchen. Das Verhältnis wird den skeptisch-pessimistischen Standpunkt Sebalds kohärent mit seinem Werk erscheinen lassen.
Der Anspruch dieser Analyse liegt demnach darin, so viel aus Sebalds Werk zu erfahren, wie
man von ihm wissen kann – ohne dabei an reine Faktenaufzählung zu denken. Denn für Sartre wie für
Sebald gilt gleichermassen, dass sie es sind und waren, die nicht nur den von ihnen gelesenen Büchern
Sinn und Bedeutung verliehen, sondern auch der Welt und den Dingen darin. Sie versuchten, der –
dem einen scheinbar absurd und dem anderen katastrophal anmutenden – Geschichte und den Menschen darin, Sinn und Bedeutung beizumessen. An dem von Sartre benannten Beispiel der „Negatitäten“, wie Sartre „Realitäten wie Abwesenheit, Veränderung, Anderssein, Abweisung, Bedauern, Zerstreuung usw.“ 26 bezeichnet, lässt sich besonders deutlich das Mühen beider Autoren, Geschichte in
Worte zu erfassen, zeigen. Für beide gilt es festzustellen, dass die Spuren der Kindheit keineswegs in
den alternden Menschen Sartre und Sebald verschwinden gehen konnten. Denn, sie Sartre für sich in
seiner autobiographischen Schrift Die Wörter bemerkte,
alle Charakterzüge des Kindes, wenngleich verbraucht, verblaßt, verlacht, verdrängt, verschwiegen,
sind auch noch bei dem Fünfzigjährigen zu finden. Meistens liegen sie flach ausgestreckt im Schatten
23
24
25
26
kommen war. „Es war dieser Augenblick, bemerkt Sebald in einer für ihn typischen Inversion von Anfang und
Ende, als ihn die Ahnung durchzuckte, „daß es dies war, womit alles begann“.“ („Das Lächeln nach innen“ Über
zwei W.G. Sebald gewidmete Literaturzeitschriften und die Frage: Dürfen seine Leser lachen?, in: TAZ vom
7.6.2003).
Dazu Sebald: „Mir geht es um die Partikularität des Beschriebenen: Es geht um Identifizierbares, um Lokalhistorisches, um Dinge, die im eigenen Umkreis, der eigenen Kleinstadt vor sich gingen. [...].“ (Vgl. Sigrid Löffler:
„Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 135 f.)
W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 17.
W.G. Sebald: Das Geheimnis des rotbraunen Fells, S. 134 f, in: Hans Jürgen Balmes (Hg.): Chatwins Rucksack.
Portraits, Gespräche, Skizzen, Frankfurt am Main 2002, S. 133-142. (Kursivsetzung durch den Verfasser)
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 78.
7
und warten. Aber es genügt ein Augenblick der Unaufmerksamkeit – und sie heben die Köpfe und er27
scheinen unter irgendeiner Verkleidung im hellen Tageslicht.
Während aber Jean-Paul Sartre auf einen reichen Erfahrungsschatz, den er sich im Zweiten Weltkrieg
ansammelte, zurückgreifen kann, um sich dazu während des Krieges und danach philosophisch,
schriftstellerisch und politisch verhalten zu können, musste sich der 1944 in Wertach im Allgäu geborene Sebald, darin Hartmann folgend, „quasi in die Opferfamilien „hineinadoptier[en]“ […] auf der
Suche nach einem Vermächtnis oder einer starken Identifikation mit dem, was geschehen ist.“ 28
3. Methodik
In der folgenden Arbeit wird es darum gehen, eine angemessene, philosophisch-hermeneutische Perspektive auf das Werk Sebalds zu erlangen. Diese Perspektive kann die literaturtheoretische gewinnbringend ergänzen, hebt sie vor allem nicht auf das Unbewusste ab. Am Werke Sartres wird sich seine
von ihm selbst entworfene „existentielle Psychoanalyse“ zu aller erst bewähren können. Sein schriftstellerisches Oeuvre, wie am deutlichsten der Roman Der Ekel zeigt, ist von seiner Philosophie zutiefst durchwirkt – und Thiel, ansonsten eher polemisch Sartre verarbeitend, stellt zurecht die stete
Ambivalenz fest, dass nämlich „sein Werk zwischen Schriftstellerei und Philosophie schwankt.“ 29
Im ersten Kapitel geht es zuvörderst um die philosophisch-ontologische Fundierung des Menschen, um den allgemeinmenschlichen und konzeptionellen Rahmen, wie ihn Sartre, vor allem in der
Transzendenz des Ego und im Das Sein und das Nichts, entwirft. Es wird sich darin zeigen, dass das
uns von Sebald bereits Bekannte mit Sartre konstitutiv unter Bezugnahme auf seine phänomenologisch-ontologischen Untersuchungen interpretiert werden kann. Besonders aufweisen lässt sich dies
am Beispiel der Zerstörung. Der Sachverhalt der Zerstörung (von intersubjektiven Beziehungen uns
intrasubjektiven Gefühlen bzw. von einer das Leben regulierenden Ordnung und von Natur im Allgemeinen) spielt bei Sebald eine prominente Rolle. Sartre kann durch sein philosophisches Konzept den
Akt der Zerstörung, der erst durch den Menschen zu konstatieren sein wird, besonders erhellen.
Wie in der frühen Essay-Sammlung Transzendenz des Ego schon vorformuliert, wird in Das
Sein und das Nichts nochmals prägnant herausgearbeitet, wie das kontingente und den Menschen konstituierende Sein sich unter unserer reflexiven Zeugenschaft als „berstend“ und „zerbrechlich“ gibt.
„Damit es Zerstörung geben kann, muß es zunächst ein Verhältnis des Menschen zum Sein geben, das
heißt eine Transzendenz; und in den Grenzen dieses Verhältnisses muß der Mensch ein Sein als zerstörbar erfassen.“ 30
Sofern die geleistete Vorarbeit ihre zeit- und modenunabhängige Berechtigung hat, kann im zweiten
Kapitel – in Absetzung von der gängigen, insbesondere von der an Freud inspirierten Interpretationsweise 31 – die philosophische, auf der „existentiellen Psychoanalyse“ Sartres beruhende Einordnung
und Bewertung des Sebaldschen Lebens und Werks vorgenommen werden.
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29
30
31
Jean-Paul Sartre: Die Wörter, Reinbek bei Hamburg, 342004, S. 144.
Geoffrey Hartmann: Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, S. 21.
Manfred Thiel: Jean-Paul Sartre. Schriftsteller oder Philosoph? Oder: Schriftsteller für alle sucht Publikum,
Heidelberg 1987, S. 165.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 57.
So führt Wolf Wucherpfennig kurzerhand „Austerlitz` Gang in die Unterwelt wie Sebalds Phantasie“ psychoanalytisch ausschließlich „als Antwort auf verlorene Mutterliebe“ zurück. Auch wird Sebalds leitendes Motiv in
Austerlitz als Protest aufgefasst. Denn, so Wucherpfennig, „[...] darum, weil die Vergangenheit dauernden Ab-
8
Als methodischer Schlüssel zu Leben und Werk wird dabei eine quasi hermeneutische, „existentielle
Psychoanalyse“ verstanden werden. Sie wird die Behauptung, wonach überhaupt jegliches literarisches Werk bzw. Leben des Autors mit der vorgenommenen Analyse plausibel interpretiert und eine
hermeneutische, „existentielle Psychoanalyse“ somit verallgemeinerbar angewendet werden kann,
plausibel stützen. Es muss dabei beachtet werden, dass Sartres entworfene „existentielle Psychoanalyse“ allein nicht ausreichend wäre, wenn sie nicht zugenüge, wie es im ersten Kapitel geschehen wird,
aus ihrer Einbettung in Sartres Philosophie heraussondiert würde. Für sich genommen beanspruchte
sie nur wenig Platz an Umfang und Inhalt in Sartres Philosophie.
Die „existentielle Psychoanalyse“ auf das Werk Sebalds anzuwenden heisst auch, die im ersten
Kapitel aufgewiesene Philosophie Sartres, wie sie in seinem frühen Roman Der Ekel Eingang fand, zu
dessen Dechiffrierung einzusetzen. Das Philosophem der existentiellen Abgründigkeit, die sich in Ekel
und Schwindel, in Melancholie und künstlerischem Bewältigungsversuch äußert, kann zur Analyse
exemplarisch auf das Werk Sebalds angewendet werden. In der bisherigen Forschung zu Sebald blieb
dieser Aspekt gänzlich unberücksichtigt.
sterbens lebendig gehalten werden soll, protestiert Sebald dagegen, dass sie abgetötet wird. Psychoanalytisch lässt
sich dies durch die Bindung an den toten Großvater erklären, dem die Erinnerung sozusagen das endgültige Sterben verbietet, eine Bindung, die wiederum Folie ist für eine unbearbeitete Mutterproblematik.“ (Wolf Wucherpfennig: W.G. Sebalds Roman Austerlitz. Persönliche und gesellschaftliche Erinnerungsarbeit, S. 158 f., in: Wolfram Mauser/Joachim Pfeiffer (Hg.): Erinnern. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Band 23, Würzburg 2004,
S. 151-163.
9
ERSTES KAPITEL: FUNDIERUNG
1. Sartres philosophisches Konzept
1.1 Transzendenz des Ego
In der Schrift Transzendenz des Ego, einer Sammlung philosophischer Essays der Jahre 1931 bis 1939,
wird der Grundstein für Sartres weitere Philosophie gelegt. Er wendet sich dabei „gegen die Verdauungsphilosophie des Empiriokritizismus, des Neukantianismus und gegen jeden „Psychologismus““.
Er wird mit „Husserl nicht müde zu behaupten, man könne die Dinge nicht im Bewußtsein auflösen.“
Er nimmt damit, so auch Sartres programmatische Überschrift, „eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität“ auf. 32 Husserl nimmt er insofern in Anspruch, um zu zeigen, dass
„das Bewußtsein und die Welt […] beide auf einmal gegeben [sind]: ihrem Wesen nach dem Bewußtsein äußerlich, ist die Welt ihrem Wesen nach relativ zu ihm.“ Husserl sehe daher, so Sartre, im Bewußtsein ein unreduzierbares Faktum, das kein einziges physisches Bild wiedergeben kann.“ Ausser,
und hier deutet sich für Das Sein und das Nichts eine wichtige Differenzierung an, „im flüchtigen und
dunklen Bild des Berstens vielleicht.“ 33
Mit diesem Bersten, gewissermassen einem „Riss“ im Bewußtsein, wird sich nämlich die Möglichkeit des Nichts auftun, das nichts anderes bedeutet als die unbedingte und unabdingbare Freiheit,
die sich im Verbund mit dem Für-sich-sein zeigt. Dieses Bersten wird auch ein Grund für Sartre sein,
das Bewusstsein bereits strukturell als unwiderrufbar mangelhaft zu zeichnen. 34
Noch wähnt Sartre vordergründig das Transzendente zu bestimmen, denn das „Erkennen ist
„bersten nach“, sich von der feuchten, gastrischen Intimität losreißen, um da hinten über sich hinaus
nach dem zu entweichen, was es nicht ist,“ und hier kommt die, das ganze Werk Sartres bestimmende
poetisch-prosaische Sprache Sartres zum Ausdruck, wie er sie im philosophischen Roman Der Ekel so
meisterhaft beherrscht, „dort hinten, bei dem Baum und dennoch außerhalb von ihm, denn er entgeht
mir und stößt mich zurück, und ich kann mich ebenso wenig in ihm verlieren, wie er sich in mir auflösen kann: außerhalb von ihm, außerhalb von mir.“ 35 Was will Sartre damit zum Ausdruck bringen?
Wohl doch nicht nur, dass „das Bewußtsein kein „Drinnen“ [hat]; es […] nichts als das Draußen seiner
selbst [ist], und diese absolute Flucht, diese Weigerung, Substanz zu sein, […] es als ein Bewußtsein
[konstituieren].“ Nein, Sartre geht es vor allem darum, mit seinem Begriff des „Berstens“ uns einer
Entdeckung zuzuführen, dass wir nämlich, „eben durch unsere Natur, so in eine indifferente, feindseli32
33
34
35
Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, S. 33 f, in Jean-Paul
Sartre: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931- 1939, Reinbek bei Hamburg 1982,
S. 33-37.
Ebenda, S. 34.
Manfred Frank hat in: Manfred Frank (Hg.): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, 1. Auflage Frankfurt am Main 1991, auf die Vieldeutigkeit des Terminus Bewusstsein hingewiesen. Im weiteren Sinne auch für
diese Arbeit relevant scheint eine von Frank vorgenommene dreifache begriffliche Gliederung in: 1. Bewusstsein
„als der gesamte reelle phänomenologische Bestand des empirischen Ich, als Verwebung der psychischen Erlebnisse in der Einheit des Erlebnisstromes.“ 2. Bewusstsein „als inneres Gewahrwerden von eigenen psychischen
Erlebnissen.“ Und 3. Bewusstsein „als zusammenfassende Bezeichnung für jederlei „psychische Akte“ oder „intentionale Erlebnisse“.“ (Manfred Frank: Edmund Husserl. Bewußtsein als phänomenologischer Bestand des Ich
und Bewußtsein als innere Wahrnehmung, S. 213, in: Manfred Frank (Hg.): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte
bis Sartre, 1. Auflage Frankfurt am Main 1991, S. 213-228.)
Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, S. 34.
10
ge und widerspenstige Welt geworfen und ausgesetzt sind.“ Derart sollten wir uns, so Sartre, „de[n]
grundlegende[n] Sinn der Entdeckung“ Husserls, wonach „alles Bewußtsein […] Bewußtsein von
etwas [ist]“, 36 erschlossen haben.
Von nun an sind wir mit einem wesentlichen Aspekt in Sartres Philosophie bekannt: mit der
Transzendenz. Sie erfordert ein aktives Moment unsererseits, denn „die Transzendenzphilosophie wirft
uns auf die Landstraße, mitten in Gefahren, unter ein grelles Licht. Sein, sagt Heidegger, ist In-derWelt-sein.“ Und weiter fordert Sartre, „dieses „In-Sein“ im Sinne von Bewegung“ zu verstehen, denn
„Sein ist in die Welt zerbersten, von einem Nichts an Welt und Bewußtsein ausgehen, um plötzlich
als-Bewußtsein-in-die-Welt-zu-zerbersten.“ Beim Versuch des Bewusstseins, „sich wieder zu ergreifen, endlich mit sich selbst zu koinzidieren, ganz warm, bei geschlossenen Fensterläden, […] vernichtet es sich.“ Sartre hebt hier nun besonders die menschliche Notwendigkeit des Davon-Handelns hervor, „als Bewußtsein von etwas anderem als von sich zu existieren“, welche bei Husserl mit „Intentionalität“ umschrieben würde, quasi eine „Überschreitung des Bewußtseins durch sich selbst.“ 37
Auch hier nimmt Sartre wesentliche Bestandteile aus Das Sein und das Nichts vorweg, denn
diese mit dem Terminus technicus Intentionalität betitelte Überschreitung auf etwas hin wird sich in
menschlichen Verhaltensweisen, auch dem Anderen gegenüber, wieder finden lassen. Namentlich
etwa in der Liebe, im Haß und in der Furcht – nach Sartre allesamt „transzendent[e] Objekt[e]“. 38 Die
Dinge, so Sartre, sind es, „die sich uns plötzlich als hassenswerte, sympathische, entsetzliche, liebenswerte enthüllen. Es ist eine Eigentümlichkeit jener japanischen Maske, furchterregend zu sein,
eine unerschöpfliche, unreduzierbare Eigentümlichkeit, die ihre Natur konstituiert – und nicht die
Summe unserer subjektiven Reaktionen auf ein Stück geschnitztes Holz.“ Selbst „das Sein der Intention“, wird Sartre in der Einleitung zu Das Sein und das Nichts schreiben können, „kann nur Bewußtsein sein, sonst wäre die Intention Ding im Bewußtsein.“ 39 Ein grosses Verdienst Husserls sei es daher, Sartre zufolge, dass er „das Entsetzen und den Reiz wieder in die Dinge hineinversetzt“ hat. So
sind wir – einerseits – befreit
„vom „Innenleben [vie intérieure]“: vergeblich würden wir, wie Amiel [gemeint sind Henri Frédéric
Amiels Fragments d`un journal intime von 1884, d. Verf.], wie ein Kind, das sich die Schulter küsst,
die Liebkosungen, die Verhätschelungen unserer Intimität suchen, weil doch schließlich alles draußen
ist, alles, sogar noch wir selbst: draußen, in der Welt, mitten unter den Anderen, […] mitten in der
40
Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen.“
Mit dem „Innenleben“ oder auch „Seelenleben“, namentlich mit dem Ego gekennzeichnet, bezieht sich
Sartre auf die, laut ihm vor allem von Philosophen vertretene Auffassung, wonach seine „formale Präsenz im Inneren der „Erlebnisse“ als ein leeres Vereinigungsprinzip“ verstanden wird. Aber „andere –
meist Psychologen – glauben, in jedem Moment unseres psychischen Lebens seine materielle Präsenz
zu entdecken als Zentrum der Begierden und Handlungen.“ 41
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41
Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, S. 35 ff.
Ebenda, S. 35 ff.
Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 61, in: Jean-Paul
Sartre: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931- 1939, Reinbek bei Hamburg 1982,
S. 39-92.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 23.
Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, S. 36 f.
Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 39.
11
Sartre will nun in der Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung „das
Ego weder formal noch materiell im Bewußtsein“ verstanden wissen. Er will vielmehr zeigen, dass
auch es, gemeinsam mit den Dingen in der Welt, „außerhalb, in der Welt [ist]; es ist ein Sein der Welt,
wie das Ego anderer.“ 42 Hier wird also, um mit Thomas Damast zu sprechen, eine „Vertreibung“ des
Ego aus dem Bewusstsein betrieben, so dass es Sartre als unmittelbare Voraussetzung zur Konzeptualisierung der Subjektivität dienen kann. 43 Im ersten Hauptwerk Das Sein und das Nichts wird Sartre
sodann ausführlich an den Dingen und dem Sein der Phänomene das An-sich-sein, und am Bewußtsein das als Opposition verstandene Für-sich-sein herausschälen. Die Begrifflichkeiten entlehnt Sartre
dabei Hegel, womit neben Descartes auch „die drei grossen H“, – Hegel, Husserl und Heidegger – wie
es Gadamer in Sartre. Ein Kongreß 44 nochmals pointiert formulierte, benannt wären, die vor allem für
Sartres frühe Philosophie massgeblich sind. Es wird, so Damast, schon „deutlich, daß er einen Systementwurf versucht, der sich gleichzeitig als gedankliche Synthese oder – wie Klaus Hartmann bemerkt – „als Fazit aus Husserl, Heidegger und Hegel versteht“.“ 45
Sartre unternimmt den Versuch, plausibel zu machen, dass die nochmals an Kant nachgewiesene
Möglichkeitsbedingung – als solche interpretiert sie Sartre – der „faktische[n] Existenz des Ich denke“
überhaupt erst die Bedingung dafür ist, „daß ich immer meine Wahrnehmung oder mein Denken als
die meinigen betrachten kann: das ist alles.“ 46 Hier hebt nun Sartres Auseinandersetzung mit und die
Kritik an Husserls Konzept der Beziehung zwischen „ego“ und „cogito“ an, um „das Problem der
faktischen Existenz des Ich im Bewußtsein lösen“ 47 zu können. Sartre umschreibt das Problem dabei
folgendermassen: „Wird das Ich, dem wir in unserem Bewußtsein begegnen, durch die synthetische
Einheit unserer Vorstellungen ermöglicht, oder ist es selbst eher das, was die Vorstellungen untereinander faktisch vereinigt?“ 48 Anders ausgedrückt: Es geht ihm um die Fundierungsleistung zu einer
Einheit des Bewusstseinsstromes, die zudem auf die laut Sartre „absurde“ Annahme eines „unbewussten Bewusstseins“, wie es in der Einleitung zu Das Sein und das Nichts heisst, verzichtet.
Husserl hatte bekanntlich noch das (reine) Ich als einheitsbildende Grösse, als gleichsam „eine
eigenartige – nicht konstituierte – Transzendenz, eine Transzendenz in der Immanenz“ gemutmasst,
die im „inneren Zeitbewußtsein“, 49 so Damast, gründen würde. Sartre aber fragt, ob das transzendentale Bewusstsein Husserls, das gemäss der „klassischen These eines transzendentalen Ich […] gleichsam
hinter jedem Bewußtsein stünde“, notwendig war. Vielmehr, so Sartre, müsste doch ob der Überzeugung, „daß unser psychisches und psychophysisches ICH [das im Französischen lautende, passive Moi
im Gegensatz zum Je, dem aktiven Ich; d. Verf.]“ ausreichend sei, gar nicht mehr zu fragen sein, „ob
man es durch ein transzendentales Ich […], jener Struktur des absoluten Bewußtseins [ergänzen]“
muss. 50
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Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 39.
Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus. Eine Untersuchung zur Einleitung in „L`être
et le néant“, Berlin 1994, S. 194.
Hans-Georg Gadamer: Das Sein und das Nichts, S. 38, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek
bei Hamburg 1988, S. 37-52.
Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 5 f.
Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 40.
Ebenda, S. 42.
Ebenda, S. 41 f.
Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S.198.
Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 42 f.
12
Die Antwort würde in jedem Falle, so Sartre, negativ ausfallen, denn
wir können also ohne zu zögern antworten: die phänomenologische Konzeption des Bewußtseins macht
die vereinigende und individualisierende Rolle des Ich total überflüssig. Im Gegenteil, es ist das Bewußtsein, das die Einheit und Personalität meines Ich ermöglicht. Das transzendentale Ich hat also kei51
ne Existenzberechtigung [raison d`être].
Was bedeutet diese gleichsam ichlose, „,nicht-ichliche“ Verfassung der transzendentalphänomenologischen Subjektivität“ 52 für uns? Das bedeutet für uns, so Sartre, dass das Bewusstsein
als das das Ich konstituierende zu gelten habe und nicht, wie bei Husserls „Egologie“ 53 anzunehmen,
umgekehrt. In Das Sein und das Nichts wird Sartre schliesslich behaupten, dass „als vereinigender Pol
der „Erlebnisse“ […] das Ego An-sich, nicht Für-sich [ist].“ 54 Mit Husserl ist sich Sartre hingegen
darüber einig, dass „jedes Mal, wenn wir unser Denken erfassen, sei es durch eine unmittelbare oder
eine auf die Erinnerung gestützte Intuition, [...] wir ein Ich [erfassen], das das Ich des erfaßten Denkens ist und das sich außerdem als ein Ich erweist, das dieses und alles andere mögliche Denken transzendiert.“ 55 Weiterhin wird, wie schon erwähnt, dieses cogito „durch ein auf das Bewußtsein gerichtetes Bewußtsein herbeigeführt, das das Bewußtsein als Objekt begreift.“ – Hartmann bezeichnet Sartres
Ontologie folgerichtig als „eine Ontologie der Intentionalität.“ 56 – Dieses cogito sei absolut, „denn es
gibt, wie Husserl sagt, eine unauflösbare Einheit von reflektierendem und reflektiertem Bewußtsein
(so, daß das reflektierende Bewußtsein nicht ohne das reflektierte Bewußtsein existieren könnte.)“ 57
Das cogito bedeute aber nicht, laut Sartre, dass man berechtigt wäre zu sagen, „“ich habe Bewußtsein von diesem Stuhl“, sondern „es gibt Bewußtsein von diesem Stuhl“.“ 58 Worauf will Sartre
hinaus? So weit dies mit den vorangegangenen Ausführungen zu ersehen ist, geht es ihm bereits in
dieser frühen Zeit seiner philosophischen Orientierung aufgrund der „vorgefundenen wissenschaftlichen Ausgangsposition, der der Phänomenologie“, um eine, wie Hartmann es formulierte, „“ontologisch fundierte“ Phänomenologie.“ 59 Hierin liegt Sartres Motivation begründet, „den Untersuchungen
der Phänomenologie ein unendliches und absolutes Feld zu konstituieren.“ 60
In den Fokus gerückt wurden das Bewusstsein und das Sein der Phänomene. Das hochkomplexe
Beziehungsgeflecht, das zum einen das „paarige“, präreflexive und reflexive Bewusstsein selbst umgibt und zum anderen das Sein der Phänomene umfasst, wird nun näher untersucht werden müssen.
Als wichtig in Erinnerung zu behalten ist die Sartresche Behauptung, wonach es kein unbewusstes
Bewusstsein gibt. Diese Behauptung wird ihn in diesem Punkt gegen Freud positionieren, doch ist er
mit Freud über die Prominenz der Kindheit im Leben eines Menschen einig. Aufgrund dieser Behaup51
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Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 45.
Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 310.
Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 47.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 212.
Ebenda.
Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, S. 33, in: Klaus Hartmann: Die Philosophie J.-P. Sartres. Zwei Untersuchungen zu L`être et le néant und zur Critique de la raison dialectique, durchgesehene, um ein Vorwort und ein Register vermehrte 2. Auflage von Grundzüge der Ontologie
Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik und Sartres Sozialphilosophie, Berlin/New York 1983.
Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 47 f.
Ebenda, S. 54.
Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, S. 31.
Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 54.
13
tung, die in diesem Kapitel unter Abschnitt 3. weiter herausgearbeitet wird, sollte es möglich sein, zu
einer anderen Beurteilung des Sebaldschen Werkes zu gelangen. Denn nichts desto trotz, so Sartre,
muss der „gewöhnlich angenommene[n] These, nach der unsere Gedanken einem unpersönlichem
Unbewußtem entspringen und sich, indem sie bewußt werden, „personalisieren““, eine zwar falsche,
weil „grobe und materialistische Interpretation“ einer, darauf kommt es an, „richtigen Intuition“ zugesprochen werden. 61
So kann Sartre die These eines „transzendentalen Bewußtseins“ wagen, das „sich jeden Augenblick zur Existenz bestimmt, ohne daß man sich etwas vor ihm denken könnte. So offenbart uns jeder
Augenblick unseres bewußten Lebens eine creatio ex nihilo. Kein neues Arrangement, sondern eine
neue Existenz.“ 62 So sollte die wohlbekannte Formel, wonach die menschliche Existenz der Essenz
vorangeht, zumindest angedeutet worden sein. Ebenso sollte angeklungen sein, dass diejenigen Interpreten, die sich hauptsächlich motivisch, das heisst, vor allem in Anlehnung an Freuds Psychoanalyse
dem Werke Sebalds nähern, sich nicht in letzter Sicherheit wiegen können, treffend analysiert zu haben.
1.2 Präreflexives Bewusstsein und Bewusstsein
Bereits auf den ersten Seiten in Das Sein und das Nichts, das den im Unter-Titel benannten, scheinbar
paradox klingenden Versuch einer phänomenologischen Ontologie zum Thema hat, kommt Sartre auf
die oben verhandelte Thematik des cogito zurück. In der Transzendenz des Ego war noch ausschliesslich vom cogito als reflexivem Bewusstsein die Rede. 63 Sartre will nun eine Erweiterung des cogito.
An der „Natur des „percipere““ ist er bemüht zu zeigen, dass „ein Idealismus, der das Sein auf seine
Erkenntnis zu reduzieren suchte, zunächst das Sein der Erkenntnis auf irgendeine Weise sichern müßte.“ 64 Husserls Behauptung, wonach das dem percipi selbst Entgehende als ein von George Berkeley
bekanntes „esse est percipi“ aufgefasst wird, benötigt laut Sartre ein „Begründung-Sein des percipere
und des percipi“, das, den infiniten Regress vermeidend (auch Spinozas „idea ideae ideae usw.“
betreffend), „[...] transphänomenal sein [muß].“ 65 Für Sartre ist nun das präreflexive cogito – unter
Aufgabe des Primats der Erkenntnis – „das Bewußtsein das erkennende Sein […], insofern es ist, und
nicht, insofern es erkannt ist. […] Das Bewußtsein kann zwar erkennen und sich erkennen. Aber es ist
in sich selbst etwas anderes als eine zu sich zurückgewandte Erkenntnis.“ 66
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Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 86. Sartres Ablehnung der Freudschen Psychoanalyse bezieht sich im Wesentlichen auf die Vorstellung des Unbewussten. Sartre
durchläuft dabei über Jahrzehnte hinweg verschiedene Phasen einer Annäherung und einer forcierten Ablehnung.
Auf diesen Sachverhalt wird zu einem späteren Zeitpunkt einzugehen sein.
Ebenda, S. 86 f.
Vgl. Ebenda, S. 47 ff. Thomas Damast stellt ebenso zurecht fest, wenn er schreibt: „Was dem Aufsatz über Die
Transzendenz des Ego noch fehlt, ist der Gedanke, daß sich das Sein des Bewußtseins streng auf die präreflexive
oder „Für-sich“- Dimension der Noesis beschränkt.“ (Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 310.)
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 18. Damast hat ausgeführt, dass Sartres Rede von „dem“ Idealismus
„den mannigfaltigen Systemen […], die man im Verlauf der Philosophiegeschichte als „idealistisch“ bezeichnet
hat“ nicht gerecht werden würde. (Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 19 f.)
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 21, S. 18, S. 167.
Ebenda, S. 19.
14
Das präreflexive Bewusstsein ist somit unmittelbar. Nach Sartre muss also die Erkenntnis sowohl ontologisch, als auch epistemologisch begründbar sein, und „wenn wir den infiniten Regreß vermeiden
wollen, muß es unmittelbarer und nicht kognitiver Bezug von sich zu sich sein.“ 67 Das präreflexive,
spontane Bewusstsein bzw. cogito ist dadurch strukturell von Sartre als „konstitutiv für mein Wahrnehmungsbewusstsein“ gedacht. „Mit anderen Worten, jedes objektsetzendes Bewußtsein ist gleichzeitig nicht-setzendes Bewußtsein von sich selbst.“ Das bedeutet auch, dass alles Wahrgenommene
von der Welt, ein Tisch oder auch Werturteile nicht primär „an sich“ existieren, sondern nur „für
mich.“ 68 Thomas Damast zufolge „wendet Sartre sich also gegen den Versuch, „Sein“ (bzw. „sein“)
als „gedacht-„ bzw. „erkannt-werden“ oder ähnlich zu bestimmen.“ 69 Die Gedanken aus der Transzendenz des Ego fortführendend, behauptet Sartre weiter, dass es ein „präreflexives Cogito [gibt], das
die Bedingung des kartesianischen Cogito ist.“ Sartre analogisiert unter Berufung auf Heidegger das
unmittelbare Bewusstsein bzw. die unmittelbare Vertrautheit mit sich selbst, „nicht als ein Ding, sondern als eine operative Intention, die nur als „erschlossen-erschließend“ existieren kann.“ Die Zirkelstruktur ist offensichtlich – und von Sartre so gewollt, denn „es ist gerade die Natur des Bewußtseins,
daß es als „als Zirkel“ existiert. Man kann das so ausdrücken: jede bewusste Existenz existiert als Bewußtsein, zu existieren.“ 70
Jede bewusste Existenz verfügt nun, anstatt des von Freud angenommenen Unbewussten, über
ein unmittelbares, nicht-setzendes Bewusstsein (von) sich, „de[r] einzig mögliche[] Existenzmodus für
ein Bewußtsein von etwas“, 71 welches „ursprünglicher ist als das intentionale Wissen des Bewusstseins von sich selbst und von seinen Gegenständen.“ 72 Dem nicht-thetischen steht demnach, strukturell
gedacht, das thetische, nachgängige Bewusstsein gegenüber. Das unmittelbare Bewusstsein befindet
sich somit nicht im Begriff des Werdens, – „denn dann müsste man annehmen, daß das Bewußtsein
seiner eigenen Existenz vorangeht“ –, sondern ausschliesslich „durch sich“, 73 sui generis. Nochmals
wird die Formel, wonach die Existenz der Essenz vorausgeht, angeschnitten: „Das Bewußtsein geht
dem Nichts voraus und „gewinnt sich“ aus dem Sein“, wobei Sartre zu zeigen bestrebt ist, „1. daß
nichts Ursache des Bewußtseins ist“, und „2., daß es Ursache seiner eigenen Seinsweise ist.“ 74
Auch hier findet die Freudsche Auffassung eines Unbewussten eine strukturelle Zurückweisung,
die jedoch in der heutigen Interpretations- und Verstehensweise literarischer Schriften keine Resonanz
bzw. Infragestellung erfährt. Es scheint daher umso wichtiger, die allgemeine, oftmals fraglose Annahme bzw. gar Anerkennung eines unbewussten Bewusstseins im Freudschen Sinne in Frage zu stellen. 75 Der Mensch, strukturell veranlagt und betrachtet als präreflexives und reflexives Bewusstsein in
Einem zu sein, erführe dadurch eine adäquate Anerkennung seiner selbst und seiner damit einhergehenden vollumfänglichen Verantwortung.
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Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 21.
Ebenda, S. 20 f.
Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 305.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 22.
Ebenda, S. 23.
Eva Birkenstock: Heißt philosophieren sterben lernen? Antworten der Existenzphilosophie: Kierkegaard, Heidegger, Sartre, Rosenzweig, Freiburg im Breisgau/München 1997, S. 175.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 25 f.
Ebenda, S. 26, mit Anmerkung Sartres.
Sartres ambivalentes und changierendes und dabei nicht immer eindeutig konträres Verhältnis zu Freud selbst,
soll an anderer Stelle Beachtung erfahren. Hierzu wird ebenfalls auf die Ausführungen von Andreas Cremonini:
Die Durchquerung des Cogito. Lacan contra Sartre, München 2003, zu rekurrieren sein.
15
Nachdem das Bewusstsein unter dem Gesichtspunkt der Beziehung zum Seienden – gemäss Sartres
Forderung, „zwei absolut voneinander getrennte Seinsbereiche zu unterscheiden: das Sein des präreflexiven Cogito und das Sein des Phänomens“ –, betrachtet wurde, wird es nun einer Analyse seiner
„inneren“, strukturellen Verfassung nach unterzogen.
1.3 An-sich-sein
Nach Sartre ist „Bewußtsein [...] erschlossene Erschließung der Existierenden, und die Existierenden
erscheinen gegenüber dem Bewußtsein auf der Grundlage ihres Seins.“ 76 Das „Sein ist immer die anwesende Grundlage des Existierenden [...]“, wobei, wie schon erwähnt, das „Bewußtsein das Existierende immer überschreiten kann“, und zwar „[...] auf den Sinn des Seins“ 77 hin. Dieser Sinn nun ist
das Seinsphänomen, das heißt „etwas, das nur durch eine Subjektivität besteht.“ 78 Der Sinn selbst hat
ebenso ein Sein: Ein An-sich-sein, das keinen Bezug zu sich dulden kann. „Es ist eine Immanenz, die
sich nicht realisieren kann, eine Affirmation, die sich nicht affirmieren kann, eine Aktivität, die nicht
handeln kann, weil es sich mit sich selbst verfestigt hat.“ 79
Dies bedeutet weiter, dass es kein „hinter“ der Erscheinung, keinen metaphysischen Grund gibt,
sondern allein die existentia, „entsprechend dem altherkömmlichen Gegensatz von essentia und existentia.“ 80 Somit wird unter anderem einer wie auch immer beschaffener Annahme von Gott entgegengetreten, der „der Welt das Sein gegeben habe“. Sartre beseitigt hier nebenbei das „Vorurteil [...],
das wir Kreationismus nennen wollen.“ 81 Dem An-sich-sein wird sowohl jegliche Aktivität, also dass
es sich selbst geschaffen hätte, als auch jegliche Passivität, nämlich dass „es erschaffen worden wäre“,
abgesprochen, es „kann nicht causa sui sein wie das Bewußtsein.“ 82
Die Begriffe der Aktivität und Passivität bezeichnen demnach ausschließlich „menschliches“
Verhalten. Der Mensch verfügt aktiv über Mittel für einen Zweck und ebenso über passive Objekte,
„auf die sich unsere Aktivität richtet.“ 83 Doch „die Konsistenz des Seins ist in sich jenseits von aktiv
und passiv. [...], es ist Sich.“ 84 Der Sprache Zoll gebührend, weist Sartre daraufhin, dass „das Sein im
Grunde jenseits des Sich ist. […] Tatsächlich ist das Sein sich selbst opak, eben weil es von sich selbst
erfüllt ist“, 85 es quasi distanzlos in seiner Identität aufgeht bzw. „die Synthese von sich mit sich“ 86 ist.
Sartre bringt so das Sein auf verschiedene, komprimierende Formeln. Zum einen: „Das Sein ist.
Das Sein ist an sich.“ 87 Diese Formel „stellt den Gegensatz zum Geschaffensein heraus“, das, wie
oben erwähnt, „Sartre ablehnt.“ Zum anderen: „[...] das Sein ist das, was es ist.“ 88 Hier wird das Zusammenfallen (mit sich) als Identität aufgefasst. „Die dritte Formel – „das Ansichsein ist“ – besagt“,
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Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 37.
Ebenda, S. 38.
Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 18.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 41.
Johannes Hirschberger: Die Geschichte der Philosophie. Neuzeit und Gegenwart, Bd. II., Freiburg im Breisgau o.
J., S. 650.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 40.
Ebenda, S. 40 f.
Ebenda, S. 41.
Ebenda.
Ebenda, S. 42.
Ebenda, S. 43.
Ebenda, S. 44.
Ebenda, S. 42.
16
so Hartmann, „daß das Ansichsein in eignem Recht ist und „nicht von Möglichem abgeleitet oder auf
Notwendiges zurückgeführt“ werden kann.“ 89 Es hat nur absolute Totalität bzw. „volle Positivität“, es
ist identisch mit sich selbst und „es erschöpft sich darin, es zu sein.“ 90 Es gibt im An-sich-sein „keine
Seinsparzelle, die nicht ohne Distanz zu sich selbst wäre, [...] nicht die kleinste Andeutung einer Dualität. [...] Es ist unendlich.“ 91 Es ist „massiv“ und „Synthese von sich mit sich“, aber eben auch „in
seinem Sein isoliert“ und keinen Bezug zu dem unterhaltend, „was nicht es ist.“ 92
Im Gegensatz dazu stehen das Sein des Bewusstseins, respektive das Für-sich-sein, „das nicht
mit sich selbst in einer vollständigen Adäquation koinzidiert.“ 93
1.4 Für-sich-sein
Wie schon oben angedeutet, kommt dem Sein des Bewusstseins die das allgemeine Sein ergänzende,
wenn auch gegensätzliche Funktion zu, „dem es „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“.“ 94 Es
handelt sich bei diesem Seinstypus um jenen des Für-sich-seins, das sich scheinbar als Paradoxon „definieren läßt als das seiend, was es nicht ist, und als nicht das seiend, was es ist.“ 95 Sartre gibt uns für
die Beschreibung des Für-sich-seins einige Charakteristika an die Hand. Sehr Wichtige hiervon wären
die des Möglichen und der faktischen Notwendigkeit. 96 Das An-sich-sein konnte „[...] weder vom
Möglichen abgeleitet noch auf das Notwendige zurückgeführt werden [...].“ 97 Doch bezüglich des Fürsich-seins des Bewusstseins verhält es sich anders.
Es ist nicht identisch mit sich selbst, es ist nicht „von sich selbst voll“, 98 sondern, obwohl in einer „unauflösbaren Einheit“, 99 gespalten in ein präreflexives und ein reflexives Cogito. Ersteres ist die
Notwendigkeit für letzteres, und doch verweisen beide aufeinander als „doppelte(s) Verweisungsspiel.“ 100 Sartre erläutert dies anhand „innerer“ Vorgänge wie dem Glauben, der Lust oder der Freude,
welche nicht „existieren, bevor sie bewusst sind.“ Somit kann Sartre behaupten, dass „das Bewußtsein
(von) Glaube […] Glaube [ist], und der Glaube ist Bewußtsein (von) Glaube. In keinem Fall können
wir sagen, das Bewußtsein sei Bewußtsein und der Glaube sei Glaube.“ 101
Weiter noch: „[...] das Bewußtsein ist das Maß ihres Seins.“ 102 Dessen Charakteristikum nun ist
die „absolute Immanenz.“ Sobald man dieses Sein erfassen will, entgleitet es einem, verwirrt es einen
durch die „Existenz des Spiegelung- Spiegelnden“ und lässt uns eine zirkuläre „Dualität, die Einheit
ist“ 103 ahnen. Sartre will damit ein (präreflexives) Bewusstsein vermitteln, das „[...] Bewußtsein (von)
89
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93
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97
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100
101
102
103
Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, S. 34 f.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 43.
Ebenda, S. 164 f.
Ebenda, S. 43.
Ebenda, S. 164.
Ebenda, S. 164..
Ebenda, S. 42.
Ebenda, S. 452.
Ebenda, S. 44.
Ebenda, S. 165.
Ebenda, S. 166.
Ebenda, S. 167.
Ebenda.
Ebenda.
Ebenda, S. 168.
17
sich“ 104 ist. Hiermit wird angezeigt, dass „das Subjekt [...] nicht Sich sein (kann). [...] Aber ebenso
wenig kann es Sich nicht nicht sein, da das Sich Anzeige des Subjekts selbst ist.“ 105 Da es nun eine
Trennung, den schon oben erwähnten, dem „Bersten“ geschuldeten „Riss“ als das „reine Negative“,
von sich gibt – von Sartre als „eine ideale Distanz in der Immanenz des Subjekts zu sich selbst [...]“ 106
bezeichnet – muss das „Für-sich [...] sein eigenes Nichts sein.“ „Das Für-sich ist das Sein, das sich
selbst dazu bestimmt zu existieren, insofern es nicht mit sich selbst koinzidieren kann.“ 107 Dieses
Nichts wird auch als die „reine Nichtung des An-sich [...], wie ein Seinsloch innerhalb des Seins“ 108
beschrieben, von dem uns schon der Roman Der Ekel beredtes Zeugnis ablegte. Dies ist nun das oben
erwähnte Charakteristikum des Möglichen: Ein Existierendes kann sich immer als eine Seinsweise
oder als ein Sein des Nichts enthüllen. „Das Nichts ist die eigene [...] und einzige Möglichkeit“ 109 des
Seins, denn „es gehört nicht dem Bewußtsein zu, es [das Für-sich; der Verfasser] sich zu geben oder es
von anderen zu empfangen.“ 110
Das Bewusstsein des Menschen gliedert sich folglich in einer Einheit eines Für-sich- und eines
An-sich-seins mit einem „Nichts“ dazwischen, „das Nichts an Sein und zugleich Nichtungsvermögen
ist“, 111 welches ständig transzendiert, also überschritten wird. Das Sein des Bewusstseins ist und
bleibt dabei stets kontingent. In dieser Grundlosigkeit der Existenz kann man nun sein Sein, nach Sartre die sog. menschliche-Realität, auch als Seinsmangel erkennen, weil man sich nicht vollkommen
denken, an seiner Totalität nicht teilhaben kann, ohne nur Teil zu sein. Hier spielt Sartre auch auf Descartes an, der sich im kritizistischen Zweifel „als ein unvollkommenes Sein (erfasst).“ 112
Nichts und niemand kann mich als Menschen vollkommen begründen und mich beurteilen, das
heißt, mir keinen wie auch immer gearteten Sinn zuschreiben, wenngleich dies bedingtermaßen unaufhörlich geschehen mag. Das „Wesen“ des Menschen ist es, dass er kein Wesen hat, sondern in erster
Linie nur „ist, um Ursache von sich zu sein.“ 113 Nur man selbst ist dazu in der Lage, sich anzuschicken
sich selbst zu begründen, als ein Für-sich, welches ein effektiver, fortlaufender Entwurf ist. Man ist
erfolglos dazu genötigt, sein Sein zu wählen, kann es aber doch nie sein, da man dann ausschließlich
ein An-sich, ein Objekt in „voller Positivität“ 114 wäre.
Das Für-sich-sein kann sich selbst nicht zum Objekt machen, so dass der Mensch niemals einen
Standpunkt außerhalb seiner selbst einnehmen kann. Obschon man freilich in steter Bemühung ist,
sich von seinem An-sich-sein zu lösen, um werden zu können, um als freies Für-sich zu sein. Man ist
als Für-sich „Freiheit, die wählt, aber wir wählen nicht, frei zu sein: wir sind zur Freiheit verurteilt,
[...], in die Freiheit geworfen, oder, wie Heidegger sagt, ihr „überantwortet“.“ 115 Hierin liegt also die
ursprüngliche Freiheit des menschlichen Daseins. „Und es ist richtig, daß unter den tausend Weisen,
104
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107
108
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110
111
112
113
114
115
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 168.
Ebenda, S. 169.
Ebenda.
Ebenda, S. 171.
Ebenda, S.1055 f.
Ebenda, S. 172.
Ebenda, S. 176.
Ebenda, S. 171.
Ebenda, S. 173.
Ebenda, S. 175.
Vgl. Ebenda, S. 1060 f.
Ebenda, S. 838.
18
auf die sich das Für-sich von seiner ursprünglichen Kontingenz loszureißen versuchen kann, eine ist,
die in dem Versuch besteht, sich durch Andere als Existenz de jure anerkennen zu lassen.“ 116
Als menschliches Wesen ist man nach Sartre regelrecht dazu verurteilt, frei zu sein, stets das zu
sein, was man nicht ist und nicht zu sein, was man ist. 117 Zusätzlich befindet man sich in stetem Konflikt mit dem Anderen, welcher einem ein objektivierendes An-sich-sein zuweisen will, also das, was
man augenscheinlich und in Funktion ist: Ein Kellner, ein Poet, ein guter oder schlechter Mensch oder
Schriftsteller oder was sonst auch immer. Hier stehen Freiheit und Unfreiheit, Identitätsfindung und
Zerstörung in scheinbar ebenso unvereinbarer Konstellation gegenüber wie der Eine und der Andere
sich gegenüberstehen. Als Mensch ist man daher per definitionem dazu verurteilt, am Versuch, sich
selbst zu (be-)gründen, zu scheitern.
Auch Sebalds Vita und Werk lassen sich unter dem Aspekt der Verwiesenheit an den Anderen
erforschen. Er ist unter anderem auf der Suche, wenn nicht explizit nach Sich so doch nach Identität,
das heißt doch auch wieder nach „einem Bezug des Subjekts zu sich selbst.“ 118 Doch
das Sich kann tatsächlich nicht als ein reales Existierendes erfaßt werden: das Subjekt kann nicht Sich
sein, denn die Koinzidenz mit sich läßt […] das Sich verschwinden. Aber ebenso wenig kann es Sich
nicht sein, da das Sich Anzeige des Subjektes selbst ist. Das Sich stellt somit eine ideale Distanz in der
Immanenz des Subjektes zu sich selbst dar, eine Weise, nicht seine eigene Koinzidenz zu sein, der Identität zu entgehen, gerade indem es sie als Einheit setzt, kurz, in einem dauernd instabilen Gleichgewicht
zu sein zwischen der Identität als absoluter Kohäsion ohne die geringste Verschiedenheit und der Ein119
heit als Synthese einer Vielfalt. Das nennen wir die Anwesenheit bei sich.
Sebald selbst sucht nach Sinn, nach Zusammenhang nicht nur seiner erfahrenen und fingierten Erlebnisse. Seine scheinbar daraus resultierenden (Ver-)Stimmungen verwiesen ihn des Öfteren auf die
Frage, ob und inwiefern er unter seinem Schicksal bzw. dieses wiederum unter dem die Melancholie
repräsentierenden „Hundsstern“ zu leiden habe. Sein Interesse an „psychopathologischem“ Verhaltensweisen, besonders wenn es künstlerischen Ausdruck erfuhr, zeugt unter anderem davon. Am Anderen gibt sich Sebald daher Mühe, sein Leben als nicht gänzlich sinn- und grundlos zu erleben und
das Leben anderer zu verstehen, wenngleich es für ihn nicht akzeptabel scheint, dass alles, auch das
zwischenmenschliche Geschehen, letztlich unter dem Aspekt der Zerstörung stattfinden soll, aufgeklärter Fortschritt, sich einstellende Harmonie oder Erlösung somit unmöglich wären. Die Rolle des
Anderen muss dementsprechend näher betrachtet werden, um Sartres behauptetes Faktum, dass „ich
[…] Erfahren des Anderen [bin]“, 120 nachvollziehen zu können.
116
117
118
119
120
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 839. Peter Kampits stellt fest – ob zu Recht, das sei hier nicht weitrer hinterfragt –, dass „das sich einstellende Ungenügen“ bezüglich der Beziehung zum Anderen in Sartre Das
Sein und das Nichts uns mit einer „Forderung nach einer gegenseitigen Anerkennung konfrontiert, die freilich
vorerst bloßes Postulat blieb“, dass „die gesuchte Verbindung zur Freiheit des Anderen (...) nicht weiter begründet
(wurde).“ (Peter Kampits: Sartre und die Frage nach dem Anderen, Wien 1975, S. 241.)
Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 42.
Ebenda, S. 168.
Ebenda, S. 169.
Ebenda, S. 636.
19
1.5 Der Andere
Anhand verschiedener Verhaltensweisen, zu denen Sartre den schon oben als Beispiel herangezogenen
Glauben zählt, aber auch die Scham, „ein Beispiel für das, was die Deutschen „Erlebnis“ nennen“,121
will Sartre plausibel machen, dass es meiner eines unentbehrlichen Vermittlers bedarf, um solche Verhaltensweisen nicht nur ohne Reflexion leben, sondern auch reflexiv beurteilen und bewerten zu können. Es stellt sich somit zum einen die Frage „nach der Existenz Anderer“ und zum anderen jene
„nach dem Seinsbezug zum Sein Anderer.“ 122
Der Andere (zunächst als Körper) erscheint mir demgemäss als „der unentbehrliche Vermittler
zwischen mir und mir selbst: ich schäme mich meiner, wie ich Anderen erscheine.“ Durch diese vor
allem durch den Blick vollzogene Vermittlung wird man in Stand versetzt, sich, dennoch im Zirkel
befindlich, als Objekt beurteilen zu können. Und da die Scham, Sartre zufolge, „ihrer Natur nach Anerkennung“ ist, „[...] erkenne [ich] an, daß ich bin, wie Andere mich sehen.“ Im Zirkel deshalb, weil
das unmittelbare Erschauern mittels der Scham „ohne jede diskursive Vorbereitung“ 123 erfolgt, es also
kein isolierbares Vergleichen eines Für-sich- mit dem An-sich-Sein gibt.
Sartre wähnt nebenbei eine Kritik am „Realismus“ und „Idealismus“ vornehmen zu müssen, um
auf dem Weg zur mutmasslichen, wahrscheinlichen oder gewissen Erkenntnis des Anderen die „Klippe des Solipsismus“ mittels einer „“internen“ Beziehung“ 124 zu umgehen. Was schlägt Sartre vor, der
schon in der Transzendenz des Ego feststellte, dass selbst das „Ich [...] für das Bewußtsein nicht gewisser [ist] als das Ich anderer Menschen. Es ist nur intimer.“? 125 Sartre gedenkt, den Anderen nicht
unter der Frage einer intelligiblen oder einer noumenalen Existenz zu fokussieren, sondern ihn als ein
unmittelbar (erfahrbares) Phänomen oder auch als ein „kontingente[s] und unreduzierbare[s] Faktum“
aufzufassen, „das auf andere Phänomene verweist: auf ein Phänomen-Wut, die er mir gegenüber empfindet, auf eine Reihe von Gedanken, die ihm als Phänomene seines innersten Sinns erscheinen: was
ich am Andern beobachte, ist nichts weiter als das, was ich in mir selbst finde.“ 126
Sartre wird dieses intersubjektive Phänomen der Sphäre des Für-Andere-Sein 127 zuschlagen. Besonders erfahrbar wird dieses durch den Umstand, dass ich mich durch den „Blick des Anderen, den
ich nicht mehr als objektive Struktur determinieren kann“, 128 als ein mit Eigenschaften belegtes Objekt
dieses Sehens erfasst erachten muss – und vice versa. Diesen Umstand, ebenso wie das unmittelbare
Gewahrwerden „innerer Zustände“ mittels des präreflexiven cogito, gilt es nun, so Sartre nach einer
einschlägigen Kritik an Hegel, Husserl und Heidegger, schlichtweg anzuerkennen: „Mein Bezug zu
Anderen ist zunächst und fundamental eine Beziehung von Sein zu Sein, nicht von Erkenntnis zu Er121
122
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125
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127
128
Als internes „Erlebnis“ wird das psychische Moment eines weltlichen, externen „Ereignisses“ verstanden. Die
Trennung bzw. die nur schwer in Einklang bringende Verbindung von Erlebnis und Ereignis (das sog. Bindungsproblem) durchzieht die Philosophiegeschichte vom Leib-Seele-Problem bis hin zu den modernen dualistischen
Konzeptionen des Selbstbewusstseins und Bewusstseins, die unter anderem mittels Emergenz und Supervenienz
ein plausibles Konzept zu haben trachten.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 405 ff.
Ebenda, S. 406.
Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, S. 98.
Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 90.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 412 f.
Vgl. Ebenda, S. 458 ff.
Detlef Hauck: Fragen nach dem Anderen. Untersuchungen zum Denken von Emmanuel Levinas mit einem Vergleich zu Jean-Paul Sartre und Franz Rosenzweig, Essen 1990, S. 30. (=Philosophie in der Eule; Bd. 13),
Zugleich: Bochum, Univ., Diss. 1987.
20
kenntnis, wenn der Solipsismus zu widerlegen sein soll.“ 129 Das ganze nimmt sich wie eine schlichte,
apodiktische Behauptung aus, die Sartre, sich dessen bewusst, aber erst gar nicht beweisen will, denn
„die Existenz der Anderen wird immer anzweifelbar sein, sofern man nur in Worten und abstrakt am
Anderen zweifelt, so wie ich schreiben kann, ohne das auch nur denken zu können: „Ich zweifle an
meiner eigenen Existenz“.“ 130
Hartmann hat das Für-andere-sein Sartres folgerichtig als „eine Theorie der Begegnung des Anderen und eine Theorie der Seinsbeziehung zum Anderen“ aufgefasst. Und „beide müssen ineinander
greifen: man muß vom cogito aus die Begegnung dartun, und darin, in der Begegnung, muß ein „Interesse“ liegen, das unser Sein am Andern nimmt.“ 131
Im Kapitel Der Blick expliziert Jean-Paul Sartre dieses Ineinandergreifen auf eindrucksvolle
Art:
Die Frau, die ich auf mich zukommen sehe, der Mann, der auf der Straße vorübergeht, der Bettler, den
ich von meinem Fenster aus singen höre, sind für mich Gegenstände, daran besteht kein Zweifel. […]
Das bedeutet, daß meine Wahrnehmung des Andern als Gegenstand, ohne die Grenzen der Wahrscheinlichkeit zu verlassen und gerade wegen dieser Wahrscheinlichkeit, ihrem Wesen nach auf ein fundamentales Erfassen des andern verweist, wo der Andere sich mir nicht mehr als Gegenstand, sondern als
132
„leibhaftige Anwesenheit“ entdecken wird.
Relevanz für die Arbeit erfährt der Andere bzw. der Seinstypus des Für-Andere-Sein durch die negative, weil vor allem konfliktbehaftete Betonung durch Sartre, wie sie zum Beispiel in seinem berühmt
gewordenen Diktum aus dem Stück Geschlossene Gesellschaft Ausdruck erfährt: „Die Hölle, das sind
die Anderen.“ Der Andere ist also zunächst derjenige, der mir begegnend meine Welt „stiehlt“, der,
drastisch gesprochen, der „Tod meiner Möglichkeiten“ ist und der konstitutiv im Begriff ist, mein
Universum auf sein Zentrum hin „ablaufen“ zu lassen, zu desintegrieren. „Der Andere, das ist zunächst die permanente Flucht der Dinge auf ein Ziel hin, das ich gleichzeitig in einer gewissen Distanz
von mir als Gegenstand erfasse und das mir entgeht, insofern es um sich herum seine eigenen Distanzen entfaltet.“ 133
Scheitert also schon, wie oben gezeigt, das dem Subjekt inhärente Für-sich-sein als immerwährender und fortlaufender Entwurf, so ist auch, nach Sartre, die Beziehung respektive der „Seinsbezug“
zum Anderen zum Scheitern vorgesehen insofern der Konflikt mit dem Anderen nicht aufgelöst werden kann, da strukturell „der Konflikt […] der ursprüngliche Sinn des Für-Andere-seins [ist].“ 134
Die allgegenwärtige Zerstörung, wie sie in ihren Facetten so oft von Sebald, nicht nur in seinen
litertheoretischen, frühen Arbeiten thematisiert wurde, hat nach Sartre hier ihren Ursprung. Der Begriff der Zerstörung wird in diesem Zusammenhang weit gefasst werden können. Sie bedeutet die Herstellung einer direkten Verbindung zum Anderen durch das permanente Entwerfen auf etwas hin, das
stets auch auf den Anderen einwirkt, „das heißt, auf die Freiheit der Anderen.“ 135 Es ist nun einerlei,
ob es sich bei der stattfindenden „Zerstörung“, das heisst Einwirkung auf die Freiheit des Anderen, um
129
130
131
132
133
134
135
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 443.
Ebenda, S. 453.
Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, S. 99.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 457.
Ebenda, S. 461.
Ebenda, S. 638.
Ebenda, S. 641.
21
Verhaltenweisen wie „Liebe“, „Sprache“ oder „Masochismus“ oder „Hass“ und „Sadismus“ handelt.
In jedem Fall geht es dem Einen in seinem Streben um ein Erfassen oder auch Anteilhaben des Anderen. Sartre analogisiert dieses Streben mit einer Identifizierung im Sein mit dem Anderen durch Assimilation. Die Einheit ist aber, so Sartre, „de facto unrealisierbar“ und als kontradiktorische Konsequenz hiervon nur wiederum die Bedingung dafür, „an mir zu negieren, daß ich der andere bin.“ 136
Die Beziehung zum Anderen muss aber auch so gesehen werden, dass sich selbst schon der potentielle Leser – als der Andere – zum Autor, in diesem Falle Sebald, und zu dessen Werken in einem
asymmetrischen und konfliktbeladenen, vor allem aber in einem hermeneutischen Verhältnis befindet.
Es steht in Frage, inwiefern sich Sebald dieses Umstands bedient, um den Leser auf Konfrontation
oder in Einvernehmung zu halten. 137 Einleuchtend ist es hingegen, dass darin eine der interpretatorischen Schwierigkeiten liegt und dass, wie später zu sehen sein wird, „die Weise, wie Menschen von
vornherein in einem Sinnzusammenhang existieren, [...] als Teilnahme an einem kommunikativen
Geschehen definiert [ist]: Daß man nicht nicht kommunizieren kann, ist die elementare Tatsache, auf
deren Grundlage Sinn und Verstehen“ 138 erst ermöglicht werden. Die Beziehung zum Anderen wird
also im Verbund mit der „existentiellen Psychoanalyse“ Sartres gerade in hermeneutischer Hinsicht
fruchtbringende Relevanz haben. Wie Angehrn betont, geht es „der hermeneutischen Dialektik von
Selbst und Andersheit nicht nur darum, daß das eigene Selbstverständnis in das Fremdverstehen einfließt; ebenso wichtig ist, daß es in diesem zum Gegenstand wird und sich verwandelt.“ 139 Dieses dynamische und reziproke Verhältnis wird ebenso wie Sartres Bewusstseinsanalyse und seine „existentielle Psychoanalyse“ der späteren Deutung des Sebaldschen Werkes zugrunde liegen.
1.6 Zur Freiheit verurteilt
Wir haben bis hierher drei verschiedene Seins-Typen kennen gelernt, ohne dabei auf Unzulänglichkeiten struktureller Art Rücksicht zu nehmen. Jede für sich lässt sich als ein Akt der Negation beschreiben. Nach Sartres struktureller Auffassung liegt ihnen ein wesentliches Merkmal zugrunde, nämlich
die Freiheit. „Für das Bewußtsein heißt existieren Bewußtsein von seiner Existenz haben. Es erscheint
als reine Spontaneität gegenüber der Welt der Dinge, die reine Trägheit ist.“ 140 Sartre geht es dabei
nicht um eine Fortführung der altbekannten und bis heute aktuell geführten Debatte um Willensfreiheit
oder („psychologischen“ und „universalen“) Determinismus. Er greift das Thema von einer ganz anderen Seite her auf, nämlich ontologisch fundiert und von der Angst her. In ihr, so Sartre, „erfasse ich
136
137
138
139
140
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 641. Sartres Auffassung ist hier stark verkürzt dargestellt. In Das
Sein und das Nichts führt er ausführlich das komplexe Beziehungsgefüge aus. Der Andere wird dabei als Subjektund Objekt-Anderer begriffen, der im steten Verweisungsspiel (sich nämlich als Subjekt nicht objektivieren lassen
zu wollen) mit mir gefangen ist. Da man laut Sartre aus „strukturellen“ Gründen selbst nie eins mit sich sein
kann, sich dennoch permanent im Modus eines An-und-Für-sich-sein- respektive Gott-sein-Wollens befindet,
wird die implizite Abhängigkeit vom Anderen nur als eine weitere, wenngleich wechselseitige Hürde empfunden
werden können.
Beim Einsatz von Bild-Material geht Sebald sehr wohl davon aus, dass etwas beglaubigt wird, „nur hin und wieder hat ein Bild die gegenteilige Funktion – nämlich den Leser zu verunsichern, was die Authentizität des Textes
betrifft.“ (Vgl. Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 137.)
Emil Angehrn: Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist 2003, S. 110.
Ebenda, S. 118.
Jean-Paul Sartre: Die Imagination, S. 97 f., in: Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931- 1939, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 97-254.
22
mich als total frei und gleichzeitig als gar nicht verhindernd könnend, daß der Sinn der Welt ihr durch
mich geschieht.“ 141 Sartre charakterisiert die Angst als
reflexive[s] Erfassen der Freiheit durch sie selbst, und in diesem Sinn ist sie Vermittlung, denn obwohl
unmittelbares Bewußtsein von ihr selbst, taucht sie aus der Negation der Appelle der Welt auf, erscheint
sie, sobald ich mich von der Welt, in die ich mich engagiert hatte, löse, um mich selbst als Bewußtsein
zu erfassen, das ein vorontologisches Verständnis seines Wesens und einen präjudikativen Sinn für sei142
ne Möglichkeiten hat.
Dieser Akt kommt laut Sartre dem Für-sich-sein zu. Und weiter gilt für die Freiheit, dass sie keine
Eigenschaft ist, sondern „als die für die Nichtung des Nichts erforderliche Bedingung“ dem Wesen des
Menschen stets vorausgehend. Freiheit und Existenz des Menschen fallen demnach ineins, wenn Sartre behauptet, dass „der Mensch [...] keineswegs zunächst [ist], um dann frei zu sein, [...].“ Er ist
gleichsam zur Freiheit verurteilt, „insofern die Erscheinung des Nichts von ihm bedingt wird.“ Durch
das strukturelle „Nichts“ zwischen An- und Für-sich-sein, was der Unbestimmtheit des Menschen entspricht, kommt also laut Sartre die Freiheit als „Innenstruktur des Bewußtseins“ 143 in die Welt.
Wie in der oben ausgeführten Bewusstseinsanalyse gezeigt wurde, ist dem Menschen im seinen
zirkulären Sein ein stetes „Losreißen“ bzw. „Abrücken“ inhärent, was notwendigerweise ein sich entwerfen auf etwas hin bedeutet muss. Sartre will damit auch aufzeigen, dass der Mensch seine Weise(n)
zu sein zwar wählen kann, dies jedoch nicht unabhängig vom Anderen. In Das Sein und das Nichts
und später in seiner Flaubert-Studie stellt er sich der für ihn im Ergebnis unbefriedigenden psychologischen Analyse (Paul Bourgets), die laut Sartre ein Bemühen ist,
die komplexe Persönlichkeit eines Adoleszenten [Gustave Flaubert; der Verf.] auf einige primäre Begierden [zum Beispiel eine „grandiose Ambition“ und „das Bedürfnis, viel zu agieren und zu viel zu
empfinden“; der Verf.] zu reduzieren, so wie der Chemiker die zusammengesetzten Körper auf eine
144
Kombination von Elementen reduziert.
Doch für Sartre gilt dies nicht als „Erklärung der „Berufung“ Flauberts“, vielmehr stellt sich hier die
Frage nach dem Warum seines Schreibbedürfnisses. „Warum wurde er nicht Schauspieler? Warum hat
er es nicht versucht zu werden? [...] Und warum wählt es [das in der Exaltiertheit mündende Bedürfnis, viel zu agieren und zu viel zu empfinden; der Verf.] gerade, sich symbolisch zu befriedigen, statt
sich in Gewaltakten, Fluchten, Liebesabenteuern oder Ausschweifungen zu stillen?“ 145 Sartre lehnt
mithin eine Psychologie ab, die zum Beispiel die „grandiose Ambition“ Flauberts als unreduzierbares
Faktum geklärt haben will. Er will die Grenzen einer befriedigenderen Analyse weiter ausloten, denn
„da, wo der Psychologe stehen bleibt, bietet sich das betreffende Faktum als primär dar.“ Die sog.
„Erklärung“ bedarf also selbst einer Klärung.
Das uns beschleichende Gefühl, so Sartre, „daß Flaubert seine Ambition nicht „bekommen“
hat“, lässt sich Sartre zufolge besser erklären und verstehen, wenn man annimmt, dass sie, die Ambition, gleichsam als Urwahl bzw. Entwurf „frei“ zu einem früheren Zeitpunkt gewählt wurde. Das heisst,
141
142
143
144
145
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 85, S. 109.
Ebenda, S. 108.
Ebenda, S. 84 f.
Ebenda, S. 957 f.
Ebenda, S. 959.
23
dass „weder die Vererbung noch die bürgerlichen Lebensbedingungen, noch die Erziehung […] darüber Aufschluß geben [können]; noch viel weniger die physiologischen Betrachtungen über das „nervöse Temperament“, die eine Zeitlang Mode waren: der Nerv ist nicht bedeutend […].“ 146 Sartre muss
sich aber, will er seine geforderte Ausweitung der Analyse durchführen können - die ja eine verstehendmachende Erklärung liefern muss - ebenso auf ein „wirklich Unreduzierbares, das heißt ein Unreduzierbares, dessen Unreduzierbarkeit für uns evident wäre“, festlegen. Für Sartre bedeutet diese Forderung, jene Evidenz als eine des „ursprünglichen Entwurfs“ mit seiner „existentiellen Psychoanalyse“ aufzuweisen.
Freiheit im Sinne Sartres bedeutet also eine an seinen Leib gebundene Spontaneität, die im Konflikt mit dem Anderen gewählt bzw. konkretisiert werden muss. Der nicht zu vernachlässigende, moralische Impetus liegt dabei auf der Verantwortung, welche dem Subjekt durch die blosse Existenz auferlegt ist. Für alles, was wir in der je konkreten Situation tun bzw. nicht tun, sind wir demnach voll
verantwortlich. Ob unser Wille dabei (sofern es diesen als „gelebten Leib“ überhaupt gibt 147 ) frei ist
oder nicht, ist von untergeordneter Relevanz. Relevant ist hingegen der Punkt, wo sich der Entwurfcharakter gemäss einer Weise zu sein – und nicht zu sein, denn diese dialektische Spannung des unmöglichen An- und Für-sich-sein-wollens ist nie aufzuheben – zeigt. Des weiteren ist es wichtig, dass
das Subjekt totalisierend betrachtet wird, als in der Gemeinschaft lebend, wie Sartre es später in der
Auseinandersetzung mit dem Existentialismus und dem Marxismus prononciert. Diesen Punkt zu finden und verständlich zu machen bestimmt als roter Faden Sartres biographisches Arbeiten, unter anderem zu Flaubert und Genet – und natürlich über sich selbst.
Bezüglich des Sebaldschen Werks wird es der Analyse unter anderem obliegen, einen solch
möglichen, evidenten Punkt, demnach einen Moment des „ursprünglichen Entwurfs“, aufzufinden und
ihn plausibel auszuweisen. Davon allerdings wird erst im zweiten Kapitel gehandelt werden müssen.
2. Sartres Geschichtsverständnis: Zerstörung
Sartres Geschichtsverständnis lässt sich vor allem über seine philosophische Schaffensphase über
Jahrzehnte hinweg keineswegs als ein monokausales und fixiertes verstehen. Seine Entwicklung liesse
sich wohl grosso modo als eine vom existentiellen (Anti-)Humanisten und Freiheitsapologeten hin
zum Marxismus, also vom Subjekt zur Gemeinschaft bzw. zur „Klasse“ hin, beschreiben. Mit Schnädelbach „schematisch gesprochen, beginnt Sartre mit reiner Philosophie und kommt bei Marx und
einer umfassenden Gesellschaftstheorie an [...].“ 148 In die Fragen der Methode gibt es denn auch den
„Versuch einer Methodik“ in der Auseinandersetzung mit Marxismus und Existentialismus. 149 Angestrebt wird ein gewisser Synkretismus, wobei der 1960 erschienene Aufsatz später als Vorwort zur
Kritik der dialektischen Vernunft fungieren und auch Titel gebend sein wird. Auch deutet sich hier
schon seine methodologische Vorarbeit zu den biographischen Studien zu Flaubert und Baudelaire an.
146
147
148
149
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 960 f.
Vgl. besonders dazu das zweite Kapitel Der Körper in Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 539 ff.
„[...] während die Frankfurter [Schule-Vertreter u. a. Horkheimer und Adorno; der Verf.] marxistisch und gesellschaftstheoretisch beginnen, um sich dann immer mehr in die Philosophie zurückzuziehen.“ (Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule, S. 19, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 13-35.)
Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 9-42.
24
Sartre benennt seinen eingeschlagenen Kurs folgerichtig als „die Totalisierung des zeitgenössischen
Wissens [...]: der Philosoph vollzieht die Vereinigung aller Erkenntnisse, indem er sich an bestimmten
Leitbildern orientiert, die die Haltungen und Techniken der aufsteigenden Klasse dem eigenen Zeitalter und der Welt gegenüber zum Ausdruck bringen.“ 150 Auf dem Wege dahin lässt sich für Sartre ein
Merkmal bestimmen, welches gleichermassen beide politik-philosophische Richtungen durchwirkt,
nämlich der Akt der Zerstörung. Wie schon oben angeklungen, kann Zerstörung nur menschengemacht
sein. Die Geschichte selbst ist nicht zerstörerisch, doch da Geschichte ohne den Menschen nicht stattfindet, ist der Zusammenhang offensichtlich. Der bedeutungsvielfältige Begriff der „Zerstörung“ soll
nun für die jeweilige Ebene, d.h. 1. für die vor allem Das Sein und das Nichts betreffende und 2. für
diejenige des Marxismus, herausgearbeitet werden.
2.1 Phänomenologisch-ontologisch
Sartre spricht nun in Fragen der Methode – in selbstkritischer Absetzung zu Der Existentialismus ist
ein Humanismus von 1946 – vom Existentialismus als Ideologie: „[...] er ist ein parasitäres System,
das am Rande des Wissens lebt, des Wissens, dem er sich ursprünglich entgegenstellt, dem er sich
aber heute einzugliedern versucht.“ 151 Dennoch gilt für Sartre weiterhin, indem er sich in seiner Analyse auf Sören Kierkegaard bezieht, dass das Subjekt sich an der Existenz „abarbeite[t]“, dass also
Ideen allein nicht genügen, will der Mensch sich ändern. „[...] Man muß sie [die Leidenschaft; der
Verf.] durchleben, ihr andere Leidenschaften entgegensetzen, sie hartnäckig bekämpfen [...]“, 152 um so
dem Wirklichen des Seins auf die Spur zu kommen. In Das Sein und das Nichts hat Sartre für das Sein
festgestellt, dass es dann „[...] zerbrechlich [ist], wenn es in seinem Sein eine bestimmte Möglichkeit
von Nicht-sein birgt. Aber es ist wieder der Mensch, durch den Zerbrechlichkeit dem Sein geschieht
[...].“ 153
Der Mensch muss sich zu dieser Möglichkeit des Nichts-seins aufgrund eines „präjudikative[n]
Verständnis[ses] des Nichts als solchen“ verhalten, „entweder positiv oder negativ: er muß die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um sie zu verwirklichen (Zerstörung im eigentlichen Sinn) oder um
sie, durch eine Negation des Nichts-seins, immer auf der Ebene einer bloßen Möglichkeit zu halten
(Schutzmaßnahmen).“ 154
So werden die Städte und andere menschliche Bauten als Wert, als schützenswert gesetzt und sie
können erst nach dieser Setzung durch Naturkatastrophen oder durch Krieg zerstört werden. Sartre
behauptet folgerichtig, dass „der ursprüngliche Sinn und das Ziel des Krieges […] im kleinsten Bau150
151
152
153
154
Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 10.
Ebenda, S. 14. Natürlich begreift Sartre in dieser Schrift den Existentialismus nur dann als Ideologie, insofern der
Mensch das letzte Ziel bzw. der höchste Wert wäre. Für Sartre besteht aber weiterhin seine Intention des Existentialismus darin, dass der Mensch sich selbst schafft, dass er sich selbst die Gesetze, die Werte gibt, dass also weiterhin die absurde, kontingente Existenz einer etwaigen Essenz vorausgeht. Bernand-Henri Lévy wird in Sartre.
Philosoph des 20. Jahrhunderts, Wien 2002, an dieser Zweigliederung in Sartres rückblickendem Verständnis und
Verfechten des Existentialismus einen „ersten“, jungen und einen „zweiten“, reifen Sartre konstatieren. An dieser
Stelle wäre festzuhalten, dass Sartre mit dem Roman Der Ekel einen antihumanistischen Existentialismus und –
unter Einfluss des Zweiten Weltkrieges- mit der popularisierenden Schrift Der Existentialismus ist ein Humanismus einen humanistischen Existentialismus differenzieren wird, womit auch Sartres Entwicklung vom Individualismus zum Sozialismus korrelierte.
Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 18.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 58.
Ebenda.
25
werk des Menschen enthalten [sind]“ und „daß es der Mensch ist, der seine Städte über Erdbeben oder
direkt zerstört, der seine Schiffe über Wirbelstürme oder direkt zerstört.“ 155 Zerstörung wird von Sartre als „objektives Faktum“ und gemäss des Prinzips der Entropie als „unumkehrbares und absolutes
Ereignis“ verstanden. „In das Sein dieser Vase hat sich die Zerbrechlichkeit eingeprägt […].“ 156
Aufgrund der von Sartre konzeptualisierten Bewusstseinsanalyse setzt sich diese objektive Zerstörung subjektiv und intersubjektiv im Sinne der permanenten „Nichtung“ fort. Prägnant formuliert
Sartre die subjektive Nichtung, die man genauso gut als Zerstörung bezeichnen kann, im folgenden
Zitat aus:
Indem das Für-sich im Sein als Nichtung des An-sich auftaucht, konstituiert es sich zugleich in allen
möglichen Nichtungsdimensionen. Von welcher Seite man es auch betrachtet, es ist das Sein, das nur
mit einem Faden an sich selbst hängt, oder, genauer noch, das Sein, das, indem es ist, alle möglichen
Dimensionen seiner Nichtung existieren macht. In der Antike nannte man die tiefe Verbundenheit und
Zerstreuung des jüdischen Volks „Diaspora“. Dieses Wort kann uns dazu dienen, den Seinsmodus des
157
Für-sich zu bezeichnen: es ist diasporisch.
Nun, sicherlich liesse sich der geschilderte „diasporische“ Seinsmodus auch für viele andere Menschen unterschiedlicher Ethnien, die zum Beispiel für transnationale Firmen arbeiten, diagnostizieren.
Worauf es hier ankommt ist, dass das Sein des Für-sich, da es Sartre zufolge quasi „verfolgtverfolgend“ 158 dreifaches gleichzeitig sein muss, folgendermassen verkompliziert wird: Es kann „1.
nicht das sein, was es ist“ und muss „2. das sein, was es nicht ist“ und kann bzw. muss „3. in der Einheit eines ständigen Verweisens das sein, was es nicht ist, und nicht das sein, was es ist.“ 159 Als grundlose Schöpfung, die ich bin, bin ich zudem noch verurteilt, meine Existenz auf ein mögliches Wesen
bzw. gar auf die ideale Synthese, nämlich das ens causa sui hin zu entwerfen, welche ich selbst mit
dem Tod nicht erlangen kann. Dem Sartreschen Konzept zufolge wird es also stets beim Scheitern
bleiben: die Sinnhaftigkeit der Existenz wird strukturell verunmöglicht.
Sich dessen bewusst seiend, folgert Sartre, dass „es […] in der Tat skandalös [scheint], daß das
Bewußtsein in irgendeinem Moment „erscheint“, daß es auf einmal den Embryo „bewohnt“, kurz, daß
es einen Moment gibt, in dem das entstehende Lebewesen ohne Bewußtsein, und einen Moment, in
dem ein Bewußtsein ohne Vergangenheit sich in es einschließt.“ Sartre verschliesst sich somit einem
deterministischen Menschenbild in dem Sinne, dass unserer Existenz Generation übergreifende und
bedingende Sinnhaftigkeit besitzt. Literaturwissenschaftliche Arbeiten, wie bereits einleitend erwähnt,
die sich theoretisch auf Freuds Psychoanalyse stützen, behaupten unter anderem gerade dieses, dass
nämlich menschliche Verhaltensweisen als Dispositionen (wie zum Beispiel des Gefühl kollektiver
Schuld oder die kollektive Unfähigkeit zur Trauer) scheinbar genetisch, oder auf welchem Wege auch
sonst immer, an die folgende Generation vererbt würden. Für den späteren Teil der Arbeit im zweiten
Kapitel wird unter Verweis auf Sartre diese Herangehensweise am Beispiel W.G. Sebalds als inadäquat herausgestellt werden.
155
156
157
158
159
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 58.
Ebenda, S. 59.
Ebenda, S. 266.
Ebenda, S. 634.
Ebenda, S. 267.
26
Zum intersubjektiven Charakter der Zerstörung lässt sich Sartres strukturelle Notwendigkeit des Anderen bzw. des Für-andere-seins, wonach „es […] Beziehung des Für-sich zum An-sich in Anwesenheit
des andern [gibt]“, 160 heranziehen. Nicht nur, dass mehrere Körper zum Beispiel im Kriege sich zerstören können; der Andere bedeutet in erster Linie den „Tod“ all meiner anderen Seins-Möglichkeiten.
Der Andere verhält sich mir gegenüber zuvörderst erblickend, er „erblickt mich und besitzt als solcher
das Geheimnis meines Seins, er weiß, was ich bin […].“ Dieses mir von aussen zugewiesene Sein
kann ich nun wiederum negieren bzw. transzendieren wollen, „ich kann mich zum Andern zurückwenden, um ihm meinerseits Objektheit zu verleihen, da ja die Objektheit des Andern meine Objektivität für den Andern zerstört.“ Oder aber ich bin bemüht, mir die Freiheit, mich zu gründen, anzueignen, demnach „die Freiheit des Andern zu assimilieren“, 161 wie Sartre es ausdrückt, um mich meiner
Subjektheit zu vergewissern. So könnte ich etwas anderes sein, als der Andere mir auferlegt, indem ich
den Andern in seinen Entwurfsmöglichkeiten auf eine bestimmte, objektivierende Perspektive festzulegen versuche.
In diesem wechselseitigen und dynamischen Verhältnis gibt es, ebenso wie jene zwischen dem
Für-sich- und dem An-sich-sein, eine andauernde Grundspannung zwischen mir und dem Andern, die
gerade die Konflikthaftigkeit intersubjektiver Verhältnisse ausmacht. Honneth konstatiert denn auch
Sartres Intersubjektivitätstheorie: „Zwischen Subjekten ist eine Beziehung kommunikativen Einverständnisses nicht möglich, da stets eines der Subjekte sich in dem vergegenständlichen Zustand des
Für-Andere-seins befinden muß.“ 162 Sartres eindringliche Schilderung gibt uns eine Vorstellung davon:
So ist der Objekt-Andere ein explosives Instrument, das ich mit Furcht handhabe, weil ich um es herum
die permanente Möglichkeit spüre, daß man es explodieren läßt und daß ich mit diesem Explodieren
163
plötzlich die Flucht der Welt aus mir heraus und die Entfremdung meines Seins erfahre.
Honneth versucht immanente Kritik ob der „Suggestivkraft dieser phänomenologisch höchst eindringlichen Detailanalysen, die es schwer macht, sich dem Gang der Argumentation Sartres überhaupt zu
entziehen.“ Honneth will zeigen, „daß Sartre eine reduktionistische Beschreibung jener interaktiven
Schlüsselsituation des Erblicktwerdens liefert.“ Für Honneth scheint es ungerechtfertigt, dass „Sartre
jedes Erblicktwerden undifferenziert als eine Weise der Verdinglichung beschreibt“, 164 da die „normative“ Seite des zum Beispiel bekräftigenden, positiven oder hinterfragenden, negativen Blicks ausser
Acht gelassen werden würde.
Für Sartres konzeptionelles Für-Andere-sein ist es aber irrelevant, die normative Seite in Honneths Sinne zu berücksichtigen, denn sie ändert nichts daran, dass der Blick des Andern mich auf ein
Sein, auf eine soziale Funktion zum Beispiel, ob es nun gut oder schlecht gemeint ist, festzulegen versucht. Ich kann ja immer auch nicht wollen, dass jemandes Blick mich als gutmütig oder griesgrämig
zu fixieren scheint. In der biographischen Studie Baudelaire. Ein Essay formulierte Sartre diesen dialektischen Sachverhalt folgendermassen: „Da es nun einmal keine fertig bereitstehenden Prinzipien
160
161
162
163
164
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 634.
Ebenda, S. 636 f.
Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 77, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 73-83.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 529.
Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 79.
27
gibt, an die man sich halten könnte, wird er [Baudelaire; d. Verf.] entweder in einem amoralischen
Indifferentismus verharren oder aber selbst das Gute und das Böse erfinden müssen.“ 165
2.2 Dialektisch
Als Ontologe befragt Sartre sodann den Marxismus: „Wie ist es zu verstehen, daß der Mensch die
Geschichte macht, wenn andererseits es doch gerade die Geschichte ist, die ihn macht?“ 166 Sartre stellt
diese Frage aufgrund der Einsicht, dass das Individuum allein für sich kaum nennenswerte bzw. wirkungsmächtige Bedeutung hat. Das Subjekt wird nun, trotz der intersubjektiven Frontstellung, als ein
Gemeinschaftswesen begriffen und zwar unter Heranziehung der Terminologie des Marxismus bzw.
des Kommunismus. Es verwundert aber nicht, dass Sartre die starre Dialektik und die bürokratischen
und stalinistischen Auswüchse kritisiert und mit der Übernahme existentialistischer Attribute, so zum
Beispiel die Freiheit des Subjekts und den ihn auszeichnenden Entwurfcharakter seiner Existenz, den
„zeitgenössischen Marxismus“ aufbrechen will.
Er wirft ihm unter anderem vor, „alle konkreten Bestimmungen des menschlichen Lebens dem
Zufall zuzuschreiben und von der historischen Totalisierung nichts als das bloße Gerippe abstrakter
Allgemeinheit übrigzubehalten.“ 167 Doch was lässt sich positiv von ihm sagen und woran lässt sich
wiederum der Schwerpunkt der Zerstörung festmachen? Zuerst, so Sartre, gilt es „innerhalb des Marxismus den Menschen zurückzuerobern“, nicht „im Namen eines dritten Weges oder eines idealistischen Humanismus“, sondern über die von ihm als „progressiv-regressive“ 168 bezeichnete Methode.
Ziel ist es, die „Leerstelle eine konkreten Anthropologie“ zu füllen und sie im „“Wissen“ zu integrieren.“ 169 Mit der benannten Methode geht es Sartre „vor dem Hintergrund einer zukünftigen Totalisierung“ 170 um einen Akt des Verstehens. Wiewohl
die Menschen [...] ihre Geschichte auf der Grundlage vorgefundener tatsächlicher Verhältnisse [machen] (worunter man die erworbenen Eigenschaften, die durch die Arbeits- und Lebensweise aufgezwungenen Deformationen, die Entfremdung usw. zählen muß); [sind] [es] dennoch die Menschen und
nicht die vorgefundenen Verhältnisse, die die Geschichte machen, denn sonst wären die Menschen blo171
ße Vehikel unmenschlicher Gewalten, die durch sie die soziale Welt regierten.
Dieser als die konkrete Praxis verhandelte Sachverhalt birgt für das von Sartre intendierte „Verstehen
der Existenz“ 172 zwei Richtungen: „zum einen rekurriert es „regressiv“ auf die Faktizitäten, die Umstände, das Erlebte, und zum anderen „progressiv“ auf die Entwürfe, die der Einzelne auf Grund des
Gegebenen tätigt [...].“ 173 Die Praxis wird von Sartre dabei marxistisch aufgefasst, dessen Grundmo-
165
166
167
168
169
170
171
172
173
Jean-Paul Sartre: Baudelaire. Ein Essay, S. 30.
Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 94.
Ebenda, S. 92.
Ebenda, S. 94 ff.
Ebenda, S. 93.
Ebenda, S. 100.
Ebenda, S. 97.
Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 188.
Peter Kampits: Jean-Paul Sartre, München 2004, S. 107.
28
tiv, nämlich „das Engagement für die Befreiung der Arbeiterklasse und mit ihr der gesamten Menschheit“ 174 wieder in ihr Recht gesetzt werden muss.
Schliesst man vom entfremdet lebenden und sich darin wiederum überschreitenden Einzelnen
auf die „Gruppe“, so kann ihr nie „die metaphysische Seinsweise“ von Entitäten wie Bourgeoisie,
Kleinbürgertum oder Proletariat zugeschrieben werden, wenngleich sie ihr dennoch gerade auch von
Marxisten zugedacht wird. Doch „es gibt nur Menschen“, so Sartre, „und reale Beziehungen zwischen
den Menschen; in dieser Hinsicht ist die Gruppe in bestimmtem Sinn nichts als die eine Mannigfaltigkeit von Beziehungen und Beziehungen zwischen diesen Beziehungen.“ 175
Es gäbe, laut Sartre, auch Ausnahmen. Es gibt Gruppen oder Kollektive, die unter
scheinbarer identischer Zielgerichtetheit und kurzfristigem intersubjektivem Gelingen agieren. Ein Beispiel ist das klassische Auflehnen Unterdrückter gegen die Unterdrücker, ausgebeuteter Menschen gegen die Ausbeuter, der berüchtigte Klassenkampf also, wenn „das Kapital [...] der Gesellschaft gegenüber [tritt]“, 176 der nur mit Gewalt respektive Zerstörung gegen
Menschen und Dinge geführt werden kann. Für Sartre manifestiert sich in diesen Gruppen
temporäre und aufrichtige Kohärenz, welche, analog zum subjektiven und intersubjektiven
Konflikt, in ein konträres, oftmals terroristisches Verhältnis gegenüber Staat und Kapital
mündet. Sartre behauptet also, dass der randständige und von ihm nun etwas modifizierte Existentialismus prinzipiell den Marxismus ergänzen kann, insofern wirklich freie Individuen
wenigstens kurzfristig zu einer homogenen oppositionellen Masse zusammengeführt werden
können, so dass demnach „die aufsteigende Klasse zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt
[...].“ 177
Mit dem oben ausgeführten, wenn auch aus inhaltlichen Beschränkungen der Arbeit sehr stark
verkürzt, sollte klar geworden sein, dass Sartres Geschichtsverständnis wesentlich auf der Betonung
der durch den Menschen in die Welt gekommenen Zerstörung liegt. So wenig strukturell ein gelingendes intersubjektives Miteinander gelingen kann, so wenig kann eine kurzzeitig homogene und konkrete Gruppe ohne oppositionellen Charakter entstehen. Nichts desto trotz versuchte Sartre, auf seinen
konzeptionellen Rahmenbedingungen fussend, Entwürfe für eine Moralphilosophie 178 – und somit
eine plausible Ethik – auszuarbeiten, um diesen, das menschliche Dasein kennzeichnenden Mangel, zu
beseitigen. Inwiefern und ob diese Moralphilosophie zu verwirklichen wäre, kann hier nicht mehr
Gegenstand der Untersuchung sein.
In Das Sein und das Nichts veranschaulichte Sartre jedoch noch, wie eng verbunden meine kontingente Existenz, nach Sartre „meine Faktizität, das heißt hier das Faktum meiner Geburt“, mit der
Verantwortung, im banalen Sinn von „“Bewußtsein (davon), der unbestreitbare Urheber eines Ereignisses oder eines Gegenstandes zu sein“, 179 für die Zerstörung jeglicher Art ist. Sartre behauptet, dass
„es keine Zwischenfälle in einem Leben [gibt]; ein gesellschaftliches Ereignis, das plötzlich ausbricht
und mich mitreißt, kommt nicht von außen; wenn ich in einem Krieg eingezogen werde, ist dieser
174
175
176
177
178
179
Iring Fetscher: Sartre und der Marxismus, S. 226, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei
Hamburg 1988, S. 226-246.
Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 85.
Ebenda, S. 174.
Ebenda, S. 25.
Jean-Paul Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek bei Hamburg 2005.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 950, 954.
29
Krieg mein Krieg, er ist nach meinem Bild, und ich verdiene ihn“, 180 insofern, als ich mich nicht durch
Selbstmord oder Fahneflucht entziehen wollte.
Es ist eine Frage des Augenblicks und des Mutes zugleich, die dem Menschen trotz äußerer Bedingung und ontologischer Fundierung die Verantwortung überantwortet. Evident wird dies an der
Frage nach der moralischen und rechtlichen Schuld derjenigen, die an der Vernichtung unzähliger
Menschen, zum Beispiel während des Zweiten Weltkrieges, mitgewirkt haben und die sich bei den
anschliessenden Prozessen pauschal, um sich wenigstens des juristischen Schuldspruchs zu erwehren,
auf „Befehlsnotstand“ beriefen.
3. Sartres Konzeption der „existentiellen Psychoanalyse“
Sartres innovative philosophische Leistung für den biographisch-historisch interessierten Forscher
beruht auf der von ihm konzipierten „existentiellen Psychoanalyse“. Mittels dieser und der später entwickelten „progressiv-regressiven Methode“, welche vor allem in seinem Aufsatz Fragen der Methode dargelegt wurde, galt es für Sartre all das zu verstehen und verstehbar zu machen, „was man“, wie
er im Vorwort zu seiner Flaubert-Studie schrieb, „heute von einem Menschen wissen [kann]“. 181 Ob
der Tatsache, dass Sartre in seiner Arbeit über Flaubert das Individuum als „einzelnes Allgemeines“,
das heisst vor allem auch gesellschaftlich bedingt, verstanden wissen will und somit einen methodischen Mangel an der „existentiellen Psychoanalyse“ benennen und gleichzeitig beheben kann, stellt sie
das zentrale Instrumentarium zur Analyse von Leben und Werk eines Menschen, vor allem eines
Künstlers dar. Es soll im folgenden die Methode der „existentiellen Psychoanalyse“ zum einen bekräftigt werden, gleichzeitig die allzu gängige literaturwissenschaftliche Bezugnahme auf die Freudsche
Psychoanalyse in Frage gestellt bzw. als mangelhaft zurückgewiesen werden. Die Literaturwissenschaft wird vor allem dann eine aussagelose, wenn sie am Unbewussten festhält.
180
181
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 951. Jahrzehnte später wird Sartre jedoch in Sartre über Sartre.
Interview mit Perry Anderson, Ronald Fraser und Quintin Hoare, in: Jean-Paul Sartre: Sartre über Sartre. Autobiographische Schriften, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 144-166, so manche seiner drastischen Aussagen revidieren. So sagt er darin, unter Bezugnahme seiner marxistischen Haltung, geradezu kontradiktorisches zu seiner in
Das Sein und das Nichts vertretenen Auffassung der absoluten Freiheit, zu wählen, ob man zum Beispiel Fahneflucht begehe oder nicht: „Eigentlich hätte schon mit Das Sein und das Nichts die Entdeckung dieser Macht der
Dinge beginnen müssen, denn ich war schon damals gegen meinen Willen Soldat geworden.“ (S. 144.) Im weiteren Verlauf des Interviews wird er diesen Sachverhalt zum einen mit Verweis auf die Bedingungen äußeren
Drucks „autobiographisch erklären“, zum anderen als eine Frage des Muts verhandelt wissen wollen. „Die Erfahrung des Krieges war für mich, wie für alle, die daran teilgenommen haben, die Erfahrung des Heldentums. Natürlich nicht meines eigenen Heldentums – ich habe nur einige Koffer getragen.“ (S. 145.) Diese Erfahrung, so Sartre
weiter, sei zudem eine falsche Erfahrung des Heldentums. „Nach dem Krieg kam die echte Erfahrung: die Erfahrung der Gesellschaft.“ Im Großen und Ganzen zeichnet er hier also nochmals die Thematik der Fragen der Methode nach, das heißt, die Schwierigkeit und zugleich die Notwendigkeit, Marxismus und Existentialismus kohärent zu vereinbaren. So ist auch die ablehnende Aussage Sartres zu verstehen, wonach er „eine sehr mangelhafte,
eine außerordentlich schlechte“ Studie über Baudelaire verfasst habe. (S. 152.) In Das Sein und das Nichts, S.
960, hielt Sartre noch den Psychologen vor, in den Biographien auf „Berichte[] über äußere Ereignisse und [...]
Anspielungen auf die großen Erklärungsidole unserer Epoche, Vererbung, Erziehung, Milieu, physiologische
Konstitution“ zu setzen, also ausdrücklich die Betonung auf die Gesellschaft zu legen. Nicht zu vernachlässigen
ist jedoch Sartres Duktus auf den Augenblick, der den Menschen ja trotz aller Bedingtheit in die Verantwortung
setzt. (Vgl. in Das Sein und das Nichts Erstes Kapitel: Sein und Handeln: Die Freiheit im vierten Teil: Haben,
Handeln und Sein, S. 753 ff.)
Jean-Paul Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857, I. Die Konstitution, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 7.
30
Christina Howells behauptet, dass Sartre bereits durch seinen Roman Der Ekel einen biographischen
Blick bevorzugt, insofern darin der Held Antoine Roquentin eine Lebensgeschichte über den Marquis
de Rollebon zu verfassen gedenkt. Freilich lässt Roquentin dieses Unternehmen wieder fallen und
Howells mutmasst, dass er dies nicht tat, weil es „die falsche Art Biographie“ war, sondern weil „Roquentin […] die falsche Haltung ihr gegenüber [ein]nimmt.“ 182 Was kennzeichnet die darin falsch
eingenommene Haltung? „Er hat“ vor allem, so Howells, „den esprit de sérieux des Bürgers aufgegeben, der denkt, Werte seien einem absoluten oder göttlichen Bereich eingeschrieben, aber hat noch
nicht den nächsten Schritt begriffen: dass nämlich er selbst „das Sein ist, durch das die Werte existieren“.“ 183
Sartre selbst hat demzufolge mittels der in Frage stehenden „existentiellen Psychoanalyse“ diesen Schritt vom Roman Der Ekel hin zu Das Sein und das Nichts vollzogen. Damit einher geht zunächst Sartres Kritik an der empirischen Psychoanalyse, wie sie Freud vertreten hat. Alfred Dandyk
hat sie hierzu treffend „am Leitfaden der Begriffspaare Substanz-Relation, Kausalität-Finalität, Reduktionismus-Holismus und Empirismus-Apriorismus“ 184 erläutert. Zur ersten Orientierung soll diese
Kritik näher betrachtet werden, um im Anschluss Sartres Konzeption darzulegen.
3.1 Sartres Auffassung
„Wenn es zutrifft“, so Sartre, „daß die menschliche-Realität […] sich durch die von ihr verfolgten
Zwecke anzeigt und definiert, wird eine Untersuchung und Klassifizierung dieser Zwecke unerläßlich.“ Als Zweck liesse sich hier zum Beispiel verstehen, sich, wie im Falle Flauberts, Baudelaires,
aber auch W.G. Sebalds, als Schriftsteller zu betätigen. Der Zweck muss insofern befragt werden, als
er „[…] Teil der absoluten Subjektivität als ihre transzendente und objektive Grenze [ist].“ 185 Die empirische Psychologie habe zwar gespürt, so Sartre, „daß ein einzelner Mensch sich durch seine Begierden definiert“, aber er will dabei auf ihrer Seite zwei Irrtümer feststellen: Denn „zunächst bleibt der
empirische Psychologe […] Opfer der substantialistischen Täuschung. Er sieht die Begierde im Menschen als „Inhalt“ seines Bewußtseins, und er glaubt, der Sinn der Begierde sei der Begierde selbst
inhärent.“ 186 Es geht ihm zunächst, ähnlich wie mit der phänomenologischen, Husserl kritisierenden
Feststellung, dass das Ich kein Bewohner des Bewusstseins ist, um die Zurückweisung der freudschen
Ansicht, wonach zwei Triebe, Eros und Thanatos bzw. Destruktions- oder Todestrieb dem Menschen
gleichsam als Substanzen bzw. „als kleine psychische Entitäten“ 187 eingepflanzt wären. Die Triebe
und Affekte sind viel mehr, Dandyk weist darauf hin, „als eine Relation zwischen Mensch und
Welt“ 188 zu verstehen, „sie sind das Bewußtsein selbst in seiner ursprünglichen pro-jektiven und transzendenten Struktur, insofern es grundsätzlich Bewußtsein von etwas ist.“ 189
182
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185
186
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188
189
Christina Howells: Sartres existentialistischen Biografien: Fragen der Methode, S. 97, in: Flynn, Thomas R.,
Kampits, Peter u. Vogt, Erik M. (Hg.): Über Sartre. Perspektiven und Kritiken, Wien 2005, S. 97-115.
Ebenda, S. 98.
Alfred Dandyk: Unaufrichtigkeit. Die existentielle Psychoanalyse Sartres im Kontext der Philosophiegeschichte,
S. 8.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 956.
Ebenda.
Ebenda, S. 957.
Alfred Dandyk: Unaufrichtigkeit. Die existentielle Psychoanalyse Sartres im Kontext der Philosophiegeschichte,
S. 8.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 957.
31
Der zweite von Sartre behauptete Irrtum, „der in enger Verbindung zum ersten steht, liegt darin, daß
man die psychologische Untersuchung für beendet hält, sobald man die konkrete Gesamtheit der empirischen Begierden erreicht hat.“ 190 Diese definitorische Reduzierung des Menschen auf ein „Bündel
von Trieben [tendances]“, auch wenn der Psychologe, laut Sartre, versuchen wird, „ihre Verwandtschaften, ihre Übereinstimmungen und Harmonien“ 191 aufzudecken, lehnt Sartre ab. Denn „eine derartige psychologische Analyse [der Triebe; d. Verf.] [geht] von dem Postulat aus, daß ein individuelles
Faktum durch die Überschneidung abstrakter und allgemeiner Gesetze hervorgebracht werde.“ 192 Was
die Analyse dabei unterschlage sei das je Individuelle, also das, „was gerade die Individualität des
betreffenden Entwurfs ausmacht.“ 193
Sötemann stimmt dem Gesagten zu, insofern zwar „ein jeder Psychotherapeut die Äußerung eines Patienten „Ich bin heute ziemlich traurig“ auf die Konjugation des Verbes „Sein“ hin [versteht]“,
aber
um dieses Erleben, das die Existentialität des Menschen ausmacht, kennenlernen zu können, um dies
einzigartige, in dieser Situation, in dieser Zeit existierende Person verstehen zu können, muß diese Person als Auskunftgeber über sich, als erster Ansprechpartner erkannt werden. Das verweist auf die psychische Eigenwelt jedes Menschen in seinem gesellschaftlichen Kontext, und dieser Verweis ruft nach
194
Methoden, die dem Erleben dieser Eigenwelt Rechnung tragen können.
Das von Sartre kritisierte Vorgehen der Psychologen kann demnach, wie schon in 1.6 gesehen, „keine
Erklärung der „Berufung“ Flauberts“ liefern, „es [das Schreibbedürfnis Flauberts; d. Verf.] ist im Gegenteil das, was erklärt werden müßte.“ 195 Warum also Flaubert symbolische Befriedigung „im
Schreiben statt in der Malerei oder der Musik“ gefunden hat, wird nicht ersichtlich, im Gegenteil, „die
Übergänge, das Werden, die Umformungen sind uns sorgsam verhüllt worden, und man hat sich darauf beschränkt, Ordnung in diese Aufeinanderfolge zu bringen, indem man sich auf empirisch festgestellte, aber buchstäblich nicht intelligible Sequenzen bezog [...].“ 196 Auf welche Art und Weise wurden uns „die Übergänge, das Werden und die Umformungen“ verhüllt? Man ahnt schon, worauf Sartre hinaus will. Es geht ihm nicht ausschliesslich um die Zurückweisung der Psychoanalyse, sondern
vielmehr um das Herausstellen des „globalen Bezug[s] zur Welt, durch den sich das Subjekt als ein
Selbst konstituiert. Anders gesagt, diese empirische Haltung ist durch sich selbst der Ausdruck der
„Wahl eines intelligiblen Charakters“.“ Wenn also
die empirische Haltung die Wahl des intelligiblen Charakters bedeutet, so weil sie selbst die Wahl ist.
Das besondere Merkmal der intelligiblen Wahl […] ist, daß sie nur als die transzendente Bedeutung jeder konkreten empirischen Wahl existieren kann: sie wird keineswegs zunächst in irgendeinem Unbewußten oder auf der noumenalen Ebene vollzogen, um sich dann einer beobachtbaren Haltung auszudrücken, sie hat nicht einmal ontologischen Vorrang vor der empirischen Wahl, sondern sie ist grund-
190
191
192
193
194
195
196
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 957.
Ebenda.
Ebenda, S. 958.
Ebenda.
Christian H. Sötemann: Sein und Existenz in Phänomenologie und Psychoanalyse, Hamburg 2005, S. 23.
(= Dissertation, Universität Bremen 2005.)
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 958.
Ebenda, S. 959 f.
32
sätzlich das, was sich immer aus der empirischen Wahl als ihr Jenseits und die Unendlichkeit ihrer
197
Transzendenz ablesen lassen muß.
3.2 Sartres Ablehnung
Sartre lehnt demnach das Unbewusste Freuds ab, da es zum einen vom allgemeinen Abstrakten auf das
Konkrete schliessenlassen solle und somit das Individuelle, dass zum Beispiel diese Person genau
dieses tut und nichts anderes, eliminiere. Zum anderen würde die Annahme des Unbewussten bedeuten, dass sich dem Subjekt die Intuition seines Handelns (verhüllend) entziehen würde. Für Sartre hingegen erstreckt sich das psychische Faktum vollständig auf das Bewusstsein. „[…] der grundlegende
Entwurf [wird] vom Subjekt vollständig gelebt […] und [ist] als solcher total bewußt […]“, was aber
nicht bedeute, so Sartre, „daß er von ihm zugleich erkannt werden muß, ganz im Gegenteil“, 198 wie
Sartre nochmals auf die schon in der Einleitung zu Das Sein und das Nichts explizierte Unterscheidung von Bewusstsein und Erkenntnis hinweist:
Die Reflexion kann zwar, wie wir gesehen haben, als eine Quasi-Erkenntnis aufgefaßt werden. Aber
was sie in jedem Augenblick erfaßt, ist nicht der reine Entwurf des Für-sich, wie er sich symbolisch –
und oft in verschiedenen Wiesen gleichzeitig – durch das von ihr wahrgenommene konkrete Verhalten
199
ausdrückt: es ist das konkrete Verhalten selbst […].
„Substantielle Täuschung“, die Reduktion des Menschen auf Triebstrukturen bzw. auf die Trieblehre,
das Schliessen vom Abstrakten auf das Konkrete mittels thematisierter „bewusstseinsinterne[r] Verstehensbeziehungen“ 200 und die Unmöglichkeit, den Menschen unter den Prämissen der Naturwissenschaften 201 hinreichend analysieren zu können, sind im wesentlichen die bis heute umstrittenen Kritikpunkte Sartres an der empirischen und hybride theoretisierten Psychoanalyse bzw. Psychologie.
197
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200
201
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 967.
Ebenda, S. 978.
Ebenda.
Andreas Cremonini: Vom Genießen der Passivität: Sartre und die Psychoanalyse, S. 69, in: Flynn, Thomas R.,
Kampits, Peter u. Vogt, Erik M. (Hg.): Über Sartre. Perspektiven und Kritiken, S. 69-96.
Vgl. Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen, Frankfurt am Main 102004, S. 41 ff.
Freud verficht dabei die Annahme, dass die Psychoanalyse als Wissenschaft zu verstehen ist, die im wesentlichen
mit zwei Kategorien, dem „Seelenleben“ in Funktion eines „psychischen Apparates“ mittels Lokalisation im Gehirn und den unmittelbar, aber separierten Bewusstseinsakten am selbigen „Schauplatz“, benannt werden. „Wir
nehmen an“, so Freud, „daß das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche Ausdehnung
und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben, den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr,
ein Mikroskop u. dgl. Der konsequente Ausbau einer solchen Vorstellung ist ungeachtet gewisser bereits versuchter Annäherung eine wissenschaftliche Neuheit.“ (S. 42.) Freud wird drei „psychische Provinzen oder Instanzen“
territorialisieren: Das Es, das Ich und das Über-Ich, als „eine dritte Macht“ gewissermaßen. (S. 42 f.) Diese drei
Instanzen oder Provinzen unterliegen, gemäß der Freudschen Trieblehre, zwei Grundtrieben, dem „Eros“ und dem
„Destruktionstrieb“, Thanatos. „In den biologischen Funktionen wirken die beiden Grundtriebe gegeneinander
oder kombinieren sich miteinander. So ist der Akt des Essens eine Zerstörung des Objektes mit dem Endziel der
Einverleibung, der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung. Dieses Mit- und Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe ergibt die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen.“
(S. 45.) Es folgen vier Entwicklungsphasen der „Sexualfunktion“ und ihrer Störungsformen (S. 48 ff.) und das
Beschreiben der „psychischen Qualitäten“, namentlich des Bewusstseins, des Unbewussten und des Vorbewussten
im „psychischen Apparat“. (S. 52 ff.)
33
3.3 Sartres Alternative
Im weiteren soll Sartres alternativer Vorschlag der „existentiellen Psychoanalyse“ betrachtet werden,
wobei der Fokus auf seinem aus der heutigen Perspektive weitsichtigen Verzicht des Unbewussten 202
und dem Entwurf-Charakter, und folglich den Implizierungen liegen soll. Wie von Sartre bemerkt,
wird sie allein noch nicht die gewünschte Definitionshoheit haben. Diesem Umstand trug Sartre bekanntlich mit seiner in den Fragen der Methode und in der Kritik der dialektischen Vernunft elaborierten und in den biographischen Studien zu Flaubert und Genet angewandten „progressiv-regressiven
Methode“ Rechnung. Aus diesem Grunde wird auch sie in dieser Arbeit zu berücksichtigen sein,
wenngleich ihr aus thematischer Beschränkung nicht der gebührende Stellenwert eingeräumt werden
kann. Zu Berücksichtigen insofern sie als eine Ergänzung zur „existentiellen Psychoanalyse“ zu verstehen ist und den geschichtlichen Aspekt des Subjekts komplementär in die quasi existentielle Hermeneutik einflicht.
Der „grundlegende Entwurf“ wird „vom Subjekt vollständig gelebt“, so Sartre. Diese Behauptung wird er auch noch 1975 im Interview mit Contat bestätigen, wenn er sagt, dass es seiner Meinung
nach „keinen Wesensunterschied zwischen Körper und Bewußtsein gibt.“ 203
„Grob gesprochen könnte man sagen“, so Peter Kampits,
dass der Leib, der den Physiologen und Gehirnforscher interessiert, nicht als „mein Leib“ bezeichnet
werden kann, sondern als „Leib für den Anderen“. [...] Die daraus sich ergebenden Probleme des Dualismus von Bewusstsein und Leib beziehungsweise der Leib-Seele-Dualismus der philosophischen Tradition lösen sich auf, sobald der Leib für mich nicht als externes Körperding, sondern als gelebter Leib
204
(corps vécu) erfahren und aufgefasst wird.
Sartres und Kampits Aussagen sind als eine wichtige Bekräftigung des konzeptualisierten Bewusstseinsverständnisses Sartres zu verstehen, wie es in den obigen Abschnitten dargestellt wurde. Für das
Unbewusste bleibt somit keine theoretische Lücke in Sartres Verständnis des Existentiellen in der Psychoanalyse, insofern „[...] die Beziehung des Bewußtseins zum Körper [eine] existentielle Beziehung
202
203
204
Vgl. zur genaueren Umschreibung der „Bauweise eines verhängnisvollen Begriffs“ den hervorragenden Aufsatz
von Felix Annerl: Existiert das Unbewusste? Zur Bauweise eines verhängnisvollen Begriffs, in e-Journal Philosophie der Psychologie, März 2005, unter http://www.jp.philo.at/texte/AnnerlF1.pdf; Aufruf am 15.05.2006. Annerl
bemüht sich in seinem Aufsatz nicht so sehr um eine Antwort auf die „begriffliche Vielfältigkeit des Systems [der
Freudschen Psychoanalyse; d. Verf.] und […] beträchtliche Beziehungslosigkeit der Teile untereinander“, als viel
mehr „um eine klare Antwort auf die Fragen nach dem begrifflichen Kern seiner Theorie, die zugleich eine auf die
Frage nach der Wurzel seines Erfolgs darstellt: Die eigentliche Grundlage, so meint er [Freud, d. Verf.], bildet der
revolutionäre Begriff des Unbewussten.“ (S. 2 f.)
Jean-Paul Sartre: Selbstporträt mit siebzig Jahren. Interview mit Michel Contat, S. 186, in: Jean-Paul Sartre: Sartre über Sartre. Autobiographische Schriften, S. 180-246. Durch diesen gleichsam ontologischen Status des postulierten Selbstkonzepts Sartres wird „das Dilemma der mentalen Verursachung, in dem der Dualismus gefangen
ist“, wonach nämlich „entweder […] phänomenale Eigenschaften physische Eigenschaften [verursachen] oder
nicht“, gewagt umgangen. Denn, so Michael Schütte, „wenn sie es tun – wie der Interaktionist behauptet – ist der
Bereich des Physischen nicht kausal geschlossen. Das aber ist empirisch sehr unplausibel. Wenn sie es andererseits nicht tun – wie der Epiphänomenalist meint – sind sie absolute Epiphänomene und damit überhaupt nicht die
phänomenalen Eigenschaften, die wir tatsächlich kennen.“ (Vgl. Michael Schütte: Reduktion ohne Erklärung.
Phänomenale Eigenschaften aus der Perspektive des Aposteriori-Physikalismus, Paderborn 2004, S. 123 f.)
Peter Kampits: Willensfreiheit, S. 63, in: Flynn, Thomas R., Kampits, Peter u. Vogt, Erik M. (Hg.): Über Sartre.
Perspektiven und Kritiken, S. 55-67.
34
[ist]. [...] das Bewußtsein seinen Körper nur als Bewußtsein existieren kann.“ 205 Aufgrund der Annahme, dass der Entwurf „vollständig gelebt“ wird, ist dieser des weiteren auch jeglichen EigenReflexion verschlossen:
[...] zwar besteht sie ganz und gar aus einem vorontologischen Verständnis des grundlegenden Entwurfs, mehr noch, insofern die Reflexion auch nicht-thetisches Bewußtsein von sich als Reflexion ist,
ist sie dieser gleiche Entwurf ebenso wie das nicht-reflexive Bewußtsein. Aber daraus folgt nicht, daß
sie über die notwendigen Instrumente und Techniken verfügt, um die symbolisierte Wahl zu isolieren,
206
sie in Begriffe zu fassen und sie ganz allein ins volle Licht zu setzen.
Die Reflexion würde also „lediglich Rohmaterial“ liefern, so Sartre, „dem gegenüber der Psychoanalytiker die objektive Haltung einnehmen muß.“ 207 Das klingt, als wollte Sartre seine eigene Alternative
unterminieren. Dabei stellt er etwas ganz wichtiges und richtiges fest, das die teilweise Insuffizienz
der Reflexion zur Folge hat. Denn, so Annerl,
das Unbewusste […] wirkt, so wird Freud von nun an behaupten, einfach kausal. – Und wie auch sonst?
Es kann ja schon seiner Definition nach nicht auf der Ebene des Gedanklichen, der Begründung, der
Argumentation, der Reflexion, denn eine solche „normale“, rationale Verbindung von Denken und Tun
208
können wir uns nur als bewusste vorstellen.
„Was diesen Untersuchungsmethoden für immer entgeht“, fährt Sartre fort, „ist der Entwurf, so wie er
für sich ist, der Komplex in seinem eigenen Sein. Dieser Für-sich-Entwurf kann nur genossen werden;
die Existenz für sich und die objektive Existenz sind unvereinbar.“ Sartre hält hier die Gemeinsamkeiten seiner und der Freudschen Psychoanalyse für beendet und konstatiert, dass „nichts [einen] daran
[hindert], sich a priori eine „menschliche-Realität“ zu denken, die sich nicht durch den Willen zur
Macht ausdrückt, deren Libido nicht den ursprünglichen undifferenzierten Entwurf konstituiert.“ 209
Sowohl das Leben als auch das Erleben des Entwurfs oder der Wahl, wie Sartre postuliert, sind dadurch gekennzeichnet, dass es sich dabei um nichts anderes handelt, als um
das Sein jeder menschlichen-Realität, und es kommt auf dasselbe hinaus, ob ich sage, daß ein bestimmtes partielles Verhalten die ursprüngliche Wahl dieser menschlichen-Realität ist oder daß sie sie ausdrückt, denn für die menschliche-Realität gibt es keinen Unterschied zwischen existieren und sich wäh210
len.
205
206
207
208
209
210
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 583.
Ebenda, S. 978 f.
Ebenda, S. 979.
Felix Annerl: Existiert das Unbewusste? Zur Bauweise eines verhängnisvollen Begriffs, S. 7. In diesem Sinne
fragt Sartre in Das Sein und das Nichts präzise weiter: „Wenn der Komplex wirklich unbewußt ist, das heißt,
wenn das Zeichen durch eine Schranke vom Bezeichneten getrennt ist, wie könnte das Subjekt ihn erkennen? Ist
es der unbewußte Komplex, der sich erkennt? Aber ist ihm nicht Verstehen untersagt? Und wenn man ihm die Fähigkeit, die Zeichen zu verstehen, zugestehen müßte, müßte man dann nicht gleichzeitig aus ihm ein bewußtes
Unbewußtes machen? Was ist denn Verstehen, wenn nicht Bewußtsein davon haben, daß man verstanden hat?
Können wir dagegen sagen, daß das Subjekt als bewußtes das gezeigte Bild erkennt? Aber wie vergliche es dieses
mit seiner wirklichen Affektion, wo sie doch unerreichbar ist und es nie von ihr Kenntnis gehabt hat?“
(S. 983 f.)
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 980.
Ebenda, S. 981.
35
3.4 Sartres Aspekt des Verstehens des Unsagbaren: Die gelebte Erfahrung
Sartres Ausführungen aufnehmend, bekräftigt Manfred Frank diese Sichtweise. „Zur Art und Weise,
wie der Geist mit Erlebnissen und Empfindungen bekannt ist“, führt Frank „das bevorzugte Beispiel
der empiristischen Theorie des „internal sense““ an, womit jene Vertreter bisher mit „eine[r] gewisse[n] intuitive[n] Plausibilität rechnen“ konnten. „Das hängt zusammen“, so Frank,
mit der Oberflächengrammatik von Redeweisen wie „Ich verspüre Hunger“, „Ich empfinde Schmerz“
oder gar „Ich spüre ein Stechen im rechten Kniegelenk“. Sie suggerieren, es gebe da zweierlei: 1. den
Schmerz, 2. die Empfindung desselben. (Und 3. wird gewöhnlich angenommen, der Schmerz bleibe so
lange schmerzlos, wie er nicht empfunden werde; das impliziert die Annahme, einiges Bewusstsein sei
unbewusst.) Das ist natürlich Unsinn: Der Schmerz tut schon per se weh. Er muss nicht außerdem, gar
nachträglich (in einem Auffassungsakt „höherer Ordnung“) quasi-wahrgenommen/repräsentiert werden,
um seine unerwünschte Wirkung zu entfalten. Das hängt mit einer Eigenschaft phänomenaler Zustände
zusammen, die die phänomenologische Tradition von Brentano bis Sartre als Zusammenfallen von Sein
und Sich-Erscheinen des Bewusstseins bezeichnet hat. [...] Außerdem gilt: Solches phänomenales Bewusstsein ist kein Ich-Bewusstsein: Nicht wir sind ursprünglich mit dem Schmerz, sondern dieser ist
mich selbst bekannt. [...] Dabei genügt es nicht, den Zustand einfach nur bewusst zu nennen. Er ist außerdem seiner selbst bewusst. (Man kann dies übrigens auch aus der radikalisierten These von des Bewusstsein Durchsichtigkeit folgern: Bewusstsein hat keine intrinsischen Qualitäten, auch nicht die einer
Ichhaftigkeit. Natürlich kann ich meinen Schmerz durch einen phänomenalen Begriff hindurch denken;
211
der ist aber kein Charakter des Phänomens selbst [Sartre 1971].)
Aber wie ist dann Verstehen möglich, was könnte die „existentielle Psychoanalyse“ noch an Gewinn
bringen, wenn über das Individuum nur die Aussage zu behaupten wäre, dass es den „Entwurf“ oder
die „Ur-Wahl“ einfach lebte und die subjektive Leistung einzig im Geniessen dessen liege? Sartre
führt nun diesbezüglich an,
daß die aus den unbewußten Tiefen ausgegrabenen Komplexe ebenso wie die von der existentiellen
Psychoanalyse enthüllten Entwürfe vom Gesichtspunkt Anderer aus wahrgenommen werden. Folglich
ist das so zutage geförderte Objekt nach den Strukturen der transzendierten-Transzendenz aufgebaut,
212
das heißt, sein Sein ist das Für-Andere-sein […].
Das bedeutet konkret, wie bereits am Ende von 1.4 nahe gelegt wurde, dass nach Sartre Verstehen
darin gegründet ist, den Anderen als erfahrend zu erleben und darin auf die Umwelt angewiesen zu
sein. „Die existentielle Psychoanalyse wird also ganz und gar geschmeidig sein und sich den geringsten am Subjekt beobachtbaren Änderung anpassen müssen. Es handelt sich hier darum, das Individuelle zu verstehen und oft sogar das Instantane.“
Nicht nur steht mir der Andere als potentieller Konfliktpartner im „Kampf um Anerkennung“, so
Honneth, gegenüber, er ist auch derjenige, der mir überhaupt erst und notwendigerweise als Vermittler
von Sinn und Bedeutung gewahr wird. Hier nun ist der die existentielle Psychoanalyse ergänzende,
dialektische Methodenansatz Sartres zu verorten, denn
211
212
Manfred Frank: Gibt es eine „innere Wahrnehmung“?, S. 4, in: e-Journal Philosophie der Psychologie, Januar
2006, unter: http://www.jp.philo.at/texte/FrankM2.pdf; Aufruf am 16.05.2006. (Erstpublikation in: Albert Newen
(Hg.): Den eigenen Geist kennen, Paderborn 2005, S. 51-62.)
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 979.
36
die Bestimmungen der Person treten nur in einer Gesellschaft in Erscheinung, die sich unablässig gestaltet, indem sie jedem ihrer Mitglieder eine Arbeit, ein Verhältnis zu seinem Arbeitsprodukt und Produktionsbeziehungen zu den anderen Mitgliedern zuordnet – und das alles in einer unaufhörlichen Tota213
lisierungsbewegung.
Wenn es nach Sartre keinen Wesensunterschied zwischen Körper und Bewusstsein gibt und das Bewusstsein seinen Körper nur als Bewusstsein leben kann, dann ist damit nicht gesagt, dass alles nur
eins sei, nämlich Gehirn. Die Konsequenz hieraus ist nicht, wie Daniel Brandt in seiner Kritik der
Hirnforschung um Singer und Roth betont, „[…] alles Wirkliche im Gehirn zu finden“, sondern darzulegen, dass „Welt […] nur Welt mit dem Menschen als weltbildendem Tier [ist], und der Mensch […]
sich nur als Mensch begreifen [kann], indem er sich auf die Welt bezieht.“ 214 Der stets unabgeschlossene und immer im Aufschub verortete „Sinn“ der menschlichen Realität ist selbstredend nicht ohne
Widersprüchlichkeit zu bestimmen und es wäre nur dann zu bestimmen „leicht, wenn sich so etwas
wie ein Wesen des Menschen auffinden ließe, d. h. ein feststehender Komplex von Bestimmungen, von
denen aus man den untersuchten Gegenständen einen bestimmten Platz zuweisen könnte.“
Aufgrund der existentialistischen Fundierung des Menschen gibt es jedoch die uns bekannt gewordenen methodischen Vorbehalte. „Diese Bestimmungen selbst“ nämlich, „werden gestützt, interiorisiert und gelebt (als angenommene oder abgelehnte) durch einen persönlichen Entwurf“, der laut
Sartres Ausführungen in Fragen der Methode „zwei Grundmerkmale besitzt: er läßt sich in keinem
Fall durch Begriffe bestimmen; als menschlicher Entwurf ist er stets (jedenfalls prinzipiell, wenn auch
nicht faktisch) verstehbar“, 215 jedoch nicht zwangsläufig direkt erkennbar.
Es wurde ja von der teilweisen Insuffizienz der Reflexion gesprochen. Diese Reflexion bedeutet
nämlich andererseits zumindest die Möglichkeit einer „indirekte[n] Erkenntnis“, insofern sie „unmittelbare[s] Verstehen des ihnen zugrundeliegenden Entwurfs […]“ ist, die, folgt man Sartre, als „das
Resultat der Reflexion auf die Existenz zu verstehen“ ist. „Diese Erkenntnis ist indirekt in dem Sinne,
daß sie von allen anthropologischen Begriffen, welcher Art auch immer, vorausgesetzt wird, ohne
selbst Gegenstand von Begriffen zu sein.“ 216
Diese indirekte Erkenntnis bedarf demnach ihrer Auslegung. Paul Ricoeur hat in Gedächtnis,
Geschichte, Vergessen und in Anlehnung an Bergsons Theorie von Materie und Gedächtnis die
Schwierigkeiten der Gedächtnisarbeit zu benennen versucht, gerade auch unter dem Blickwinkel der
Neuro- und Kognitionswissenschaften, die mittels Begrifflichkeiten wie Erinnerungsspuren und propositionaler Inhalte bzw. Vorstellungen Fragen zur Erinnerung zu fassen und zu beantworten versuchen.
„Die wichtigste Unterscheidung“, so Ricoeur die Bergsonsche „Anstrengung des Erinnerns (effort de mémoire)“ rezipierend, „ist dabei die zwischen dem „mühsamen Erinnern“ (rappel laborieux)
und dem „augenblicklich-spontanen Erinnern“ (rappel instantane), wobei letzteres als der Nullpunkt,
ersteres als die bewußte Form der Suche betrachtet werden kann.“ 217 Die Nähe zu Sartres präreflexivem gelebtem Entwurf und der ausgeübten Reflexion bzw. zu dem auf das Unsagbare verweisende Ich
213
214
215
216
217
Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 182.
Daniel Brandt: Das Noumenon Gehirn. Von der Abgründigkeit der Hirnforschung, S. 16, in: e-Journal Philosophie der Psychologie, Januar 2006, unter: http://www.jp.philo.at/texte/BrandtD1.pdf; Aufruf am 16.05.2006.
Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 181 f.
Ebenda, S. 182 f.
Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 57. (=Übergänge. Texte und Studien zu
Handlung, Sprache und Lebenswelt; Bd. 50 (Herausgegeben von Wolfgang Essbach und Bernhard Waldenfels))
37
(Je) und dem reflexive konstruierenden Selbst (Moi) ist deutlich zu sehen. Und es lässt sich nachvollziehen, wenn Ricoeur behauptet: „Die Phänomene des Gedächtnisses, die unserem Wesen so nahe
sind, leisten der Hybris der totalen Reflexion mehr als andere beharrlichsten Widerstand.“ 218
3.5 Konsequenzen
Die hier erfolgte Darlegung der „existentiellen Psychoanalyse“ Sartres sollte zu folgenden Ergebnissen
gekommen sein: Sartre grenzt sich von Freuds hybridem Postulat des Unbewussten ab, indem er es
nicht nur verwirft, sondern ihm stattdessen das Individuelle im Allgemeinen mit der Forderung gegenüberstellt, den freien, das heisst allemal den aktiven Menschen in seiner nie abgeschlossenen Totalität
begreifen zu wollen. Des weiteren wurde aufgezeigt, dass Sartre es als unmöglich und auch nicht als
wünschenswert erachtet, den Menschen mittels dualistischer, ihn determinierender Grundtriebe, dem
freudschen Eros und Destruktionstrieb, auf eben dieses „menschliche Triebbündel[]“ 219 reduziert zu
wissen. Zudem stellte es sich ein, dass Sartres Konzeption des Bewusstseins einen existentiellontologischen bzw. ontologisch-epistemischen Status geniesst, der auch eine Reduzierung der Wirklichkeit ausschliesslich auf Gehirnprozesse – ohne ein ihm zugrunde gelegtes Bewusstsein – und ob
der freien Wahl der jeweiligen Person verunmöglicht.
Der Mensch ist letztendlich, so schliessen wir mit Sartre wiederholt daraus, zur Freiheit verurteilt. Er ist massgeblich darauf festgelegt, sich im augenblicklichen Annehmen oder Ablehnen eines
Lebensentwurfes für die Zukunft voll verantwortlich (auch wenn es eine Frage des augenblicklichen
Muts sein sollte, wie Sartre in späteren Jahren seinen Entschluss, keine Fahnenflucht zu begehen als er
in den Krieg einberufen wurde, begründete) wählen zu müssen. Anders gesagt: „[…] mit dem Denken
des Entwurfs ist die Frage nach dem gestellt und beantwortet, was das Individuelle als solches auszeichnet: nämlich eine ursprüngliche Synthese, in der der Mensch je einzigartig sein Verhältnis zu
sich, zur Welt, zu den anderen bestimmt.“ 220
Mit folgenden Worten und die „existentielle Psychoanalyse“ konzeptionell weiterführend, werden Sartres spätere Auffassung und Programm vom Menschen, der in seiner nicht weiter hintergehbaren Verfasstheit ebenso mit der gesellschaftlichen Umwelt in Wechselwirkung steht, umrissen:
Ein Mensch ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er
sich in ihr als Einzelnheit wiederhervorbringt. Da er durch die einzelne Allgemeinheit der menschlichen
Geschichte allgemein und durch die allgemeinmachende Einzelnheit seiner Entwürfe einzeln ist, muß er
221
zugleich von beiden Enden her untersucht werden.
„Zwar“, so Zimmermann, „bezieht sich das von Sartre Konstatiertre vorerst auf die Person Flaubert,
aber es liegt auf der Hand, daß im Grunde jede Person zunächst unter dem Verdacht hermeneutischer
Fragwürdigkeit steht.“ 222 So stellt sich in diesem Falle für W.G. Sebald die Frage, worin sein in der
218
219
220
221
222
Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 51 f.
Monika Schulten: Ein Vergleich zwischen Diltheys verstehender und Sartres dialektischer Konzeption der Biographie, S. 23, in: Rainer E. Zimmermann (Hg.): Das Sartre-Jahrbuch Zwei, Münster 1991, S. 13-34.
Ebenda, S. 22.
Jean-Paul Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857. I. Die Konstitution, S. 7.
Rainer E. Zimmermann: Ob Geburt oder Tod: Freiheit als Irreduzibilität, S. 16, in: Peter Knopp und Vincent von
Wroblewsky (Hg.): Die Freiheit des Nein. Carnets 2001/2002 Jean-Paul Sartre, Wien/Berlin 2003,
38
Gesellschaft gereifter Entwurf gelegen haben und wie er ihn totalisierend wiederum auf die Allgemeinheit gewendet haben könnte. Es sollte klar geworden sein, dass zum Beispiel die alleinige Rückführung seines Schreibens auf ein Trauma nicht suffizient ist. Er hätte ja auch das Schweigen wählen
können, das er gerade bei den Deutschen als grundlegende Haltung verabscheut, aber erfolgreich vorgelebt bekam. Sich im Laufe seiner Schriftstellerkarriere immer mehr weg vom wissenschaftlichen
Duktus hin zu einem des Ästhetischen entwickelt zu haben, könnte bei ihm, ebenso wie bei Sartre, 223
einer gleichsam gesinnungsmässigen „Kehre“ 224 geschuldet sein, die nachzuzeichnen mit der skizzierten Methode möglich sein sollte, in keinem Fall aber auf eine reine Trieblehre und zwischen Bewusstem und Unbewusstem changierende Theorie nach Freud zu bewerkstelligen ist. Anders gesagt: „Was
die Tatsachen der Verstellung und der Verdrängungen der Tatsachen betrifft, so stimme ich ihm
[Freud; der Verf.] völlig zu. Aber Wörter wie „Verdrängung“, „Zensur“ oder „Trieb“, die einmal als
finalistische, dann wieder eine mechanistische Auffassung insinuieren, lehne ich ab.“ 225
Will man nun mit Sartre und Freud gleichsam zwei Psychoanalytiker von dennoch unterschiedlicher Provenienz, die sich vor allem an der Frage des Unbewussten entgegengesetzt positionieren, zur
Analyse W.G Sebalds und dessen Werk heranziehen, so steht man, sowohl als Literaturwissenschaftler
als auch als Philosoph, vor folgendem, von Peter von Matt benannten Problem, das „zwei grundsätzlich verschiedene, aber gleich bedeutende ästhetische Dimensionen aufreißt: das Verhältnis vom Dichter zum Werk, das Problem also der Genese des Werks; und das Verhältnis des Werks zum Publikum,
einen Aspekt der Wirkungsästhetik.“ 226
Das Wie, dieses Problem zu lösen, ist dabei entscheidend. Mit der fundierenden „existentiellen
Psychoanalyse“ Sartres, die er zur „progressiv-regressiven Methode“ erweiterte, wird uns ein hermeneutisches Instrumentarium an die Hand gegeben, das die oftmalige Unentscheidbarkeit eines Darums
eines etwaigen bevorzugten Lebensentwurfs nicht zu einem Problem werden lässt, sondern gerade
darin die Kontingenz menschlichen Daseins bekräftigt. Die zu ziehende Konsequenz hieraus ist, die
Verantwortung dem Individuum zu überantworten. Ein Blick auf die Philosophie in der Literatur Sartres wird dies näher darlegen können.
223
224
225
226
S. 15-39.
Mit der „Kehre“ Sartres würde sich der Prozess umschreiben lassen, der den „ersten“ vom „zweiten“ Sartre scheidet. Sartre selbst gibt im Selbstporträt mit siebzig Jahren über seine Wandlung während des Krieges Auskunft:
„Vor dem Krieg verstand ich mich einfach als Individuum, ich sah keinerlei Verbindung zwischen meiner individuellen Existenz und der Gesellschaft, in der ich lebte. Am Ende meiner Studienzeit hatte ich daraus eine ganze
Theorie gemacht: Ich war „nichts als ein Mensch“, das heißt der Mensch, der sich kraft der Unabhängigkeit seines
Denkens der Gesellschaft entgegenstellt, der der Gesellschaft nichts schuldet und über den die Gesellschaft nichts
vermag, weil er frei ist. Vor dem Krieg hatte ich keine politische Meinung und ging auch nicht wählen.“ (S. 211.)
„Der Krieg“, so Sartre weiter, „hat mein Leben regelrecht in zwei Teile geteilt. [...] Dort also [im Krieg und in der
Kriegsgefangenschaft; der Verf.] bin ich, wenn Sie so wollen, vom Individualismus und vom reinen Individuum
der Vorkriegszeit zum Sozialen, zum Sozialismus gelangt. Das war der eigentliche Wendepunkt in meinem Leben: vor dem Krieg, nach dem Krieg.“ (S. 213 f.)
Vgl. hierzu: Vincent von Wroblewsky: Bernhard-Henri Lévys gespaltener Sartre oder wie humanistisch ist der
Existentialismus?, S. 82, in: Peter Knopp und Vincent von Wroblewsky (Hg.): Carnets 2000 Jean-Paul Sartre,
Wien/Berlin 2001, S. 79-98.
Jean-Paul Sartre: Sartre über Sartre. Interview mit Perry Anderson, Ronald Fraser und Quintin Hoare,
S. 148.
Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, Stuttgart 2001, S. 19 f.
39
4. Sartres Philosophie in seiner Literatur
Sartre verfasste zeit seines Lebens, neben stets umfangreichen, oftmals mehrbändigen philosophischen
Büchern, zahlreiche Romane, Erzählungen, biographische Studien, Theaterstücke, Schriften zur Literatur, zu Film, Kultur und Musik; er schrieb Drehbücher und natürlich zählen auch politische Schriften
zu seinem Werk, das hier allein in seiner Themenvielfalt nicht annähernd vollständig widergegeben
ist.
Am eindrücklichsten lässt sich Sartres Philosophie in seinem literarischen Schaffen am Beispiel
seines 1936 verfassten und 1938 veröffentlichten Werks Der Ekel nachweisen. 227 Auf den ersten Blick
erscheint dieser, im Klappentext ausdrücklich als philosophisch deklarierter Roman mit seinem Helden Roquentin nur allzu leicht als kunstvoller Deckmantel für Sartres eigene Vita oder gar seine innerste Lebenserfahrung. 228 Doch vor einem solchen Schluss, „Sartre und Roquentin blank miteinander
zu identifizieren“, 229 sei gewarnt. Wenngleich sich autobiographische Daten finden lassen, die (teil)identisch mit denen Roquentins sein mögen, so liegt darin auch schon ein Aspekt des Sartreschen
Denkens, wonach nämlich mit der Datenerhebung nicht gleichzeitig etwas über das Leben des Subjekts ausgesagt ist.
Folgte man W.G. Sebalds intensivem Streben nach Koinzidenzen, würde man hier ebenso fündig werden. Der Ekel nämlich sollte ursprünglich – in Bezugnahme auf Albrecht Dürers gleichnamigen Kupferstich – unter dem Arbeitstitel „Melancholia“ publiziert werden, der aber auf Vorschlag des
Verlegers Gallimard umbenannt wurde. 230 Eine weitere koinzidierte Stelle wäre der Sachverhalt, dass
Sartre seinen Helden Roquentin im Roman historische Forschungen über einen Kriegsgefangenen,
während des Ersten Weltkrieges, anstellen lässt. Sartre selbst sollte ja bekanntermassen nur ein paar
Jahre später, in diesem Falle während des Zweiten Weltkrieges, in deutsche Kriegsgefangenschaft
geraten.
Sebald war in seinem schriftstellerischen, prosaischen und lyrischen, oftmals selbstreflektierenden Schaffen ebenfalls einer, auch dem Leser stets präsenten, (selbst gewählten?!) Melancholie bis227
228
229
230
Der Nachweis wird aus inhaltlicher Beschränkung nicht der von Eckart Goebel in „Die geistigen Folgen der
Einsamkeit“: La nausée, S. 11, in: Peter Knopp und Vincent von Wroblewsky (Hg.): Carnets 2000 Jean-Paul
Sartre, Wien/Berlin 2001, S. 11-42, kritisierten weit verbreiteten Ansicht, „bei Jean-Paul Sartres literarischem
Schaffen handle es sich um wenig mehr als die Illustration von Gedankenfiguren und damit – im Vergleich etwa
zu Kafka oder Beckett – um inferiore Dichtung“, entgegentreten können.
Vgl. Jean-Paul Sartre: Tagebücher November 1939 – März 1940, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 93 f.: „Ich habe
den „Ekel“ nicht empfunden, ich bin nicht authentisch, ich bin auf der Schwelle der gelobten Länder stehen
geblieben. Aber zumindest zeige ich sie, und die anderen können dann hingehen. Ich bin ein Anzeiger, das ist
meine Rolle.“
Eckart Goebel: „Die geistigen Folgen der Einsamkeit“: La nausée, S. 19.
Jean-Paul Sartre: Der Ekel, Reinbek bei Hamburg 1990. Vgl. die dementsprechenden Hinweise der Übersetzerin
Uli Aumüller im Klappentext bzw. S. 201. Sartre lässt den auktorialen Erzähler des fiktiven Tagebuchs, Roquentin, schon auf den ersten Seiten sagen, dass er, im Gegensatz zu anderen Gästen eines Cafés, die, „damit sie existieren, [sich] zu mehreren zusammentun [müssen]“, als Einzelgänger existiert. „Ich aber lebe allein, vollständig
allein. Ich spreche mit niemandem, niemals; ich bekomme nichts, ich gebe nichts.“ Das mit der Wirtin gepflegte
Verhältnis gereicht ihm sodann zu folgender Aussage: „Ihr macht es Spaß […], und ich werde eine gewisse Melancholie los, deren Ursache ich nur zu gut kenne.“ Die scheinbare „Ursache“, sie stellt sich im weiteren als eine
Frau heraus, Anny, mit der er eine Beziehung führte. „Früher – sogar lange nachdem sie mich verlassen hatte –
habe ich für Anny gedacht. Jetzt denke ich für niemanden mehr; ich bemühe mich nicht einmal, nach Wörtern zu
suchen.“ (S. 16.) Anny nimmt den Part des intimen Anderen ein, ohne den Roquentin seine Existenzberechtigung
verlöre, insofern er seine Traurigkeit über die beendete Beziehung nicht „sinnvoll“ transformieren konnte.
40
weilen krankhaft nahe, wovon auch sein Krankenhausaufenthalt beredtes Zeugnis ist; er beschäftigte
sich leidenschaftlich und engagiert mit der lokalen und globalen Historie – und vor allem dem ihr inhärierenden, zerstörerischen Moment –, die er in unterschiedlicher Art und Weise zu fiktionalisieren
versuchte.
Soll es aber mit dieser Analyse bei einer reinen bzw. metaphysischen „Koinzidenzpoetik“ nicht
bleiben, so kommt es also auf eine fundierte Hermeneutik dieser Daten an, die, kann behauptet werden, auf den allgemeinen existentiell-ontologischen, nicht weiter hintergehbaren Status des je einzelnen Menschen abheben muss. Sartres und Sebalds schöpferisches Ansinnen könnte es demnach gewesen sein, im weitesten Sinne „Kunst als das beste Antidoton“ 231 unter anderem gegen existentielle
Schwindel-, Angst- und Ekelzustände einzusetzen.
Im folgenden soll anhand des Romans Der Ekel dessen Genese nachvollzogen werden. Es zeigt
sich Effizienz, die mittels angewendeter „existentieller Psychoanalyse“, mitunter der „progressivregressiven Methode“ Sartres, das heißt „durch Wörter, die die existentiellen Strukturen regressiv
benennen“, 232 erreicht wird. Der philosophische Gehalt seines Romans lässt sich nämlich dadurch
freilegen. Die unterschiedlichen Interpretationen, die Der Ekel hervorrief sind sodann der Wirkungsästhetik 233 zuzurechnen.
Sartre zeichnet zunächst das Bild eines vereinsamten Einzelgängers und Aussenseiters, der zunächst Tagebuch führt und sich Zweifeln ausgesetzt sieht, ob es überhaupt „Sinn“ macht und es Gründe für ein solches Tun gibt: „Nur in einem Fall könnte es interessant sein, ein Tagebuch zu führen: und
zwar, wenn*.“ 234 Der hier abgebrochene Anfang, neben dem fiktionalen editorischen „Hinweis der
Herausgeber“, wonach „diese Aufzeichnungen [...] unter den Papieren des Antoine Roquentin gefunden [wurden]“, 235 bleibt also auf der fiktionalen Ebene unbestimmt, sowohl für das kommende als
auch für das Ende des Romans (man erfährt ja schliesslich nicht, was Roquentin tat (Suizid?) bzw. was
mit ihm passierte (Mord?) Festzustellen bleibt für den Leser nur das spurlose Verschwinden Roquentins.) Anfang und Ende, der philosophische Roman als Ganzes, bleiben somit als ein vermeintlich
„sinnloser“ Versuch zu verstehen, „von der Unmöglichkeit des Erzählens“ 236 zu erzählen, der einen, in
231
232
233
234
235
236
Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999,
S. 512.
Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 193.
Zur Genese des Romans Der Ekel ist Heinz Eppenichs Aufsatz Zur Bedeutung von Sartres Meskalinversuch in:
Peter Knopp und Vincent von Wroblewsky (Hg.): Die Freiheit des Nein. Carnets 2001/2002 Jean-Paul Sartre,
Wien/Berlin 2003, S. 81-107, aufschlussreich, wenngleich man mit ihm nicht der Meinung sein muss, Sartres
Roman wäre aufgrund des Meskalinversuchs vom Februar 1935 und dem damit einhergehenden, wieder erlebten
Geburtstrauma gemäß Stanislav Grofs Theorie der vier Stadien der Geburtserfahrung während einer psychedelischen Sitzung, entstanden. Eppenich selbst zweifelt nur geringfügig daran und dies auch nur in einer Fußnote.
Doch Sartre hatte, wie auch Eppenich einräumt, schon vor 1935, also vor dem fraglichen Meskalinversuch, Manuskriptfassungen des zu dieser Zeit noch Melancholia lautenden Romans angefertigt. Beides, der Titel und der
Zeitpunkt sprechen also gegen die Annahme, der Roman sei Ausfluss des Erlebten während der MeskalinSitzung. Sartre äußert sich in Das Sein und das Nichts eindeutig negativ zur Annahme eines Geburtstraumas: „Wir
können keine dieser Erklärungen [hinsichtlich der Faszination aller Arten „von Löchern“ für die Kinder; der
Verf.] übernehmen: die des „Traumas der Geburt“ ist äußerst abwegig.“
(S. 1047.)
Vgl. Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 11.: „*Hier bricht der Text des undatierten Blattes ab.“
Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 8.
Eckart Goebel: „Die geistigen Folgen der Einsamkeit“: La nausée, S. 19.
41
Übereinstimmung mit Eckart Goebel, nicht zur Annahme berechtigt, dass „an dessen Ende [des Romans; der Verf.] die Hoffnung auf die Rettung durch die Kunst stehen soll.“ 237
Wie sollte auch ein hoffnungs- und vor allem sinnvolles Erzählen möglich sein, so Roquentin
weiter, denn
wenn man allein lebt, weiß man nicht einmal mehr, was das ist, erzählen: das Wahrscheinliche verschwindet zur gleichen Zeit wie die Freunde. […], man gerät mitten in Geschichten ohne Hand und
Fuß: man würde einen miserablen Zeugen abgeben. Aber alles Unwahrscheinliche dagegen, alles, was
238
in den Cafés nicht geglaubt werden könnte, entgeht einem nicht.
Hier zeichnet sich am Erleben des Einsamseins eine im weiteren zu prononcierende Wahrnehmungsverschiebung ab, die bewusst kokettiert mit dem hin- und her springenden Spiel zwischen allzu sicherem Leben im bürgerlichen Alltag – „diese jungen Leute verwundern mich: sie erzählen, während sie
ihren Kaffee trinken, klare und wahrscheinlich klingende Geschichten“ – und seinem Infragestellen
seines Lebens (implizit das Leben aller), das er, so die bewusstseinstheoretische Konzeption Sartres, in
jedem Fall nur am Andern praktizieren kann und muss. „Aber ich blieb ganz in der Nähe des Menschen, an der Oberfläche des Alleinseins, fest entschlossen, mich im Notfall in ihre Mitte zu flüchten:
eigentlich war ich bis jetzt ein Amateur.“ 239 Neben diesem Spiel bemüht sich Roquentin um eine phänomenologische Beschreibung seines intentionalen Erlebens an dieser Fragwürdigkeit „äusserer“ und
„innerer“ Realitäten:
Jetzt sind überall Dinge wie dieses Glas Bier da, auf dem Tisch. Wenn ich es sehe, habe ich Lust zu sagen: aus, ich spiele nicht mehr mit. Ich verstehe sehr wohl, daß ich zu weit gegangen bin. Vermutlich
kann man mit dem Alleinsein nicht „spaßen“. […] aber das Glas selbst will ich nicht sehen.
240
Das Glas ist ein Glas, vollkommen identisch, ohne Abstand, massiv, denn das Glas kann ja keinen
Bezug zu sich selbst herstellen. Es ist. Und in der Regel kann das Ding an-sich auch nie empfunden,
gelebt, sondern nur aufgrund von Beschreibungen behauptet werden. „Es ist wie die anderen. Es ist
geschliffen, es hat einen Henkel, […]. Ich weiß das alles, aber ich weiß, daß da etwas anderes ist. Fast
nichts. Aber ich kann das, was ich sehe, nicht mehr erklären. Niemandem. Das ist es: ich gleite auf den
Grund des Wassers, in die Angst.“ 241
Der Leser darf sich nicht in die Irre führen lassen, sollte er meinen, dass da wirklich „etwas anderes ist.“ Der Einspruch liegt auf der Hand und die Problemstellung liegt im subjektiven Konflikt der
Nicht-Identität mit sich selbst, dem, wie Sartre in Das Sein und das Nichts es detailliert ausführen
wird, kein ideales An-und-Für-sich-sein beschieden sein kann. Die „an das Fremdwerden scheinbar
237
238
239
240
241
Vgl. Eckart Goebel: „Die geistigen Folgen der Einsamkeit“: La nausée, S. 21: „So erweisen sich Spekulationen
darüber, ob Sartre das Kunstschaffen als mögliche Perspektive zu einer „Rechtfertigung“ der Existenz feilbiete,
als wenig sinnvoll. Mag auch Roquentin durchaus von dieser Möglichkeit geträumt haben […], ergriffen hat er sie
offenkundig nicht, oder ein absurder Tod hat sie ihm aus der hand geschlagen. Roquentin, das macht die als Emblem der Sinnlosigkeit dem Tagebuch vorangestellte Herausgeberfiktion unmißverständlich deutlich, hat es nicht
geschafft.“ (S. 22.)
Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 16 f.
Ebenda, 16.
Ebenda, S. 18.
Ebenda.
42
belangloser Dinge“ 242 gebundene Angst rührt also vor allem daher, sich selbst als kontingentes Etwas
zu erfassen, dem kein Wesen vorausgeht und dessen Wesen sich zudem im unüberwindlichen Aufschub befindet. Hier lässt sich schon Sartres Behauptung, wonach wir zur Freiheit verurteilt wären,
vorwegnehmen und ganz allgemein bzw. auch im Sinne Sartres der Problemkreis des Geschichtlichen
umreissen. 243
Mit dem Versuch des Niederschreibens in Tagebuchform wird demnach die Reflexion unsagbaren, unmittelbaren Erlebens, das sich als „sinnlos“ erweist, aufgenommen. Roquentin, um Sicherheit
bemüht und sich somit zugleich wieder transzendierend, wird sofort wieder beides, Reflexion und
unmittelbares Erleben als „Seelenzustände“ bzw. „Innenleben“, zu diskreditieren versuchen. „Ich bin
es nicht gewohnt“, so Roquentin,
mir zu erzählen, was mir zustößt, daher bekomme ich die Reihenfolge der Ereignisse nicht richtig zusammen, ich erkenne nicht […]. […] ich habe das, was ich im Café Mably schrieb, noch einmal gelesen
und habe mich geschämt; ich will keine Geheimnisse, keine Seelenzustände, nichts Unsagbares […].
244
Was Sartre Roquentin hier schildern lässt, ist nichts anders, als der konstitutive, konfliktbirgende Aspekt menschlichen Bewusstseins, – mithin der „menschlichen-Realität“ –, das nicht das ist, was es ist
und ist, was es nicht ist, wie es in Das Sein und das Nichts lauten wird. So schliesst denn Christina
Howells treffend darauf, dass
Roquentin […] dem natürlichen Existentialisten ähnlich [ist], der am Ende von Das Sein und das Nichts
beschrieben wird: Er befindet sich auf dem Mittelweg, der auch […] Pascals demi-habiles kennzeichnet. Er hat den esprit de sérieux aufgegeben, der denkt, Werte seien einem absoluten oder göttlichen
Bereich eingeschrieben, aber hat noch nicht den nächsten Schritt begriffen: dass nämlich“, Sartres Wor245
ten zufolge, „er selbst „das Sein ist, durch das die Werte existieren“.
Roquentin ist ob der Annahme, „daß man nie etwas beweisen kann“, nicht nur um sein eigenes
Gleichgewicht bemüht, er sieht sich auch als Biograph von de Rollebon in der unmöglichen Lage,
Dokumenten bzw. „Tatsachen“ wie er festhält, also Briefen, Memoirenfragmenten, Geheimberichten
242
243
244
245
Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 507.
Der Problemkreis betrifft die Fragen der „Sinndeutung“ und der „Entwicklung“ von Geschichte. Der Roman Der
Ekel ließe sich kurz auch als eine philosophische Antwort Sartres auf diese Fragen lesen. Denn, so Andreas Cesana, „die Unabweisbarkeit der Sinnfrage liegt im Menschsein selbst begründet. Das menschliche Angewiesensein
auf Sinn setzt sich auch dann noch durch, wenn in der philosophischen Besinnung jeglicher Daseinssinn brüchig
wird und das Fragen keine abschließende Antwort findet. Es gehört zum Wesen des Menschen, sinnhaft leben zu
müssen; und insofern er sich stets in einer geschichtlich-kulturellen Situation befindet, lebt er immer schon in
vorgegebenen Sinnräumen und in Bestimmung durch die überlieferten Sinnformen.“ (Andreas Cesana: Geschichte als Entwicklung? Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens, Berlin/New York 1988, S.
385. (=Quellen und Studien zur Philosophie, Bd. 22.)) Einen solchen kohärenten Schluss erlauben durchaus der
gleichermaßen unbestimmte Anfang, der Verlauf des Romans und das ungewisse Ende aufgrund des kontingenten
Verschwindens des Helden Roquentin. Bezogen auf die Möglichkeit von Sinnhaftigkeit der Geschichte, nach der
der Historiker Roquentin ja ebenso fragt, hält Cesana folgendes fest: „Unter der Voraussetzung, daß die Geschichte in der heutigen Denksituation nicht mehr einfach als Ergebnis der Vorsehung, des Weltgeistes, ökonomischer
oder anderer Gesetze begriffen werden kann, sondern als vom Menschen selbst hervorgebracht aufgefaßt werden
muß, ist von der Geschichte zu sagen, daß sie vielleicht keinen Sinn hat, aber immer schon Sinn ist.“ (S. 387.)
Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 19.
Christina Howells: Sartres existentialistische Biografien, S. 98.
43
und Polizeiarchiven, eine andere als ihnen nur äusserlich bleibende, „strenge Ordnung“ zu verleihen.
„Ich habe den Eindruck, eine reine Phantasiearbeit zu machen. Allerdings bin ich ziemlich sicher, daß
Romanfiguren echter wirkten, auf jeden Fall unterhaltsamer wären.“ 246 Sartre parallelisiert nun Roquentins Skepsis und Unglauben jenen jungen Café-Besuchern gegenüber zu jener die Historiker
betreffend. Sie, die Dokumente, „sie widersprechen sich nicht, nein, aber sie stimmen auch nicht zusammen; sie scheinen nicht dieselbe Person zu betreffen. Und doch arbeiten die anderen Historiker mit
gleichartigen Angaben. Wie machen sie das? Bin ich gewissenhafter oder weniger intelligent?“ 247 So
wertet Roquentin die Frage, ob „Rollebon an der Ermordung Pauls I. beteiligt [war] oder nicht“ für
unentscheidbar, wenn nicht gar für irrelevant. Dies wird seine Einschätzung begünstigt haben, dass
nun nicht mehr der historische Mensch Rollebon interessierte, sondern nur mehr der Akt der
Verschriftlichung des Buches als eine rein fiktionale Romanarbeit. Auch diesem Ansinnen Roquentins
wird ein jähes Ende zuteil: „Monsieur de Rollebon ödet mich an.“ Roquentin erlebt sodann zum ersten
Mal eine Art Abgrund-Erfahrung, die Erfahrung einer existentiellen, Schwindelgefühle erregenden
Angst:
Ich stehe auf, ich bewege mich in diesem blassen Licht; ich sehe es auf meinen Händen, auf den Ärmeln meiner Jacke sich verändern: ich kann gar nicht sagen, wie sehr es mich anwidert. Ich gähne. Ich
mache die Tischlampe an: vielleicht kann ihre Helligkeit das Tageslicht vertreiben. Aber nein: die
Lampe bildet dicht um ihren Fuß herum eine armselige Lache. Ich mache sie aus; ich stehe auf. An der
Wand ist ein weißes Loch, der Spiegel. Das ist eine Falle. Ich weiß, daß ich mich fangen lassen werde.
Da! Das graue Ding ist im Spiegel aufgetaucht. Ich trete näher und sehe es an, ich kann nicht mehr
248
weggehen.
Das anfangs erwähnte, unbestimmte und konditionale „und zwar, wenn*“ findet nun seinen Ausdruck
in einem logischerweise nicht-thetischen Erleben, an dem der Leser teilhat und in dessen Bann und
Strudel er sich ziehen lassen kann oder nicht. Der aus der Melancholie Roquentins hervorgegangene
und in seiner Intensität von ihm selbst bis ins unerträglich bzw. bodenlose gesteigerte Ekel wird der
Leser ebenso wie Roquentin zu spüren bekommen – oder auch nicht. So wie Roquentin in Konflikt
mit sich, mit seiner Umwelt und mit seinem Vorhaben gerät, so gerät der Leser, über der Herausforderung, die Erfahrungen Roquentins verstehbar zu machen gebeugt, in einem ebensolchen Konflikt. Der
„erklärende“ Rückgriff auf psychoanalytische Kategorien, ein allfälliges Traumaerlebnis zum Beispiel,
so wie es Eppenich mit dem drogeninduzierten Geburtstrauma für die Genese Sartres Romans Der
Ekel erwog, mag dabei nicht recht dienlich, zumindest aber nicht entscheidensbefähigend sein. So, wie
die Biografie Rollebons fiktionalisiert werden könnte, so könnte eben – eine subtile Ironie Sartres –
auch dieser philosophische Roman – ohne konkretes Korrelat in Sartres „erlebter Erfahrung“ – von
ihm in der Rolle des „Anzeigers“ ohne weiteres und frei fiktionalisiert und inszeniert worden sein. 249
246
247
248
249
Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 23.
Ebenda, S. 23.
Ebenda, S. 26.
Peter von Matt konstatiert in Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, S. 56 ff. durchaus das Sartresche, konfliktbeladene Wechselspiel zwischen Dichter und Analysierendem: Die Genese eines Werkes verweise offensichtlich immer sowohl auf die Psychologie des Dichters bzw. des Kunstwerkerschaffers, als auch in seiner Wirkungsästhetik auf den Interpretierenden. Auf den ersten Blick scheint diesem vorbehaltlos zuzustimmen zu sein. Doch
von Matt sieht dabei die Psychoanalyse Freuds als das geeignete Instrument an, vor allem unbewusste und dem
Menschen allgemein „innewohnende“ Motive bzw. Beweggründe (zum Beispiel der sie exemplifizierende Ödipuskomplex) in der Genese des Werks durch den Künstler zu erhellen. Für die Interpretation bedeutet dies aber
44
Des weiteren thematisiert Roquentin seine Gemütslage – gerade auch als er in den Spiegel blickt, um
analog jenes spätere aus Das Sein und das Nichts bekannte „Erblickt“ werden auf sich selbst (im zirkulären, wechselseitigen Ideal Ich-Selbst) anzuwenden – auch dahingehend, dass er fragt, wer oder
was sich verändert und zwar unabhängig von der Vergangenheit. „Es ist also in den letzten Wochen
eine Veränderung aufgetreten. Aber wo? Eine abstrakte Veränderung, die sich auf nichts legt. Bin ich
es, der sich verändert hat? Und wenn ich es nicht bin, dann ist es dieses Zimmer, diese Stadt, diese
Natur; man muß wählen.“ 250
Roquentin wird wählen. Er wird nicht nur wählen, die Biographie bzw. das Buch über de Rollebon nicht fortzusetzen 251 und stattdessen einen Roman zu schreiben, er wird vielmehr die für ihn bittere, aber authentische Erfahrung – im Gegensatz zur wohl vorherrschenden Unaufrichtigkeit der Leute
– und, damit einhergehend, die Aussichtslosigkeit der grundlosen „Existenz“ wählen. Authentische
Erfahrung und Aussichtslosigkeit festigen die Grundlage seines bisher nicht verstehbaren Ekels nur
noch mehr. „Ich würde mich so gern gehen lassen, mich vergessen, schlafen. Aber ich kann nicht, ich
ersticke: die Existenz dringt von überallher in mich ein, durch die Augen, durch die Nase, durch den
Mund …“ Doch ein passives Erleiden wird von Roquentin (und von Sartre) umgehend ausgeschlossen, denn „der Ekel hat mich nicht losgelassen, und ich glaube nicht, daß er mich so bald loslassen
wird; aber ich erleide ihn nicht mehr, das ist keine Krankheit mehr, kein vorübergehender Anfall: ich
bin es selbst.“ 252
Was war passiert, dass Roquentin sich plötzlich zu einer Identifizierung mit sich selbst, dem Ekel und der Existenz in einem hinreissen lässt, wo er doch weiss, dass ein menschliches Identischsein,
ein An-und-Für-sich-Sein unmöglich ist? Er habe im Park eine, nämlich „diese Erleuchtung gehabt“
und
250
251
252
bekanntermaßen, dass die Annahme des Unbewussten als erwiesen gilt. Dem ist aber durchaus nicht so, zumindest steht die Möglichkeit und die Art und Weise des Unbewussten bis heute, wie auch die Sartresche Kritik zeigt,
in Frage. Selbst wenn die „Haupteinwände gegen die Psychoanalyse [wonach es unmöglich wäre, „alle Faktoren
im Entstehungs- und Wirkungsprozeß eines Kunstwerks psychoanalytisch aufzulösen“; der Verfasser], die von
der Literaturwissenschaft erhoben werden können, bereits widerlegt sind“ (S. 56.), so gilt dies nicht – und das
wird von Peter von Matt in keiner Weise thematisiert – für die Einwände gegen den Pfeiler der Psychoanalyse,
nämlich gegen das Unbewusste.
Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 14.
Vgl. hierzu Sartres ähnlichen Gedanken zur beängstigenden Möglichkeit des „etwas-nicht-mehr-wollens“ in:
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 103 ff. „Und dieses Werk ist eine Möglichkeit, bei der ich Angst
spüren kann: es ist wirklich mein Mögliches, und ich weiß nicht, ob ich es morgen fortführen werde; morgen kann
meine Freiheit in Bezug zu ihm ihre nichtende Macht ausüben. [...] ich muß mich direkt ihm gegenüber platzieren
und meinen Bezug zu ihm realisieren. Das heißt, daß ich im Hinblick darauf nicht nur objektive Fragen stellen
muß wie: „Soll ich dieses Buch schreiben?“, denn solche Fragen verweisen mich einfach auf umfassendere objektive Bedeutungen wie: „Ist es angebracht, es in diesem Moment zu schreiben?“, „Überschneidet es sich nicht mit
irgendeinem anderen Buch?“, „Ist sein Stoff von hinreichendem Interesse? Ist er genügend durchdacht?“ usw. lauter Bedeutungen, die transzendent bleiben und sich als eine Menge von Forderungen der Welt darbieten.“ Die
Freiheit, nichts bestimmen zu lassen, ob etwas geschrieben wird oder nicht, ängstigt erst dann, so Sartre, wenn
„dieses Buch in seinem Bezug zu mir erschein[t], das heißt, ich muß einerseits mein Wesen entdecken als das,
was ich gewesen bin (ich bin „dieses Buch schreiben wollend“ gewesen, ich habe es entworfen, ich habe geglaubt,
es könnte interessant sein, es zu schreiben, und ich habe mich so konstituiert, daß man mich nicht mehr verstehen
kann, ohne zu berücksichtigen, daß dieses Buch mein wesentliches Mögliches gewesen ist); [...] („es schreiben
wollend“ ich bin gewesen, aber nichts, auch nicht das, was ich gewesen bin, kann mich zwingen, es zu schreiben.).“
Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 144.
45
die Wurzel des Kastanienbaums bohrte sich in die Erde, genau unter meiner Bank. Ich erinnerte mich
nicht mehr, daß das eine Wurzel war. Die Wörter waren verschwunden und mit ihnen die Bedeutung
der Dinge, ihr Verwendungsweisen, die schwachen Markierungen, die die Menschen auf ihrer Oberfläche eingezeichnet haben. […] Das hat mir den Atem geraubt. Nie, vor diesen letzten Tagen, hatte ich
geahnt, was das heißt: „existieren“. Ich war wie die anderen, wie jenem die am Meer entlangspazierten,
in ihrer Frühjahrsgarderobe. Ich sagte wie sie: „das Meer ist grün; dieser weiße Punkt da oben, das ist
eine Möwe“, aber ich fühlte nicht, daß das existierte, daß die Möwe eine „existierende Möwe“ war;
gewöhnlich verbirgt sich die Existenz. Sie ist da, um uns, in uns, sie ist wir, man kann keine zwei Worte sagen, ohne von ihr zu sprechen, und, letzten Endes, berührt man sie nicht. Wenn ich glaubte zu denken, dachte ich im Grunde gar nichts, mein Kopf war leer, oder ich hatte gerade nur ein Wort im Kopf,
253
das Wort „sein“.
Diese Passage bekräftigt nebenbei die Annahme Goebels – und die Intention Sartres – von der „Unmöglichkeit des Erzählens“ dessen, was unmittelbar das ist, was es ist. (Dennoch scheint eine gleichsam ästhetische Rechtfertigung der Existenz nun durch die Inangriffnahme eines Romans möglich.)
Die reflexive Umwendung des präreflexiven Bewusstseins vom wortlosen Erleben mangelt an sich
selbst erfassender Identität, das heisst, sie scheitert an einem Abstand bzw. Hiatus, der nur eine approximative, stets diskursive Vermittlung des Seins durch das Wort erlauben wird. Wenn Roquentin behauptet, dass die „Existenz“ „wir [ist]“, ist damit auch ausgedrückt, wie bereits unter Abschnitt 3 ausgeführt, dass der Körper sein Bewusstsein präreflexiv lebt.
Das Gefühl des Ekels ist somit eine „erlebte Erfahrung“ aufgrund der grund- und sinnlosen, das
heisst der nicht zu rechtfertigenden menschlichen Existenz. Sartres Roman Der Ekel ist als eine sowohl ästhetische als auch philosophische, mögliche Antwort hierauf zu verstehen. 254 Roquentins Fazit
wird kein positives, vielmehr ein „absurdes“ Ende erwarten lassen:
Wir waren ein Häufchen Existierender, die sich selber im Wege standen, sich behinderten, wir hatten
nicht den geringsten Grund, dazusein, weder die einen noch die anderen, jeder Existierende, verwirrt,
253
254
Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 144 f.
Jean-Paul Sartre reiht sich viel mehr, wie Menninghaus hervorragend ausführte, mit der Thematisierung des Ekels
wortmächtig in die mehr als 250 Jahre währende Tradition seit Kant ein, eine ästhetisch-philosophische Theorie
eines gleichsam „grundlegenden Universalgefühls“ (Zit. nach Antonio Damasio, in: Winfried Menninghaus: Ekel.
Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 9.) zu formulieren. Freilich gibt es unzählige Gründe bzw.
Auslöser für Ekelempfinden. Benjamin zum Beispiel sieht „beim Ekel vor Tieren“ vor allem „die Angst, in der
Berührung von ihnen erkannt zu werden. Was sich tief im Menschen entsetzt, ist das dunkle Bewußtsein, in ihm
sei etwas am Leben, was dem ekelerregenden Tiere so wenig fremd sei, daß es von ihm erkannt werden könne.–
Aller Ekel ist ursprünglich Ekel vor dem Berühren.“ (Walter Benjamin: Ein Lesebuch, Frankfurt am Main 1996.
(Herausgegeben von Michael Opitz), S. 81.) Den positiven Aspekt und Nutzen des von Sartre heraufbeschworenen Ekels bekräftigt Menninghaus wie folgt: „Zufälligkeit, Sinnlosigkeit und leere Faktizität hören auf, ein Grund
melancholischer Verzweiflung zu sein. Sie schlagen um in durchaus positive Kategorien, die gerade in ihrem
Bruch mit falschen Sinnangeboten und Legitimationen der „Absurdität“ des Daseins gerecht werden. Diese „Absurdität“ ist kein Mangel, sondern eine unableitbare Fülle, ein „être de trop“, ein Überflüssig- und Zuvielsein gemessen an jeder Logik sinnhafter Begründung.“ (Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer
starken Empfindung, S. 508.) Bei der Analyse Sebalds Werks wird genau in diesem Aspekt dem Autor Sebald eine nur schwach ausgeprägte Antizipation des absurden Daseins zu konstatieren sein, wiewohl vor allem seinem
prosaischen Werk selbst ebenfalls eine von Menninghaus hervorgehobene, gleichwohl für Sartre und wie für
Nietzsche geltende Tendenz innewohnt, „eine ekellose Perspektive auf das eigene Leben zu gewinnen, es noch
einmal und sogar wie ein Kunstwerk immer aufs neue wiederholen (wiederkäuen) zu wollen […].“ (S. 514.)
46
irgendwie unruhig, fühlte sich in bezug auf die anderen zuviel. [...] Und ich, ich war zuviel für die Ewigkeit.
255
Dieses Statement Roquentins, das seine existentielle Überflüssigkeit in der Welt affirmiert, wird in das
Das Sein und das Nichts eine konsequente Ausarbeitung erfahren. Dabei ist die Affirmation durchaus
als positiv zu werten insofern man, als ein Akt der Authentizität, die absolute Kontingenz des menschlichen Daseins anerkennt. Ekel ist also für den, der ihn fühlt – aber nicht nur aufgrund „traditioneller
Ekelobjekte“!– das „nicht-setzende Erfassen einer Kontingenz, die er ist, als bloße Wahrnehmung von
sich als faktischer Existenz.“ 256
255
256
Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 146.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 604.
47
ZWEITES KAPITEL: ANALYSE
„– – Auf Halbmast
Stirbt ein sehr nahe stehender Mensch uns
dahin, so ist in den Entwicklungen der
nächsten Monate etwas, wovon wir zu bemerken glauben, daß – so gern wir es mit
ihm geteilt hätten – nur durch sein Fernsein
es sich entfalten konnte. Wir grüßen ihn zuletzt in einer Sprache, die er schon nicht
mehr versteht.“ 257
1. Sebalds der Zerstörung gewidmete, geschichtswissenschaftliche Sozialisation und sein Geschichtsverständnis in Anlehnung an
1.1Walter Benjamin
W.G. Sebalds Wirkungsästhetik erfährt vor allem durch sein schriftstellerisches Werk, seinem letzten
„Anti-Roman“ 258 Austerlitz, seinem ersten prosaischen „Elementargedicht“ Nach der Natur und seinen
essayistischen Arbeiten in erster Linie zur deutschsprachigen, insbesondere zur österreichischen Literatur 259 und deren randständigen Protagonisten – Martin Klebes bezeichnet sie zurecht als „Sebald`s
Pathographies“ –, 260 breite und zum Teil hochlobende Resonanz und Kritiken.
Unbekannter sind seine ersten literaturwissenschaftlichen und -kritischen Arbeiten, die hier zur
Einteilung und Scheidung seines Werkes in Früh- und Spätwerk als Leitfaden dienen sollen. Gerade in
jenen zwei grossen, dem Frühwerk zuzurechnenden Arbeiten zu den Werken Carl Sternheims 261 und
Alfred Döblins 262 versammelt und entfaltet Sebald all sein philosophie- und geschichtskritisches und
während seines Studiums der Literaturwissenschaften „geschliffenes“ methodologisches Potential,
257
258
259
260
261
262
Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 84.
Sebalds Verständnis von „aufrichtiger Literatur“ äußert sich darin, „eine Metapher oder Allegorie eines kollektiven Geschichtsverlaufs zu produzieren. Aber erst in der Metaphorisierung wird uns Geschichte empathetisch zugänglich. Das soll aber nicht heißen, daß ich dem Romanhaften das Wort rede. Ich habe einen Horror vor allen
billigen Formen der Fiktionalisierung. Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman.“ (Vgl. Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 137, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald,
135-137.
Vgl. die Aufzählung bei Uwe Schütte: W.G. Sebald`s Essays über die österreichische Literatur, S. 64, in: Rüdiger
Görner (Hg.): The Anatomist of Melancholy. Essays in Memory of W.G. Sebald, Bamberg 22005,
S. 63-74. Diese Sichtung ergibt laut Schütte „19 Studien über Autoren des 19. und 20. Jahrhundert“ und „knapp
30 Artikel [...] zu Autoren und Themenbereichen der österreichischen Literatur“. „Daneben schrieb er nur zehn
Essays über deutsche Autoren, wobei fast die Hälfte auf „Nacharbeiten“ zu den Büchern über Sternberg [sic!] und
Döblin entfallen.“
Vgl. Martin Klebes: Sebald`s Pathographies, S. 65-75, in: Scott Denham / Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald:
History – Memory – Trauma.
Winfried Georg Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, Stuttgart 1969. (=Sprache
und Literatur; Bd. 58) Im weiteren wird das Autoren-Kürzel W.G. verwendet.
W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, Stuttgart 1980. (=Literaturwissenschaft, Gesellschaftswissenschaft; Bd. 45)
48
welches im Spätwerk, also seinen Essays und in seinen ihn einem breiten Publikum bekannt machenden Prosawerken, sowohl in ästhetischer als auch in inhaltlicher bzw. thematischer Weise eindrücklich
nachwirkt. Es lässt sich an dieser Stelle nur eine Verschiebung der „Tonart“ behaupten, die im weiteren Erläuterung erfahren wird: Im Frühwerk noch ist Sebald selbstbewusst und gleichsam als Provokateur methodisch-kritisch-rebellisch, im Übergang zum sich exponierenden Schriftsteller, respektive
zum Spätwerk, wird er zunehmend melancholischer und in seiner Kritik zwar subtiler, aber methodisch vager. Diese Transformation dürfte einer versuchten, komplizierten Synthese seines durch zahlreiche Theorien quasi schon belasteten und nun resignierenden Denkens geschuldet sein.
Von eminenter Wichtigkeit zur Erhellung des geschichtsphilosophischen Hintergrunds von Sebald wird eine eingehendere Analyse seines Frühwerks sein, um, wie Freud diesen auch von Peter von
Matt bekräftigten Sachverhalt herausstellte, die „ganz eigentümliche[] Weise von Fixierung an den
Helden“ 263 überhaupt sicht- und verstehbar zu machen. Im weiteren wird es also darum gehen, die
„eigentümliche Fixierung“ Sebalds an seine vor allem aussenseiterische „Helden“ und deren geschichtlichen, dem Aspekt der Zerstörung Platz bietenden Rahmen aufzuweisen und seine, vor allem
an der kritischen Theorie geschulte, methodologische Vorgehensweise 264 sichtbar zu machen. Sebalds
massgeblicher Beweggrund gehorcht dabei genau von Matts geforderter Bewahrung vor „einer vorschnellen Apotheose dieser auf vatermörderische Impulse antwortenden Figuren […].“ 265
Denn „es ist der Zweck der vorliegenden Arbeit, das von der germanistischen Forschung in Zirkulation gebrachte Sternheim-Bild zu revidieren.“ 266 Es handle sich bei „dieser Revision vorwiegend“,
so Sebald, „um eine Destruktion“, wobei er sich „einer Reihe methodologischer Probleme gegenüber“ 267 stehen sieht und es auch nicht an ihm sei, „zu rechten, welches Sternheim-Bild authentischer
263
264
265
266
267
Sigmund Freud, Zit. nach Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, S. 58. Problematisch wird es
wiederum dann, wenn auf Basis des Unbewussten gefolgert wird, dass „für die Psychoanalyse […] eine solche
vorlaufende Beziehung, die auf die eine oder andere Imago [des Vaters, Alkoholsüchtigen, Selbstmörders oder
Wahnsinnigen; der Verf.] antwortet, zweifellos überall fest[steht].“ (S. 58.) Im Sinne des kritischen, aufrichtigen
Überdenkens des zu interpretierenden Künstlers mag das durchaus eine zutreffende, berechtigte und eine wichtige
Forderung an eine wissenschaftliche Arbeit sein. Die von Matt festgestellte Tendenz jedoch zur Unaufrichtigkeit,
zur Verklärung des „Objekts“ „durch die weitverbreitete Neigung […], aus dem lebendigen Gesicht des historischen Menschen eine glatte Maske zu machen“, kann nicht selbstredend als eine betrachtet werden, „die Wahrheit
um solcher unbewußt-eigensüchtigen Motive willen zu verstellen.“ (S. 59; Kursivsetzung durch den Verf.) Vielmehr gilt es mit Sartre, die Unaufrichtigkeit bzw. die Authentizität als eine frei gewählte Form des Existierens zu
erfassen, die gerade den Umstand ein nicht-identisches Wesen zu sein, der Einfachheit bzw. Bequemlichkeit halber verhüllen will oder, im Falle der Authentizität, auch nicht.
Vgl. hierzu Sebalds autobiographische Einlassungen in Logis in einem Landhaus. Zu Ehren Johann Peter Hebels
verfaßte Sebald einen „Kalenderbeitrag zu Ehren des rheinische Hausfreunds“, in welchem er auch seinen Dank
an die Leistungen der Frankfurter Schule bekundet. „Als ich 1963 in Freiburg mit dem Studium begann, war das
alles [laut Sebald die Vereinnahmung Hebels mit „falschem neogermanischem Zungenschlag“, die noch Heidegger in seiner Rede über Hebel im Jahre 1957 betrieben habe und in Hebel einen typisch deutschen „Heimatschriftsteller“ zu sehen vermeinte; der Verfasser] noch kaum unter den Teppich gekehrt, und nicht selten habe ich
mich gefragt, wie trüb und verlogen unser Literaturverständnis wohl geblieben wäre, hätten uns die damals nach
und nach erscheinenden Schriften Benjamins und der Frankfurter Schule, die ja eine jüdische Schule zur Erforschung der bürgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte gewesen ist, nicht andere Perspektiven eröffnet. Jedenfalls
was mich selber betraf, so hätte ich ohne die Beihilfe Blochs und Benjamins den Zugang zu dem von Heidegger
umnebelten Hebel schwerlich gefunden.“ (in: W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere, Frankfurt am Main 22000, S. 12.)
Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, S. 60.
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 7.
Ebenda.
49
sei, das, welches von der Pathologie dieses Falls keinen Zug erfaßt, oder jenes, welches den pathologischen Facetten den Vorrang über die noch normalen einräumt.“ 268 Neben der umfänglichen Verwendung von vor allem durch Freud geprägter, sozialpsychologischer Termini (orale Fixierung, Voyeurismus, Neurose, paranoid, pathologische Elemente bzw. Stereotypen, um nur einige wenige zu nennen), um psychologische und gesellschaftliche Aspekte Sternheims zu prononcieren, ist es auch der
freizulegende, soziologische Rekurs auf Walter Benjamin. Dies äußert sich bei Sebald einerseits durch
die Interpretation der Gesellschaftskritik und des Opferwerdens Sternheims und andererseits durch die
damit selbst ausgeübte Gesellschaftskritik. Hier nun soll dieser als Diskurs aufzufassende Verweisungszusammenhang zwischen Sebald, Benjamin und der Arbeit zu Sternheim, gleichsam eine Vermittlung zwischen Ästhetik und Geschichtsphilosophie, eine erste zentrale Beachtung erfahren. 269
Sebald nimmt in seiner im Ton strengen bis gar „polemischen“ Sternheim-Arbeit 270 erstmals
Stellung ein, indem er der Dichtung des – vom Faschismus noch unberührten und nicht usurpierten –
„l`art pour l`art“ das Wort redet, welche Sebald zufolge „in seiner Vollendung über sich selbst hinaus
[weist] und [...] den der Kunst immanenten ethischen Prozeß deutlich werden [läßt], an dem ihm zunächst nicht gelegen schien.“ 271 Hier sei Benjamins früher „Dialog über die Religiosität der Gegenwart“ gestreift, der Sebalds Richtung anzuzeigen vermag: „Es war schon kurz vor Mitternacht, als das
Gespräch vom Zweck der Kunst die Wendung auf die Religion nahm.“ 272
Die derart verstandene Kunst würde, so Sebald, als eine „negative Sehnsucht“, indem sie „die
verlorene Zeit in der Form einer Chiffre, als Beispiel des Verlusts [unter anderem der Traditionen; d.
Verf.], an welchem es selber leidet [zitiert]“, die „einzige Hoffnung“ für die Opponenten nicht nur der
spätbürgerlichen Literatur sein. Einerseits liege zwar „in der Beschränkung auf den innersten Bereich
der Kunst […] das Eingeständnis und die Kritik der Armut, die von der spätbürgerlichen Fassade verleugnet wird“, andererseits aber kündige sie, „hoffnungslos und ohnmächtig, der Welt das letzte Vertrauen“ auf. Die Folge bzw. die „Qualität“, wie Sebald betont, dieses Erlösungsversuchs, der „Kennzeichen aller wahren Kunst“ sei, „ist in dieser Form aufgehoben, in dem dreifachen Sinn, den das
deutsche Wort „aufheben“ beinhalten kann.“ 273
268
269
270
271
272
273
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 9.
Sebalds Bücher (davon 14 von bzw. über Walter Benjamin) aus seiner Arbeits-Bibliothek, die als Teilnachlass im
Deutschen Literaturarchiv Marbach bereits Eingang fanden, weisen auf eine frühe (spätestens mit 20 Jahren beginnende) und intensive, über Jahrzehnte währende Beschäftigung unter anderem mit Benjamin hin. In Sebalds
Exemplar von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels befindet sich zum Beispiel auch, neben vielen
Anstreichungen und einigen handschriftlichen Bemerkungen (u. a. ein Freud-Zitat die Trauer betreffend), Benjamins Porträt auf einem bereits vergilbten Zeitungsausschnitt.
Valerij Poljudow erhält auf seine als Verriss zu bezeichnende Rezension der Sternheim-Arbeit, Eins mit seinen
Gegnern? Sebalds Sternheim-Polemik, in: Die Zeit, 25. Jhrg., Nr. 33, S 15., umgehend eine im Duktus gleich
bleibend scharfe Antwort Sebalds, Sternheims Narben, in: Die Zeit, 25 Jhrg., Nr. 33, o. S. Sebald gibt sich in der
Antwort als unbeirrbarer bzw. unfehlbarer Literaturwissenschaftler und –kritiker, der hier schon scharf mit seinen
„dogmatischen“ Zunft-Kollegen, aber auch später mit dem „schwarzwälder Trampelpfad-Schwätzer“ Heidegger,
wie er 1982 sinngemäss in einer Rezension einer Kafka-Monographie (von Gerhard Kurz: Traum-Schrecken –
Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980.) schreibt, ins Gericht geht. (Nachzulesen in: Literatur und
Kritik, H. 161/162, o. O. 1982, S. 98-100.) Es ist hier vorerst nur zu vermuten, dass Sebalds ablehnende Haltung
zur existentialistischen Interpretation des Werkes von Kafka, wie Kurz sie betreibt, einer Nähe Sebalds zu Adorno
geschuldet ist, denn „heftige Idiosynkrasien gegen existentialistische Kafka-Deutungen äußerte bekanntlich auch
Adorno.“ (in Gerhard Kurz: Traum-Schrecken – Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980, S. 150.)
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 22.
Walter Benjamin: Gesammelte Schriften II.I, Frankfurt am Main 1977, S. 16 ff.
Ebenda, S. 23.
50
Das Scheitern sowohl im Leben als auch in der Kunst ist bei Sebald implizit mitgedacht. Das viel bedeutende deutsche Verb „aufheben“ gemahnt natürlich auch an Benjamins Beschreibung des „Kunstwerk[s] im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, wonach das Kunstwerk gerade im Faschismus durch die „Ästhetisierung des politischen Lebens“ im Krieg aufgehoben werden müsse, wo
„alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik […] in einem Punkt [gipfeln]. Dieser eine Punkt
ist der Krieg.“ 274
Walter Benjamin behauptet in Ursprung des deutschen Trauerspiels einen ähnlich hohen Anspruch an die Kunst, insofern sie sich nicht „in den sogenannten Zeiten des Verfalls“ befindet: „Das
höchste Wirkliche der Kunst ist isoliertes, abgeschlossenes Werk. Zu Zeiten aber bleibt das runde
Werk allein dem Epigonen erreichbar.“ 275 Sternheim aber, so Sebald, erreiche in seinem ganzen Werk
nicht den Rang eines wahrhaften Künstlers. „Die dominierende Ursache für das Scheitern aber lag
bereits im Objekt, dem wilhelminischen Bürger selbst […]. Er war der Repräsentant einer Gesellschaft, die sich samt ihrer Umwelt einen Abgrund zutreiben fühlte und dennoch nichts unternahm, als
die Bastion ihrer Ideologie auszubauen.“ Diese Gesellschaft, so fährt Sebald Walter Benjamin zitierend fort, „kannte – entsprechend ihrer „moralischen“ Beziehung zur Ethik – keine Eschatologie; und
eben darum einen Mechanismus, der alles Erdgeborne häuft und exaltiert, bevor es sich dem Ende
überliefert.“
Sowohl das Opfer, als auch der Kritiker Sternheim hätte Sebald zufolge nur noch in der Groteske, „trotz aller Widersprüchlichkeiten seiner psychologischen Konstitution und seines Verhältnisses
zur Gesellschaft, etwas zu schaffen“ vermocht, „was zu Recht den Namen Kunst verdient haben würde, denn das Groteske ist ja das Reich der unlösbaren Antinomien.“ 276 Aber auch das zu schaffen, so
Sebald, sei Sternheim nicht in der Lage gewesen, da er inkonsequent die unlösbaren Antinomien fatalerweise noch mit einer in den Kitsch abdrehenden Wende zu lösen versuchte.
Ein derart an Benjamin geschulter Kunstbegriff ermächtigt Sebald gewissermassen, das komplette Werk Sternheims und darüber hinaus die Person Sternheim selbst zu disqualifizieren – wenngleich Sebald expressis verbis dies gerade nicht beabsichtigt. 277 Es scheint aber nur fraglich legitim zu
sein, mittels kunstkritischer Massstäbe nicht nur ein kunstkritisches, sondern geradezu zornig auch ein
274
275
276
277
Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 345.
Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt am Main 1978, S. 37.
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 118 f.
Vgl. Ebenda, S. 10: „Schließlich sollte die in der vorliegenden Arbeit am künstlerischen und essayistischen Werk
Carl Sternheims geübte Kritik in keinem Fall – auch wo ihr Ton es zu implizieren scheint – als auf die Person
Sternheims gezielt verstanden werden.“ Valerij Poljudow hat sehr wohl den dennoch in Frage stehenden und Sebalds Kritik in Zweifel ziehenden Punkt getroffen: „In Wirklichkeit hat der Kritiker auch dem Menschen Sternheim den Kopf gewaschen.“ (Valerij Poljudow: Eins mit seinen Gegnern? Sebalds Sternheim-Polemik, S. 15.) Zu
belegen wäre diese Behauptung, die Sebald in seiner Replik als „grausig idiomatischen Ausdruck“ (W.G. Sebald:
Sternheims Narben, S. 46.) vehement zurückweist, am ehesten durch die pejorative anklingende Interpretation,
wonach die von Sternheim inszenierte „Vergewaltigung des Mannes durch die Frau [...] eine überaus typische
Projektion für einen oral abnorm Fixierten ist, [...].“ (W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 104.) Später ist dann von Sternheim ob eines „abnormal bedingten Bewußtsein[s]“ die Rede.
(S.108.) Es ist wohl anzunehmen, dass nicht der grausig idiomatische Ausdruck es war, der Sebalds negative Vehemenz gegen Poljudow begründen kann, sondern vielmehr die persönliche Note gegen Sebald als „angehenden
Gymnasiallehrer[]“. (Valerij Poljudow: Eins mit seinen Gegnern? Sebalds Sternheim-Polemik, S. 15.) Dies umso
mehr, als Sebald sich darob selbst als „arme Seele[]“ in Not sah, wie sein Bittbrief an Adorno es verdeutlicht. Der
persönliche Stolz Sebalds scheint hier die polemische Spitze nicht vertragen zu können, so dass der Schritt zur
Universitätslaufbahn hier durchaus ein trotziges Stimulans erhielt.
51
moralisches Verdikt zu sprechen, wie dieser in dieser Angelegenheit Sebald zu konstatieren ist. 278 Das
ganze zweite Kapitel nämlich widmet Sebald der Sternheimschen, sozialen und psychologischen Persönlichkeits-Struktur. Sebald gibt sich dabei als profunder Kenner auch der psychoanalytischen Theorie Freuds und wendet diese auf Sternheim umfangreich an. Als Fazit konstatiert Sebald Sternheim –
sowohl als Subjekt als auch als Künstler – eine primäre und sekundäre, „mißlungene Assimilation“ 279
bzw., durch Adorno in einem Brief an Sebald bekräftigt, eine auf diesen Ebenen „mißlungene[] Anpassung.“ 280
Das vielschichtige Misslingen ist aber nicht, wie Sebald sie etwa Kafka, Hofmannsthal oder
auch Proust sehr wohl zugesteht, als eine „Äußerung[] des aus der Notwendigkeit einer zweiten Assimilation entstehenden Bewußtseins der Entfremdung des Individuums von seiner gesellschaftlichen
Wirklichkeit“ zu verstehen, sondern vielmehr als „der schiere, durch keine ästhetische oder persönliche Qualität sublimierte Ausdruck des Assimilationszwangs und dessen Gleichung vielmehr als dessen Gleichnis.“ 281 Sollte denn dieser von Sebald hervorgehobene Assimilationszwang Sternheims
wirklich Ursprung für dessen immerhin gewagtes künstlerisches und moralisches Scheitern sein, würde dies doch zugleich Sebalds Äusserung konterkarieren.
Gerade der ihn an den Rand jeglicher Gesellschaft bringende Entschluss, Schriftsteller zu werden, müsste Sebald zufolge an sich geradezu verwerflich sein. Sebald vermeint nämlich, dass Sternheim, „durch seinen Entschluß, Schriftsteller zu werden, […] das einmal Erreichte ohne willentliches
Zutun auf[hob], […] erneut zum Außenseiter [wurde] und […] derart die Mechanismen der Angleichung wieder in Bewegung [setzte].“ 282 Sein wirkliches Ziel, so Sebald, sei nicht die Bourgeoisie,
sondern „seine eigene, für die Zukunft erhoffte Leistung, die ihn, gegebenenfalls, zum Repräsentanten
jener Gesellschaft werden ließe, von der er sich ausgeschlossen fühlt.“ 283
Das Gefühl des gesellschaftlichen und schriftstellerischen Ausgeschlossenseins und Aussenseitertums wird von Sebald im weiteren als ein unbewusstes charakterisiert, welches kausal zur Frustration führe und die Aggressivität gegen Sternheims Herkunftsmilieu erkläre. Sternheim leide demzufolge
an einem Minderwertigkeits- und „Schuldkomplex“, an Orientierungslosigkeit und einer daraus resultierenden, paradoxen, skrupulös egozentrischen „Verfallenheit“ an eine „germanizistische[] Ideolo278
279
280
281
282
283
Ähnlich unversöhnlich hart gibt sich Sebald bezüglich Leben und Werk von Alfred Andersch. Vgl. hierzu Klaus
Siblewski: Vom Erzählen der Katastrophe: Über W.G. Sebald, in: Sinn und Form: Beitrag zur Literatur, H. 55
(2003), o. O., S. 117-128. Siblewski befindet, dass Sebalds Essay über Andersch „[…] in seinem schneidenden
Ton aus dem elegischen Ensemble seiner Werke heraus [fällt]. Sebald verweigert Andersch, was er sonst all seinen Prosafiguren gewährt: Verständnis.“ So hält Sebald Andersch, laut Siblewski, „[…] ein anscheinend offenes,
in Wirklichkeit aber abgefeimtes Spiel mit der Vergangenheit“ vor und Andersch hat aus Sebalds Sicht nicht nur
schlechte Bücher geschrieben, er war auch ein schlimmer Opportunist“, da er unter anderem vor der Landeskulturverwaltung Gau Hessen-Nassau den rassischen Status seiner aus einer deutsch-jüdischen Familie stammenden
Frau verschwiegen hatte. (S. 117 f.) Der von Siblewski hier angeführte Essay über Andersch findet sich in W.G.
Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, Frankfurt am Main 2001,
S. 111-147.
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 48.
Ebenda, S. 73. Dabei ist interessant, dass Sebald Zusammenhang und Inhalt des Briefes zu Gunsten seiner Argumentation heranzieht. Es handelt sich zwar nicht um Schmücken mit fremden Federn, aber doch um eine illegitime Autoritätsbeanspruchung, die Sebald an Adorno vornimmt. Sebalds erstem Werk liegt ein ambitiöses Verhalten zugrunde, das, neben unausgewiesenen Zitatübernahmen, aber nicht zuungunsten des frühen Literaturwissenschaftlers ausgelegt werden soll.
Ebenda, S. 49.
Ebenda, S. 50.
Ebenda.
52
gie.“ 284 Sebald wagt ein unlauteres, wenn nicht gar ein sophistisches Spiel, wenn alles, was Sternheim
schreibt und verlautbart, letztlich eine „Erklärung im Schuldkomplex eines Revolutionärs [findet], der
sich gegen eine Sache auflehnt, der er sich unbewußt verfallen fühlt.“ 285
Es sollte deutlich geworden sein, wie sehr sich Sebalds hermeneutische Literaturtheorie auf das
schon kritisierte und nicht haltbare Schema Bewusst- und Unbewusstsein stützt. Der kritische, urteilende und wertende – antipathetische – Impuls bei Sebald wird jedoch weiterhin von Benjamin dahingehend beeinflusst, als dieser eine sehr rigorose Auffassung von „wahrer Kunst“ vertritt. Das moralische Verdikt Sebalds Sternheim gegenüber ist aber genau darauf gegründet, was der Mensch prinzipiell seiner Freiheit schuldet: Diese nämlich zu affirmieren.
Wie Sebald selbst schrieb, hat Sternheim sich ja für ein Schriftstellerleben entschieden. Sternheims zu kritisierender „Fehler“ wäre einzig darin zu sehen, in seiner Ausübung der Kunst, mit Sartre
gesprochen, „unwahrhaftig“ bzw. „unaufrichtig“ zu sein. Doch einerlei, Sebald ist sich ja dessen
durchaus bewusst, dass überhaupt ein authentisches Porträt Sternheims nur schwer zu haben ist. An
dieser Stelle soll und kann auch nicht entschieden werden, ob Sebald das Gerücht, Sternheim „habe
das Übel an der Wurzel [der Krise des Dramas am Ende des 20. Jahrhunderts; der Verf.] kuriert, indem er der Sprache selbst eine neue, bis dahin unerhörte Prägnanz gegeben hätte“ 286 als solches kenntlich gemacht und berichtigt habe.
Benjamins ästhetisch-philosophischer Einfluss auf Sebald einerseits und Sebalds Festhalten am
Unbewussten andererseits, äußern sich auch in seiner 1980, also elf Jahre später erschienenen literaturwissenschaftlichen Arbeit Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins. Dabei unternimmt Sebald
viel versprechend „eine Untersuchung der unauflösbaren Widersprüche der Döblinschen Positionen“, 287 um ihn derart eines inadäquaten Bewusstseins zu überführen. Bis dahin, so Sebald, sei diese
fehlgeschlagen und zwar zum einen wegen fehlenden „terminologische[n] Rüstzeugs für eine materialistische Analyse, zum anderen wurden Klärungsversuche immer wieder vereitelt von den konfusen
Entwicklungen und Gedankengängen im Werk Döblins selbst“ und vom „für Döblins Entwicklung so
maßgebliche[m] ideologische[n] Dilemma“ – erinnert sei hier an Sternheims ähnlich gelagerter Situation – sich als „Kleinbürger“, gar als „Häretiker des Bürgertums“ in den „vom Assimilationskomplex
verstärkten Widersprüchen“ 288 positionieren zu müssen.
Sebald zieht auch bei der Analyse des Döblinschen Werkes den Nutzen aus Benjamins kulturund literaturwissenschaftlichen Einlassungen. Wenn man die existentiellen Voraussetzungen als gegeben nimmt, zu welchen jene „banal-triviale“ gehört, sterben zu müssen, weil man geboren wurde, so
lässt sich mit Benjamin dieser Zyklus vom je unterschiedlichen Standpunkt aus entweder als „Tyrannendrama“ oder als eine „Märtyrerhistorie“ 289 – nicht nur im barocken Trauerspiel – beschreiben.
Sebald bekräftigt die sich anschliessende, von Benjamin behauptete „Allegorisierung der Physis“, 290
die „nur an der Leiche sich energisch durchsetzen“ 291 kann, vor allem dann, wenn die besagte Leiche
Resultat einer Ermordung gewesen ist. Hier kündigt sich unter anderem Sebalds Interesse an Leichen
284
285
286
287
288
289
290
291
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 50 f.
Ebenda, S. 51.
Ebenda, S. 115.
W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S.7.
Ebenda, S.7 ff, S. 11.
Walter Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 54.
Ebenda, S. 193.
W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 65.
53
(nicht nur in den Döblinschen „Seziersälen der Anatomie“ 292 ), respektive und insbesondere an suizidalen Akten an. 293 Sebald vereint gekonnt in seinem Werk sowohl die Schilderung von Gemälden als
auch die von Biographien, vor allem unter dem Gesichtspunkt des toten Leibes: wie der Leib zu seinem Tode kam, wer ihn verschuldet hat und wie der Tod nun gedeutet wird bzw. gedeutet werden
kann. Ausserdem montiert Sebald gezielt Bilder in allen möglichen Formen in seine prosaischen Werke, ganz im Sinne Benjamins, der in Kleine Geschichte der Photographie das Besondere im Gegensatz
zu gemalten Bildern betonte:
Bei der Photographie aber begegnet man etwas Neuem und Sonderbarem: in jenem Fischweib aus New
Haven, das mit so lässiger, verführerischer Scham zu Boden blickt, bleibt etwas, was im Zeugnis für die
Kunst des Photographen Hill nicht aufgeht, etwas, was nicht zum Schweigen zu bringen ist, ungebärdig
nach dem Namen derer verlangend, die da gelebt hat, die auch hier noch wirklich ist und niemals gänz294
lich in die „Kunst“ wird eingehen wollen.
So lässt sich Sebalds Döblin betreffende Feststellung, wonach „das Moribunde […] sich seither aus
seinen Beschreibungen des pflanzlichen und kreatürlichen Lebens nicht mehr wegdenken [läßt]“
durchaus auch auf Sebalds Leben und Werk anwenden, wenngleich sich Sebald irritiert zeigt zum
einen über die Wahl „eines rationalisierenden Systems, in dem der grauenhafte Charakter der Evolution und das ephemere Dasein des einzelnen gleichermaßen aufgehoben sind“ und zum anderen über
„die Bereitschaft, mit der ein positivistischer Mediziner phantastischen Konjekturen sich hingibt.“ 295
292
293
294
295
W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 94.
Ein literarisierter Hinweis Sebalds findet sich in der zweiten Geschichte von W.G. Sebald: Die Ausgewanderten.
Vier lange Erzählungen, Frankfurt am Main 2001. Der Protagonist Paul Bereyter, der dem geneigten Leser vom
Autor als sein ehemaliger Grundschullehrer in S., freilich unter anderem Namen, zu identifizieren nahegelegt
wird, wird freiwillig, das heisst tödlich „bei der Eisenbahn enden“. Interessant in diesem Zusammenhang ist die
ihm beilegte Lektüre. Paul habe, so Sebald, „gelesen und gelesen – Altenberg, Trakl, Wittgenstein, Friedell, Hasenclever, Toller, Tucholsky, Klaus Mann, Ossietzky, Benjamin, Koestler und Zweig, in erster Linie also Schriftsteller, die sich das Leben genommen hatten oder nahe daran waren, es zu tun. Seine Exzerpthefte geben einen
Begriff davon, wie ungeheuer ihn insbesondere das Leben dieser Autoren interessiert hat [...] und immer wieder
stößt man auf Selbstmordgeschichten“ Nicht wenige dieser Autoren, dazu zählt natürlich auch der hier nicht genannte und – Koinzidenz – ebenfalls namenskonvertierte Jean Améry, waren, so man aus seiner Arbeitsbibliothek
im Deutschen Literaturarchiv Marbach ersehen kann, Sebald sehr vertraut, ihm sozusagen auch „ans Herz“ gewachsen. Améry, der den Freitod wählte, bedachte Sebald mit einigen ihn würdigenden Arbeiten. Die Einlassung
des Erzählers in dieser zweiten Erzählung, wäre im weiteren dazu geeignet, Sebalds eigenes, erwartungsvolles –
widerstrebendes – Verhältnis zum Sterben – auf welchen Wege auch immer – zu belegen. „Es sei eben, sagte ich
zu Mme. Landau, als ich von diesen Eisenbahnstunden [in der Grundschule in S.; der Verfasser] erzählte, letzten
Endes schwer zu wissen, woran einer sterbe.“ (Vgl. S. 86-92.) Auch in Austerlitz wird der Erzähler dem gleichnamigen Protagonisten Austerlitz von einer skurrilen Suizidgeschichte berichten, welche ihm das Bekenntnis entlockt, wonach „er den Schreiner von Halifax sehr wohl verstehen könne, denn was gäbe es Schlimmeres, als auch
noch das Ende eines unglücklichen Lebens zu verpfuschen.“ (W.G. Sebald: Austerlitz, S. 143.) Sebald hatte ein
ausgesprochenes Faible – nicht nur für literairisierte – „Selbstmordgeschichten“, welches in einer weiterführenden
Arbeit untersucht werden müsste.
Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 289.
W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 94 f. Sebald zeigt sich mehr nur als irritiert auch
darüber, dass Döblin sich gleichsam aus dem Stegreif anschickt, „die Gesamtheit des Kosmos erläuternd zu beschreiben, um der Ratlosigkeit seiner selbst und seiner Zeit Abhilfe zu schaffen. Dieser Versuch entspricht durchaus dem hybriden Duktus seiner Romane und ist ein Zeugnis für die schlechte Naivität, über die die rationale
Analyse der Welt stets zu kurz kommt.“ (Ebenda, S. 95.) Nun ließe sich hier provokanterweise polemisch fragen,
ob nicht auch Sebalds literarischer Versuch über Lebenszusammenhänge in Nach der Natur und Schwindel. Gefühle. ein ähnlich „naives“ Vorgehen Sebalds bezeugen würde.
54
Für Benjamin und Döblin, wie auch für Sebald selbst, bestätigt sich somit Sartres Sichtweise, nach der
der Tod des Menschen es ist, der ihn für alle Zeiten seinem ursprünglichem, stets fluktuierendem und
mangelhaftem Für-sich-sein entreisst. Der Andere erscheint nun vollends als derjenige, der gänzlich
über den Toten verfügen kann, ihm jedes An-sich-sein zuweisen kann, ohne noch Ein- oder Widerspruch erwarten zu müssen. 296
Ähnlich verhält es sich ja mit der schöpferischen Leistung der Fotographie. Sebald affirmiert
diesbezüglich Roland Barthes, der laut Sebald „[...] in dem inzwischen omnipräsenten Mann mit der
Kamera einen Agenten des Todes und in den Photographien so etwas wie Relikte des fortwährend
absterbenden Lebens [sah].“ 297 Benjamin benennt ein frühes Beispiel anhand der Lichtbilder Daguerres. Diese „waren jodierte und in der camera obscura belichtete Silberplatten, die hin- und hergewendet sein wollten, bis man in der richtigen Beleuchtung ein zartgraues Bild darauf erkennen konnte.“ 298
Sie, so stellt Benjamin fest, „verwandelten […] sich in technische Hilfsmittel“, mit denen Maler wie
Utrillo „seine faszinierenden Ansichten von den Häusern der Bannmeile von Paris nicht nach der Natur, sondern nach Ansichtskarten verfertigte“ oder indem der englische Porträtmaler Hill „seinem
Fresko der ersten Generalsynode der schottischen Kirche im Jahre 1843 eine große Reihe von Porträtaufnahmen zugrunde“ 299 legte.
Sebald weiss sich diese Wirkungs- und Verwendungsweise von unbekannten Fotos, aber auch
jene von Porträts, von Bildwerken bekannter deutscher Renaissance-Künstler wie Grünewald, Dürer
oder Altdorfer und bildlosen Bildbeschreibungen – gleichsam halluzinatorischen Sprach- und Traumbildern – für die vielschichtige Bedeutung seines Werkes nutzbar zu machen. 300
Geschuldet ist diese sich vor allem im prosaischen Werk niederschlagende, vieldeutige Nutzbarmachung unter anderem Walter Benjamin. 301 Vielleicht wäre sie, sofern es aus biographischer Aktenlage ersichtlich gemacht werden bzw. erhärtet werden könnte, auch als Hommage an Benjamins
eigenem Leben und Werk und letztendlich an seinen Suizid im Jahre 1940 zu werten. In jedem Fall
lässt sich Benjamins Befund, wonach
296
297
298
299
300
301
Auch Sebald ist sich dessen bewußt, rekurriert er in Die Ringe des Saturn auf Sir Thomas Browne, der „in seinem
berühmten, halb archäologischen, halb metaphysischen Traktat über die Praxis der Feuer- und Urnenbestattung zu
der späteren Irrfahrt seines eigenen Schädels den besten Kommentar geliefert [hat] an der Stelle, wo er schreibt,
aus dem Grabe gekratzt zu werden, das sei eine Tragödie und Abscheulichkeit. Aber wer, so fügt er hinzu, kennt
das Schicksal seiner Gebeine und weiß, wie oft man sie beerdigen wird.“ (W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn,
S. 21.)
W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 178.
Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 289.
Ebenda, S. 289. (Kursivsetzung durch den Verfasser) Man beachte hier die wortgetreue und inhaltliche, jedoch
nicht als Zitat ausgewiesene Koinzidenz, die hier das Benjaminsche „nach der Natur“ zu Sebalds gleichermassen
mehrdeutigem Titel und Motto seines „Elementargedichts“ Nach der Natur liefert.
Im Gespräch mit Sigrid Löffler betont er explizit: „Familien-Fotalben sind ein Schatz an Information.“ (Sigrid
Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 136, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald) Der ausführliche Rekurs auf Barthes erhellt besonders Sebalds Technik.
Dazu Astrid Deuber-Mankowsky: „Benjamin macht nun das Bild nicht zu einem Gegenstand der Philosophie, er
rekurriert im Gegenteil auf das Bild, um der [...] Unterscheidung von Erfahrung und Erkenntnis der Erfahrung
Genüge zu tun. Das heißt, er schreibt im „Bild“, um die Erfahrung nicht dem Erkenntniszusammenhang preiszugeben und sie darin zu verlieren. Deshalb ist auch das Darstellungsproblem eine der wichtigsten Fragen des philosophischen Schreibens.“ (in: Astrid Deuber-Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen: Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung, Berlin 2000, S.91. Zugleich: Berlin, HumboldtUniversität, Dissertation, 1999.)
55
aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum
Trotz […] der Beschauer unwiderstehlich den Zwang [fühlt], in solchem Bild das winzige Fünkchen
Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat,
die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige
302
noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken können,
auf ein wesentliches Ziel des Sebaldschen Werkes übertragen.
So lässt sich auch, analog zur „Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen“, Sebalds Heranziehen der psychoanalytischen Terminologie und des der kritischen Schule entliehenen sozialkritischen Vokabulars – „der psychomotorische Konnex bleibt dabei unbewußt“, so Sebalds Ausführungen zu Sternheims „Pseudokonservatismus und Aggressivität“ 303 im Privatleben und
im künstlerischen Werk – bei seinen grossen literaturwissenschaftlichen Arbeiten als Versuch interpretieren, gleichsam von dem „Optisch-Unbwußten“ der „Haltung im Sekundenbruchteil des „Ausschreitens““ auch das „Triebhaft-Unbewußte[]“ 304 zu erfahren.
Was Deuber-Mankowsky dem Bestreben Walter Benjamins mit seinem Werk konstatierte, steht
durchaus im Einklang mit Sebalds Schaffen: „Die Wahrheit wird zu einer Frage der Darstellung“ 305
von unmittelbarer Erkenntnis und Erkenntnis der Erfahrung, wobei einerseits das Bild als das durchlässig mittelnde und das den ewigen Abgrund zwischen Erfahrung und Erkenntnis überbrückende
Prinzip fungiert, „sich gegen seine Grenzen, gegen Vergänglichkeit, Zufall und Kontingenz zu immunisieren.“ 306 Andererseits versteht Sebald das „photographische Bild“ als eines, das die Wirklichkeit
nur „in eine Tautologie“ verwandelt. „Was für die Photographie recht sein mag, ist jedoch für die
Kunst nicht billig.“ 307
So vermag sich Sebald je nach Darstellungswunsch der „Wahrheit“ und/oder der „Wirklichkeit“
der abwechselnden Heranziehung von Fotographien, von Malerwerken und Bildbeschreibungen bedienen. Er schreibt sie ein in seine Texte und reichert sie an durch seine kunstvollen Wortbilder, die
aus Traum- und Erinnerungsbildern genauso wie aus halluzinierten Zuständen hervorgehen.
Gerade die darstellende Kunst, in der Sebald bei dem Maler und Jugendfreund Jan Peter Tripp eine
„Wirklichkeitstreue [in] einem fast unvorstellbaren Grad“ erreicht sieht, „bedarf der Ambiguität, der
Polyvalenz, der Resonanz, der Verdunkelung und der Erleuchtung, kurz, der Transzendierung dessen,
was nach einem unumstößlichen Satz der Fall ist.“ 308 Doch was ist schon „der Fall“? Während also
Benjamin zur Sinnbestimmung sowohl des zu Betrachtenden und als auch des Betrachters selbst das
dennoch schweigsame „winzige Fünkchen Zufall“ und „die unscheinbare Stelle“ in einer gekonnten
Fotographie suchte, begreift Sebald, je länger er die Bilder Tripps betrachtete, „desto mehr [...], daß
sich hinter dem Illusionismus der Oberfläche eine furchterregende Tiefe verbirgt.“ „Sie ist sozusagen“,
so schließt Sebald, „das metaphysische Unterfutter der Realität“, 309 welches doch nur wenig erfolgreich, sprich sinnvoll, das Reich der Lebendigen vom jenen der Toten zu kaschieren vermag.
302
303
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305
306
307
308
309
Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 290.
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 50 ff, S. 53.
Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 290.
Astrid Deuber-Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen: Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung, S. 91.
Ebenda, S. 90.
W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 178.
Ebenda, S. 174, 178.
Ebenda, S. 181.
56
Das „metaphysische Unterfutter“ ist es, was uns antreibt und bewegt, aber was es ist, bleibt auch Sebald unbeantwortet. Folgende Aussage gilt für sein gesamtes Werk: „Wir sind doch alle hoffnungslose
Ignoranten, wir haben doch keine Ahnung, was uns treibt, was uns bewegt.“ 310
Sebalds Einlassungen erinnern hier in ihrer Dringlichkeit stark an den Grundton aus Sartres
Roman Der Ekel, der dieser existentiellen und den Menschen mit seiner Plötzlichkeit überwältigenden
Affektion bis heute unerreicht Ausdruck verlieh. „Die Tannenwälder“, so heisst es in der zweiten langen Erzählung aus Die Ausgewanderten „standen schwarz in den Bergen, bleiern glänzten die Fensterscheiben, und der Himmel hing so tief und so dunkel herunter, als müßte eine tintige Flüssigkeit gleich
herauslaufen aus ihm.“ 311 Das Tannengrün war für Sebald seit frühester Kindheit Sinnbild für das
Versagen der Vernunft – Jagdtod dem Tier, zur Versöhnung ein Tannenzweigchen in die Äse – und
Auslöser einer starken Aversion den dörflichen und friedhöflichen, nicht nur deutschen Trauerriten
gegenüber.
Stimmigerweise ist in der letzten Geschichte aus Schwindel. Gefühle., die die vier Wochen dauernde Rückkehr des Erzählers nach W. im Allgäu und in seine frühe Kindheit thematisiert, vom Tode
des Jägers Schlag die Rede. Nicht nur wird auch hier der Freitod Schlags hypostasiert, hielt doch
Grossvater es „für ausgeschlossen, daß der Schlag, der doch auf das genaueste mit den Grenzen seines
Reviers vertraut gewesen sein müsse, versehentlich auf die andere Seite hinübergeraten sei.“ 312 Sondern es geht hier dem Erzähler um eine daraus resultierende frühe, kindliche existentielle Ekelerfahrung im Anschluss an dem Erblicken der eiserstarrten Leiche. Zum einen überkommt den Erzähler
nach Ausbruch einer wahrscheinlichen Diphteritis die Vorstellung, der Schmied hielte sein in Flammen stehendes Herz, zum anderen deliriert er, „daß es sich bei dem, was in diesem Topf eingelegt
worden war, nicht um sauber in ihrer Schale aufgehobene Eier, sondern um etwas weiches, den Fingern Entgleitendes handelte, von dem ich sogleich wusste, daß es nichts anderes als Augäpfel waren.“ 313
1.2 Theodor W. Adorno
Sebald setzte sich zu Beginn seines Studiums neben Benjamin auch intensiv mit Theodor W. Adorno,
weniger ausgiebig mit Horkheimer und Marcuse auseinander. Mit Adorno stand Sebald kurzzeitig in
Briefkontakt, wie auch aus seiner Arbeit zu Carl Sternheim hervorgeht. Da auf den handschriftlichen
Nachlass mit dieser Arbeit aus archivarischen Gründen nicht zurückgegriffen werden kann, muss Sebalds Anleihen an Adorno ebenfalls werkimmanent betrachtet werden.
Aus Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära lässt sich ableiten, was thematisiert wurde. Wie aus einer Fussnote Sebalds hervorgeht, ist es Sebalds Behauptung, „daß im Gegensatz zu der von Sternheim behaupteten Restriktion der ratio in der künstlerischen Produktion gerade
seine Werke auf einem rationalistischen Funktionalismus beruhen […]“, 314 die durch Adorno gestützt
werden sollte. Sebald geht es, auch mit Blick auf die Literaturgeschichte, um die Zurückweisung der
Sternheimschen Kunstauffassung, wonach sie etwas ahistorisches und exklusives sei, quasi „von
310
311
312
313
314
W.G: Sebald, zit. nach: Renate Just: Im Zeichen des Saturn. Ein Besuch bei W.G. Sebald, S. 40, in: Franz Loquai
(Hg.): W.G. Sebald, S. 37-42.
W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 89.
W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 269.
Vgl. W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 272 ff.
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 30.
57
vornherein nur einer Auslese wirkliches Bedürfnis […]“, 315 um „das „Wesentliche“ oder den „Ursinn“
des Wirklichen zu erheischen.“ 316
Im Gegenteil, so Sebalds Meinung, „war lange Zeit vor Sternheim bekannt, daß eine Erklärung
des Phänomens „Kunst“ durch eine Definition nicht möglich ist, sondern nur in Form einer Diskussion
in jedem einzelnen Fall“, 317 sie sei somit „erst im Laufe des bürgerlichen Zeitalters dazu geworden“ 318
als was sie Sternheim hypostasiert. Ebenso wenig wie Kunst exklusiv definierbar sei, ebenso wenig sei
es die Philosophie, zumindest diejenige, wie sie Adorno neben Minima Moralia. Reflexionen aus dem
beschädigten Leben und Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (gemeinsam mit Max
Horkheimer) vor allem mit seinem sperrigen Werk Negative Dialektik dargelegt hat. Aus diesem Werk
lässt sich vor allem das dritte Kapitel, Meditationen zur Metaphysik im dritten und letzten Teil als
geeignet heranziehen, die Sebaldsche geschichts-philosophische und ästhetische Orientierung an Adorno aufzuweisen, die ja wesentlich – ähnlich so bei Benjamin – dem Misslingen der Kultur (nach
Auschwitz) gewidmet ist.
Obschon Adorno es in Frage stellt, ob die schwerwiegende Behauptung falsch gewesen sei,
„nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben“, so doch nicht „die minder kulturelle Frage,
ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte
umgebracht werden müssen.“ 319 Diese Frage wird, wenn auch mit anderen Mitteln, Sebald aufnehmen
und sowohl für sich als auch für seine interessierten Leser zu beantworten versuchen, indem er Adornos Aussage durch sein Werk einer Zuspitzung zuführen will:
Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das
Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten. Zur Vergeltung suchen ihn
Träume heim wie der, daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre […].
320
Sebald wurde 1944 an Himmelfahrt geboren und er erinnert selbst in einem seiner Werke, Nach der
Natur, daran, wie seine Mutter einst aus dem in Flammen gesetzten Nürnberg nach Bad Windsheim
flüchten musste und sich dort ihrer Schwangerschaft gewahr wurde. Eine typisch sebaldsche, fingierte
Koinzidenz liesse sich hier ausmachen, eine teilweise Erklärung auch für das Misstrauen Sebalds, das
er seiner sozialen Umwelt und natürlichen Umgebung, der „bösen“ Natur ist man geneigt zu sagen –
expressis verbis in Austerlitz – entgegenbringt. 321
Doch
315
316
317
318
319
320
321
Carl Sternheim, zit. nach W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 30.
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 33.
Ebenda, S. 31.
Ebenda, S. 30
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 11975, S. 355.
Ebenda, S. 355 f.
Sebald lässt schließlich Hebel all die Kriege, Schlachten und Unglücke aufzählen, all die „zwischen 1789 und
1810 eingetroffenen Kalamitäten“. Die Aneinanderreihung, in ihrer „Wahllosigkeit und Willkürlichkeit, mit der
da das ungereimtste zueinanderkommt, ist zu verstehen als ein Reflex auf eine Epoche, in der die letzten Überreste des heilsgeschichtlichen Weltbilds zerschlagen wurden, während zugleich in endlosen Revolutionen und Kriegen die profane Geschichte gewaltsam sich auszubreiten begann.“ Der Überblick über diese 20 Jahre, in denen
„die blutigen Kriege in Deutschland, in den Niederlanden, in der Schweiz, in Italien, in Polen, in Spanien, [...] die
Schlachten bei Austerlitz und Eylau, bei Eßlingen und Wagram [...]“ stattfanden müsste ausreichen, „um zu begreifen, daß man am frühen Morgen nie weiß, wie es vor der Nacht wird.“ (in: W.G. Sebald: Logis in einem
Landhaus, S. 24 f.)
58
damit fällt ein greller Strahl auf die Wahrheit selbst. Spekulation spürt eine gewisse Pflicht, ihrem Gegner, dem common sense, die Position des Korrektivs einzuräumen. Das Leben nährt den Horror der
Ahnung, was erkannt werden muß, gliche eher dem, was down to earth sich findet, als dem, was sich
322
erhebt […].
Das Leben-zum-Tode verschränkte Geflecht nötigt zu einer Sinnstiftung gleichsam einer metaphysischen Erfahrung, ungeachtet dessen, ob jene „überhaupt noch möglich ist.“ 323 Auch hier stehen wieder
die Wahrheit und die Wirklichkeit – in ähnlich ummantelter und heraufbeschworener Metaphysik – in
Frage, für Sebald und für Adorno gleichermassen. Gegen Sternheims Wirklichkeitsgewinnung und reproduktion gewendet behauptet nun Sebald, dass
Sternheim in seinen Werken die Wirklichkeit [mißhandelt], indem er die Zynismen einer Gesellschaft
enthüllt und sie im selben Atemzug als den höchsten Sinn des Wirklichen proklamiert, als dessen „eigene Nuance“. Das „Himmlische“ aber, das sich trotzdem noch „in raumloser zeitloser Fülle gebiert“,
324
trägt die irisierenden Züge des spätbürgerlichen Kitschs.
Sebalds Kritik ist sicherlich berechtigt, doch allen kulturell Schaffenden eigen ist zumindest die Frage
nach Wirklichkeit respektive der Darstellung dieser, die, wie man auch bei Sebald und Adorno feststellen kann, häufig auf eine metaphysische Betonung des Unerklärlichen und Abgründigen im Menschen und mit ihm in der Geschichte abhebt. Sebalds Kunstgriff ist die nicht nur intertextuelle Verschränkung vieler Facetten, die er aus den verschiedenen philosophischen Konzepten gewinnt. Zu
nennen wären nach dem bis hierher aufgezeigten philosophiegeschichtlichen Hintergrund Sebalds:
Geschichte und Natur – menschliche und unbelebte – gleichermassen als leitende, literaturwissenschaftliche Themata mit der Betonung auf ihren Verfallscharakter; 325 der dem Menschen wohl prinzipiell zugrundeliegende Schwindel (in seiner mehrdeutigen und naheliegenden Ausprägung als Gefühl
und als „Selbst-Betrug“, aber auch in einer weiter gefassten Form als Ver-Schwinden, zum Beispiel
eben des Subjekts). Nicht zu vergessen, die darstellenden Künste in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und theoretischen Konzeptionen, welche als Mittel zur Hervorbringung einer etwas anderen
Metaphysik, nämlich der typisch Sebaldschen Koinzidenz in ihrem melancholischen Duktus dienlich
sind.
Sebald geht in seiner Arbeit über Döblin sogar soweit, Adornos Terminus vom „beschädigten
Leben“ ohne Zitatnachweis in seiner Analyse zu verwenden. Während Adorno von „Reflexionen aus
dem beschädigten Leben“ spricht, bezieht Sebald in seiner Analyse ausgreifend den Tod mitein.
„[Döblin] [beschwört] die heilsame Kommunikation des schlafenden Menschen mit der Natur. [...]
Dementsprechend wird auch der Tod zum zeitweiligen und trostreichen Asyl des beschädigten Lebens.“ 326
322
323
324
325
326
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 357.
Ebenda, S. 365.
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 34.
Adorno lokalisiert in der Vergängnis das Moment, „in dem Natur und Geschichte kommensurabel werden“ und
bekräftigt Benjamins Ausführungen in Ursprung des deutschen Trauerspiels. (in: Theodor W. Adorno: Negative
Dialektik, S. 353.)
W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 115. In seiner Hommage an Johann Peter Hebel in
Logis in einem Landhaus wird er, in ähnlichem Sinne, von einer „Lichtspur über unser von Gewalt entstelltes Le-
59
Eine dies äusserst prägnant schildernde Stelle findet sich in Sebalds Logis in einem Landhaus. Sebald
stellt dabei erinnernd eine in Frage stehende Verbindung nicht nur zwischen dem Tode, Todeszeitpunkt und -umständen seines geliebten und wertgeschätzten Grossvaters, Josef Egelhofer, und dem
Tode Robert Walsers im Frühjahr und Winter des Jahres 1956, sondern auch eine Verbindung zwischen den sich scheinbar ähnelnden, verwandtanmutenden 327 und dennoch unbekannten, nur Sebald
persönlich nahe stehenden Menschen:
Vielleicht sehe ich darum den Großvater heute, wenn ich zurückdenke an seinen von mir nie verwundenen Tod, immer auf dem Hörnerschlitten liegen, auf dem man den Leichnam Walsers, nachdem er im
Schnee gefunden und fotografiert worden war, zurückführte in die Anstalt [Herisau in der Schweiz; dort
verbrachte Walser die letzten 23 Jahre seines Lebens; der Verf.]. Was bedeuten solche Ähnlichkeiten,
Überschneidungen und Korrespondenzen? Handelt es sich nur um Vexierbilder der Erinnerung, um
Selbst- oder Sinnestäuschungen oder um die in das Chaos der menschlichen Beziehungen einprogrammierten, über Lebendige und Tote gleichermaßen sich erstreckenden Schemata einer uns unbegreifli328
chen Ordnung?
Diese Passage verdeutlicht eindrücklich das kunstvolle Streben – die „melancholische Bastelei“ 329 –
Sebalds nach Sinnstiftung eines in Frage stehenden Subjekts, nach objektiven Bedeutungszusammenhängen in einer scheinbar durchwegs rationalistischen, nichts desto trotz permanent zerstörbaren Lebenswelt. Ebenso wird hier das Potential ersichtlich, die oftmals schwer einzuordnenden Ebenen und
Problematiken der Ich-Zuschreibungen in Sebalds Texten genauer voneinander abzusetzen und herauszustellen. Wichtiger jedoch erscheinen die emotive Haltung Sebalds und die gewählte Form des
Umgangs damit, also im weit gefassten Sinne mit Natur und Geschichte.
Beides, die Haltung, wie der Umgang, lassen sich als eine mögliche Antwort vor allem eines
Künstlers auf Adornos kritische Feststellung verstehen, die die Rolle des (millionenfachen) Opfers –
in diesem Falle der Jude – betrifft. „Das Gefühl“ nämlich, so Adorno,
das nach Auschwitz gegen jegliche Behauptung von Positivität des Daseins als Salbadern, Unrecht an
den Opfern sich sträubt, dagegen, daß aus ihrem Schicksal ein sei`s noch so ausgelaugter Sinn gepreßt
wird, hat sein objektives Moment nach Ereignissen, welche die Konstruktion eines Sinnes der Imma330
nenz, der von affirmativ gesetzter Transzendenz ausstrahlt, zum Hohn verurteilen.
327
328
329
330
ben“ sprechen, die sowohl der Erzähler Hebel als auch der ihm 1811 erschienene Komet über das vergossene Blut
auf den Schlachtfeldern der Erde zeichneten. (in: W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus,
S. 19.)
Sara Friedrichsmeyer spricht in diesem Zusammenhang, auf Goethes Die Wahlverwandtschaften bezogen, von
„Sebald`s Elective and Other Affinities“. (Sara Friedrichsmeyer: Sebald`s Elective and Other Affinities, in: Scott
Denham / Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma, S. 77-89.)
W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 137 f.
Vgl. dazu Claudia Öhlschläger und Michael Niehaus in ihrem Vorwort: „Der Begriff melancholische Bastelei
wird als komplementäre Kategorie zu dem der politischen Archäologie aufgefasst: Er charakterisiert die artifizielle, textinterne Dimension Sebaldscher Texte: Er markiert das Problem der Fiktionalität, das mit dem von Sebald
in Anschlag gebrachten, an Lévi-Strauss orientierten Verfahren der Bastelei (bricolage) konvergiert. Damit ist zunächst einmal der Befund bezeichnet, dass die Tätigkeit des Schreibens eine Form von „wildem Arbeiten, von
vorrationalem Denken“ ist, in der die Konstellierung „akkumulierter Fundstücke“ (Sebald) eine wichtige Rolle
spielt. Dies bezeiht sich auf die Bildmaterialien, die Sebald in seine Texte einmontiert, aber auch auf die verschiedenartigsten Formen intertextueller Bezüge, die Sebalds Geschichten durchziehen und mit der Literaturgeschichte
vernetzen.“ (in: Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 9.)
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 354.
60
Davon zeugt der Schwindel in seiner erwähnten vielfachen Bedeutung, den Sebald in seinen anthropologisch-psychologischen Charakterisierungen reeller und fiktiver Gestalten und in seinen labyrinthischen, wiederum Schwindelgefühl erregenden Fluchten durch verfallene und verfallende Natur- und
Bau-Ruinen dem Leser so gekonnt heraufbeschwört. Ein transzendenter, melancholisch stimmender
Sinn ist allenfalls auch noch in der Sartreschen Bedeutung auszumachen: Der Entwurf auf ein Sein
hin, das man nicht ist, der Konflikt durch und mit dem Anderen, der prinzipiell der Tod meiner Möglichkeiten, der eilfertige Entwender meiner fliehenden Welt ist.
Ähnlich wie Sartre das menschliche Dasein als eine immerwährende Flucht – in Form des stets
zu modifizierenden Entwurfs auf ein zukünftiges Sein hin – des Bewusstseins vor seinem Sein auffasst
und nur einen sehr dürftigen Rechtfertigungsgrund für die Existenz liefert, thematisiert auch Sebald in
seiner Analyse des Döblinschen Werkes die „pathologische Rastlosigkeit“ „als Kennzeichen des organischen Lebens“. „Das Nomadische, der Wandertrieb zeigt sich als Fluch und Laster der menschlichen
Existenz.“ 331
Sebald wird gewusst haben, wie zutreffend diese frühe Feststellung nicht nur für das Werk Döblins, sondern auch später für ihn selbst, den exilierten, fleissigen Wanderer und Wallfahrer an verstörende Orte im Wandel der zerstörerischen Zeit, ist. Zum Ausdruck kommt dieses „Paradigma“, als
welches „Kafka und Canetti die Geschichte des jüdischen Volkes“ 332 verstanden haben mögen, in
allen seinen späteren, überwiegend prosaischen Werken und bis ins Meisterhafte exemplifiziert in
seinen hell-dunklen Bildern, die das letzte Prosawerk Austerlitz wie ein roter Faden durchziehen,
gleichsam als ästhetisch-komplementäre „DNS“ des Sebaldschen Gesamtwerkes.
1.3 Max Horkheimer
Sebalds Affinität zu Horkheimers Philosophie, lässt sich nicht so sehr an dem mit Adorno kooperativen Werk Dialektik der Aufklärung aufweisen, als viel mehr an einem im Jahre 1933 erschienen Aufsatz Horkheimers, Metaphysik und Materialismus 333 betitelt. In diesem Aufsatz wird unter anderem
ein Thema angesprochen, das die Entsprechung in einem zweifachen Bestreben Sebalds hat: Die Geschichte kann auch zukünftig nicht als Fortschritt begriffen werden, da die Vernunft selbst materialistischen Zwängen und Wünschen, konkret also den gesellschaftlichen Zuständen unterworfen ist. Der
Mensch wird demnach weiterhin von seiner Natur beherrscht, der Aufschwung zur Naturbeherrschung
bleibt, wenngleich auch katastrophal, im wesentlichen erfolglos.
Der Mensch, insbesondere W. G. Sebald in seinen Prosawerken, begibt sich dennoch auf die Suche nach Sinnstiftung, die trotz ihres immerwährenden Scheiterns in Form fehlgeleiteter Utopien und
Eschatologien einen Reflex im metaphysischen Verstehensraum hinterlässt. Nicht anders bei Sebald,
wie an der herausgearbeiteten Begrifflichkeit der „Metaphysik der Koinzidenz“ schon angedeutet wurde. Paradigmatisch hierfür ist Sebalds aus seinen „Anmerkungen zu Gottfried Keller“ herausgegriffener Satz, welcher das „hochgradig melancholische Kritzelwerk“ betrifft: „Die Kunst des Schreibens ist
331
332
333
Vgl. W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 105 ff.
Ebenda, S. 105.
Max Horkheimer: Materialismus und Metaphysik, S. 7-42, in: Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt am Main 62005. (Erstmals gedruckt in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang II,
Leipzig 1933, Heft 1, S. 1-33.)
61
der Versuch, das schwarze Gewusel, das überhand zu nehmen droht, zu bannen im Interesse der Erhaltung einer halbwegs praktikablen Persönlichkeit.“ 334
Der Aufsatz Horkheimers ist nun – neben Herbert Marcuses Essay Philosophie und kritische
Theorie 335 und wohlweislich auch seines Werkes Triebstruktur und Gesellschaft 336 – dazu geeignet,
Sebalds oftmals irrational anmutenden Hintergrund seines Denkens und Schreibens – vielmehr in seiner eigenen Prosa, nicht so sehr in seinen literaturwissenschaftlichen Texten –, deutlicher hervorzuheben. Horkheimer selbst nämlich kann als Referenz zu Sebalds Werk betrachtet werden, weil er anschaulich den metaphysischen Raum ausleuchtet und das durch den Menschen hervorgebrachte Zerstörungspotential des irregeleiteten Materialismus benennt.
Sebald fühlt sich, müsste er den zwischen Materialismus und Metaphysik eine Entscheidung
treffen, paradoxerweise eindeutig zu letzterem hingezogen, was auch in seiner kritischen Auffassung
eines etwaigen, vernunftgeleiteten Fortschrittsgedankens gegenüber zum Ausdruck kommt. Der Verlauf der Geschichte ist ja eben gerade nicht vernunftgeleitet, so Sebalds Fazit, dann hätte es nämlich ab
der Französischen Revolution nicht zu solch menschengemachten Katastrophen wie den beiden Weltkriegen kommen dürfen. Es bleibt die Sinn-Suche, für Sebald wie auch für Döblin, und Sebalds Interpretation trifft durchaus auf ihn selbst zu: „Das Bedürfnis nach einem konkordanten System, in dem
auch die Negation des Lebens und der Welt sinnvoll sich ausnähme, steht hinter Döblins anachronistischen naturphilosophischen Essays.“ 337 So sind auch Horkheimers etwas resigniert wirkende Worte
über die Vernunft aufzufassen:
Trotz aller Rückfälle, dunklen Perioden und Umwege ist es nach Kant der Weltgeschichte geheimer
Sinn, zum Sieg der Vernunft zu führen. Mit ihr waren die Begriffe der Freiheit, Gerechtigkeit und
Wahrheit verknüpft. Sie galten Ideen, der die der Vernunft eingeboren sind, von ihr erschaut oder notwendig gedacht werden. Das Zeitalter der Vernunft ist der Ehrentitel, den das Bürgertum für seine Welt
338
in Anspruch nahm.
Sebalds Arbeiten zu Döblin und Sternheim liefern genau eine solche Kritik der spätbürgerlichen Welt
– inwiefern jene Vertreter mit Vernunft begabt sind oder nicht, ist für ihn irrelevant. Sebald vermutet
unter anderem darin,
daß Döblin im radikalen Sozialdarwinismus ein Zentralstück bürgerlicher Ideologie und eine jener Verhaltensnormen erkannt hat, welche die Inhumanität der von ihm beschriebenen Gesellschaft auch dann
334
335
336
337
338
W.G. Sebald: Her kommt der Tod die Zeit geht hin. Anmerkungen zu Gottfried Keller, S. 125 f., in: W.G. Sebald:
Logis in einem Landhaus, S. 95-126.
Vgl. auch Herbert Marcuse: Philosophie und kritische Theorie, in: Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft I,
Frankfurt am Main 21973, S. 102-127.
Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am
Main 1970. Marcuse bekennt in seinem Vorwort, dass er sich hinsichtlich seiner „theoretischen Position [...]
[s]einem Freund, Max Horkheimer, und seinen Mitarbeitern am Institut für Sozialforschung [...] verpflichtet“
fühlt. (S. 8.) Laut Reinbert Tabberts an mich schriftlich gerichtete Aussage war Sebalds von diesem Buch Marcuses sehr beeindruckt und auch nachhaltig beeinflusst.
W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 98.
Vgl. dazu Max Horkheimer: Vernunft und Selbsterhaltung, S. 271, in: Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, S. 271-301. (Erstmals in: Walter Benjamin zum Gedächtnis. Hektographiertes Typoskript. Institut für Sozialforschung (New York/Los Angeles) 1942, S. 17-60.)
62
noch perpetuierte, als die allgemeine Not der wirtschaftlichen Krise die Menschen aufeinander hätte
verweisen müssen.
339
Döblin, so Sebald, liefert hier gleich selbst ein unrühmliches Beispiel mit, als er sich nämlich „in seinem Aufsatz Reims, der im Dezember 1914 in der für die liberale bürgerliche Kultur durchaus repräsentativen Neuen Rundschau erschien, zu geradezu erstaunlichen Haßtiraden“ verstieg.
Man kann zu Recht fragen, warum sich die Menschen untereinander die zu erwartende Hilfe
verweigerten und ob die Antwort eher dem fehlbaren System des Materialismus oder mehr der Metaphysik geschuldet ist:
Und wie die Philosophie im Unterschied von der wissenschaftlichen Forschung stets auf dieses „Rätsel
des Lebens … auf dieses Ganzes, in sich Verschlungene, Geheimnisvolle“ gerichtet ist, so betrachtet
auch Dilthey selbst das Problem, was ich in der Welt soll, wozu ich in ihr bin, was in ihr mein Leben
340
sein wird, als dasjenige, welches „mich am meisten angeht“.
Während Horkheimer anlässlich Diltheys Bestrebungen zur Kennzeichnung der philosophischen Systeme und der Weltanschauung selbst, feststellt, dass sie „ebenso wie Religion und ursprüngliche Metaphysik zu „Bedeutung und Sinn des Ganzen“ führen“ sollen, kann man diese Tendenz auch bei Sebald erkennen. Obwohl eines besseren belehrt und in seinen Analysen auch hervorragend herausgearbeitet, beharrt Sebald nicht nur in seinem biographisch-fiktivem Werk vehement auf einem metaphysischen System, nämlich dem der „Metaphysik der Koinzidenz“.
Uwe Schütte stellt somit richtig fest, dass „das Ungreifbare, subjektiv Empfundene [...] für ihn
eine ebenso relevante Kategorie wie das Dingliche [war].“ 341 Dies verband ihn offenbar, so Schütte
weiter, unter anderem mit Autoren wie Peter Handke, dessen Roman Die Wiederholung Sebald mit der
folgenden Bemerkung bedachte: „Es gibt offensichtlich heute kein Diskursverfahren mehr, in dem die
Metaphysik noch einen Platz beanspruchen dürfte. Und doch hat Kunst, wo und wann immer sie sich
wirklich ereignet, zum Bereich der Metaphysik den engsten Bezug. [...].“ 342 Dieses von Sebald forcierte Schaffen einer „halbwegs praktikablen Persönlichkeit“ mittels Transzendierung der philosophischen
Systeme setzt im Allgemeinen ein autonomes Subjekt voraus, im besonderen aber, so Sebald, „bedarf
der Schriftsteller einer nicht zu unterschätzenden Tapferkeit [...].“ 343
Das denkende und erlebende Ich steht demnach auch für Sebald in diskursiver Frage und mit
ihm „der Sinn individueller Existenz“, wobei Döblin, folgt man Sebald, „auf die Kategorie des „Ursinns“ stößt, jenen ebenso großartigen wie nichtssagenden Begriff also, mit dem alle selbstvergessene
Philosophie dem Dilemma ihrer Abstraktionen zu entgehen trachtet.“ 344
Wenngleich Sebald hier die Suche nach dem Ursinn verunglimpft, so ist sein Schaffen gerade
auch dieser Suche zutiefst verpflichtet. Der von Sebald kritisierte „Ur-Sinn“ erhält vielmehr eine
339
340
341
342
343
344
W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 17.
Max Horkheimer: Materialismus und Metaphysik, S. 7. Horkheimer zitiert hier aus Wilhelm Dilthey: Gesammelte
Schriften, Band VIII, Leipzig und Berlin 1931, S. 206 f.
Uwe Schütte: Ein Lehrer. In memoriam W.G. Sebald, S. 61, in: Akzente. W.G. Sebald zum Gedächtnis,
Heft 1/Februar 2003, München 2003, S.56-62.
W.G. Sebald: Jenseits der Grenze – Peter Handkes Erzählung Die Wiederholung, S. 163, in: W.G. Sebald: Unheimliche Heimat, S. 162-178.
Ebenda.
W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 100.
63
schon sich anbahnende Antwort seinerseits, nämlich die „Metaphysik der Geschichte“, 345 samt der
„Metaphysik der Koinzidenz“, die durch den Künstler annäherungsweise expliziert werden muss.
2. Existentielle Psychoanalyse auf das Sebaldsche Werk angewendet
Es scheint – neben den in der Philosophie ohnehin schon bestehenden – durchaus weitere methodologische Vorbehalte zu geben, eine nur schwer theoretisierbare, den Geisteswissenschaften verpflichtete
„Folie“, die „existentielle Psychoanalyse“ Sartres nämlich, auf das Leben und Werk eines engagierten
Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers anzuwenden. Die akuten Vorbehalte liegen unter anderem darin begründet, dass Sartre seine „Folie“ bis zu einem gewissen Grade aus seinem eigenen Werk,
insbesondere an Die Wörter festzustellen, subjektiv, ergo posteriori abgeleitet hat, um sie im weiteren
als a priori, demnach allgemein anwendbar zu behaupten. Dieser scheinbar widersprüchliche Vorbehalt lässt sich aber andererseits in den Hintergrund drängen, pragmatisch aufgrund der positiven Leistung, die sie dem Anwender erbringen bzw. ermöglichen kann. Erst recht ermöglicht wird das hermeneutische Projekt durch die formale Erweiterung der „existentiellen Psychoanalyse“ mittels der „progressiv-regressiven Methode“, welche das Widersprüchliche sinnvoll, nämlich dialektisch aufheben
lässt. Ähnlich wurde dieser Sachverhalt schon 1910 von Wilhelm Dilthey sehr zutreffend problematisiert:
Der Punkt ist erreicht, an welchem sich nun Gesellschaft und Geschichte vor uns auftun. [...] Der einzelne Mensch in seinem auf sich selber ruhenden individuellen Dasein ist ein geschichtliches Wesen. Er
ist bestimmt durch seine Stelle in der Linie der Zeit, seinen Ort im Raum, seine Stellung im Zusammenwirken der Kultursysteme und der Gemeinschaften. Der Historiker muß daher das ganze Leben der
Individuen, wie es zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort sich äußert, verstehen. [...] Die
logischen Subjekte, über die in der Geschichte ausgesagt wird, sind ebenso Einzelindividuen wie Ge346
meinschaften und Zusammenhänge.
Sartre gab einige philosophisch-literarische Beispiele für seine Methode und auch für deren
Weiterentwicklung. Der Analyse Sebalds dienend sind in dieser Absicht selbstredend und chronologisch entsprechend das philosophische Hauptwerk Das Sein und das Nichts, insbesondere das Kapitel
Die existentielle Psychoanalyse, die autobiographische Form von Die Wörter und sodann die vielbändige Flaubertstudie, Der Idiot der Familie. In diesen Werken lässt sich ein gemeinsamer Punkt ausmachen, den auch, gleichsam stellvertretend für die Frankfurter Schule, Herbert Marcuse als zentralen
Analyseaspekt erachtet hat. Dieser dürfte Sebald, freilich unter einem anderen Gesichtspunkt, nicht
unbekannt gewesen sein:
Die traditionelle Grenze zwischen der Psychologie einerseits und der politischen und der Sozialphilosophie andererseits ist durch die Lage des heutigen Menschen unscharf geworden: ehemals autonome
und identifizierbare Prozesse sind durch die Funktion des Individuums im Staat übernommen und absorbiert worden – durch das öffentliche Dasein des Einzelnen. So wandeln sich psychologische in politische Probleme: private Verirrungen spiegeln heute in viel unmittelbarerer Weise die Verwirrung des
345
346
W.G. Sebald: Austerlitz, München und Wien 2001, S. 18 f.
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1981, S.
163 f.
64
Ganzen wider, und die Heilung persönlicher Störungen hängt viel direkter als ehedem von der Heilung
347
der Gesamtstörung ab.
Marcuse hat sich von den Vertretern der Frankfurter Schule am intensivsten 348 mit Sartres Philosophie
meinungsbildend auseinandergesetzt und sein Werk kritisch beurteilt. Horkheimer und Adorno wurden von Marcuse nur noch in ihrer überwiegenden Ablehnung bzw. kaum spürbaren Akzeptanz von
Sartres „existentialistischer“ Philosophie bestätigt bzw. nur wenig dazu ermuntert. Sebalds mangelhaft
fundierte Ablehnung des Existentialismus äussert sich unter anderem in seinem kritischen, Hans Erich
Nossack, Hermann Kasack und Alexander Kluge gewidmeten Aufsatz Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. 349
Sebald thematisiert darin die literarisch oftmals geschilderte „Schuld“, den Holocaust überlebt
zu haben. Er stellt dabei die zweiteilige These auf, „[...] daß aus der sogenannten „Bewältigung der
Vergangenheit“ ohne den Beitrag von Autoren jüdischer Provenienz [Sebald nennt Elias Canetti, Peter
Weiss und Wolfgang Hildesheimer; d. Verf.] wahrscheinlich nicht allzu viel geworden wäre.“ Dies
würde sich laut Sebald daran zeigen,
daß sich das von Nossack artikulierte Gefühl der Schuld in den Jahren nach dem Fall des 3. Reichs zunächst umgesetzt hat in eine weiterhin schicksalsgläubige Existentialphilosophie, die bemüht war, dem
„Nichts“, „durch Haltung zu begegnen“ und ihren Begriff hatte in der Kategorie persönlichen Schei350
terns, in der auch Nossack „die uns gemäße Todesart“ erblickt.
Sebald, der in philosophischer Hinsicht – wie nicht nur die Einlassung im Brief an Adorno und die
kurze zitierte Passage zur Schuldfrage schon kenntlich machen – berechtigterweise auf die Seite der
Frankfurter Schule zu schlagen ist, nimmt in dieser Analyse dennoch eine Zwischenstellung ein, die
genauer definiert sein muss. So gilt es zum einen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen
der Frankfurter Schule und der Philosophie Sartres zu benennen. 351 Zum anderen muss Sartres dem
literarischen Werk zugrunde liegende Ästhetik – wie sie Sartre exemplarisch in Der Ekel tradiert hat –
herausgestellt sein, so dass die Ergebnisse auf Sebald hin untersucht werden müssen.
Sebald scheint zentrale Themen oder auch Philosopheme (neben Zerstörung unter anderem die
Affektionen Ekel, Angst und Abgrunderfahrung betreffend) von Sartre be- und verarbeitet zu haben,
347
349
350
351
Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 7
Vgl. hierzu Herbert Marcuse: Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L`être et le néant, in: Herbert
Marcuse: Kultur und Gesellschaft, Bd.2, Frankfurt am Main 81970, S. 49-84.
W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreiung totaler Zerstörung,
in: W.G. Sebald: Campo Santo, München und Wien 2003, Herausgegeben von Sven Meyer, S. 69-100.
W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreiung totaler Zerstörung,
S. 79.
Herbert Schnädelbach hat sich bereits vor zwanzig Jahren an diese Arbeit gemacht, die aber seitdem nicht fortgeschritten zu sein scheint, sieht man von einem Versuch neueren Datums ab. Arno Münster, Verfasser einer politischen Biographie über Ernst Bloch, nimmt den Faden wieder auf. Sein Beitrag Jean-Paul Sartre und die Verantwortung des Intellektuellen in der Gesellschaft führt aus, „[...] dass Ernst Bloch, Adorno, Herbert Marcuse und
Sartre dennoch insofern wichtige theoretische Verbündete sind, als sie gemeinsam im theoretisch-politischen
Kontext der 60er und 70er Jahre Front machen nicht nur gegen den dialektischen Hyper-Empirismus eines Gurvitch, sondern auch gegen den subjektfeindlichen Strukturalismus, den logischen Positivismus des „Wiener Kreises“ (Carnap, etc.) und die angelsächsische sprachanalytische Philosophie.“ (Arno Münster: Jean-Paul Sartre und
die Verantwortung des Intellektuellen in der Gesellschaft, S. 31 f., in: Horst Müller (Hg.): Die Übergangsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Kritik, Analytik, Alternativen, Norderstedt 22007, S. 12-35.)
65
auch wenn der intertextuelle Verweis nicht zu belegen ist. Dennoch kann an einem grossen Themenkomplex der Geschichte der bibliothekarische Nachweis gebracht werden, dass Sebalds Auseinandersetzung mit seinem Vater (und Großvater) von der Lektüre Sartres Die Wörter flankiert wurde. 352 Sebalds Zwischenstellung liesse sich demnach treffend beschreiben, indem man ihn und seine aufgeworfenen Problemfelder einerseits ontologisch von Sartre her auffasst, andererseits ihm den – sich selbst
und die Gesellschaft – reflektierenden Blick der Frankfurter Schule unterstellt.
Nun sieht man sich noch einem letzten Problem gegenüber, nämlich der biographischen Faktenund Datenlage. Sie wäre zu berücksichtigen ob der Frage, wie Sebalds verschriftlichtes Leben im Werk
angemessen analysiert werden kann. Allerdings ist sie als noch nicht vorhanden zu beziffern, angesichts eines Lebens, von dem öffentlich zugänglich gemacht nur wenige Kenntnisse vorliegen. Die
wenigen Kenntnisse, vor allem aus Interviews, müssen dazu dienen, aus dem literaturwissenschaftlichen und schriftstellerischen Werk heraus eine möglichst plausible Analyse anzusteuern, die den oftmaligen, zum Teil dreifachpotenzierten Erzähler aus den Prosawerken 353 mit dem Autor der literaturwissenschaftlichen Arbeiten identifiziert und vice versa. Chronologisch ist diese Form durchaus gerechtfertigt. Am Anfang der Universitätskarriere Sebalds steht nämlich zum einen der unerfüllt gebliebene Wunsch einer frühen Publikation seines autobiographischen Romans und zum anderen der kurze,
Sebald frustrierende Zwischenstopp als Lehrer in einer privaten Institution in St. Gallen, dem Rosenberg-Internat. Es ist wohl anzunehmen, dass die Nichterfüllung der gehegten Hoffnungen umso mehr
den Weg einer zunächst wissenschaftlichen Laufbahn begründen bzw. rechtfertigen musste, wie auch
der dringliche Brief an Adorno vom 14. Dezember 1968 anzunehmen nahe legt.
Das würde auch die irritierende Divergenz bezeugen, wonach nämlich das prioritäre, subjektive
Befinden Sebalds dem allgemein-politischen Klima während der Studentenunruhen in Frankfurt und
anderswo scheinbar ungeachtet vorangestellt wird. Während mit studentischer Wut der Disput zwischen Theorie und Praxis gegen Adorno und Horkheimer vorangetrieben wird, schlägt Sebald den
Weg der Theorie ein, isoliert und gerade so, „als habe Sebald in jenen ereignisreichen Tagen jede Zeitungslektüre verweigert“, oder als „lebte [er] auf dem einsamen Eiland seiner privaten Sorgen und
Nöte.“ 354 So liessen sich die beiden Wünsche – nach existenzsicherndem Ruhm und wissenschaftlicher Reputation – als komplementäre Antriebswege verstehen, aus denen heraus die dort jeweilige
gemachte Lebenserfahrung beiden Disziplinen zugute kommen konnte. Der ästhetische Weg war allerdings noch nicht eingeschlagen, er sollte vielmehr über erste Lyrikpublikationen in der österreichischen Literaturzeitschrift Manuskripte angedacht werden.
Die Analyse muss demnach davon ausgehen, dass Sebalds Gesamt-Werk nicht einem unbewussten Trieb oder einer frühen kindlichen Traumatisierung geschuldet ist, sondern seinem eigenwilligen
Streben nach einer kommensurablen allgemeinen Welt, in die hinein er sich seit Kindestagen unverschuldet versetzt fühlt. Wie die Kindheit bis ins Gesamt-Werk ihre Spuren hinterlässt, muss anhand
der autobiographischen Tendenz seines Schreibens eruiert werden. Die Tendenz ist sodann rückge-
352
353
354
W.G. Sebalds Ausgabe in der ins Deutsche Literaturarchiv Marbach übergegangenen Arbeitsbibliothek weist
zahlreiche Spuren einer intensiven Lektüre auf. So weit mir der Einblick offen war, ist Sartres Die Wörter das
einzige Werk von ihm, das sich im Besitz Sebalds befand.
Das heißt, wenn der Erzähler1 dasjenige Gehörte vom Erzähler2 , der wiederum etwas über den Erzähler3 zu berichten weiß, vermittelt bekommt, dem Leser mitteilt.
Vgl. allgemein zum Briefwechsel zwischen Sebald und Adorno: Marcel Atze und Sven Meyer: „Unsere Korrespondenz“. Zum Briefwechsel zwischen W.G. Sebald und Theodor W. Adorno, S. 32, in: Atze, Marcel und Loquai,
Franz (Hg.): Sebald. Lektüren., S. 17-38.
66
koppelt an die eigenen Motive Sebalds, Literaturwissenschaftler und Prosaist gleichermassen zu sein.
Darin liegt die etwas schwer durchführbare Trennung der beiden Disziplinen, so dass sich unvermeidlich im literaturwissenschaftlichen Werk Prosaisches und im Prosawerk Literaturwissenschaftliches
findet. Diese gezielt vorgenommene Komplementierung dient vor allem dazu, eine ästhetisch betriebene Annäherung des Subjekts an die allgemeingültige „Wahrheit“ zu gewährleisten.
2.1 Analyse des literaturwissenschaftlichen Werks
Sebalds literaturwissenschaftliches Arbeiten beginnt über einen zur damaligen Zeit wieder vielgeachteten und wiederentdeckten Autor, Carl Sternheim, dem Sebald zufolge ungerechtfertigter weise „eine
Ehrenloge in der deutschen Literaturgeschichte eingerichtet wurde.“ 355 Ein anderer Schriftsteller, der
durch Sebald seines Thrones enthoben werden wird, ist der Schriftsteller und spätere Arzt Alfred Döblin 356 . Der dritte namhafte Autor im Bunde, dessen Leben und Werk durch Sebald einer strengen Kritik – wie auch bei den beiden erst genannten vor allem ob ihrer ästhetisch-ethischen, politischen Haltung – unterzogen wird, ist Alfred Andersch. Der Aufsatz zu Andersch, abgedruckt in Luftkrieg und
Literatur, fällt in das späte literaturwissenschaftliche Schaffen Sebalds. Das Urteil über ihn dient somit
auch zur Überprüfung einer etwaigen Sebaldschen Kontinuität vom frühen bis zum späten literaturkritischen Werk.
Mit den drei benannten Schriftstellern ist ein Schwerpunkt erkennbar, der vor allem auf negative, ablehnende Kritik Sebalds an den Protagonisten gerichtet ist. Sebald affirmiert aber umso mehr
zahlreiche randständige Schriftsteller des deutschsprachigen Raums, so zum Beispiel die von ihm verehrten Schriftsteller Robert Walser und Gottfried Keller. Als zweiter Schwerpunkt muss demnach
Sebalds literaturwissenschaftliches Arbeiten untersucht werden, das den Randständigen Autoren ein
Wohlwollen entgegenbringt, eine positive Bewertung nicht nur des Werks, sondern auch des jeweiligen Menschen. Insbesondere an diesen Menschen, der Leben und Werk extrapoliert Sebald seine metaphysischen Konzepte. Die metaphysischen Konzepte wiederum sind Ausdruck auf die Frage nach
der Sinn- und Bedeutsamkeit von „Welt“. Sie finden vor allem in Sebalds Prosa Eingang.
2.1.1 Falsches Bewusstsein und Verhalten
Die zwei Haltungen sind nicht weiter fragwürdig, suspekt scheint eher der Umstand, dass der eine,
Robert Walser nämlich, aufgrund seines Anstaltsrefugiums keine abwertende Würdigung erfährt, während dem anderen, Carl Sternheim zum Beispiel, trotz seiner verschiedentlichen Geisteserkrankungen
eine eindrucksvolle Abneigung durch Sebald zu teil wird. Die kurze briefliche Korrespondenz mit
Adorno liesse nämlich durchaus eine etwas gemässigtere Kritik an Sternheim zu, gerade auch „[...]
nach allem, was [er ] aus [Adornos], Horkheimers und Marcuses Büchern und Aufsätzen gelernt ha355
356
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 12.
Reinbert Tabbert, der frühere Kollege und Freund Sebalds zu Beginn ihrer gemeinsamen Lektorentätigkeit an der
Universität Manchester 1967, äußerte in einem Brief an mich, dass Sebald die Dissertation über Döblin „eine
Last“ gewesen sei. Herrn Dr. Tabbert bin ich herzlichen Dank für seine wertvollen Hinweise schuldig. Sebald gibt
anlässlich der Alfred-Döblin-Kolloquien (W.G. Sebald: Alfred Döblin oder die politische Unzuverlässigkeit des
bürgerlichen Literaten, in: Werner Stauffacher (Hg.): Internationale Alfred-Döblin-Kolloquien 1980-1983, Bern,
Frankfurt am Main, New York 1986, S. 133-139. (= Jahrbuch für Internationale Germanistik: Reihe A, Kongressberichte; Bd. 14)) unumwunden zu, dass es ihm auch später nicht gelungen sei, sich Döblin wohlwollend anzunähern bzw. gar seine Meinung über ihn zu revidieren. (Vgl. ebenda, S. 133.)
67
be.“ 357 Adorno gibt in seiner Antwort auf Sebalds „bescheidene Frage [warum Adorno ihn in den Minima Moralia „in einem für ihn ehrvollen Zusammenhang“ erwähnt; d. Verf.]“, 358 zu bedenken, dass
der Ausfall Sternheims gegen Proust als Stellvertreter des „verkommenen Judentums in Frankreich“ 359
„[...] allerdings so scheußlich [ist], daß man ihn nun wirklich nur dem bereits geistig erkrankten Sternheim [...] zuschreiben möchte [...].“ 360
In den einleitenden Worten seiner 1969 publizierten Magisterarbeit über Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära, stellt Sebald ein von Samuel Beckett entnommenes Zitat voran, das als ein den Literaturwissenschaftler Sebald leitendes Motto in den folgenden drei Jahrzehnten
konzentrierten Arbeitens erachtet werden muss. „For once on the first floor Watt lost sight of the
ground floor, and interest in the ground floor. This was indeed a merciful coincidence, was it not, that
at the moment of Watt`s losing sight of the ground floor, he lost interest in it also.” 361 Hier trifft nicht
nur Beckett die Ironie und somit die Kehrseite der Melancholie, die auch Sebald eigen waren. Sondern
er benennt auch die irratoniale und weitgreifende, mal nützliche, weil lebensdienliche (weisse oder
helle), mal schadende, weil lebensschädliche (schwarze oder dunkle) Koinzidenz, die zumindest hilfreich erklären soll, was nicht zu erklären ist. Bei Sternheim wie auch bei allen anderen Schriftstellern
wendet Sebald das für ihn fundamental zeichnende schwarz-weiße Deutungsmuster an. „Sternheim“,
so Sebald,
als ein Symptom seiner Zeit, [...] kritisiert die spätbürgerliche Welt. Und er verherrlicht sie, indem er
das als negativ [E]rkannte unvermittelt hypostasiert und behauptet, jetzt sei es etwas Positives. Diese
Koinzidenz von Abscheu und Bewunderung erklärt sich meiner Ansicht nach einzig aus dem Phänomen
der Assimilation, das bei Sternheim durchaus pathologische Formen ang[e]nommen hat.
362
Sebald wird an Beckett festhalten, ihm treu bleiben und unter anderem auch ihm in Unerzählt, Resultat eines langjährigen Gemeinschaftsprojekts mit seinem Freund Jan Peter Tripp, seine hintersinnige
Reverenz erweisen:
Er wird Dich
bedecken mit
seinem Gefieder
&
unter seinem
Flügel dann
363
ruhest Du aus.
357
358
359
360
361
362
363
W.G. Sebald an Adorno im Brief vom 24. April 1967. Vgl. W.G. Sebald – Theodor W. Adorno: Briefwechsel
(1967/1968), S. 12, in: Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren., Eggingen 2005, S. 12-16.
W.G. Sebald an Adorno im Brief vom 24. April 1967. Vgl. ebenda, S. 12.
Carl Sternheim, zit. nach ebenda.
Adorno an Sebald im Brief vom 28. April 1967. Vgl. ebenda, S. 14.
Samuel Beckett, zit. nach W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 12.
W.G. Sebald an Adorno im Brief vom 24. April 1967. Vgl. W.G. Sebald – Theodor W. Adorno: Briefwechsel
(1967/1968), S. 12, in: Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren.
W.G. Sebald und Jan Peter Tripp: Unerzählt. 33 Texte und 33 Radierungen, München/Wien 2003, S. 67.
68
Ein weiterer, ihn ab der Sternheimarbeit und auch in Zukunft leitender Gedanke, erfolgt durch die
Antizipation der Forderung Horkheimers, dass „“gegenwärtig [...] bestimmte Grundeinsichten in das
Wesen der Gesellschaft [...] bedeutsamer sind als der Besitz oder Nichtbesitz ausgedehntester Spezialkenntnisse“.“ 364 Hierin gründet Sebalds Entscheid zu einer die ausschliessliche Werkimmanenz ins
Hinterlicht verdrängenden Methode der sozialgeschichtlichen, psychologischen, mithin biographischen Analyse von Werk und Leben seiner Protagonisten.
Leben und Werk sind derart aufeinander bezogen, dass „falsches“ Bewusstsein bedingt zu inadäquatem Verhalten führt. Die Kritik an Sternheim, Döblin und Andersch führt die exemplarisch vor.
So spricht Sebald von Sternheim auch als Täter und Opfer. Fraglich wird dieses Konzept als generalisierendes Urteil. Sebald zählt nämlich mit Andersch auch Heinrich Böll zu denjenigen deutschen Autoren, die einer adäquaten, ästhetisch-ethischen Beschreibung der Rolle Deutschlands vor, während
und nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht fähig waren. Insbesondere der, wie Sebald reklamierte, quasi
schon mehrmalige Wiederaufbau Deutschlands unterlag einer Einebnung all dessen, was an die Untaten erinnerte. Durch die fehlende oder falsche Erinnerung, sowohl an die Untaten als auch an die erlebte Niederlage, parallelisiert Sebald vor allem in Luftkrieg und Literatur provokativ die Deutschen
als Täter und Opfer. 365
Die historische Kontinuität von Carl Sternheim bis hin zu den nächsten Nachkriegsgenerationen
ist frappant. Sebald müht sich, das pauschale Urteil falschen Bewusstseins und Verhaltens bei ausgewählten Autoren auf das heutige Deutschland zu übertragen. Dieser Versuch birgt logische Fehlschlüsse und wird jenen nicht gerecht, die „guten Willens“, unter anderem aufgrund der Leseerfahrung
durch Böll und Andersch, ebenso versucht haben, sich der Wahrheit anzunähern.
2.1.2
Sebalds „Finte“
An dieser Stelle muss eine prosaische ,Finte` in Sebalds literaturwissenschaftlichem Schaffen benannt
werden, die nicht von seiner Biographie abgelöst betrachtet werden kann, andererseits aber auch nicht
strikt der Literaturwissenschaft zuzurechnen ist. Vielmehr äußert sich darin die bedeutungsoffene Situation Sebalds wider, dies vor allem ob Sebalds geschichtswissenschaftlicher Sozialisation. Somit
dürfte ein Tribut anderer Art, – nämlich biographischer Natur und zugleich koinzidierte Intention Sebalds –, anzunehmen sein, den Sebald seit seiner Zeit als freiwilliger England-Emigrant Max Horkheimer zollt.
Der historische Rahmen ist dabei klar umrissen. Adornos Minima Moralia wurde ihm, Horkheimer, dem eigentlich hinzu zuziehenden, aber durch die Wirrnissee des Zweiten Weltkrieges verhinderten Co-Autoren, gewidmet. „Für Max als Dank und Versprechen“ 366 , heisst es eingangs, und nun
sofort kritisch werdend, „die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit
deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und
364
365
366
Max Horkheimer, zit. nach W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 20.
Vgl. zu dieser nur am Rande erwähnten Debatte den Aufsatz von Ingo Wintermeyer: „... kaum eine Schmerzensspur hinterlassen ...“?. Luftkrieg, Literatur und „cordon sanitaire“, in: Sigurd Martin und Ingo Wintermeyer
(Hg.): Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds, Würzburg 2007, S. 137-161.
Theodor W. Adorno: Minima Moralia, S. 12.
69
am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben.“ 367 Es liegt nur allzu nahe, dass
Sebald diesen Freundesdienst Adornos an Max Horkheimer dankenswerterweise ummünzte in seine
eigenwillig durchgeführte Änderung des nun prononcierten Rufnamens Max. Maximilian war ursprünglich sein dritter Vorname.
Das väterlicherseits vererbte Namenspaar Winfried Georg degradiert Sebald zu den wenig verräterischen Initialen W.G., für seine Freunde und Kollegen hingegen ist er nun einfach: Max. Max wird
nun im mehrdeutigen Sinn „aufgehoben“ sein (nicht zuletzt in Sebald selbst), eine lebende Erinnerung
am von Adorno gespendeten Dank und Versprechen auf dem Weg zur zusammengehörigen Ethik und
Ästhetik, demnach bis zu Sebalds Unfalltod zu einer von Adorno eindrücklich eingeforderten und geklagten „Lehre vom richtigen Leben“. Max, diese einerseits ihm schon von Geburt an eingeschriebene, andererseits selbstbewusst-prononcierte, umgeschriebene Namensgebung, das wird zugleich,
wie Mark M. Anderson feststellte, 368 eine Volte gegen das Elternhaus sein – wohl vor allem gegen
seinen Vater – das er nun als Max für drei Jahrzehnte nicht mehr besuchen wird.
Max, auch dies eine weitere, sein ganzes Leben klammernde Koinzidenz von der Namensgebung an bis hin zum Schluss von Austerlitz, das ist auch der Tribut an eine reale Person, die zum selben Zeitpunkt verschwindet, als – man denke an die Figur der „Wiederkehr der Toten“ - W.G. Sebald
geboren wurde. Es handelt sich hierbei um Max Stern aus Paris, der durch „deutsche Hand“ nach
Kaunas und dort ums Leben kam und der uns, gemeinsam mit anderen Gefangenen, „in die kalte
Kalkwand des Bunkers geritzt“, „bloß ein Datum und eine Ortsangabe mit ihren Namen“ hinterließ:
„Lob, Marcel, de St. Nazaire; Wechsler, Abram, de Limoges; Max Stern, Paris, 18.5.1944.“ 369 Eine
letzte Namenskoinzidenz: Max, als Kurzform des Rufnamens Maximilians, tritt in Austerlitz über dies
als Vater von Austerlitz auf, dessen Fluchtgeschichte von ihm nur mutgemaßt wird.
Schon vor Austerlitz, in der vierten langen Erzählung in Die Ausgewanderten, spielt Sebald mit
dem Datum, das an seine Geburt fast punktgenau heranreicht. Es handelt sich um die Bildunterschrift
eines Passepartouts von Mrs. Irlam, das vom Erzähler auf den 17. Mai 1944 datiert geschildert wird
und Mrs. Irlam als junges Mädchen bei der Heilsarmee zeigen soll, als er, von der Schweiz kommend,
soeben und auf unbestimmte Zeit zu Forschungsarbeiten im Hotel Arosa in Manchester abgestiegen
ist. Die vierte Erzählung ist demnach stark biographisch eingefärbt, so dass auch hier diese Koinzidenz
von Sebald ganz darauf ausgerichtet zu sein scheint auf eine bedeutungstragende bzw. sinnstiftende
Metaphysik.
367
368
369
Theodor W. Adorno: Minima Moralia, S. 13.
Mark M. Anderson: Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind. W.G. Sebalds Dilemma der zwei Väter. Biographische Skizzen zu einem Portrait des Dichters als junger Mann, S. 35, in: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen 7/8 2006, S. 32-39.
W.G. Sebald: Austerlitz, München und Wien 2001, S. 417. Für die Richtigkeit dieser drei Lebensjahrzehnte umspannenden Klammer spricht, dass laut Franz Loquai Sebald seine Quelle – einzusehen in Sebalds Arbeitsbibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach –, die die entsprechende Passage ausweist, „durch drei dicke Randstriche rechts der Datumsangabe markiert“ hat. (Vgl. hierzu Franz Loquai: Vom Beinhaus der Geschichte ins wiedergefundene Paradies. Zu Werk und Poetik W.G. Sebalds, S. 254, in: Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren., S. 244-256.) Beachtenswert ist die reflexive Verfassung und Gespanntheit Sebalds, der über drei
Jahrzehnte seinen Hang bzw. seine selbstgewählte Koinzidenz oder auch Verwandtschaft zu Max kultiviert hat.
Frappant ist auch der Ort: Paris, zugleich Wirkungsstätte Benjamins (und seines Passagenwerks); Benjamin, der
auf der Flucht über die Pyrenäen auch die Nähe zum Inhaftierungslager Gurs, einem weiteren reellen Handlungsort aus Austerlitz, fürchten musste.
70
Erhärtet wird die angenommene biographische Relevanz des Datums, und überhaupt von Frau Irlam,
gleichsam seiner Erretterin, durch die anschliessenden, die „Selbstmordgeschichten“ ins rechte Licht
rückenden Erwägungen des Erzählers im jungen Erwachsenenalter:
Darum vielleicht ist es mir, im Zurückdenken an die Zeit meiner Ankunft in Manchester, mehrfach so
gewesen, als sei der von Mrs. Irlam, von Gracie – You must call me Gracie, hatte sie gesagt –, als sei
der von Gracie mir auf mein Zimmer gebrachte Teeapparat, dieses ebenso dienstfertige wie absonderliche Gerät, es gewesen, das mich durch sein nächtliches Leuchten, sein leises Sprudeln am Morgen und
durch sein bloßes Dastehen untertags am Leben festhalten ließ damals, als ich mich, umfangen, wie ich
war, von einem mir unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit, sehr leicht aus dem Leben hätte ent370
fernen können.
Nicht genug, erfährt der Protagonist der letzten langen Erzählung, Max Ferber, eine ähnlich
koinzidierte Errettung wie der Erzähler. „Am 17. Mai [1939; der Verf.]“, so schildert Ferber
seine zwar wohlgeordnete, ohne die Eltern aber äußerst dramatisch anfühlende Exilierung von
Oberwiesenfeld aus, „dem fünfzigsten Geburtstag meiner Mutter [Luisa Lanzberg, der, auf
historischen Daten fußend, die letzte Sequenz in der vierten langen Erzählung gewidmet ist; d.
Verf.], brachten die Eltern mich auf den Flughafen hinaus.“ 371 Sebald gibt der grund- und
sinnlosen Existenz also Bedeutung, indem er im besten Sinne Metaphysik betreibt: Max Ferber, der Maler und die mehr oder weniger authentischen und identitätschangierenden Erzähler- und Autor-Ichs, dürfen alle um den 17. Mai herum auf ihre und vor allem durch Frauen –
der Topos des Mutter-Komplexes wäre nichts Fremdes in Sebalds psychologisch geschultem
Repertoire – bewogene Errettung aus misslichen und unverschuldeten Lebens-Lagen zählen.
Sie erleben sozusagen eine vorläufige, das heisst fragile, mit der Geburt des Autors nahezu
perfekt überlagerte und erfolgreich transzendierte Wiedergeburt. Die Notwendigkeit der Existenz ist damit nicht ausgesagt, die Kontingenz des Daseins schon –und gerade darauf antwortet Sebald unter anderem mit Schwindelgefühl und Ekelevokationen im Sinne von Sartres
Roman Der Ekel.
Sebald hat, diesen Überlegungen zufolge, schon am Anfang seiner akademischen Karriere eine
biographische, nicht nur mit der Vergangenheit des Vaters, sondern auch mit existentiellen Belastungen komprimierte Spur umgewandelt. Diese über 30 Jahre hinweg währende Fährte über das auf seine
nahende Geburt datierte Bild Mrs. Irlams einerseits und im weiteren durch die Heranziehung der realen Person Max Sterns andererseits, kann oder muss letztlich als nochmals bekräftigt aufgefasst werden. Seine Vergangenheit, seine Abstammung machte er für sich derart ertragbar und für die Zukunft
machte er sich diese Umwandlung ethisch-ästhetisch fruchtbar.
Dies geschah unter anderem dadurch – bittere Ironie der Geschichte –, indem Sebald auf eine
glückliche Koinzidenz zurückgreifen konnte, deren Entlehnung aber, nämlich die eigenmächtige Namensgebung Max, nicht weniger komprimitierend sein dürfte, konnte Adorno doch nur aufgrund des
Zweiten Weltkrieges Horkheimer Minima Moralia widmen. Sicher, Sebald wähnt sich auf der richtigen Seite, um im weiteren Verlauf seine ins Werk gesetzte Koinzidenz, nämlich den Opfern gebührend, zu rechtfertigen. Gerade dadurch wird auch die Dialektik der Geschichte bzw. der Aufklärung
erfahrbar. Wohin diese uns führen soll und kann, bleibt dennoch in Frage stehend. Prekär wird das
370
371
W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 224 ff.
Ebenda, S. 279.
71
Opfer-Täter-Verhältnis dann, wenn man wie Sartre von der absoluten Freiheit des Individuums ausgeht.
2.1.3 „Lehre vom richtigen Leben“
An dieser frühen Stelle lässt sich wohl auch ein weiterer wichtiger biographisch motivierter Entscheid
Sebalds ablesen, der während des Studiums in Freiburg im Breisgau gereift zu sein scheint. Indem
Adorno sich von den benannten Fehlleistungen der Philosophie abkehrt, nimmt Sebald gerne auch
dessen Position ein – und wendet sich nun zwar auch „der Lehre vom richtigen Leben“ zu, aber dies
mittels der Literatur und deren fiktionalisierenden und methodischen, das heisst vor allem intertextuelle Chancen nutzenden Instrumenten.
Die „Lehre vom richtigen Leben“, das heißt mit Marcuses Worten auch, den je „richtigen“ Blick
auf die „Wirklichkeit des Menschen“ gerichtet zu wissen wollen. Welche Konsequenzen ziehen Sartre
und Frankfurter Schule daraus? Sartre, und das sieht auch Marcuse korrekt, interpretiert die Wirklichkeit des Menschen im Hinblick auf seine absolute, individuelle und unmittelbare, unhintergehbare
Freiheit. Er zieht sehr wohl in Betracht, dass der Mensch auch gesellschaftlich bedingt ist, in seiner
soziologischen Konstituierung geradezu auf den Anderen angewiesen ist. Er betont aber doch die individuelle Möglichkeit des Menschen, sich – zumindest im Für-sich-Sein – wie auch immer zu diesen
Bedingungen frei und also in einer Wahl sich äussernd, verhalten zu können. Marcuse indes bezweifelt
diese absolute Freiheit, indem er betont, dass ein konkret versklavter Mensch eben nur dieses – unfrei
– ist, nicht mehr und nicht weniger. Darum sieht Marcuse in der Affirmation dieser so verstandenen,
persönlichen Freiheit den Sartreschen „Punkt der Selbstabdankung erreicht“, denn die bis heute andauernde Vertreibung des Menschen, die Gewaltakte gegen die Menschen und schliesslich: „die Verfolgung der Juden und „die Zangen des Henkers“ sind der Terror, der die Welt heute ist, sie sind die
brutale Wirklichkeit der Unfreiheit.“ 372
Sebald stimmt mit Marcuse darüber ein, wenn er bei Carl Sternheim dessen Rede von der „eigenen Nuance“ nur als „Surrogat“ verstanden wissen will „im Prozeß des Zerfalls der Werte.“ 373 „Das
Prinzip eines sich immer mehr verselbständigenden, unbedingten Individualismus“, laut Sebald der
Katalysator dieses Zerfallprozesses, „erscheint in Sternheims Idee von der „eigenen Nuance“ als der
neue Wert.“ Diese Idee umzusetzen versteht Sebald bei Sternheim gewissermassen als „Selbstbefreiung“. 374 „Jedermann, so geht der Tenor der Sternheimschen Theorie, kann seine eigene Situation
transzendieren, seinen eigenen Entwurf ausführen, jedermann hat seine freie Wahl. Wie ungünstig die
Bedingungen auch sein mögen, der Mensch muß sie hinnehmen [...] und aus dem Zwang seine Selbstverwirklichung machen.“ 375 Sebald wirft demnach das erkenntnistheoretische und moralphilosophische Problem dieser Verwirklichungstendenz eines jeden Individuums ähnlich wie Marcuse und Adorno auf. Seine deutlich zu vernehmende Abneigung gegen Sternheims „Theorie“ ist hier als Reflex
zu verstehen, der von seiner an der Universität Freiburg im Breisgau langgehegten Aversion gegen
Heidegger, und im weiteren auch gegen die „existentialistische“ Philosophie, herrührt. Mit Adorno
teilt er dessen Aversion, wie folgendes Verdikt zeigt: „Lehrt der Existentialismus mehr als solche Tau-
372
373
374
375
Herbert Marcuse: Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L`être et le néant, S. 65.
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 43.
Ebenda.
Ebenda, S. 44.
72
tologie [von der determinierten Wahl der feien Wahl; d. Verf.], so macht er sich gemein mit der für
sich seienden Subjektivität als dem allein Substantiellen.“ 376
„Eine Freiheit jedoch“, so Sebald, „die sich aus dem Opfer der Vernunft oder des Lebens ergibt,
kann nicht mehr als das verstanden werden, was die Energie diese Wortes beinhaltet, denn beide Alternativen, aus denen sie derart sich herstellt, zerstören die Wirklichkeit des Menschen: seine Existenz.“ 377 Bei Adorno nicht anders: „Die Vorstellung absoluter Freiheit zur Entscheidung ist so illusionär wie je die vom absoluten Ich, das die Welt aus sich heraus entlässt.“ 378 Das Problem haben Sebald
und Adorno, unabhängig davon, ob es auf Sternheim zutreffen mag oder nicht, richtig erkannt, doch
eine befriedigende Antwort darauf bleibt aus. Die Notwendigkeit zu einer „faschistischen Ideologie“,
die Sebald bei Sternheim sieht, ist nicht unbedingt gegeben, ebenso wenig muss die Feststellung zutreffend sein, „daß sich eine so verstandene Freiheit vorwiegend in Form von Brutalitäten und in einem Jargon äußert, der dem nazistischen im voraus schon verpflichtet ist.“ 379
Lassen sich die „eigene Nuance“ Sternheims und die „freie Wahl“ Sartres grosso modo auf einen Nenner bringen, sich nämlich auf etwas hin transzendieren zu können, was man nicht ist und auch
nie sein kann, so kann doch allgemein nur das Scheitern jedweden Versuchs festgestellt werden. Die
Bewertung dieses lebensalltäglich oder künstlerisch umgesetzten Versuchs, ob gemäss der „Lehre vom
richtigen Leben“ falsch oder richtig, gelungen oder nicht, ob wider die Vernunft oder mit ihr, muss –
und das ist das provokante Moment in Sartres Philosophie und Sebald zufolge wohl auch in Sternheims Werk – von Mal zu Mal aufs neue und konfliktbehaftet ausgehandelt werden. Für Adorno hingegen nicht, denn, so die Polemik: „Der Existentialismus befördert das Unvermeidliche, das bloße
Dasein der Menschen, zu einer Gesinnung, die der einzelne wählen soll ohne Bestimmungsgrund der
Wahl, und ohne daß er eigentlich eine andere Wahl hätte.“ 380
Herbert Schnädelbach bedauert, dass es zu Lebzeiten Sartres und Adornos nie einen Dialog gab.
In Sartre. Ein Kongreß geht er dem Verhältnis tastend nach und versucht, „eine philosophische Beziehung“ zwischen der „Tradition kritischer Theorie im Umkreis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung“ und Sartre herzustellen. 381 Herbert Marcuse betont zu Recht in seiner Analyse von Das Sein
und das Nichts den Wert des Werks als ein „Traktat über menschliche Freiheit“. 382 Doch „die Tatsache, daß Sartres Darstellung ontologisch korrekt und eine altehrwürdige Gestalt des Idealismus ist,
akzentuiert nur die Ferne dieser Philosophie von der „Wirklichkeit des Menschen“.“ 383 Hier wird
Schnädelbachs Einwand verständlich, der den Blick auf die „Wirklichkeit des Menschen“ gar nicht so
divergent erachtet, wie es Marcuses Argumentation nahe zu legen scheint.
Wichtig erscheint der Ausgangspunkt, der die Bedingungen der intersubjektiven, konfliktbehafteten Sozialpsychologie erhellen hilft. Der Ausgangspunkt liegt nämlich im Subjektiven und so stellt
Schnädelbach treffend die Frage,
376
377
378
379
380
381
382
383
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 60.
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 44.
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 60.
W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 434.
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 60.
Vgl. Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule, S. 13, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 13-35.
Herbert Marcuse: Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L`être et le néant, S. 65.
Ebenda.
73
ob man sich nicht auch aus anthropologischen Gründen mit dem „unglücklichen Bewußtsein“ identifizieren und mit Sartre sein Unglück als die notwendige Bedingung seiner Bewusstheit, seines Tätigeins
und seiner Freiheit begreifen sollte. Dies liefe deswegen nicht auf eine Anthropologisierung der gesellschaftlich induzierten Entfremdung hinaus, weil nur ein Wesen mit jener existentiellen Grundstruktur
384
des Für-sich-seins und des Über-sich-hinaus-seins die Erfahrung von Entfremdung machen kann.
Zumindest Sebalds unvermeidbar unbefriedigende Antwort liegt demnach im Kern der Sache, aber
auch im starken Drang, überhaupt auf eine selektive Wertung zu bestehen. Es kommt nun hinzu, dass
Sebald diese nicht ausschliesslich literaturwissenschaftliche Wertung ja selbst vermitteln will. Seinem
Wunsch folgend, ebenfalls als Autor von Prosa und Lyrik sich etablieren zu können, sieht er vor allem
darin jenes Moment gegeben, seine „eigene Nuance“ auf die Vermittlung „der Lehre vom richtigen
Leben“ zu verwenden. Dieser Vermittlungsprozess aus den Lebenserfahrungen einerseits, aus den
gewonnenen Einsichten der literaturwissenschaftlichen Arbeit – aufgrund seines geisteswissenschaftlichen Hintergrundes – andererseits, ist nun die eigentliche Antwort Sebalds, welche sich in den erzählerischen Werken manifestiert. Über diese Werke erst kann sich der Erfolg seiner literaturwissenschaftlichen Detailarbeit einstellen, erst mit ihm wird Sebald Ruhm und Anerkennung zuteil, der ihm
als Wissenschaftler versagt geblieben wäre.
2.2 Analyse des schriftstellerischen Werks
2.2.1 Schwindel, Ekel: eine Grundstimmung
Der den Ekel vor der sinnlosen Existenz beschwörende Abgrund, wie am Ende vom zweiten Kapitel in
1.1 angedeutet wurde, scheint sich in offensichtlich in Sebalds Werk durchgehend aufzutun. Er wird
wiederholt von Sebald inszeniert, wie ein scheinbar belangloser und eine Reise ans Meer einleitender
Satz in der dritten Erzählung in Die Ausgewanderten nahe legt: „Tatsächlich konnte man draußen
meinen, es sei am Nachtwerden, so tintenschwarz und so tief hing der Himmel herab.“ 385 Der Höhepunkt der Reise wird von Onkel Kasimir beschlossen. Dieser „blieb stehen und schaute auf das Meer
hinaus. Das ist der Rand der Finsternis, sagte er. Und wirklich schien es, als sei hinter uns das Festland
versunken [...].“ 386
Sebalds Art und Weise, das Grauen und das Abgrundhafte, die sowohl mit dem Erleben des
Schwindels als auch mit dem des Ekels einhergehen, ästhetisch erfahrbar zu machen, wird die Verwendung von Bildern – einerseits von schwarz-weissen Fotographien und andererseits von hellen und
dunklen „Bild-Wörtern“, gemäss Sartres Charakterisierung des sie generierenden Künstlers bzw.
Dichters – sein. Als eindrückliche Steigerung des unmittelbaren und ekelerregenden Gewahrens der
bodenlosen Tiefe wird von Sebald dem Leser das Erlebnis des Malers Max Ferber (Koinzidenz hin
oder her) vor Augen geführt, als dieser, der Protagonist der vierten langen Erzählung in Die Ausgewanderten, sich auf einer seiner wenigen Reisen seit seiner Jugendjahre in die Schweiz befindet, um
die ihm
bei der Malerarbeit so oft vorschwebenden Isenheimer Bilder Grünwalds und insbesondere das von der
Grablegung in Wirklichkeit zu sehen [...]. Dabei begriff ich allmählich, auf die durchbohrten Leiber
384
385
386
Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule, S. 29.
W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 125 f.
Ebenda, S. 129.
74
schauend und auf die vor Gram wie Schilfrohr durchgebeugten Körper der Zeugen der Hinrichtung, daß
an einem bestimmten Grad der Schmerz seine eigene Bedingung, das Bewußtsein, aufhebt und somit
sich selbst, vielleicht – wir wissen sehr wenig darüber. Fest steht hingegen, daß das seelische Leiden
praktisch unendlich ist. Wenn man glaubt, die letzte Grenze erreicht zu haben, gibt es immer noch wei387
tere Qualen. Man fällt von Abgrund zu Abgrund.
Nach einer längeren, wiederum offensichtlich biographisch eingefärbten Ausführung Sebalds, kommt
sodann einmal mehr die Rede auf Ferber und seine in München zugebrachte Kindheit um das Jahr
1933 herum. Weiter als bis zum neunten Lebensjahr, so Ferber, würden seine Erinnerungen nicht zurückreichen, was wohl „mit dieser Einbuße oder Verschüttung der Sprache zusammen[hängt]“. Selbst
von der Zeit danach sei ihm „kaum etwas anderes erinnerlich [...] als die Prozessionen, Umzüge und
Paraden, zu denen es offenbar immer einen Anlaß gegeben hat.“ Als staunender Beiwohner dieser
Szenen, „es war, als entfalte sich unmittelbar vor den Augen der Zuschauer eine neue Menschenart
nach der andern“, überkam Ferber eine zutiefst reichende, existentielle Erfahrung, als er sich nämlich,
als der vermeintlich Andere und Jude, der er war, sich ausgeschlossen fühlen musste aus diesem
kommenden, neuen Menschenverbund der Blut-und-Boden-Mythologie. „Gleichermaßen erfüllt von
Bewunderung, Zorn, Sehnsucht und Ekel, habe ich zunächst als Kind und dann als Heranwachsender
stumm in der je nachdem jubelnden oder von Ehrfurcht ergriffenen Menge gestanden und meine Unzugehörigkeit als eine Schande empfunden.“ 388
„Ekel“, so charakterisiert ihn Winfried Menninghaus sehr zutreffend, „heißt eine der heftigsten
Affektionen des menschlichen Wahrnehmungssystems. [...] Er ist ein Alarm- und Ausnahmezustand,
eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und
Kampf, in dem es buchstäblich um Sein oder Nicht-Sein geht.“ 389
In Austerlitz wird Sebald den gleichnamigen Erzähler sinnbringende Einlassungen Maries schildern lassen, wie der Ekel sich steigern lässt „[...] in eine regelrechte medizinisch-diagnostische Wortkoloratur hinein [...].“ 390 Marie und er verbringen gemeinsame Tage in Marienbad und Austerlitz wird
angesichts dieser scheinbar intimen Bekanntschaft einer Erlösung von seinem Leiden an der Existenz,
da er doch „sozusagen aus dem Nirgendwo stammte“, 391 so nahe wie nie mehr wieder kommen. Dieser
Annäherung ging Maries Rede „von den Mineralbrunnen und den sogenannten Auschowitzer Quellen“ voraus, von denen sie behauptete, so Austerlitz,
daß sie sich besonders empfohlen hätten bei der in der Bürgerklasse damals weitverbreiteten Fettleibigkeit, bei Unreinigkeiten des Magens, Trägheit des Darmkanals und anderen Stockungen des Unterleibs,
bei [...] gichtischen Leiden, Milzhypochondrie, Krankheiten der Nieren, Blase und der Urinwerkzeuge,
Drüsengeschwüren und Verformungen skrofulöser Art, aber auch bei [...] Zittern der Glieder, Lähmungen, Schleim- und Blutfüssen, langwierigen Hautausschlägen und beinahe jeder anderen nur denkbaren
392
krankhaften Affektion.
387
388
389
390
391
392
W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 252 ff.
Ebenda, S. 271 f. (Kursivsetzung durch den Verfasser)
Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 7.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 299.
Ebenda, S. 369.
Ebenda, S. 299 f.
75
Sebald hat, ohne es wohl recht zu wissen – und folgt man dieser Lesart, die Sebald selbst vor allem
bezüglich Kafkas Werk als unzureichend vehement verwarf, 393 – mit seinen Geschichten von Ausgewanderten und Vertriebenen nicht so sehr eine Studie zu Heimat und Exil, zu Vertreibung und Holocaust zustande gebracht, als viel mehr eine genaue Beschreibung einer dem Menschen wesentlichen
Erfahrung, nämlich des Ekels, so wie er auch von Sartre in seinem gleichnamigen Roman ausgelotet
wurde. Gerade dann, wenn die Protagonisten und der autobiographisch klingende Erzähler versuchen,
ihr Leben auf einen subjektiven Erkenntnisgrund hin zu reflektieren, kumulieren sich diese in der
Wahrheit der Abgrunderfahrung, dass nämlich nichts das Leben hinreichend rechtfertigen kann. Es
sollte deutlich geworden sein, dass die Nähe Sebalds zu Benjamin jene zu Sartre nicht automatisch
ausschliesst, sondern dass es sich um anthropologisch kohärente Überlagerungen handelt, die von
Anfang mitgedacht gehören. Anzunehmen wäre gar, dass Sebald Benjamins Bemerkungen über den
Ekel bekannt waren. 394 Vor allem Schwindel. Gefühle., Die Ausgewanderten und auch Austerlitz liessen sich dann erst recht als eine Ästhetisierung dieses Gefühls deuten, auch als Sebalds Antwort auf
seine gemachten Lebenserfahrungen als Kind und im jungen Erwachsenenalter.
Ihre Fortsetzung – und zugleich ihren Abschluss – findet die Ästhetisierung des Ekels vor der
kontingenten Existenz in Austerlitz. Die Erfahrung könne jemanden schier um den Verstand bringen,
besonders nach dem Betreten eines gleichsam konservierten Raumes, der an die Kindheit erinnern
lässt. Sebalds in allen Werken präferierte Form der potenzierenden Erzählerformationen ermöglichen
ihm viele fiktive Zwischenschritte, die Erfahrung doch als allgemein menschlich kommensurabel zu
machen. Nun erzählt Austerlitz (Potenz2) die Geschichte von Ashman3, dem sich wiederum laut seiner
selbst verlautbarten Version beim Betreten seines ehemaligen Kinderzimmers „der Abgrund der Zeit“
aufzutun schien. Im Anschluss, vom Erzähler1 gebündelt, wird die Abgrund-Erfahrung ins Allgemeine
gehoben:
Ashman und Hilary, Iver Grove und Andromeda Lodge, woran ich auch denke, sagte Austerlitz, während wir über die dunkler werdenden Grashänge des Parks hinabstiegen zu den in einem weiten Halbrund vor uns aufgegangenen Lichtern der Stadt, alles löst in mir eine Empfindung des Abgetrenntseins
395
und der Bodenlosigkeit aus.
393
394
395
Vgl. hierzu unter anderem die Magisterarbeit Sebalds über Carl Sternheim. Darin will Sebald „Kafkas Versuch
einer Legitimation seines Aufenthalts im Dasein“ nicht als primär existentiell verstanden wissen, sondern als
„Äußerung[] des aus der Notwendigkeit einer zweiten Assimilation entstehenden Bewußtseins der Entfremdung
des Individuums von seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit [...].“ (W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 49.) Sebald unterlässt es, den von ihm argwöhnten Schritt zu tun und die primär
existentielle und gesellschaftlich bedingte sekundäre Entfremdung als zusammengehörig zu denken, so wie es bei
Sartre der Fall sein wird.
Vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 9. Benjamin, der auch,
laut Menninghaus, „den Ekel zu einem nicht wegzudenkenden Muster menschlicher Subjektivität erklärt“ hat,
schreibt dazu: „Zur Theorie des Ekels. Es gibt keinen Menschen, der frei von Ekel wäre; nur das ist denkbar, daß
einer nie im Leben dem Anblick, dem Geruch oder sonstigen Sinneseindruck begegnet, der seinen Ekel hervorruft.“ (Walter Benjamin: Zur Moral und Anthropologie, S. 88, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 54-89, zit.
nach Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 9.) Es gilt hier zu beachten, dass Sebald an dieser Stelle nicht, wie im Benjaminschen Duktus, den Ekel vor etwas affirmiert, sondern
vielmehr den Ekel, wie er bei Sartre dargelegt wird, der Ekel also vor der sinn- und grundlosen, gar beschämenden Existenz.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 157.
76
Wird hier Ekel wie ein Gefühl des Schwindels evoziert, so gibt Sebald auch eine andere Variante des
Abscheus wider. Unter anderem in Die Ausgewanderten, in der vierten langen Erzählung, wird Sebald
sehr wohl noch den Ekel im gewöhnlicheren Sprachgebrauch beschwören, der den Erzähler hier während einer Zugreise befällt:
Mir gegenüber hatte sich, obschon sonst genügend Platz war, ein dicker, querschädliger Mann von vielleicht fünfzig Jahren hingehockt. Er hatte ein rotfleckig angelaufenes Gesicht und sehr engstehende,
etwas einwärts verdreht Augen. Schwer vor sich hin schnaufend, wälzte er in einem fort seine unförmige Zunge, auf der sich noch Essensreste befanden, in seinem halboffenen Mund herum Die Beine gespreizt, saß er da, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in eine kurze
396
Sommerhose.
2.2.2 Bildlichkeit: ein permeables Verknüpfungselement
Ein nicht zu vernachlässigender, wenn nicht der wegweisende Aspekt schlechthin, von Anfang an in
allen Sebalds Prosa-Werken prominent und wohl von seiner literaturwissenschaftlichen Beschäftigung
und seiner an der Frankfurter Schule gereiften Sozialisation abgeleitet, ist die Bildlichkeit, das Zitieren und Einmontieren von Schwarz-Weiss-Photographien – von der wortmächtigen bildlosen Bildbeschreibung mal ganz abgesehen. Neben der viel zitierten Retardierung der Sprache einerseits und des
Lesens andererseits, war sie Sebald auch als Mittel, als (vielleicht letztes) ästhetisches Prinzip dienlich, seine ironisierende, dennoch resignative „Metaphysik der Koinzidenz“ – die wegweisend bereits
am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere stand - plausibel zu machen. Ein Blick auf einen einflussreichen Autor, nämlich Roland Barthes, den Sebald gleichermassen affirmiert 397 wie jener wiederum Jean-Paul Sartre, ist demnach angebracht, um Sebalds Verwendung von Bildlichkeit besser
einordnen zu können.
Bildlichkeit im Text ist kein neues Phänomen. 398 Sebald beruft sich unter anderem affirmativ
auf Roland Barthes` Ausführungen zur Photographie in der Schrift Die helle Kammer, 399 die Barthes
nicht umsonst Jean-Paul Sartres phänomenologischem Aufsatz Die Imagination gewidmet hat. „Bei
der Suche nach der PHOTOGRAPHIE“ nämlich, so Barthes, „half mir also die Phänomenologie ein
396
W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 328.
397
Im Interview mit Christian Scholz spricht Sebald von dem „schönen Barthes-Text“. (W.G. Sebald und Christian
Scholz: Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Ein Gespräch über Literatur und Photographie,
S. 2.) Die Aussage aus dem Interview und die Bezugnahme auf Barthes in Unheimliche Heimat und Logis in einem Landhaus deuten zunächst nur geringes Antizipieren des Barthes-Textes an, bei näherem Besehen des Sebaldschen Werkes aber wird deutlich, dass bei Sebald ausführlichst die theoretischen Bemerkungen zur Photographie rezipiert werden, wenngleich auch diese von Sebald nicht immer als solche ausgewiesen werden. Eine Belegstelle hierzu ist die geschilderte „Rekonstruktion“ einer „von blinden Flecken durchsetzte[n] Vergangenheit“
durch den Protagonisten Paul Bereyter in Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 80. Sie korrespondiert
unmittelbar mit einem Qualia des punctums bei Barthes, dem „blinden Feld“ bzw. die „ZEIT“. (Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, S. 105 ff.) Die Rede vom „schönen Barthes-Text“
scheint daher eher eine die Wichtigkeit des Textes verdeckende Untertreibung zu sein.
Vgl. hierzu Markus R. Webers Beitrag Die fantastische befragt die pedantische Genauigkeit. Zu den Abbildungen
in W.G. Sebalds Werken, S. 63 f., in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, W.G.
Sebald, S. 63-74. Weber betrachtet ausschliesslich die deutschsprachigen Autoren und Theoretiker, die Bilder in
ihren Texten konstitutiv verwenden, so unter anderem Kluge, Brinkmann und Handke.
Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989.
398
399
77
Stück weit mit ihrer Zielsetzung und mit ihrem sprachlichen Instrumentarium aus.“ 400 „Am Anfang“
seiner Untersuchungen, stellte Barthes fest,
war da ein Paradox, dem ich nicht entkam und auch nicht zu entkommen suchte: auf der einen Seite der
Wunsch, endlich einen Wesenszug der PHOTOGRAPHIE benennen zu können und damit die Umrisse
einer eidetischen Wissenschaft vom photographischen Bilde zu skizzieren; auf der anderen Seite das
unbeirrbare Gefühl, die PHOTOGRAPHIE sei wesentlich, wenn man so sagen kann (ein Widerspruch
401
in den Begriffen), nichts anderes als Kontingenz, Einzigartigkeit, Abenteuer [...].
Bei Barthes gibt es zum einen zwei unterschiedliche Momente beim Beschauen einer Photographie,
jenen des studiums und jenen des punctums, die nicht unbedingt gleichzeitig auftretend an einer Photographie festgemacht werden müssen. Der Beschauer selbst, der spectator in der Barthesschen Terminologie, rückt zum anderen ebenso ins Zentrum des Interesses, geht von ihm als Betrachter doch
das subjektive Begehren aus, das vom Photographen bzw. dem operator Geschaffene und zu Betrachtende bzw. das spectrum, zuerst zu selektionieren, um es dann im weiteren zu definieren, zu studieren.
Das vom Betrachter ausgehende Studium von Photographien, beispielsweise „als Zeugnisse politischen Geschehens“ oder „als anschauliche Historienbilder“, fungiert als begriffliches Korrelat zum
menschlichen Interesse. Es bedeutet für Barthes „Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem,
eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit.“ 402 Das punctum
hingegen qualifiziert Barthes als ein aktives, nun das zweite und das wahre Wesen einer Photographie
ermöglichende Moment des Photos. Dieses zweite „Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem
Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. [...] Das punctum einer Photographie, das ist jenes
Zufällige an ihr, das mich besticht (mich auch verwundet, trifft).“ 403
Die meisten Photographien, die man zu Gesicht bekommt, regten nur zum studium an, und
selbst ein punctum initiierendes Photo ist äussert vage ob des inhärierenden absoluten subjektiven
Charakters: Denn den einen trifft es, den anderen nicht. Barthes erläuterte diese sehr gut an dem Sachverhalt, dass auf einem lange gesuchten Photo, dem Photo nämlich seiner verstorbenen Mutter im
Kindesalter von fünf Jahren, für ihn dasjenige Wesen sich manifestierte, was für uns „nichts als ein
belangloses Photo [...] des absolut beliebigen „Gegenstands überhaupt““ 404 wäre. Auch das, was trifft,
ein „Detail“, ein „blindes Feld“ oder, als ganz wesentlich, die ZEIT, 405 wie Barthes ausführt, ist mitunter von (reflektierender) Betrachtung zu Betrachtung changierend. Auch eine gewisse Latenz des
punctums kennzeichnet die Besonderheit dieser einen PHOTOGRAPHIE. Mittels des punctums erfolgt eine approximative Verengung des Photos auf sein wahres „Wesen“, seine wahre Natur hin. Im
besten Falle stellt sich eine Identität ein, ein in sartrescher Manier beschworenes „An-und-Für-sich des
Körpers“ 406 des Referenten, vulgär die Einheit von Physis und Psyche, ohne Bewegung im Moment
des Betätigens des Auslösers. Barthes spricht daher nicht nur im Hinblick auf die Kindphotographie
400
401
402
403
404
405
406
Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, S. 29.
Ebenda.
Ebenda, S. 35.
Ebenda, S. 35 f.
Ebenda, S. 83.
Ebenda, S. 105 ff.
Ebenda, S. 89.
78
seine Mutter von der mehr transzendentalen als transparenten „Emanation des Referenten“, 407 sondern
im Blick auf die „PHOTOGRAPHIE [...], wörtlich verstanden“, 408 im Allgemeinen.
Die „Pose“, das mögliche maskenhafte, das Wesen und das unmöglich An-sich-Seiende verhüllende und oftmals gerade bevorzugte Verhalten des spectrums, wird bestmöglich und dennoch „ungekünstelt“, das heisst in gewisser Weise zufällig, gebannt. Neben dieser Eigentlichkeit betont Barthes
zwei diesbezüglich auch W. G. Sebald tangierende Eigenschaften. „Stets“, so Barthes, „versetzt mich
die PHOTOGRAPHIE in Erstaunen, [...] dieses Beharren tief in die religiöse Substanz, aus der ich
geformt bin.“ 409 Und aus diesem Staunen heraus ergibt es sich,
daß sie [die PHOTOGRAPHIE; der Verf.] die fundamentalen Fragen an mich richtet: warum lebe ich
hier und jetzt? [...] Es ist die Art von Fragen, die mir die PHOTOGRAPHIE stellt: Fragen, die einer
„dummen“ oder simplen Metaphysik entstammen (die Antworten sind das Komplizierte daran): wahr410
scheinlich die wahre Metaphysik.
Eine weitere Faktizität scheint gegeben in der Aussage, dass mit dem Anfertigen des photographischen
Bildes nicht mehr und nicht weniger über das Motiv ausgesagt wird als: „“Es-ist-so-gewesen“.“ 411
Warum? Wie ist es gewesen? Fragen, die zu Romanen und langen Erzählungen anregen können, Fragen, die zu beantworten dem spectator wichtig sein können angesichts der betretenen „Ebene des gewöhnlichen TODES.“ 412 In jedem Falle wird sich an dieser Doppelung, die das Vergangene als Reales
in einem Bild bedeutet, der sinngebende und der „der religiösen Sphäre“ 413 entwundene Ton zeigen,
der ihr zugrunde liegt: Die Melancholie. Sie gilt als Tribut im Hinblick auf den TOD und den von ihm
verursachten
Schrecken: daß es nichts zu sagen gibt über den Tod des Menschen, den ich am meisten liebe, nichts
über sein Photo, das ich betrachte, ohne es je ausloten, umwandeln zu können. Der einzige „Gedanke“,
zu dem ich fähig bin, ist der, daß am Grunde dieses ersten Todes mein eigener Tod eingeschrieben ist;
zwischen diesen beiden bleibt nichts als das Warten; mein einziger Rückhalt ist diese Ironie: darüber zu
414
sprechen, daß es „nichts sagen gibt“.
Diese Ironie mag man auch bei W.G. Sebald zu vernehmen meinen, gemessen an seiner Aussage, dass
Photographien „einen Sog auf den Beschauer ausüben und ihn sozusagen auf diese ganz ungeheure
Art herauslocken aus der realen Welt in eine irreale Welt [...]“ 415 des unausweichlichen, gewöhnlichen
Todes. Aus dieser irrealen Welt vermeint nun Sebald so manches Mal einen Wink vernehmen zu können, einen Gruss aus dem nebulösen, verschwommenen Reich der Toten, eine – paradoxerweise –
schmerzende Erinnerung an den nahenden Tod im Realen. Sebalds ineinandergeschlungenes Leben
und Werk liessen sich somit, zumindest oberflächlich besehen, als eine reflektierte Repräsentation der
den Menschen zur Verzweiflung bringenden „Krankheit zum Tode“ Kierkegaards verstehen. Dieser
407
408
409
410
411
412
413
414
415
Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, S. 90.
Ebenda.
Ebenda, S. 92.
Ebenda, S. 95.
Ebenda, S. 87, 89, 104 ff.
Ebenda, S. 103.
Ebenda.
Ebenda.
W.G. Sebald und Christian Scholz: Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Ein Gespräch über Literatur und Photographie, S. 2.
79
Bezug scheint umso plausibler, als auch Sebald in seinem Vorwort über Sternheim mit Kierkegaard
vermeinte, dass „“es eben eine Form von Verzweiflung ist, nicht verzweifelt zu sein, sich nicht bewußt
zu sein, daß man es ist“.“ 416
So auch dann, wenn in Die Ausgewanderten die Rede auf „Pauls Augen“ zu sprechen kommt:
„Anfang 1982 begann der Zustand von Pauls Augen sich zu verschlechtern. Bald sah er nur mehr zerbrochene oder zersprungenen Bilder.“ 417 Diese erneut in Austerlitz betriebene Doppelung der Repräsentation – der der Zerstörung inhärente, metaphysische Tod des Motivs und materielle Tod der Fotographie – scheint ihm ein geeignetes Verfahren zur Annäherung auch an die doppelte Kontingenz des
Daseins, das heißt sowohl des Lebens als auch des Todes. Diesbezüglich äußert sich Sebald in Unheimliche Heimat, dass „Barthes` Konjektur [„daß jede Photographie unabweisbar das Zeichen eines
zukünftigen Todes in sich trägt“, so Sebald; d. Verf.] doppelt wahr [ist], denn wir wissen nicht, was
aus dem Besitzer dieses Kramladens geworden, nur daß er, mit Sicherheit fast, eines unzeitigen und
gewaltsamen Todes gestorben ist.“ 418
Sebalds Verwendung der Bildlichkeit, insbesondere seiner bevorzugten Heranziehung von
Schwarz-Weiß-Bildern lässt sich aber nicht ausschließlich auf Barthes` Verweis zurückführen. Sebald
will es ja nicht dabei belassen, dass etwas-so-gewesen-ist, sondern sucht unter anderem auch mit Alexander Kluge nach Antworten auf die Frage, warum etwas hat so-sein-können. 419 In der bisherigen
Rezeptionsleistung wurde dies unterschlagen, wenngleich auch Heiner Boehncke in seinem Aufsatz
Clair obscur. W.G. Sebalds Bilder 420 versucht hat, über die Referenz auf Barthes Bemerkungen zur
Photographie hinauszugehen. Ein detaillierter Versuch, Sebalds Verwendung der Bildlichkeit wesentlich umfangreicher und fundierter zu erklären, wurde bereits im zweiten Kapitel unternommen, der vor
allem Sebalds geschichtswissenschaftliche Sozialisation und deren Implikationen zum Gegenstand
hatte. Eine hier zu nennende, der ZEIT nahestehende Implikation, vermittelt Barthes` Auffassung von
Historie: Die GESCHICHTE nämlich. Gemäss Barthes, „ein nach positiven Regeln konstruiertes Gedächtnis, ein rein intellektueller Diskurs, der die mythisches ZEIT auslöscht; und die
PHOTOGRAPHIE ist ein sicheres, jedoch vergängliches Zeugnis [...]“ für „[...] das Zeitalter der Revolutionen, der Zwistigkeiten, der Attentate, der Explosionen, kurz: der Ungeduld und all dessen, was
416
417
418
419
420
Sören Kierkegaard, zit. nach W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära,
S. 11.
W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 88. In Austerlitz wird der Erzähler eine ähnlich
einschneidende Erfahrung einer eingeschränkten Sehfähigkeit, den Prozess der Diagnostik und der Behandlung
machen. Die Behandlung, so wird implizit angesprochen, liefe auf weniger Lesen und weniger Schreiben hinaus.
„Und jetzt, indem ich dies niederschreibe, sehe ich auch wieder die kleinen Lichtpunkte, die bei jedem Druck auf
den Auslöser in meinen weit aufgerissenen Augen zersprangen.“ (Vgl. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 55 f.)
W.G. Sebald: Unheimliche Heimat, S. 63 f.
Vgl. hierzu W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreiung totaler
Zerstörung, S. 89 ff., in: W.G. Sebald: Campo Santo.
Vgl. Heiner Boehncke: Clair obscur. W.G. Sebalds Bilder, S. 54, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik.
Zeitschrift für Literatur, W.G. Sebald, S. 43-62. „Nie jedoch steht der Sog in irreale Welten, die melancholische
Einsicht in den eigenen Verfall allein. Immer kommt es in Sebalds Prosa zu einer charakteristischen Schaukelbewegung zwischen dokumentarischen Diskursen, ausgetüftelten Recherchen, lebhafter Reflexion und trauriger
Bewegungslosigkeit, allegorischer Starre, nebelhafter Ungewissheit.“ Nicht zu unterschlagen ist an dieser Stelle
der Aufsatz Carolin Duttlingers, der aber vor allem für die Analyse von Sebalds letztem Prosawerk Austerlitz zum
Tragen kommen kann. Duttlinger betont ebenso den Verweis auf Barthes und Benjamin, was die Bildlichkeit bei
Sebald betrifft. (Vgl. Carolin Duttlinger: Traumatic Photographs: Remembrance and the Technical Media in
W.G. Sebald`s Austerlitz, in: J.J. Long and Anne Whitehead (Hg.): W.G. Sebald – A critical Companion, Edinburgh 2004, S. 155-171.)
80
das Reifen leugnet.“ 421 Die Photographie ist ein Zeugnis für den permanenten gewaltvollen Tod, nicht
für die Erinnerung, nur „den Weg der Gewissheit“ einschlagend: „das Wesen der PHOTOGRAPHIE
besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt.“ 422
Der Mensch gibt ihr stets ein Mehr dazu, ein Mehr an Bedeutung und vermag eine persönliche
Beziehung herzustellen, die ohne die Photographie nicht möglich gewesen wäre. Und eingedenk der
Unmöglichkeit bzw. der Fraglichkeit einer induzierten Erinnerung, lässt Sebald am Ende der dritten
langen Erzählung in Die Ausgewanderten den Großonkel Adelwarth des (wieder mit Sebald leicht zu
identifizierenden?) Erzählers selber schreiben:
Die Erinnerung, fügt er in einer Nachschrift hinzu, kommt mir oft vor wie eine Art von Dummheit. Sie
macht einen schweren, schwindligen Kopf, als blickte man nicht zurück durch die Fluchten der Zeit,
sondern aus großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren.
423
Scheinbar so einfach – es-ist-so-gewesen – benennt Barthes das vermeintliche Wesen der Photographie. Aber die Verwendung nimmt sich sichtlich komplizierter aus, geht es doch über auf die Bedeutungsebene, die nun Sebald in und mit seinen Schwarz-Weiß-Photographien und -wortbildern oftmals
labyrinthisch angelegt entfaltet. Seine kritische, in gewisser Hinsicht schon prophetisch anmutende
Einlassung in der 1985 erschienen Aufsatzsammlung Die Beschreibung des Unglücks wird zweierlei
betonen, das zum einen Sebalds späteres Heranziehen von photographischen Bildern tangiert und prononciert, zum anderen die Sicht Barthes untermauert. Die frühe Einlassung wird aber auch die spätere,
widersprüchliche oder je nach Blickwinkel auch erwartungsvolle Haltung Sebalds kennzeichnen.
Diese Haltung ist insofern widersprüchlich, als Sebald mit seiner Disposition – dem Hang zur
Melancholie einerseits, dem vererbten Herzleiden andererseits – ästhetisch und mit bewusst gesetzter,
wie auch immer sich im weiteren Verlauf einstellender Koinzidenz kokettiert:
Die entscheidende Differenz zwischen der schriftstellerischen Methode und der ebenso erfahrungsgierigen wie erfahrungsscheuen Technik des Photographierens besteht allerdings darin, daß das Beschreiben das Eingedenken, das Photographieren das Vergessen befördert. Photographien sind die Mementos
einer im Zerstörungsprozeß und im Verschwinden begriffenen Welt, gemalte und geschriebene Bilder
hingegen haben ein Leben in die Zukunft hinein und verstehen sch als Dokumente eines Bewusstseins,
424
dem etwas an der Fortführung des Lebens gelegen ist.
W.G. Sebald gilt nicht umsonst als ein meisterlich versierter Literat – sowohl als Literaturwissenschaftler und Essayist, als auch als Schriftsteller. Von seinem ersten, stark autobiographischem Romanversuch abgesehen, der laut Tabbert nie publiziert wurde, 425 avancierte er in den letzten beiden
421
422
423
424
425
Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, S. 104.
Ebenda, S. 95.
W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 214 f. Die Anleihen bei Benjamins, von Klee
adaptierten Angelus Novus, dem „Engel der Geschichte“ in seiner IX. These Über den Begriff der Geschichte,
sind deutlich vernehmbar, so zum Beispiel in der Paraphrasierung von Türmen und Trümmerhaufen, ebenso wie
der intertextuelle Bezug zu Barthes.
W.G. Sebald: Helle Bilder und dunkle. Zur Dialektik der Eschatologie bei Stifter und Handke, S. 178, in: W.G.
Sebald: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, Frankfurt am
Main 42003, S. 165-186.
Reinbert Tabbert: Max in Manchester. Außen- und Innenansicht eines jungen Autors, S. 21, in: Akzente. W.G.
Sebald zum Gedächtnis, S. 21-30. In Porträt W.G. Sebald gibt Tabbert näheren Aufschluss über das Manuskript
81
Lebens- und Schaffensjahrzehnten zu einer Person, die viel mit und durch Literatur bewegt hat. Sebald
wurde berühmt, sein früher Traum vom Schriftstellerruhm demnach erfüllt. 426 Er hat seine „geschriebenen Bilder“ – Sartres „Bild-Wörtern“ äquivalent, die der Künstler bzw. der Dichter zu schaffen
gewillt ist –, mit einem appellartigen Nachdruck – vor allem in Nach der Natur. Ein Elementargedicht,
in Die Ausgewanderten und Austerlitz – überliefern können und diese mal mit Schwarz-WeißPhotographien bekräftigen oder in ihrer Wirkung aufheben können – insbesondere auch in Austerlitz.
Er gab sich als nimmermüder, ins politisch Tagesgeschäft eingreifende Kritiker, als Gesellschaftskritiker insbesondere, der vor allem mit seinen Prosatexten eine gewisse „Altersmilde“ spüren liess. Sebald entspricht auf ganzer Linie Sartres Verständnis vom Intellektuellen bzw. vom Künstler.
Die „Altersmilde“ geht einher mit seinem Hang zur Einsetzung einer unsagbaren Metaphysik,
verstanden als machbarer und vielleicht auch wünschenswerter Trost in einer von Zerstörung geprägten Lebenswelt ohne weiteres Telos. Der Titel Nach der Natur allein gibt diesen mehrdeutigen Charakter sehr gut wider, wie auch Claudia Albes in ihrem hervorragenden Aufsatz Porträt ohne Modell 427 darauf hingewiesen hat.
Sebalds ästhetisches Programm spiegelt demnach:
1. die permanente Zerstörung der menschlichen und dinglichen Natur wider. Es transformiert diese,
2. auf eine mögliche metaphysische Ebene hin, und deutet
3. die Bedingtheit und auch die Beschränktheit menschlicher Natur aufgrund der hin und her pendelnden, begrifflich Freud entlehnten Triebstruktur zwischen Tod und Leben. Dieser gemäss kann der
Mensch nicht anders handeln, als er es letztlich tut.
Sebalds Verwendung der Bildlichkeit ist insbesondere darauf ausgelegt, die Metaphysik – das
Wesen des Es-ist-so-gewesen oder „das Unterfutter der Realität“, so Sebald in seinem Aufsatz zu
Tripps „hyperrealer“ Malerei – zu betonen, ohne die der Mensch scheinbar nicht auskommen will – ob
426
427
„eines autobiographischen Romans über zwei letzte Tage eines Studiums in Freiburg mit anschließender Reise
des Protagonisten zur Freundin in die Schweiz und zu den Eltern ins Allgäu, samt eingeflochtenen Erinnerungen
an die Kindheit und an einen Aufenthalt in Belgien.“ (Reinbert Tabbert: Porträt W.G. Sebald, S. 11, in: Literaturblatt für Baden und Württemberg 6/2002) In einem Brief an mich erklärt Tabbert auch, dass bis auf weiteres der
Zugriff auf das Manuskript Sebalds versagt sein wird. Klar indessen wird, dass Sebald schon früh den Hang zur
Provokation oder, allgemeiner gefasst, zum Gehört- und Wahrgenommenwerden hatte. Mit seinen Briefen an Adorno bezüglich Sternheim und mit der Bitte um „eine Referenz an das Sidney Sussex College in Cambridge“ ob
der Arbeit an Döblin (so W.G. Sebald in einem Brief an Theodor W. Adorno vom 14.12.1968, Vgl. W.G. Sebald –
Theodor W. Adorno: Briefwechsel (1967/1968), S. 15, in: Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren.) weist Sebald zielstrebig den Weg seiner zweigeteilten Karriere, den er weitausgreifenden Schrittes hofft gehen zu können. Das Werk Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen ist demnach primär als Rekapitulation
von Sebalds eigenem Leben zu lesen, welches verschränkt sich dem Leser äußert mit den Lebensläufen der Protagonisten und der vermeintlich eingeschriebenen zerstörerischen Geschichte.
Dieser Ruhm machte ihn jedoch, so Reinbert Tabbert an mich, nicht so zufrieden, als dass er ihn „richtig genießen
konnte.“
Vgl. Claudia Albes: Porträt ohne Modell. Bildbeschreibung und autobiographische Reflexion in W.G. Sebalds
„Elementargedicht“ Nach der Natur, S. 53 f., in: Michael Niehaus/Claudia Öhlschläger (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 47-65.
82
er es nicht kann, diese Frage gälte es selbstverständlich ebenfalls zu beleuchten. Nach der Natur bedeutet bei Sebald vor allem und von Anfang an die empirisch unbeantwortbaren Fragen nach ihr zu
stellen: Wie ist die Koinzidenz zu verstehen, die scheinbar so manches Mal und offensichtlich mit
biographischen und historischen Daten korreliert? Gibt es nicht doch einen Sinn, der hinter den zerstörbaren Dingen ebenso wie hinter den fragilen Lebenszusammenhängen nur wahrgenommen werden
müsste? Wie lässt es sich sodann rational verhalten zur Metaphysik, wo doch Glaube und Fortschrittsoptimismus auf ganzer Linie, Adorno, Horkheimer, Benjamin und letztlich Herbert Marcuse bürgen
Sebald hierfür, scheitern müssen? Was hat es auf sich mit dem unsichtbaren Reich der Toten, die von
irgendwo herüberwinkten, was mit Sebalds, in seinem Werk zugenüge ausgedrücktem Hang zur (ironischen?) Eingrenzung seines Todeszeitpunktes bzw. der Todesart, seiner Inversion von „Selbstmordgeschichten“ in die Prosa?
Man ginge aber verkehrt in der Annahme, die hier beglaubigte Altersmilde würde etwas am statuierten Urteil der der Zerstörung gewidmeten Naturgeschichte ändern. Im Gegenteil, durch die ausführliche Heranziehung und auch Zitation photographischer Bilder von Personen und Dingen soll der
Mensch von einem nicht-dokumentarischen Appell sich genötigt fühlen, dass gerade nicht eine etwaige Metaphysik es ist, der das menschliche Handeln als Motivationsgrund folgen würde. Vielmehr folgt
der Mensch seinem Drang, über etwas – sei es die Natur, sei es der Mensch – Macht zu gewinnen,
etwas an ihnen zu brechen oder zu begradigen, was ihm nicht passend scheint. Sebalds Bildlichkeit ist
genau darauf ausgerichtet, einerseits dem studium Barthes Platz zu lassen, andererseits dem punctum
die Rolle aufzubürden, die menschliche Wunde in der Metaphysik der Koinzidenz zu benennen. Sebalds Werk schlägt demnach einen Bogen seines kritischen Studiums vor allem der Frankfurter Schule
bzw. der Kritischen Theorie hin zu einem bildenden, synthetisierenden Mittel, seine fundierten Erkenntnisse auf eine gesetzte Art und Weise einer breiten Öffentlichkeit – sein früher Traum – anzubieten. Sebald betreibt also, ähnlich wie Barthes, so Duttlinger, „a more associative, discursive style of
argument which problematises the boundaries between “theory” and “literature” […].” 428
Perspektivisches Resultat ist die von Austerlitz betriebene und vom Erzähler behauptete „Metaphysik der Geschichte“, die (labyrinthisch) im Kreis verläuft zwischen abwärtsdrehendem Zeit-undRaumgefüge, zwischen kontrolliert, geordneter, aufbauender Architektur und der der unberechenbaren
Natur inhärenten Zerstörung. Angesichts des reflexiven Verhältnisses des Menschen zu sich und seiner Umwelt harrt die „Metaphysik der Geschichte“ einer Antwort auf die naheliegenden Fragen, wie
etwas „wirklich“ beschaffen und erkennbar ist und warum dieses Etwas so und nicht anders erscheinen
kann. Austerlitz wird vom Erzähler in jenen erfragbaren und fragwürdigen Diskurs lokalisiert:
Es war für mich von Anfang an erstaunlich, wie Austerlitz seine Gedanken beim Reden verfertigte, wie
er sozusagen aus der Zerstreutheit heraus die ausgewogensten Sätze entwickeln konnte, und wie für ihn
die erzählerische Vermittlung seiner Sachkenntnisse die schrittweise Annäherung an eine Art Metaphy429
sik der Geschichte gewesen ist, in der das Erinnerte noch einmal lebendig wurde.
Die Nähe zu der hier bestimmten „Metaphysik der Koinzidenz“ wird evoziert von Sebald und Sebalds
Werk selbst. Die das ganze Werk Sebalds durchziehende, gar konstitutive schwarz-weisse, hell-dunkle
428
429
Carolin Duttlinger: Traumatic Photographs: Remembrance and the Technical Media in W.G. Sebald`s Austerlitz,
S. 155.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 18 f.
83
betriebene, bei näherem Besehens schon redundant anmutende „Überblendung“ 430 von fiktionalreeller Traum-Wirklichkeit, von Photographien und Bild-Wörtern ist auch hier gewollt, methodisch
penibel reflektiert. 431 So spricht der Erzähler – nebst der durch Austerlitz vermittelten Hypostasierung
der „Metaphysik der Geschichte“ – auf den ersten Seiten davon, dass Austerlitz auch während ihrer
Unterhaltung über das ganz allgemein, „gewiß übersehene Unglück“ der Geschichte, „lange noch von
den Schmerzensspuren, die sich, wie er zu wissen behauptete, in unzähligen feinen Linien durch die
Geschichte ziehen“ 432 räsonierte. Die Verwendung der hell-dunklen Versinnbildlichungen geraten
Sebald nur deshalb nicht redundant, weil er sie oftmals auch kontradiktorisch ins Recht setzt. In
Austerlitz ist auf fast jeder Seite von changierendem Licht und Schatten, von hell und dunkel, von
strahlend und düster, vom Auf- und Untergehen zu lesen. Es mag daher dem geneigten Leser wohl
gewohntermassen leichter fallen, die „Kollorationen“ als gewissermassen determiniert zu absorbieren.
Der von Sebald aufgebaute, ästhetische Kontrastraum ist aber auch nicht ohne das Wissen zu verlassen, dass nämlich das „Geheimnis“ jedweder Konstitution auch bei ihm nicht gelüftet werden kann.
In einem am 12. Juli 1998 ausgestrahlten Interview des niederländischen Fernsehsenders VPRO
gibt Sebald sehr genaue Hinweise zu dem in Frage stehenden Komplex dieser ästhetisch zu realisierenden Sinnstiftung:
I`m certainly not sure that I am able to make sense out of whatever I come across at all except in the effort of recording it, so, whatever sense there is, is primarily an aesthetic sense. I realise that making in
prose a decent pattern out of what happens to come your way is a preoccupation, which, in a sense, has
no higher ambitions than, for a brief moment in time, to resecure something out of that stream of history that keeps rushing past. This is why, among other reasons, I have photographs in the text, because
the photograph is perhaps the paradigm of it all. The photograph is meant to get lost somewhere in a
box in an attic. It is a nomadic thing that has only a small chance to survive. I think we all know that
feeling when we come accidentally across a photographic document being of one of our lost relatives,
433
being of a totally unknown person. […].
Der „Ton“ dieser gebrauchten Bildlichkeit, nämlich der der Melancholie, unterstreicht die aussichtslose Bürde, die ein solches Konzept zu bewältigen hat. Jene „höhere Stereometrie ineinander verschachtelte[r] Räume“ 434 muss also um des Verstehens willen sprachlich bebildert zum Wahrnehmen gebracht werden, auch dann, wenn die Absenz des Bildes, auch dies ein Usus Sebalds, beschrieben wird.
Wiederum in einem Interview äussert sich Sebald bezüglich des metaphysischen Gehalts von gleichsam „nomadisierenden“ Photographien. Von diesen, im Gegensatz zu gemalten Porträts, ginge „dieser
430
431
432
433
434
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 9.
Verwiesen sei auf den Aufsatz von Claudia Albes: Porträt ohne Modell, S. 75, in: Michael Niehaus / Claudia
Öhlschläger (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Albes gibt einen bestechenden Einblick in Sebalds „Elementargedicht“ Nach der Natur, und die diesem zugrundeliegende hell-dunkle
Bildbeschreibungen. Aber auch ihrer Meinung zufolge mündet Sebalds ästhetisches Primat, zuende geführt in
Austerlitz, in „[...] einer ihm unbewußten Dynamik [...]“, der Sebald folgen würde. Richtig hingegen scheint der
erste Teil von Albes` – auf Sebalds autobiographisches Bemühen bezogene – Feststellung, „daß sich das schreibende Ich selbst nicht durchsichtig ist. Strittig ist jedoch der zweite Teil ihrer Feststellung, wonach das schreibende Ich Sebalds „durch unkontrollierbare Mechanismen der Verdrängung und Wiederholung gesteuert wird.“
(S.75)
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 20.
Vgl. W.G Sebald und Gordon Turner (Interviewer: Michaël Zeeman): Introduction and Transcript of an interview
given by Max Sebald, S. 24, in: Scott Denham/ Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma,
S. 21-29.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 265.
84
Appell“ aus, „eine Forderung an den Beschauer, zu erzählen oder sich vorzustellen, was man, von
diesen Bildern ausgehend, erzählen könnte.“ Der Grund dieses appellartigen Impulses an den Beschauer liege wohl vermutetermassen darin, dass
es sich um sehr komplizierte, metaphysische Geschichten [handelt], nicht in irgendeinem mystagogischen Sinne, sondern in dem Sinn, dass es irgendwo eine sekundäre oder uns beigeordnete, übergeordnete, nachgeordnete Form der Existenz gibt. Die Leute, die aus dem Leben verschwinden, treiben sich
435
irgendwo in diesem Leben noch herum.
Es ist nicht so sehr die Behauptung, dass jene verschwundenen Menschen sich noch irgendwo in diesem Leben, das heisst wohl irgendwo in der Erinnerung herumtreiben würden, die irritierend wirken
kann. Sondern vielmehr ist es der vermeintliche Appell, den Sebald beim Betrachten von Bildern
wahrnehmen will oder muss, der so häufig bei den Rezepienten für Irritation sorgen wird. Dieser ausgehende Appell von zufällig gefundenen Bildern ist aber zweifelsohne ein, wenn nicht gar der Anlass
für die Sebaldsche bedeutungsschwangere „Metaphysik der Koinzidenz“. Ebenso unübersehbar ist die
Nähe zu Roland Barthes. Das Appellhafte, das Sebald als Impuls zur Bildbetrachtung, qualifiziert,
entspricht dem quasi ins Auge springenden punctum, das zum studium einer Photographie anregt,
vielmehr aber den Beschauer unmittelbar und kurzfristig zutiefst betroffen bzw. unwissend zurücklässt. 436 Das die Betroffenheit auslösende punctum entspricht der irrationalen Seite des menschlichen
Strebens nach einer Ordnung, welches nicht selten, laut Sebalds dunkler Teleologie immer ins Gegenteil, nämlich zur Unterwerfung und zur Zerstörung führt. Das rationale studium, das ein Bild beim
Betrachter auslösen kann, vermag hingegen nichts zu unternehmen, eine wenn möglich „unschuldige“
Ordnung festzuschreiben. Die beiden widerstreiten sich als die dunkle und helle Seite der anthropologischen Konstante.
Die Natur für sich bedürfte ja keiner Ordnung. Sie ist das, was sie ist, während der Mensch dies
nie sein wird. Diese Feststellung und Ansicht nehmen beide, Sartre als auch für Sebald, für sich in
Anspruch. Unterscheiden lässt sich diese Perspektive durch die je unterschiedliche, mehr oder weniger
trostspendende Konsequenz hieraus: Sartre hält die subjektive Freiheit noch im Begriff des Scheiterns
hoch, Sebald setzt indes die Metaphysik ins Bild.
Die Frage also, warum Sebald durchgehend, sowohl in seinem literaturwissenschaftlichem, als
auch in seinem prosaischen Werk, als der das hell-dunkle Kontrastpaar präferierende „Wortkolorateur“ auftritt, muss von der absoluten Freiheit des Autors her beantwortet werden. Es wäre in dieser
Hinsicht äusserst wichtig, auch seinen frühen, autobiographischen, noch unveröffentlichten Roman auf
das wohl nicht schwer zu hypostasierende hell-dunkle Bebilderungssystem hin zu untersuchen. An
dieser Stelle aber steht aufgrund des Fehlens dieser wichtigen Quelle das Ende am Anfang. Sebald gibt
diesbezüglich nochmals am nahenden, gewissermassen schon vorausahnenden Lebensende, in einem
435
436
W.G. Sebald und Christian Scholz: Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Ein Gespräch über Literatur und Photographie, S. 1 f., in: Neue Zürcher Zeitung, 26./27. Februar 2000, S. 1-6.
Renate Just beschrieb sein Arbeitszimmer als „mönchisch“. „Nur eine Falttasche aus Pappe liegt auf dem Tisch,
voll mit älteren Photos und Karten: Familienbilder, Gletscher, Vulkanausbrüche, Mädchen in Dreißigerjahrekleidern, ein Kind auf dem Schaukelpferd, dessen Kopf schon lange weggeblichen ist. Solche Bilder bewahrt er auf
mit einer vagen Ahnung, daß er einmal die Geschichte dahinter erzählen wird. „Ich find das alles sehr rührend“,
sagt er, weiß aber erklärtermaßen nicht warum.“ (Vgl. Renate Just: Im Zeichen des Saturn. Ein Besuch bei W.G.
Sebald, S. 40.)
85
im Jahre 2000 mit Volker Hage geführtem Interview, 437 genaue Auskunft. Diese kann durchaus als
summarische Retrospektive einerseits und als zukünftige Fussnote oder Wink auf sein in Wort und
Bild gebrachtes Werk andererseits, gesehen werden.
Auskunft über die mögliche „innere Konstitution“ des Menschen, über das in Frage stehende
„Geheimnis“ 438 hinter unserer geschichtlichen und individuellen Existenz und über seine eigenen
frühkindlichen Beweggründe auf der Suche nach der „Wahrheit“. Von diesem Interview aus lassen
sich sodann direkte Verweise auf sein durch und durch schwarz-weisses opus magnum Austerlitz ziehen. Dieser Vexierpfeil wird unter anderem im wörtlichen Sinne zumindest die Latenz der Sebaldschen Krankheit tangieren, denn schliesslich stellt sich Austerlitz die Frage nach der Kontingenz
schlechthin: „Nach und nach entsann ich mich auch“, so Austerlitz, „wie es mir während der Fahrt [in
der Metro in Paris; d. Verf.] auf einmal unwohl geworden war, wie ein Phantomschmerz sich ausbreitete in meiner Brust und wie ich dachte, ich werde jetzt sterben müssen an diesem schwachen Herzen,
das ich geerbt habe, ich weiß nicht von wem.“ 439
Sebald hatte einen angeborenen, vererbten Herzfehler, der ihm vermutlich auch den Autounfall
koinzidierte. Doch vielmehr steht auch die Vererbungslinie in Frage, nicht zuerst die geordnete, statistisch rationalisierbare, demnach die genetische oder auch transgenerationelle Linie, sondern vor allem
die irrationale, metaphysische, nicht weiter erhellbare: Vom Vater oder/und von der Mutter? Und
zweifelnd: Von ihm wieder weiter an die Tochter?, wie Sebald es im letzten Teil seines Elementargedichts Nach der Natur tieftraurig mutmaßte:
Kind, sag mir, / drückt dich dein Herz wie mich / meines, Jahr um Jahr / aufgeschüttet von den Wellen /
des Meeres eine Kiesbank / bis hinauf in den Norden, / jeder Stein eine tote Seele / und dieser Himmel
so grau, / so gleichmäßig grau, / und so niedrig / hab ich den Himmel / noch nirgends gesehen. 440
Sebald wird es sich wohl wider besseres Wissen gewünscht haben, den vieldeutigen „Herzfehler“ mütterlicherseits geerbt zu haben, denn die historische und ebenfalls schwerwiegende Erblast und –schuld
seitens des Vaters würde seinen Unwillen und den Ekel ihm (und sich selbst) gegenüber nur verschärft
haben.
2.2.3 Kontingenz oder die Krux mit dem Leben und dem Tod
Der Fokus beim Studium des Sebaldschen Spätwerks sollte dabei nicht ausschließlich, wie bis dahin
größtenteils geschehen, auf primäre Topoi (Kindheits-)Trauma und Erinnerungsarbeit, Holocaust und
Heimatlosigkeit bzw. Exil gerichtet sein, sondern auf das ästhetische Prinzip des freien, irritierenden
und manipulierenden, dennoch versöhnenden, ironisierenden Schaffens aus einem freien und voll umfänglich verantwortlichen Zeitgenossen heraus. Sartres Pochen auf eben diesen Sachverhalt, dass der
Mensch sich zu sich selbst verhalten und somit wählen kann, zu sein, was er nicht ist, kann an Sebald
bestätigt werden. Sebald verhielt sich zu sich, wählte sein Tun und Unterlassen – und hielt irritierender
weise am Unbewussten fest, da es ihm wohl erklären ließ, was er sich nicht erklären konnte.
437
438
439
440
Vgl. das Interview Volker Hage im Gespräch mit W.G. Sebald, in: Akzente. W.G. Sebald zum Gedächtnis, Heft
1/Februar 2003, S. 35-50.
Vgl. das Interview Volker Hage im Gespräch mit W.G. Sebald, S. 43 f.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 378.
W.G. Sebald: Nach der Natur, S. 94
86
Nichts desto trotz gilt: Mit der kritischen Einlassung ob Funktion und Stellenwert von photographischen und geschriebenen Bildern – „Bild-Wörter“ – hebt Sebald bestimmbare Grenzen auf, wenn er
beide zugleich in seine Prosawerke einflicht. Ist ihm, zum Zeitpunkt des Erscheinens von Austerlitz,
noch „an der Fortführung des Lebens gelegen“, „when he said to a close friend „I´ll be glad to get out
of all this“ and began to talk in detail about his own funeral“? 441 Man sei nun zugenüge durch Sebalds
Werk an etwaige Koinzidenz gemahnt und nicht weiter überrascht angesichts des Unfalltodes im Dezember des Jahres 2001, dem wohl laut seines ehemaligen Kollegen Sheppard ein Aneurysma 442 bzw.
laut Mark M. Anderson auch ein anderweitiger, vererbter Koronarfehler, 443 zugrunde gelegen haben
muss.
Angesichts der zahlreichen, ähnlichlautenden Einstreuungen in seinen Prosawerken – „[...] als
kehrten die Toten zurück oder als stünden wir im Begriff, einzugehen zu ihnen“, heißt es dazu in Die
Ausgewanderten, 444 vom „geerbten“, „schwachen Herzen“ ist in Austerlitz die Rede 445 – zu der wohl
von Roland Barthes entlehnten Formel der „Wiederkehr des Toten“, 446 nicht nur mittels der Beschwörung von Fotographien, mag zu fragen sein, inwiefern Sebald seine eigene biographische Tendenz
(sein Faible für Melancholie und sein negatives (Menschen-)Natur- und Geschichtsverständnis, um
hier nur zwei Aspekte zu benennen) mittels der Ästhetisierung erfolgreich transzendiert hat. Sicher zu
sagen ist, dass Sebald durch die Ästhetisierung und Transzendierung des Todes sein Hauptarbeitsfeld
gefunden hat, das er nun, im Unterschied zum literaturwissenschaftlichen Fokus, der entweder falsches Bewusstsein, wie bei Carl Sternheim und Alfred Döblin oder falsches Verhalten, wie bei Alfred Andersch ausleuchtete, um seine eigenen Dispositionen bereichern konnte.
Eine für Sebald diesbezüglich markante Stelle des Fragens nach dem je individuellen Sinn, gerade angesichts der ihm eingeschriebenen, utopischen Reiche des Todes und des Lebens, und der Bedeutung bzw. Bedeutsamkeit von Geschichte und Mensch allgemein, vermittelt uns der Ich-Erzähler
Austerlitz im gleich lautenden Roman:
441
442
443
444
445
446
Vgl. hierzu den hervorragenden und bisher wenig beachteten Aufsatz von Richard Sheppard: Dexter – sinister.
Some observations on decrypting the mors code in the work of W.G. Sebald, S. 438, in: Journal of European Studies 35(4), S. 419-463. Online unter http://jes.sagepub.com vom 27.04.2007. Sheppard bezieht sich darin vor allem
auf das von Long und Whitehead herausgegebene Buch W.G. Sebald – A critical Companion und überprüft deren
zentrale Themata vor allem auf die biographische Stichhaltigkeit hin. Natürlich muss hier gesagt sein, dass die
Ernsthaftigkeit der prophetischen Verlautbarung Sebalds nur schwer zu bemessen ist. Ähnliches liest sich nämlich
schon in der Vorbemerkung seines sehr persönlichen, bereits 1998 erschienen Werkes Logis in einem Landhaus.
Sebald sei es wichtig, heisst es darin, noch rechtzeitig vor Ableben die Ehrerweisung an Hebel, Walser und andere
wertgeschätzte Autoren und Bekannte zustande zu bringen. Die „konstant gebliebene Vorliebe für Hebel, Keller
und Walser war es, die mich auf den Gedanken brachte, ihnen, eh es vielleicht zu spät wird, Habe die Ehre zu sagen.“ (W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 5.) Doch auch hier scheint die prätendierte Kunst einer im
nachhinein sich selbst erfüllenden Prophezeiung zeitlich noch früher anzunehmen zu sein, wie Sebalds Gedicht
Das vorvergangene Jahr uns ahnen lässt: „[...] Auf der Heimfahrt Phantasien / von einem tödlichen Unfall“.
(W.G. Sebald, zit. nach Sven Meyer: Der Kopf, der auftaucht. Zu W.G. Sebalds Nach der Natur, S. 77, in: Atze,
Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren., S. 67-77.) Woher rührt Sebalds Hang zur Eingrenzung seines
Todeszeitpunktes bzw. der Todesart, ist man geneigt zu fragen. Weitere Beispiele lassen sich finden, so der unterlegte Text zur Radierung Tripps von Samuel Beckett. Der engelsungleiche Tod wohl breitet darin seine Flügel
aus.
Richard Sheppard: Dexter – sinister. Some observations on decrypting the mors code in the work of W.G. Sebald,
S. 420.
Mark M. Anderson: Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind, S. 38.
W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 36, 68 f.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 378.
Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, S. 17.
87
Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft
der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur
verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die
447
Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können.
„Ineinander verschachtelte Räume“ suggerieren ein Ordnungsprinzip, welches paradoxerweise, trotz
Austerlitz` Betonung jener höheren Stereometrie ebenso, inexistent ist. Der Konjunktiv, „als gäbe es
keine Zeit“, hat sicher Berechtigung, doch sowohl Zeit als auch Raum erweisen sich als Gedankenkonstrukte des Menschen, um jene Ordnung erst behaupten zu können, von der allgemein angenommen wird, dass sie unserer Wirklichkeit entspricht. Leben und Tod sind dieser Ordnung scheinbar
untergeordnet und bilden den Maßstab menschlichen Vorstellungsvermögens von Anfang und Ende.
Sebald, eingedenk dieser doppelten Illusion, weiss dennoch, dass das Problem der Faktizität nicht
behoben ist.
Der Charakter des Es-ist-so-gewesen von Photographien, diese bei Barthes gemachte Feststellung, nimmt sich nun als unabweisbares Paradoxon aus. Es dient der Versinnbildlichung der Illusion
von einem Zeitfluss bzw. eines Zeitstromes, überhaupt von der Möglichkeit von Erkenntnis, welche
die „Falschheit des schönen Scheins“ 448 zu berichtigen hätte. Auf den systematisch schwer fassbaren
Komplex der Geschichte abgehoben bedeutet dies laut Sebald auch,
daß Geschichte nicht so abläuft, wie die Historiker des 19. Jahrhunderts uns das erzählt haben, also
nach irgendeiner von großen Personen diktierten Logik, nach irgendeiner Logik überhaupt. Es handelt
sich um ganz andere Phänomene, um so etwas wie ein Driften, um Verwehungen, um naturhistorische
449
Muster, um chaotische Dinge, die irgendwann koinzidieren und wieder auseinanderlaufen.
Dieselbe Problematik wird in fast wörtlicher Wiederholung in Austerlitz aufzufinden sein, der, wie
Walter Benjamin zu seiner Zeit in Paris, in der Nationalbibliothek „in stummer Solidarität mit den
zahlreichen anderen Geistesarbeitern an [s]einem Platz gesessen [...]“ 450 ist. Austerlitz, das wäre eine
weitere Referenz an Benjamin, ist dort 1956 auf der Suche nach seinem Vater bzw. nach noch rekonstruierbaren Spuren von ihm, der damals zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges nach Paris flüchtete und
den Austerlitz, möglicherweise ebenso wie Benjamin damals tatsächlich in den Freitod sich flüchtete,
auf der Flucht über die Pyrenäen wähnte.
Die typische autobiographische Ästhetisierung seines eigenen und, der Kontingenz wegen, dem
Zweiten Weltkrieg geschuldeten Lebens, wird im Folgenden deutlich, als Austerlitz „[...] Bilder von
ihrer Reise [der Eltern; d. Verf.] durch das Großdeutsche Reich [sah], [...] den Vater, immer in seinem
schönen Anzug und dem schwarzen Velourshut auf dem Kopf, aufrecht und ruhig, unter all diesen
angstvollen Leuten. Dann wiederum dachte ich“, so fährt Austerlitz fort, „daß Maximilian Paris gewiß
rechtzeitig verlassen haben wird, daß er südwärts gefahren, zu Fuß über die Pyrenäen gegangen und
irgendwo auf der Flucht verschollen ist.“
Dort in Paris aber, so Austerlitz, habe er sich
447
448
449
450
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 265.
Ebenda, S. 52.
Vgl. W.G. Sebald im Interview: Volker Hage im Gespräch mit W.G. Sebald, in: Akzente. W.G. Sebald zum Gedächtnis, Heft 1/Februar 2003, S. 43.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 366.
88
in den kleingedruckten Fußnoten der Werke [verloren], die ich mir vornahm, in den Büchern, die ich in
diesen Noten erwähnt fand, sowie in deren Anmerkungen und so immer weiter zurück, aus der wissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit bis in die absonderlichsten Einzelheiten, in einer Art von
ständiger Regression, die sich in der bald vollkommen unübersichtlichen Form meiner immer mehr sich
451
verzweigenden und auseinanderlaufenden Aufzeichnungen niederschlug.
Geschichtswissenschaft wird hier verstanden als „ständig sich fortentwickelndes Wesen [...], das als
Futter Myriaden von Wörtern braucht, um seinerseits Myriaden von Wörtern hervorbringen zu können.“ 452 Diese zu Recht kritisch betrachtete, dennoch bedingt notwendige „Regression“ wird stets
insuffizient sein, denn sie erhellt nicht „unsere innere Konstitution“, sie entdeckt uns nicht das „Geheimnis“, das hinter unserer Existenz zu vermuten wäre. Im Rückblick freilich wird bleibt wieder nur
das schier verzweifelnde Fragen, das immerhin den guten Willen zeitigt, einen scheinbar hoffnungslosen Lernprozess individueller oder gesellschaftlicher Besserung einzuklagen. In einem Pariser Zirkus,
so die schwarz-weisse Ironie Sebalds und als Anleitung zum glücklich-unglücklichen Leben dienende
Essenz, wird Austerlitz gemeinsam mit Marie ein weiteres, zutiefst irritierendes, schwindelerregendes
Erlebnis haben:
Was in mir selber vorging, als ich dieser von den Zirkusleuten mit ihren etwas verstimmten Instrumenten sozusagen aus dem Nichts hervorgezauberten, ganz und gar fremdländischen Nachtmusik lauschte,
das verstehe ich immer noch nicht, sagte Austerlitz, ebensowenig wie ich seinerzeit hätte sagen können,
ob mir die Brust zusammengedrängt wurde vor Schmerzen oder sich zum erstenmal in meinem Leben
ausweitete vor Glück. [...] aber heute, in der Rückschau, kommt mir vor, als sei das Geheimnis, von
dem ich angerührt wurde, aufgehoben gewesen in dem Bild der schneeweißen Gans, die reglos und unverwandt, solange sie spielten, zwischen den musizierenden Schaustellern stand. Mit etwas vorgerecktem Hals und gesenkten Lidern horchte sie in den von dem gemalten Himmelszelt überspannten Raum
hinein, bis die letzten Töne verschwebt waren, als kennte sie ihr eigenes Los und auch das derjenigen,
453
in deren Gesellschaft sie sich befand.
Deshalb also ist es nützlich, den Blick auf die frühe Kindheit zu richten, weil dort Impulse auszumachen sind, die uns auf den Weg gebracht haben, sich in freier Wahl mit diesem klärungsbedürftigen
und unabschließbaren Komplex auseinander zu setzen. Darauf basiert Sartres „progressiv-regressive
Methode“. Auf der Suche nach der undurchsichtigen Wahrheit erst stellt sich das Ermangeln einer
Teleologie der Geschichte heraus. Die Haltung dazu kann unterschiedlich sein. Sebald sieht sie als,
summarisch betrachtet, abwärtsweisende Spirale. 454 Sartre erachtet sie konstitutiv als Konflikt, der in
451
452
453
454
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 366 f. (Kursivsetzung durch den Verfasser)
Ebenda, S. 367.
Ebenda, S. 385 ff.
Dienlich ist hier Sebalds affirmative, scharfsinnige Referenz an Alexander Kluge, die im engen Zusammenhang
mit Austerlitz steht: „Wenn es in der Folge der gesellschaftlich und naturgeschichtlich determinierten menschlichen Kapazität zur Verarbeitung von Erfahrung ausgeschlossen scheint, daß die Spezies einer von ihr selbst hervorgerufenen Katastrophe anders als auf bloß zufällige Art entrinnen könnte, so heißt das nicht durchweg, daß
auch eine retrospektive Überprüfung der Bedingungen der Zerstörung vergebens wäre. Der Lernprozeß, der sich
im nachhinein vollzieht, ist vielmehr – und das ist die raison d`être von Kluges 30 Jahre nach dem Ereignis [die
Zerstörung Halberstadt am Ende des 2. Weltkrieges; d. Verfasser] zusammengesetzten Text – die einzige Möglichkeit, die im Menschen sich regenden Wunschvorstellungen umzubiegen auf die Antizipation einer Zukunft,
die nicht schon von der aus der verdrängten Erfahrung resultierenden Angst besetzt wäre.“ (W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung, in: W.G. Sebald:
89
die eine so gut als auch in die andere Richtung ausgeweitet werden kann. Der Konflikt um die „innere
Konstitution“ ist aber von uns abhängig, und nicht von der Annahme eines nicht erklärbaren Geheimnisses oder dem bestimmenden Wirken der Koinzidenz. Früheren Aussagen zufolge, muss für Sebald
ein Ding-und-Erlebnis-Komplex – so die rätselhafte Wendung „[…] die Stunde der verlassenen Dinge“ 455 in W.– der Auslöser für sein von ihm selbst bekundetes „manisches“ Interesse an Erdkunde und
Geschichte und im weiteren für sein lebenslanges Suchen nach einer der Zerstörung und „Verstörung“ 456 adäquaten Vermittlungs- und Erklärungsinstanz gewesen sein.
Es handelt sich um profane Dinge, die erst ein Kind mit Bedeutungspunkten derart versehen
kann, dass sie Fragen offen lassen – und die Schreckgespenster der Kindheit nicht mehr zu bändigen
wissen. Zu nennen wären ein Schwarz-Weiß-Foto aus dem Familien-Fotoalbum, ein Kartenspiel für
ihn und Sebalds ältere Schwester zu Weihnachten, das Städtequartett aus dem ersten Quelle-Katalog,
nebst Kamelhaarpantoffeln mit Schnallen. Das Bild wurde von seinem Vater aufgenommen und zeigte
einen Toten, das Spiel wurde als Zugeständnis an die Pantoffeln gesehen, das die Geschwister an den
Wochenendtagen mit dem Vater spielten. Zu nennen wären die Reiseerlebnisse Sebalds, welche zerstörte Ruinen-Städte als den Normalzustand anzeigten, ein Hausbrand im Ort, der Geschichtsunterricht
mit der Lehrerin Fräulein Rauch, 457 der Tod des Jägers Schlag, 458 dessen Hergang – wie so viele vermeintliche Selbstmordgeschichten Sebalds auch – gemäss dem Grossvater „eine undurchsichtige,
nicht recht geheure Geschichte“ 459 bliebe.
2.2.4 „Bessere Sehnsucht“ als Mittler zwischen „Metaphysik der Geschichte“ und „Metaphysik der
Koinzidenz“
Sebald stellt ja in all seinen Äußerungen und über Jahrzehnte hinweg die berechtigte Frage nach dieser
dreifachen (psychologischen, soziologischen und architektonischen) „inneren Konstitution“, nämlich
jene des Individuums, 460 des „menschenabweisenden und den Bedürfnissen jedes wahren Leser von
vornherein kompromisslos entgegengesetzten Gebäude[s]“ 461 der neuen Nationsbibliothek in Paris,
und der soziologischen, wenn er jene „der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft“ 462 thematisiert.
Besteht dann aufgrund „Kluges detaillierte[r] Beschreibung der gesellschaftlichen Organisation des
Unglücks“, zu Recht „die unausgesprochene Hoffnung, daß ein richtiges Verständnis der von uns arrangierten Katastrophen die erste Voraussetzung wäre für die gesellschaftliche Organisation des
455
456
457
458
459
460
461
462
Campo Santo, S. 94 f.) Diese Sicht bekräftigt er nochmals in: Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit
W.G. Sebald, S. 136, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald: „In der Interaktion und Interferenz von Bild und Text
waren Klaus Theweleit und Alexander Kluge für mich augenöffnende Leseerfahrungen.“
W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 265.
Sebald verwendet den Begriff der ,Verstörung` sowohl im Interview mit Volker Hage, als auch in Austerlitz (S.
400.) und seinem Aufsatz Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler
Zerstörung, S. 101.
Vgl. W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 262 f.
Sebald zitiert hier sicherlich Kafkas badischen Jäger Hans Schlag in seiner Erzählung Auf dem Dachboden.
W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 269. Zusätzlich fingiert Sebald die Koinzidenz mit dem Jäger Gracchus aus
Kafkas gleichnamiger Erzählung, sei doch eine „kleine Barke“ auf dem linken Oberarm des Jägers Schlag tätowiert gewesen. (Ebenda, S. 272.) Der Jäger wird einfach verdoppelt.
Vgl. W.G. Sebald im Interview mit Volker Hage aus dem Jahre 2000.
Vgl. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 388.
Vgl. W.G. Sebald: Konstruktionen der Trauer. Günter Grass und Wolfgang Hildesheimer, S. 101, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S. 101-127.
90
Glücks“? Kaum, so Sebalds Fazit, würde „der planmäßige Aufbau des Unglücks, den Kluge historisch
herleitet aus der Entwicklung der industriellen Produktionsverhältnisse, das abstrakte Prinzip Hoffnung“ 463 rechtfertigen, auch nicht in einer „[...] von unserer besseren Sehnsucht ersonnenen Welt.“ 464
Prosaischen Ausdruck erfährt diese pessimistische Wendung jenes frühen Aufsatzes Sebalds erneut in
Austerlitz, worin er sich über die Schliessung der alten Nationalbibliothek beklagt. Die alte wird nun,
trotz der Kreation von Myriaden von Wörtern zur neuerlichen Erschaffung weiterer Myriaden, als der
helle, „gute“ Ort verklärt:
[…] der Kuppelsaal mit den grünen Porzellanlampenschirmen, die ein so gutes, beruhigendes Licht gaben, ist verlassen, die Bücher sind von den im Kreisrund sich fortsetzenden Regalen geräumt und ihre
Leser, die einst auf Tuchfühlung mit ihren Platznachbarn und in stummen Einvernehmen mit denen, die
ihnen vorausgegangen waren, an ihren mit kleinen Emailleschildchen nummerierten Pulten gesessen
465
sind, scheinen sich aufgelöst zu haben in die kühle Luft.
Die neue, „menschenabweisende“, 466 nach dem damaligen französischen Präsidenten benannte Nationalbibliothek wird schon mit dem „Abwärtstransport“ vom Promenadendeck ins Parterre mittels eines
Förderbandes diskreditiert, der laut Austerlitz wohl „[…] eigens zur Verunsicherung und Erniedrigung
der Leser“ 467 ersonnen wurde. So erschien es ihm im weiteren beim Betrachten der Bibliotheksbesucher,
[…] daß diese vereinzelt oder in kleinen Gruppen am Boden kauernden Gestalten sich hier in der letzten Abendglut niedergelassen haben auf ihrem Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai. Es
versteht sich von selbst, daß man aus der roten Sinaivorhalle nicht ohne weiteres hineingehen kann in
468
die innere Bastion der Bibliothek […].
Nur allzu deutlich wird hier von Sebald dasjenige verschränkt, was aus der literaturwissenschaftlichen
Analyse von Geschichte und Naturgeschichte gewonnen wurde, und nun in schriftstellerischer Kunst
Erkenntnis gewinnend aufgehoben werden soll. Sebald arrangiert kontingentes Material aus den Jahrhunderte umspannenden Alben (Photographien, Landschaftsbilder, Porträts und Postkarten aus der
Registratur der dinglichen Welt samt Lebensgeschichten beinhaltend) seiner Zeit zu einem Kunstobjekt, das in der Heraufbeschwörung einer fraglichen, belehrenden Erinnerung auch ein wenig unausgesprochene Hoffnung sein soll, daraus sich sein Glück zusammenstellen zu können. Die melancholische
Grundstimmung ist ihm wohl beides hierbei, Lust und Laster, sich gegenseitig bedingend, mal das
eine verstärkend, mal es verringernd. Die zunächst möglich scheinende Balance bleibt eine geheimnisvolle Kunst, an deren Ende auch Austerlitz zu vernehmen meint, „[...] daß die Grenze zwischen
dem Tod und dem Leben durchlässiger ist, als wir gemeinhin glauben [...].“ 469
463
464
465
466
467
468
469
W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte, S. 95 f., in: W.G. Sebald: Campo Santo.
W.G. Sebald: Campo Santo, S. 24, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S. 19-38.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 387 f.
Ebenda, S. 388.
Ebenda, S. 391.
Ebenda, S. 391 f.
Ebenda, S. 397.
91
2.2.5 Versuch der Restitution
Die Frage indes nach der Schuld und Scham, welche Sebald zufolge „dem Skrupulantismus der Überlebenden“ 470 entspringe, stellt sich auch für Austerlitz zwingend, weil Sebald sie bereits in seinem
Aufsatz über Geschichte und Naturgeschichte als zentrales Problem jedweden künstlerischen Versuchs
über die große Katastrophe in den Blick – und sich zur Aufgabe nahm. Die Erinnerung an das zivilisatorische Scheitern auszulöschen, indem – allegorisch gemäß des deutschen Wiederaufbaus des zerstörten Dritten Reiches – die alte der neuen Bibliothek weichen musste, schlägt fehl, da Austerlitz in der
neuen
beim Anblick der Registraturkammer die zwanghafte Vorstellung auf[kam], daß dort, in der kleinen
Festung von Terezín, in deren nasskalten Kasematten so viele zugrunde gegangen sind, mein wahrer
Arbeitsplatz gewesen wäre und daß ich ihn nicht eingenommen habe aus eigener Schuld.
471
An dieser Stelle wird klar, welch grosses Verdienst Sebald dem Schriftsteller Nossack konzedierte,
dessen „Ästhetisierung“ der Zerstörung Hamburgs im Jahre 1943 als „eine „Beschreibung“ der Katastrophe eher von ihrem Rand her als aus ihrem Zentrum heraus möglich ist.“ 472 Austerlitz durfte also
nicht im Zentrum, in der Festung von Theresienstadt sein, um vom Rande her, mit Sebald gesprochen,
berichten zu können von „[...] einer alle künstlerische Imagination übersteigenden Erfahrung.“ 473
Sebald lässt sich demnach mit seinem Prosastück Austerlitz in der direkten Nachfolgerschaft unter anderem von Nossack, Peter Weiss und Canetti sehen. Die „Metaphysik der Geschichte“ lässt sich
als Hypothese lesen, dass es einen Grund gegeben haben mag, am Rande überlebt zu haben, demnach
nicht, wie Millionen andere, im Zentrum vernicht worden zu sein. Dieser zugleich lebensberechtigende Grund wird nach Sebald, in Anlehnung an Weiss, am „kategorischen Imperativ der Erinnerung“474
bemessen, die zerstörerische und verstörende Geschichte erzählen zu müssen und dies trotz des „Ekel[s] vor diesem „neuen Leben“.“ 475
Warum er, Austerlitz, überlebt hat, das versucht Sebald durch ein ausgewiesenes „missing link“
in der Anthropogenese zu beantworten, nämlich durch die hier konzedierte „Metaphysik der Koinzidenz“. Beide, Metaphysik der Geschichte und der Koinzidenz, sind so gegensätzlich in ihrer Struktur
und dennoch komplementär wie das Helle und das Dunkle, wie das Individuum und die Gesellschaft.
Die eingenommene, gleichsam Licht ins Dunkel bringende und sich mit den Opfern und den Autoren
solidarisierende Zeugenschaft Sebalds über den Vektor Austerlitz seines letzten Werkes, gezeugt während eines väterlichen Soldatenurlaubs und geboren am Ende des zweiten Weltkriegs, wird auch am
Verweis auf die „nahezu emblematische[] Koinzidenz“ ersichtlich, die Peter Weiss literarisch durch
470
471
472
473
474
475
W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung,
S. 79.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 397.
W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung,
S. 82.
Ebenda, S. 80.
W.G. Sebald: Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung du Grausamkeit im Werk von Peter Weiss,
S. 140, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S. 128-148.
W.G: Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung,
S. 85.
92
seinen Zeugen 6 fingiert, demzufolge zwei bei einer „medizinischen Exekution“ assistierende Funktionshäftlinge auf „Schwarz und Weiss“ 476 lauteten.
Die strenge Ablehnung der „Existentialphilosophie“ durch Sebald – sowohl als Philosophem als
auch als methodische Folie zur Literaturanalyse – liegt nun wohl in einer eher mangelnden Rezeption
Sartres vielseitigen Werkes. Existentialphilosophie war ja nicht nur auf Heidegger reduziert – wie
Sebald selbst in seinem Essay Mit den Augen des Nachtvogels. Über Jean Améry, 477 der sich ausdrücklich auf Sartres Philosophie bezog, bemerkte – und warum er Sartre – trotz der gemeinsamen
Nähe zu Paris, einer Art höchst polyvalenten Drehscheibe für ihn gleichwohl wie für sein letztes Werk
Austerlitz – nicht rezipierte, kann nur vermutet werden.
Dabei weist doch Sartre mit Sebalds Paten Nossack, Weiss, Kluge und denen der Frankfurter
Schule und Kritischen Theorie in eine ähnliche Richtung der Betrachtung und Beschreibung der wechselseitigen Bedingungen individuellen und gesellschaftlichen, durchweg ökonomischen Lebens. Es
geht sowohl Sartre als auch Sebald um die Frage, was man von einem Menschen wissen kann, um die
zentrale Frage des existentiellen und gesellschaftlich totalisierten Scheiterns.
Nicht minder bei Sebald. Glaubt doch Austerlitz am Ende seiner Reise, die unmittelbar auch das
Ende der Erzählung anklingen lässt, und bevor er und der Erzähler in Paris sich trennen, „man sei eingetreten in eine Märchenerzählung, die, genau wie das Leben selber, älter geworden ist mit der verflossenen Zeit.“ Sebald hat schon in seiner Beschäftigung mit Peter Weiss und auf „die Xylographien
in den Grimmschen Märchen und insbesondere die naiven, farbenstarken Bilder Struwelpeterbuchs
[sic!]“ mit ihrer inhärierenden, so Sebald, „eigenartigen moralischen Wissenschaft“ auf einen frühen,
die Kindheit, insbesondere die kindliche Phantasie – durch Schreckgespenster – prägenden Zeitpunkt,
verwiesen. In dieser, gleich der den „codex iuris“ repräsentierenden, „eigenartigen moralischen Wissenschaft“, die das Kind durch Erzählung dieser finsteren Geschichten vermittelt bekommt, ist der
Grund auszumachen, dass es sich, wie Sebald aus eigener Erfahrung wohl schreiben kann, „gerade im
Unheimlichsten, häuslich [...] ein[richtet]: perverses Wohlbehagen an einer spezifisch deutschen Form
lehrhafter Grausamkeit.“ 478
Bereits in der Döblin-Arbeit, in der ja auch diese schon seit Bismarck währende, spezifisch
deutsche Grausamkeit, unter dem Aspekt der Zerstörung verhandelt wird, interpretiert Sebald die Korrektur Döblins, wonach statt „Paris“ zuerst das Wort „Berlin“ stand, dahingehend, dass seine
Fixierung an Berlin [...] das direkte Korrelat seiner Hoffnung [ist], daß man eine Existenz, die das Judentum mit dem Begriff des Exils umschrieb, nicht nur häuslich sich einrichten könne, sondern daß das
Exil letztlich mehr bedeute als bloß die Erwartung der Erlösung und versöhnbar sei mit der vollen Ak479
tivität des Lebens.
Diese von Sebald unverschuldete Grausamkeit, die die Abstammung von einem dem Dritten Reich
dienenden Vater beinhaltet, wird Sebald mitbewogen haben, auf Wanderschaft zu gehen, ungeachtet
der negativen Perspektive, gibt es doch, so Adorno in Minima Moralia, „kein richtiges Leben im fal476
477
478
479
W.G. Sebald: Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung du Grausamkeit im Werk von Peter Weiss,
S. 143.
Vgl. hierzu W.G. Sebald: Mit den Augen des Nachtvogels. Über Jean Améry, in: W.G. Sebald: Campo Santo,
S. 149-170.
W.G. Sebald: Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung du Grausamkeit im Werk von Peter Weiss,
S. 138 f.
W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 76. (Kursivsetzung durch den Verfasser)
93
schen.“ 480 Sebald wähnte sich ob seiner freiwillig-unfreiwilligen, diasporischen Exilexistenz, so darf
man schließen, in einer stets zeitlich und örtlich „unheimlichen Heimat“, wie auch der Titel einer Aufsatzsammlung zur österreichischen Literatur lautet:
Erst als ich 1965 in die Schweiz und ein Jahr darauf nach England ging, begannen sich, aus der Entfernung heraus, in meinem Kopf Gedanken zu bilden über mein Vaterland, und diese Gedanken haben
sich, in den mehr als dreißig Jahren, die ich nun schon auswärts lebe, in zunehmenden Maße kompliziert. Die ganze Republik hat für mich etwas eigenartig Irreales, so ungefähr wie ein nicht enden wollendes Déja-vu. In England nur gastweise zuhause, schwanke ich auch hier zwischen Gefühlen der Vertrautheit und der Dislokation. Einmal, in einem Traum, wurde ich schon, wie Hebel, gleichfalls in einem Traum, in Paris, als Landesverräter und Hochstapler entlarvt. Nicht zuletzt aufgrund solcher Befürchtungen ist mir die Aufnahme in die Akademie willkommen als eine unverhoffte Form der Legiti481
mation.
Die Literatur, so Sebald, hat die Aufgabe den Versuch einer Wiedereinsetzung des Rechts anstelle des
erlittenen Unrechts zu übernehmen. Darum konnte Sebald nicht länger nur Literaturwissenschaftler
bleiben. Er musste sein an den Helden seines Lebens extrapoliertes Wissen ästhetisieren, um sich
noch, wennschon in jeder Hinsicht heimatlos, dennoch ansatzweise orientieren zu können in „der
historia calamitatum der Menschheit und dem, was wir dem kollektiven Unglück noch an Kultur abdingen.“ 482 „Es gibt viele Formen des Schreibens;“, so Sebald anlässlich zur Einweihung eines der
Literatur verschriebenen Stuttgarter Hauses kurz vor seinem Tod, „einzig aber in der literarischen geht
es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um den Versuch einer
Restitution.“ 483
Sebald ist in einer Linie mit den Denkern der Frankfurter Schule und mit jenen der Kritischen
Theorie, mit den die große Zerstörung überlebenden Schriftstellern Nossack, Weiss, Améry und Kluge, fast generell mit allen schreibenden Außenseitern wie Walser oder Ernst Herbeck und Protagonisten von Selbstmordgeschichten wie beispielsweise Paul Bereyter oder der Jäger Schlag zu sehen, die
sich allesamt in der „Absicht der Repräsentation der Grausamkeit“ versammelt hatten. Sie ist, so Sebald, ein immer scheiternder Versuch, „weil unsere Art aus dem, was sie anrichtet, nicht zu verlernen
mag. Darum nimmt die beschwerliche Arbeit an der Kultur so wenig ein Ende wie die Qual und Pein,
deren Remedur sie anstrebt.“ 484
Was Sebald Peter Weiss konzedierte, trifft auf ihn selbst in programmatischer Hinsicht zu:
Der Fall des Peter Weiss demonstriert den Versuch, in heroischer, selbstzerstörerischer Arbeit die Absolution zu erlangen, [...] um begleitet vom pavor nocturnus und beladen mit einem ungeheuren ideologischen Ballast eine Pilgerfahrt anzutreten durch die Geröllhalden unserer Kultur- und Zeitgeschichte,
[...] als [...] Ausdruck eines ephemeren Erlösungswunsches nicht bloß, sondern als der des Willens, am
485
Ende der Zeit auf der Seite der Opfer zu stehen.
480
481
482
483
484
485
Theodor W. Adorno: Minima Moralia, S. 43.
W.G. Sebald: Antrittsrede vor dem Kolloquium der Deutschen Akademie, S. 250, in: W.G. Sebald: Campo Santo,
S. 249-250.
W.G. Sebald: Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung du Grausamkeit im Werk von Peter Weiss,
S. 146.
W.G. Sebald: Ein Versuch der Restitution, S. 248, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S.240-248.
W.G. Sebald: Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung du Grausamkeit im Werk von Peter Weiss,
S. 146 f.
Ebenda, S. 147.
94
Sebald solidarisierte sich als ganze, sprichwörtlich mit Leib und Seele schreibende Person, als Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, mit den Opfern der gesamten „historia calamitatum der Menschheit“. Die fragliche Solidarisierung kostete ihm sehr viel Überwindung. „Viel hätte, glaube ich, an
diesem Vormittag nicht gefehlt“, so schreibt er in Schwindel. Gefühle. über den gemeinsamen Besuch
der oberhalb der Donau gelegenen Burg Greifenstein, und er hätte mit Ernst Herbeck „das Fliegen
gelernt, oder ich zumindest, was man braucht für einen anständigen Absturz. Aber die günstigsten
Augenblicke versäumen wir immer.“ 486 Auch diese, ein Jahrzehnt zurückliegende Gunst der Stunde
ausschlagend, schrieb er Austerlitz, gleichsam ein schwarz-weißes Requiem, als auch eine Geschichte
mit starkem autobiographischen Bezug. Dieses Werk war dem Einlösen seines Versuchs einer Restitution erfolgreich gewidmet.
486
W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 49.
95
SCHLUSS
Am Anfang der Arbeit stand das Postulat, dass es um es des Verstehenswillen nicht nützlich ist, das
Werk des Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers W.G. Sebald aufgrund des Schemas „bewußt“
und „unbewusst“ zu interpretieren. Die Reduzierung des Sebaldschen Werks auf unbewusste, verdrängte bzw. verarbeitete, durchgearbeitete Kindheitstraumata – mithin auf das sprichwörtlich „gebrannte Kind“ 487 (Graham Jackman) oder auf eine „unbewältigte Mutterproblematik“ 488 (Wolf Wucherpfennig) – ist insuffizient. Sie ignorierte den eigenen, konstitutiven, wenn auch widersprüchlichen
Charakter und Willen Sebalds, mithin nicht nur seine künstlerische Freiheit.
Sebald wendet sich selbst dagegen, auch wenn er das psychoanalytische Vokabular des Unbewussten vor allem in seinen literaturkritischen Arbeiten anwendet und bei den Germanistenkollegen
im Mindesten als bekannt voraussetzt. Er stellt strikte Forderungen an das allgemein zum Scheitern
verurteilte Leben des Individuums: Die Ästhetisierung der Katastrophengeschichte mittels Literatur.
Trost beim Scheitern ist ihm das Surrogat einer Sinnhaftigkeit, welche sowohl die „Metaphysik der
Geschichte“ als auch die „Metaphysik der Koinzidenz“ gegenläufig und doch komplementär repräsentieren soll. Das Ende von Austerlitz belegt die Unabschliessbarkeit dieses nicht weiter hinterfragbaren
Geschichtskonglomerats – zwischen Geschichte und Naturgeschichte –, das selbst dann nicht enden
will, wenn man, wie der Erzähler verlautbart, wie des öfteren „aus einem unguten Traum“ 489 aufwacht:
Ich weiß nicht, sagte Austerlitz, was das alles bedeutet, und werde also weitersuchen [...]. Früher, sagte
Austerlitz zuletzt, sind hier heraußen große Sümpfe gewesen, auf denen die Leute Schlittschuh liefen
im Winter, genau wie vor dem Bishop`s Gate in London, und überreichte mir die Schlüssel seines Hauses in der Alderney Street. Ich könne dort, wann immer ich wolle, sagte er, mein Quartier aufschlagen
490
und die schwarzweißen Bilder studieren, die als einziges übrigbleiben würden von seinem Leben.
Sollen der Traum, und im weiteren Sinne auch das Trauma, als eine Instanz des Unbewussten Geltung
beanspruchen, so bleibt gerade das Warum einer Untat, das unheimliche Warum so vielen Unglücks
unbeantwortet. Sebalds Schreiben verbleibt am Ende wieder bei etwas Ominösem im Dunklen verfangen und benennt somit nicht das Individuum als letzte freie und verantwortliche Instanz für das abgründige Scheitern der Zivilisation.
Sebalds Verdienst rührt daher vor allem in der reflexiven Wendung seiner Lebenserfahrungen
auf das Individuum im Allgemeinen und deren Stellung in der Geschichte im Besonderen. Seine reflexiven Gedankenanstrengungen münden unausweichlich in die Sartresche Annahme der generellen
Entfremdung des Individuums aufgrund der Nicht-Identität des An-sich- und des Für-sich-Seins. Die
Analyse der gesellschaftlichen Entfremdung lässt Sebald allerdings den Platz bei der Frankfurter
Schule und der Freudschen Trieblehre einnehmen. Sartre behauptet hingegen den konstituierenden
Konflikt mit dem Anderen, der nur dadurch bewältigt werden könne, versuchsweise die jeweilige
Freiheit des Anderen anzuerkennen, seine aufzugeben und erneut wiederzuerlangen. Für Sartre bleibt
487
488
489
490
Vgl. Graham Jackman: „Gebranntes Kind“? W.G. Sebald`s „Metaphysik der Geschichte“, in: German Life and
Letters, 57;4 Oxford/ Malden Oktober 2004, S. 456-471.
Vgl. Wolf Wucherpfennig: W.G. Sebalds Roman Austerlitz. Persönliche und gesellschaftliche Erinnerungsarbeit,
S. 158 f.
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 412.
Ebenda, S. 410.
96
dieser Sachverhalt schlichtweg kontingent, wenn nicht absurd, für Sebald stellt sich durch das ganze
Werk die sehnsüchtige Frage nach einem verborgenen, höheren Sinn, der nur nach der Natur vergeblich gesucht werden müsste.
Die individuelle Entfremdung findet bei Sebald ihren Ausdruck in den existentiellen, ekelerregenden Abgrunderfahrungen, des Bewusstwerdens des Nichts, was das Individuum halten könnte,
gekoppelt mit der Zerstörung fast eines ganzen Volkes. Über sein gesamtes Prosawerk, angefangen
von Nach der Natur, Schwindel. Gefühle., gefolgt von den vier langen Erzählungen Die Ausgewanderten, Die Ringe des Saturn bis hin zu Austerlitz kulminiert sich dieses Gefühl nun scheinbar quantitativ
messbar an der Festung von Breendonk in Belgien, die der Erzähler am Ende erneut aufsucht. Während des Studiums eines ihm beim ersten Treffen in Paris von Austerlitz ausgehändigten Buches wird
der Leser erneut zuerst der fingierten Koinzidenz gewahr, dass auch der Protagonist dieses Buches
eines Herztodes starb. Sein in Südafrika lebender Enkel Dan Jakobson, ein wissenschaftlicher Kollege
von Austerlitz, so der Erzähler weiter, schrieb über die bis zum Jahre 1920 meist schon stillegelegten
Diamantengruben, so auch über
die beiden größten, die Kimberley Mine und die De Beers Mine, und da sie nicht eingezäunt waren,
konnte, wer es wagte, bis an den vordersten Rand dieser riesigen Gruben herantreten und hinabblicken
in eine Tiefe von mehreren tausend Fuß. Wahrhaft schreckenserregend sei es gewesen, schreibt Jakobson, einen Schritt von dem festen Erdboden eine solche Leere sich auftun zu sehen, zu begreifen, daß es
keinen Übergang gab, sondern nur diesen Rand, auf der einen Seite das selbstverständliche Leben, auf
der anderen Seite sein unausdenkbares Gegenteil. Der Abgrund, in den kein Lichtstrahl hinabreicht, ist
Jakobsons Bild für die untergegangene Vorzeit seiner Familie und seines Volkes, die sich, wie er weiß,
491
von dort drunten nicht mehr heraufholen läßt.
Während die existentielle Entfremdung in einem permanenten Spannungszustand des An- und Fürsich-Seins aufgehoben ist, stellt sich ob der gesellschaftlichen Verwerfungen, die angesichts der dauernden Zerstörungen von Lebenszusammenhängen beschieden werden müssen, die Frage nach dem
Sinn und Werden von Geschichte, nach der Wahrheit von ihr:
Aber was wissen wir schon im voraus vom Verlauf der Geschichte, der sich entwickelt nach irgendeinem, von keiner Logik zu entschlüsselnden Gesetz, bewegt und in seiner Richtung verändert oft im entscheidenden Moment von unwägbaren Winzigkeiten, durch einen kaum spürbaren Luftzug, durch ein
zur Erde sinkendes Blatt oder durch einen von einem Auge zum anderen quer durch eine Menschversammlung gehenden Blick. Nicht einmal in der Rückschau können wir erkennen, wie es wirklich vordem gewesen ist. Die genaueste Wissenschaft von der Vergangenheit reicht kaum näher an die von kei492
ner Vorstellungskraft zu erfassende Wahrheit heran [...].
Die Sebaldsche „Metaphysik der Geschichte“ aus Austerlitz und die „Metaphysik der Koinzidenz“
interagieren komplementär und wechselseitig ähnlich wie das Subjekt und die Gesellschaft. Die unternommene Totalisierungsbewegung auf die Wahrheit hin bleibt approximativ wie auch Sartre mit seiner begrifflichen Wendung der „detotalisierten Totalisierung“ feststellte, die ihm zur Analyse Flauberts zugrunde lag.
Sebald versucht gewissermassen in konzentrischen Kreisen, analog zwar zum Motto aus Die
Ringe des Saturn, sich in geradezu entgegengesetzter Richtung vom Rand her dem Zentrum der
491
492
W.G. Sebald: Austerlitz, S. 416.
W.G. Sebald: Kleine Exkursion nach Ajaccio, S. 17, in W.G. Sebald: Campo Santo, S. 7-18.
97
„Wahrheit“ anzunähern. Er unternimmt die autobiographisch-literarischen Wanderungen von seinem
ostenglischen, literaturwissenschaftlichen Zentrum aus. Nach und nach, mit Abstechern nach China
und Afrika, schickt er sich an, über Italien und Österreich, über die Schweiz und Deutschland, den
letzten Annäherungsversuch mit Austerlitz zu fingieren. Sowohl die subjektive als auch die gesellschaftliche Entfremdung wird darin entfaltet, als handelte es sich um Notwendigkeiten und nicht um
die Zutat des freien Willens des Subjekts, der trotz Vernunftbegabtheit nichts anderes als Zerstörung
hervorzubringen im Stande ist. Sebalds ästhetisierte, somit transzendierte Dispositionen – unter anderem die Melancholie, 493 die pauschale Kritik und harsche Provokation zum Beispiel den Germanisten
gegenüber (und demnach nicht die oftmals vermuteten frühkindlichen Traumata Sebalds!) – sind ihm
hierzu nur bestenfalls schmückendes Beiwerk. Er weiss doch zu genau um die ansonsten vorherrschende und beschämende Tatsache, „daß wir unseren Toten von der vielfältigen Schönheit des Lebens nichts bieten als den billigsten Ersatz.“ 494
Sebalds, den Opfern der Judenvernichtung dargereichter „Grabschmuck“, ist alles andere als billig. Es ist, um mit dem kurzen Text Campo Santo aus Sebalds Nachlass zu schliessen, „fast wie ein
den Toten nachgesandtes Schuldbekenntnis, wie eine halbherzige Bitte um Nachsicht an diejenigen,
die man vor der Zeit unter die Erde gebracht hat.“ 495 Will man einen „ursprünglichen Entwurf“ Sebalds annehmen, dann diesen, den Toten der früh schon geahnten „lautlosen Katastrophe, die sich
ohne Aufhebens vor dem Betrachter vollzieht“, 496 sowohl ästhetisch, als auch menschlich angemessen
die letzte Ehre zu erweisen. „Nicht nur als freundliche Sozialgeste, sondern als Verlängerung des jeweils aussterbenden Gedächtnisses in die Gegenwart.“ 497
So lässt sich Sebalds Interpretation verstehen, der zufolge Rembrandt – in seiner berühmten
Darstellung der Prosektur eines Hingerichteten durch Dr. Nicolaas Tulp – sich auf die Seite des Opfers, des gerichteten Verbrechers Aris Kindt stellt. „Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die
ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den erstarrten cartesischen Blick,
er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht den Schatten in dem halboffenen
Mund und über dem Auge des Toten.“ 498
Sebald und sein Werk stehen somit im Spannungsfeld zwischen subjektiver, existentieller und
gesellschaftlicher Entfremdung und dessen Vermittlung. In Die Ringe des Saturn lässt Sebald den
Erzähler in einem (autobiographischen), phänomenologischen Rückblick auf einen Krankenhausaufenthalt, die ontologische Entfremdung und Grundlosigkeit auf den Punkt bringen. Die Nähe zu Sartres
„Bersten“ 499 des Egos in unmittelbares, gelebtes und reflektiertes Bewusstsein, klingen sehr deutlich
an:
493
494
495
496
497
498
499
Sebalds eigene Aussage im Interview Sven Siedenberg untermauert dies: “Es wird in meinen Büchern nicht auf
eine explizite Weise von Schwermut geredet, aber sie ist ständig präsent. Ich bin schon ein Melancholiker. Das ist
eine emotionale Disposition.“ (Vgl. Sven Siedenberg: Anatomie der Schwermut: Interview mit W.G. Sebald. Über
sein Schreiben und die Schrecken der Geschichte, S. 147, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald,
S. 146-148.
W.G. Sebald: Campo Santo, S. 22, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S. 19-38.
Ebenda, S. 23.
W.G. Sebald: Nach der Natur, S. 77.
So W.G. Sebald im Gespräch mit Sigrid Löffler. Vgl. Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 136, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, S. 135-137.
W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 27.
Vgl. Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, S. 33 f.
98
Ich begann meinen Körper zu spüren, den tauben Fuß, die schmerzende Stelle in meinem Rücken, registrierte das Tellergeklapper, mit dem draußen auf dem Gang der Krankenhaustag anhob, und sah, als
das erste Frühlicht die Höhe erhellte, wie, anscheinend aus eigener Kraft, ein Kondensstreifen quer
durch das von meinem Fenster umrahmte Stück Himmel zog. Ich habe diese weiße Spur damals für ein
gutes Zeichen gehalten, fürchte aber jetzt in der Rückschau, daß sie der Anfang gewesen ist eines Rißes, der seither durch mein Leben geht. Die Maschine an der Spitze der Flugbahn war so unsichtbar wie
die Passagiere in ihrem Inneren. Die Unsichtbarkeit und Unfaßbarkeit dessen, was uns bewegt, das ist
auch für Thomas Browne, der unsere Welt nur als Schattenbild einer anderen ansah, ein letzten Endes
unauslotbares Rätsel gewesen. In einem fort hat er darum denkend und schreibend versucht, das irdische Dasein, die ihm nächsten Dinge ebenso wie die Sphären des Universums vom Standpunkt des Au500
ßenseiters, ja man könnte sagen, mit dem Auge des Schöpfers zu betrachten.
Sebald formuliert in diesem Sinne, und dieses Zitat steht für sein Gesamtwerk, das unmögliche
Bestreben, Eins zu sein bzw. An-und-Für-sich-, demnach „Gott-gleich-“ zu sein, wie Sartre es in Das
Sein und das Nichts formulierte. Die Verurteilung zur Freiheit ist genau an dieser Stelle angesiedelt
und muss, ob ihrer schwindel- und ekelerregenden Grund- und Sinnlosigkeit, vollständig gelebt werden auf ein im weiteren Verlauf je neu zu bestimmendes Ziel hin. Früh schon wurde Sebalds sich dieses Zwiespalts bewusst, wie seine Antwort auf eine eher unscheinbare Feststellung Poltronieris schließen lässt:
Ich wußte halt nicht mehr, ist man noch richtig im Kopf oder ist man es nicht mehr. Ich habe mich eine
beträchtliche Zeit lang nahe am Rand meiner Vernunft befunden. Die Gefahr, daß man den Verstand
verliert ist nicht gering, vielen Leuten widerfährt es, daß die über ein, zwei Jahrzehnte aufgebaute soziale und psychische Identität ins Feuer gerät. Bei Leuten, die einen kreativen Impuls in sich tragen, ist
das noch ausgeprägter.
501
Darin liegt Sebalds ursprüngliche Wahl der Schriftstellerei begründet, nicht im Unbewussten. Die
inszenierte „Metaphysik der Koinzidenz“ dient Sebald letztlich als ästhetisches Korrelat für den Umstand, den Sartre für das Für-sich-Sein des Bewusstseins ausmachte, „das nicht mit sich selbst in einer
vollständigen Adäquation koinzidiert.“ 502
500
501
502
W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 29.
Vgl. dazu das Interview Marco Poltronieri: Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe? Ein Gespräch mit W.G.
Sebald, S. 141 f., in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, S. 138-144.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 164.
99
LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS
Primärliteratur von Jean-Paul Sartre
Sartre, Jean-Paul: Sartre über Sartre. Autobiographische Schriften, Reinbek bei Hamburg 1977.
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Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931- 1939, Reinbek bei Hamburg 1982.
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Bewußtsein und Selbsterkenntnis. Die Seinsdimension des Subjekts, Reinbek bei Hamburg 1973.
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Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857. I. Die Konstitution, Reinbek bei Hamburg 1977.
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Die Verantwortlichkeit des Schriftstellers. Vortrag zur Gründung der UNESCO am 1. November 1946 an der
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bei Hamburg 1984, S. 17-38.
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Was ist Literatur?, Reinbek bei Hamburg 1997.
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Baudelaire. Ein Essay, Reinbek bei Hamburg 1997.
–
Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 72001.
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Fragen der Methode, Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1999.
–
Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek bei Hamburg 2005.
Primärliteratur von Winfried Georg Sebald
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–
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(=Sprache und Literatur; Bd. 58)
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Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, Stuttgart 1980. (=Literaturwissenschaft, Gesellschaftswissenschaft; Bd. 45)
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Alfred Döblin oder die politische Unzuverlässigkeit des bürgerlichen Literaten, in: Werner Stauffacher (Hg.):
Internationale Alfred-Döblin-Kolloquien 1980-1983, Bern, Frankfurt am Main, New York 1986, S. 133-139.
= Jahrbuch für Internationale Germanistik: Reihe A, Kongressberichte; Bd. 14)
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Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, Frankfurt am Main
4
2003. (Ersterscheinung Residenz Verlag Salzburg und Wien 1985.)
–
Nach der Natur, Frankfurt am Main 1995. (Ersterscheinung Greno Verlagsgesellschaft Nördlingen 1988.)
–
Schwindel. Gefühle, Frankfurt am Main 42002. (Ersterscheinung Eichborn Verlag Frankfurt am Main 1990.)
–
Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur, Frankfurt am Main 32004. (Ersterscheinung
Residenz Verlag Salzburg und Wien 1991.)
–
Die Ringe des Saturn, Frankfurt am Main 42001. (Ersterscheinung Eichborn Verlag Frankfurt am Main
1992.)
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Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt am Main 2001. (Ersterscheinung ebenfalls Eichborn
Verlag Frankfurt am Main 1992.)
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Logis in einem Landhaus, Frankfurt am Main 22001. (Ersterscheinung Carl Hanser Verlag München und
Wien 1998.)
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Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, Frankfurt am Main 2001. (Ersterscheinung Carl
Hanser Verlag München und Wien 1999.)
–
Austerlitz, München und Wien 2001.
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Das Geheimnis des rotbraunen Fells, in: Balmes, Hans Jürgen (Hg.): Chatwins Rucksack. Portraits, Gespräche, Skizzen, Frankfurt am Main 2002, S. 133-142.
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Campo Santo, München und Wien 2003. (Herausgegeben von Sven Meyer)
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Poltronieri, Marco: Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe? Ein Gespräch mit W.G. Sebald, in: Franz Loquai
(Hg.): W.G. Sebald, S. 138-144.
Sebald, W. G.; Turner, Gordon (Interviewer: Michaël Zeeman): Introduction and Transcript of an interview given by
Max Sebald, in: Scott Denham; Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma, Berlin/New York 2006. (=Interdisciplinary German Cultural Studies, Vol. 1., Herausgegeben von Scott Denham, Irene Kacandes und Jonathan Petropoulos), S. 21-29.
Sebald, W.G.; Scholz, Christian: Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Ein Gespräch über Literatur
und Photographie, in: Neue Zürcher Zeitung, 26./27. Februar 2000, S. 1-6.
Sebald, W.G.; Hage, Volker: Volker Hage im Gespräch mit W.G. Sebald, in: Akzente. W.G. Sebald zum Gedächtnis,
Heft 1/Februar 2003, München 2003, S. 35-50.
103
Siedenberg, Sven: Anatomie der Schwermut: Interview mit W.G. Sebald. Über sein Schreiben und die Schrecken der
Geschichte, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, S. 146-148.
104
LEBENSLAUF
Geboren am 15.03.1973 in Landau an der Isar, Deutschland
1995-1998 Ausbildung zum Examinierten Krankenpfleger am Städtischen Klinikum Nürnberg,
Deutschland
1998-2001 Abitur am Nürnberg- bzw. Hermann-Kesten-Kolleg, Nürnberg, Deutschland
Seit 1999 Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, Deutschland
2001-2007 Magister- und Lizenziatsstudium der Philosophie, Osteuropäischen Geschichte, Kognitionswissenschaft und Vergleichenden Literaturwissenschaft an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Deutschland und Zürich, Schweiz; Tutor 2006 und 2007
2002 Geburt Sohn Cedric Manolo, Davos, Schweiz
105
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