Lizenziatsarbeit der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich ___________________________________________________________________________ Kein Verstehen ohne fundamentale Ontologie Eine philosophische Analyse des Werks von Winfried Georg Sebald aufgrund der „existentiellen Psychoanalyse“ Jean-Paul Sartres ___________________________________________________________________________ Referent: PD Dr. Wolfgang Rother Verfasser: Anton Distler September 2007 INHALT EINLEITUNG 1. 2. 3. Thema Untersuchungsgegenstand Methodik 2 6 8 ERSTES KAPITEL: FUNDIERUNG 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 Sartres philosophisches Konzept Transzendenz des Ego Präreflexives Bewusstsein und Bewusstsein An-sich-sein Für-sich-sein Der Andere Zur Freiheit verurteilt 10 14 16 17 20 22 2 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4. Sartres Geschichtsverständnis: Zerstörung Phänomenologisch-ontologisch Dialektisch Sartres Konzeption der „existentiellen Psychoanalyse“ Sartres Auffassung Sartres Ablehnung Sartres Alternative Sartres Aspekt des Verstehens des Unsagbaren: die gelebte Erfahrung Konsequenzen Sartres Philosophie in seiner Literatur 24 25 28 30 31 33 34 36 38 40 ZWEITES KAPITEL: ANALYSE 1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 Sebalds der Zerstörung gewidmete, geschichtswissenschaftliche Sozialisation und sein Geschichtsverständnis in Anlehnung an Walter Benjamin Theodor W. Adorno Max Horkheimer Existentielle Psychoanalyse auf das Sebaldsche Werk angewendet Analyse des literaturwissenschaftlichen Werks Falsches Bewusstsein und Verhalten Sebalds „Finte“ „Lehre vom richtigen Leben“ Analyse des schriftstellerischen Werks Schwindel, Ekel: eine Grundstimmung Bildlichkeit: ein permeables Verknüpfungselement Kontingenz oder die Krux mit dem Leben und dem Tod „Bessere Sehnsucht“ als Mittler zwischen der „Metaphysik der Geschichte“ und der „Metaphysik der Koinzidenz“ Versuch der Restitution SCHLUSS 48 57 61 64 67 68 69 72 74 77 86 91 92 96 LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS LEBENSLAUF 1 „Meine Damen und Herren! Dostojewski hat gesagt: Jeder Mensch ist gegenüber allen für alles verantwortlich. Dieser Ausspruch wird von Tag zu Tag wahrer. Je mehr sich die nationale Gemeinschaft in die menschliche Gemeinschaft integriert, je mehr sie jedes Individuum in die nationale Gemeinschaft integriert, kann man sagen, daß für jeden von uns die Verantwortlichkeit wächst und sich erweitert.“ 1 EINLEITUNG 1. Thema Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Winfried Georg Sebald ist vor allem nach seinem Tode im Jahre 2001 zu einem hochdiskutierten, deutschsprachigen Autor avanciert. Er geniesst nicht im deutschen Sprachraum allein, sondern auch in Großbritannien und insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika als dort meistdiskutierter, zeitgenössischer deutscher Autor grosses Ansehen. 2 Als Autor ragt W.G. Sebald vor allem mit seinen späten prosaischen Texten heraus, gefolgt von seinen literaturwissenschaftlichen Werken, insbesondere zur österreichischen Literatur und zu randständigen Protagonisten. Sein literaturwissenschaftliches Frühwerk hingegen, das heisst seine Magisterarbeit über Carl Sternheim aus dem Jahre 1969 und seine Dissertation über Alfred Döblin von 1973, die 1980 in Druck ging, wird dabei in der deutsch- und englischsprachigen Rezeption grösstenteils vernachlässigt. 3 Zu Unrecht, wenn man beachtet, wie sehr philosophiegeschichtlich fundiert und durch1 2 3 Jean-Paul Sartre: Die Verantwortlichkeit des Schriftstellers. Vortrag zur Gründung der UNESCO am 1. November 1946 an der Sorbonne, S. 17, in: Jean-Paul Sartre: Schwarze und weiße Literatur. Aufsätze zur Literatur 19461960, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 17-38. Vgl. zur englischsprachigen Sebald-Rezeption Scott Denham: Die englischsprachige Sebald-Rezeption, in: Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006. (= Philologische Studien und Quellen; Heft 196), S. 259-268. „Man kann es als ein Phänomen bezeichnen, dass W.G. Sebald ab etwa 1996 in der gehobenen angloamerikanischen Kulturwelt mehr Aufsehen und Anerkennung erhalten als in der deutschen. Er wird als „wichtigster“, „talentiertester“, oder „bedeutendster“ deutschsprachiger Autor der letzten Generation oder gar seit dem Zweiten Weltkrieg gehandelt. Teilweise wurde Sebald in den USA und England so bejubelt und besungen, als ob er die deutschsprachige bzw. die deutsche Literatur der Gegenwart neu erfunden habe.“ (Scott Denham: Die englischsprachige Sebald-Rezeption, S. 259.) Eine Ausnahme ist mit Martin Klebes` Aufsatz Sebald`s Pathogrsaphies zu benennen. (Martin Klebes: Sebald`s Pathographies, in: Scott Denham / Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma, Berlin/New York 2006, S. 63-75. (=Interdisciplinary German Cultural Studies, Vol. 1., Herausgegeben von Scott Denham, Irene Kacandes und Jonathan Petropoulos) Die andere, hervorragende Ausnahme bildet der fundierte Band Sebald. Lektüren. (Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren., Eggingen 2005.) Darin sticht der Beitrag Ulrich Simons heraus, der explizit auf das frühe literaturwissenschaftliche Werk Sebalds einlenkt und ihn als „Provokateur“ einordnet. Vgl. Ulrich Simon: Der Provokateur als Literaturhistoriker. Anmerkungen zu Literaturbegriff und Argumentationsverfahren in W.G. Sebalds essayistischen Schriften, S. 78-104. Klebes liest Sebald jedoch von der Perspektive individueller und kollektiver Pathologie her, die Sternheim und Döblin zugrunde liegen würden. Hier aber soll die Abstrahierung stattfinden, die auf eine behauptete Sebaldsche „Metaphysik der Koinzi- 2 dacht seine sämtlichen Arbeiten sind. Nur aufgrund seiner wissenschaftlichen Sozialisation in jungen Jahren aber – die verbunden ist mit seinem Studienbeginn an der Universität Freiburg im Breisgau – wird sich das Spätwerk W.G. Sebalds, das heisst vor allem seine prosaischen Arbeiten seit den 90iger Jahren, angemessen einordnen lassen. Des weiteren wird sich daran der Stellenwert der vielseitig verwendeten, typisch anmutenden Bildlichkeit Sebalds (unter anderem durch „Wort-Bilde“ und des ambivalenten Einsatzes von Schwarz-Weiß-Fotographien), bemessen lassen. Die literaturwissenschaftliche und philosophische Einordnung in ein Genre, insbesondere der Prosawerke, fällt schwer, vor allem wegen des autobiographischen Vermischens von (oftmals halluzinatorischer) Fiktion und (zum Teil authentischer) Dokumentation. Der Versuche gibt es viele, wobei die einen dazu tendieren, Sebalds Texte, die, so Claudia Albes, „gegenwärtig unter dem Schlagwort „postmodernes Schreiben“ gehandelt“ werden, „mit kunstvoller Oberflächlichkeit und Redundanz gleich[zusetzen].“ 4 „Deutsche Berufskollegen wie Georg Klein“ hingegen, hält Rüdiger Görner fest, werfen ihm unter anderem „ein problematisch leidensselig-masochistisches Verhältnis zur Vergangenheit und eine unzulässige Intimität mit den Toten“ 5 vor. Es steht wohl ausser Frage, dass W.G. Sebald ein bekennender, erkenntniszweifelnder, zutiefst melancholischer und sich dennoch um stete Selbstvergewisserung bemühender Mensch war. Er entwickelte sich allmählich vom „Literaturwissenschaftler zum Schriftsteller, zum Maler, genauer: zum Porträtmaler in impressionistischer Manier.“ 6 Wie aber konnte diese Transformation vollzogen werden, so dass dessen Erzählstil nichts desto trotz oder gerade deshalb vor allem in Grossbritannien und in den USA bei Leser und Kritiker gleichermassen überwiegend positive Resonanzen 7 hervorrief - und hervorruft? Was hat es mit der von Marcel Atze so bezeichneten „Koinzidenzpoetik“ auf sich, die auf einen „eigentliche[n] Beziehungswahn“ Sebalds schliessen lässt, wenn dieser „mit einer Art unerklärbarer Metaphysik der Geschichte“ zeit- und raumgreifende „Wahrnehmungen, Erinnerungen und Literaturzitate zueinander in Verbindung bringt.“? 8 Was war Sebalds Motivation, sich gegen das Schwei- 4 5 6 7 8 denz“ zielt und somit auch den biographischen Pathologien eine andere Wertschätzung entgegenbringen kann, die Sebald ihnen so nicht zukommen lassen will. Vgl. hierzu eingehender das Zweite Kapitel dieser Arbeit. Auch Reinbert Tabbert, ein ehemaliger Kollege und einst auch guter Bekannter Sebalds, benennt in seinem Statement Max in Manchester. Außen- und Innenansicht eines jungen Autors, S. 22, in: Akzente. W.G. Sebald zum Gedächtnis, Heft 1/Februar 2003, München 2003, S. 21-30, diesen Mangel: „Die Bedeutung der genannten Theoretiker [gemeint sind u.a. Adorno, H. Marcuse, Benjamin, Gabel; d. Verf.] für den Schriftsteller Sebald (zumal der auch stilistisch wirksame Einfluß Adornos, mit dem er von Manchester aus über Sternheim stritt) scheint mir noch nicht erkannt worden zu sein. Nur der von ihm schon früh geschätzte Walter Benjamin wird von Sigrid Löffler zu Recht in bezug auf Sebalds Art, die Welt zu sehen und darzustellen, angeführt.“ Claudia Albes: Die Erkundung der Leere. Anmerkungen zu W. G. Sebalds „englischer Wallfahrt“ Die Ringe des Saturn, S. 279, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur, Stuttgart 2002, S. 279-304. Rüdiger Görner: Im Allgäu, Grafschaft Norfolk. Über W.G. Sebald in England, S. 27, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, W.G. Sebald, (Heft 158) IV/03, München 2003, S. 23-29. Heinz Ludwig Arnold: W.G. Sebald: 1944-2001, S. 5, in Ebenda, S. 3-5. In Die Ringe des Saturn assoziiert Sebalds Erzähler die dem Engel beigestellten Werkzeuge aus Dürers Stich Melencolia mit der ihnen inhärierenden Zerstörung. (Vgl. W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, Frankfurt am Main 42001, S. 18 f.) Vgl. zu dem „Phänomen Sebald“ und in Referenz zu Claudia Öhlschläger und Michael Niehaus das Vorwort von Scott Denham in: Scott Denham / Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma, Berlin/New York 2006, S. 1-6. (=Interdisciplinary German Cultural Studies, Vol. 1., Herausgegeben von Scott Denham, Irene Kacandes und Jonathan Petropoulos) Zit. nach Hannes Veraguth: W.G. Sebald und die alte Schule. „Schwindel. Gefühle.“, ,,Die Ausgewanderten“, „Die Ringe des Saturn“ und „Austerlitz“: Literarische Erinnerungskunst in vier Büchern, die so tun, als ob sie wahr seien, S. 36, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, W.G. Sebald, 3 gen zu entscheiden, jene Wahl des durch die Kindheit vorgezeichneten Lebenswegs nach Sartre, um der Verantwortung gerecht zu werden, nicht nur der impliziten Darstellung des Holocaust – niemals expressis verbis –, sondern der „zerstörerischen“ Geschichte insgesamt, eine Ausdrucksform zu geben? Eine für Sebald markante und grundlegende Stelle des Fragens nach dem Sinn, der Bedeutung bzw. der Bedeutsamkeit und der teleologischen Ordnung von Geschichte und Mensch vermittelt uns der Ich-Erzähler Austerlitz im gleich lautenden, letzten großen Prosatext: Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die 9 Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können. Zutreffend dürfte die Behauptung sein, dass Sebalds Schreiben Lawrence Langers Behauptung, wonach „das Universum des Sterbens, das Auschwitz war, […] nach einer Sprache, die vom Makel der Normalität befreit ist, [schreit]“, 10 geradezu exemplifiziert. Es geht aber hier nicht darum, eine treffende, gängige literaturtheoretische Diagnose zu stellen, um eine wie oben zitierte, exemplarische Passage des Schriftstellers Sebald zu analysieren. Vielmehr geht es darum, wie Jean-Paul Sartre im Vorwort zu Gustave Flauberts mehr als zweitausend Seiten umfassender, biographischer Studie Der Idiot der Familie an sich selbst die Forderung stellte, den Menschen als Ganzes in den Blick zu bekommen. Dabei steht man vor mancher, altbekannter struktureller Schwierigkeit: Tritt der Autor als Mensch zu Gunsten seiner Fiktion hinter seinem Werk zurück oder lässt sich im schriftstellerischen Werk der Mensch ganz und gar als Autor auffinden? Sartre plädiert sicher für letzteres. Wie aber kann der Mensch im Werk hinreichend analysiert werden? Sartre macht sich seine existentialistische, phänomenologisch-ontologische Philosophie als Werkzeug zu nutze. Er wird jenes hermeneutische Instrumentarium, in Abgrenzung zu Freuds Theorie des Unbewussten, in seinem ersten Hauptwerk Das Sein und das Nichts als „existentielle Psychoanalyse“ bezeichnen. Zudem stellen sich grundsätzliche literaturtheoretische Fragen, die schon Sartre zu beantworten versuchte: „Was ist Literatur? Was ist schreiben? Warum schreiben?“ Nicht zuletzt: „Für wen schreibt man?“ 11 Sebald setzte sich mit ähnlichen Fragen auseinander, wie sein moralisierender Standpunkt zur „Lehre vom richtigen Leben“ und sein pauschalisierendes Urteil über deutsche Literaten erkennen lassen: [Es] hat mich immer gewundert, mit welcher Perfektion diese Generation imstande war, den Holocaust aus ihrem Gedächtnis zu eliminieren. Das stimmt auch für die Autoren der Nachkriegsliteratur. Schrift- 9 10 11 S. 30-42. Marcel Atze versucht Sebalds Koinzidenzpoetik auf vier Ebenen zu fassen, vom sich bis zur Paranoia steigernden Beziehungswahn, über ausgewiesene Prätexte mit den Erlebnissen des Erzählers bis hin zu Koinzidenzen, die der Leser aus eigene Lektüre erkennt bzw. sie recherchiert, um sie sich zu erschliessen. (Vgl. Marcel Atze: Koinzidenz und Intertextualität. Der Einsatz von Prätexten in W.G. Sebalds Erzählung „All`estero“, S. 153 ff., in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, Eggingen 1997, S. 151-175. (=Porträt 7 Edition Isele) W.G. Sebald: Austerlitz, München 2001, S. 265. Lawrence Langer, zit. nach Geoffrey Hartmann: Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin 1999, S. 13. Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur?, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 13, 36, 56 ff. 4 steller wie Böll oder Andersch waren ja auch Zeugen, haben sich in ihren Büchern aber nie richtig darauf eingelassen. 12 Was bewog Sebald dazu, aufgrund der ihm gewährten, zweifelhaften „Gnade der späten Geburt“ 13 am Ende des Zweiten Weltkrieges, in, wie die meisten der Kritiker ihm konstatierten, typisch melancholisch-sardonischer Manier, seine summarisch pessimistische Sichtweise der Benjaminschen (Natur)Geschichte zu elaborieren? Warum musste er seine zuletzt im Anti-Roman Austerlitz ausformulierte, „schrittweise Annäherung an eine Art Metaphysik der Geschichte“, 14 in variierender schriftlicher Form wieder und wieder tradieren? Es wird sich zeigen, dass die vor allem motivisch orientierte Literaturtheorie hierauf nicht angemessen antworten kann, vor allem dann nicht, wenn sie aus „objektivistischen“ Gründen versucht, den (auto-)biographischen Anteil auszublenden und „im Objektivitätsanspruch der Literaturwissenschaft [auf die] implizierte klare Trennung zwischen Interpreten und Interpretiertem“ 15 besteht. Selbst wenn man Sebald ein ihm widerfahrenes, nur schwer erinnerbares und vor allem unbewältigtes Trauma unterstellte, wäre dies als Erklärung zu kurz gegriffen. Als ein solches Trauma könnte zwar zum Beispiel der, von seiner zur nämlichen Zeit mit ihm schwangeren Mutter erlebte Feuersturm während der Bombenangriffe auf Nürnberg 1943, gelten. Das Trauma würde sich in seiner Wirkung als immer wiederkehrendes Motiv, so und nicht anders zu schreiben, manifestieren. 16 Mit Sartre könnte dieser Annahme aber entgegengehalten werden, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt sei. Er kann sich somit auch zum Trauma, der Freudschen Übertragung, Gegenübertragung, der Verschiebung bzw. der Rückführung und der Verdrängung frei verhalten. Selbst dem Benjaminschen Geschichtsverständnis, wonach jeder von Anfang an irgendwie traumatisiert ist, kann der Mensch sich entgegengesetzt verhalten. Auch die alleinige Heranziehung der mehr oder weniger literaturtheoretischen Schrift Sartres, Was ist Literatur?, könnte Sebalds Werk nicht befriedigend erhellen. Es fehlte sozusagen immer noch das annähernd ganze Fundament des Autors. Es fehlte das, was ihn (psychologisch) konstituiert, was ihn (historisch-soziologisch) bedingt, was ihn in einer konkreten Situation der je individuelle, freie Mensch im Allgemeinen sein lässt. Es fehlte die Grundlage für die Phänomene, dass jede und jeder sich aufgrund seiner „Verurteilung zur Freiheit“ wählt, nach dem Sartreschen Paradoxon abgeleitet, das zu sein, was er nicht ist und nicht das zu sein, was er ist. Es fehlte das Fundament dafür, dass der Mensch sich somit zur Situation irgendwie verhalten muss. Nun hat Sartre sich mit dem einen Hauptwerk Das Sein und das Nichts selbst ein philosophisches Grundgerüst geschaffen, das ihn und, so die hier geäußerte Behauptung, auch Sebald stützt, denn 12 13 14 15 16 Vgl. Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 135, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, 135-137. (Kursivsetzung durch den Verfasser) W.G. Sebald: Nach der Natur, Frankfurt am Main 1995, S. 73. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 18 f. Vgl. hierzu Uwe Schütte: „In einer wildfremden Gegend“ - W.G. Sebald`s Essays über die österreichische Literatur, S. 67, in: Rüdiger Görner (Hg.): The Anatomist of Melancholy. Essays in Memory of W.G. Sebald, München 2 2005, S. 63-74. Sebald stützt wohl diese Annahme, wie Beatrice von Matt über einen Besuch bei Sebald anlässlich Die Ringe des Saturn schreibt: „Da kam Sebald auf das brennende Nürnberg zu sprechen, die Heimatstadt seiner Familie – und wie er sich daran erinnere. Das sei möglich trotz Jahrgang 44. Seine Mutter, die mit ihm schwanger war, habe auf einer Reise die Zerstörung der Stadt mit angesehen – Panik könnte sich wohl übertragen auf ein ungeborenes Kind. Jedenfalls sei da diese Erinnerung.“ Vgl. Beatrice von Matt: Archäologie einer Landschaft. Erkundungen um W.G. Sebalds neues Buch, S. 106, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, S. 102-108. 5 wie bereits der Titel seines ersten Hauptwerks suggeriert: „was eine Erklärung ist, kann nicht unabhängig von einer vorgegebenen Ontologie entschieden werden.“ 17 Dieses philosophische Grundgerüst, und darin vor allem die „existentielle Psychoanalyse“ nebst der „progressiv-regressiven Methode“, wird eingehend betrachtet werden müssen, um zu verstehen, wie Sartre, neben seinen umfangreichen biographischen Arbeiten wie Saint Genet, Komödiant und Märtyrer oder Baudelaire, eine solch voluminöse Studie zu Gustave Flaubert anfertigen konnte. 18 Es wird daher ebenso dazu geeignet sein, Sebald und sein gesamtes literarisches Werk darauf hin zu untersuchen, weshalb sich Sebald letzthin mit seinem der Zerstörung gewidmeten Leben uneins geblieben – so und nicht anders verhielt und schrieb, als er es tat. Wie also könnte Sebalds „Urwahl“ 19 und sein eingeschlagener (und nachzuzeichnender) Denkweg ausgesehen haben? Mit Sartre gesprochen: „Warum ist dieses Sein [des Für-sich; der Verfasser] so und nicht anders?“ 20 2. Untersuchungsgegenstand Es wurde in der bisherigen noch jungen, äußerst produktiven Rezeptionsgeschichte, vor allem des englischsprachigen Raums mit seiner Fixierung Sebalds auf Holocaust, Traum und Erinnerung, 21 keine direkte Verbindung Sebalds zu Sartre hergestellt. Soweit ersichtlich, hatte Sebald seine wissenschaftliche und geschichtsphilosophische Orientierung viel mehr an Walter Benjamin, an Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, demnach Vertreter der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie, vorgenommen. Dies spiegelt sich in einem hohen Masse in seinen frühen Arbeiten zu Carl Sternheim und Alfred Döblin wider. 22 In vielem liesse sich auch die Bezugnahme auf Wil17 18 19 20 21 22 Alfred Dandyk: Unaufrichtigkeit. Die existentielle Psychoanalyse Sartres im Kontext der Philosophiegeschichte, Würzburg 2002, S. 12. (Kursivsetzung durch den Verfasser) Traugott König zufolge ist es Sartre „hier gelungen, auf der Grundlage seiner Philosophie eine ganz spezifische Methode der Lektüre, Betrachtung und Deutung literarischer Werke zu entwickeln, die entgegen der heute üblichen Interpretationsweise von der Biographie des Autors ausgeht.“ Traugott König (Hg.): Jean-Paul Sartre. Den Menschen erfinden. Ein Lesebuch, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 13. Vgl. Jean-Paul Sartre: Baudelaire. Ein Essay, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 16: „Hier begegnen wir der „choix originel“, der Urwahl seiner selbst, die Baudelaire getroffen hat, jenem absolutem Engagement, durch das ein jeder von uns in einer bestimmten Situation darüber entscheidet, was er sein wird und was er ist.“ Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 7 2001, S. 173. Claudia Öhlschläger und Michael Niehaus weisen in ihrem Vorwort zu W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei treffend darauf hin. Die Herausgeber jedoch verschieben den Akzent auf eine „unvoreingenommene Perspektive“ hin, wonach „Sebalds literarisches Projekt einer archäologischen Spurensicherung politischer, nationaler, kollektiver, und individueller Katastrophen eine politische Dimension besitzt, die sich weniger thematisch als poetologisch und verfahrenstechnisch artikuliert.“ (in: Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, S. 8 f. (= Philologische Studien und Quellen; Heft 196)) Vgl. hierzu den hervorragenden Aufsatz von Graham Jackman: „Gebranntes Kind“? W.G. Sebald`s „Metaphysik der Geschichte“, in: German Life and Letters, 57;4 Oxford/ Malden Oktober 2004, S. 456-471. Graham arbeitet in seinem Aufsatz ein für ihn typisches Sebaldsches Motiv heraus, nämlich das Feuer und das damit einhergehende, zumeist zerstörerische Verbrennen, das fast allen Werken Sebalds und selbst ihm als „gebranntem Kind“ zugrunde läge. Dieses Motiv wäre seitens der Psychoanalyse dazu geeignet, als Trauma auslösendes Ereignis zu gelten, das sowohl der Freudschen als auch der Benjaminschen Lesart Rechnung tragen würde. Ein weiteres Trauma-Motiv wäre die frühe Todeserfahrung, die Sebald, laut Oliver Pfohlmann, mit fünf Jahren machte, „beim Blättern in einem Fotoalbum; eine Aufnahme zeigte einen toten Soldaten, der 1933 bei einem Autounfall umge- 6 helm Dilthey vermuten, gerade wenn es Sebald um das mühsame partikulare Verstehen seiner Protagonisten und „der“ bzw. ihrer Geschichte, es ihm also insgesamt um das Verstehen des Lebenszusammenhanges geht. 23 In Die Ringe des Saturn, bereits in der späteren Schaffensphase entstanden, findet sich jedoch ein indirekter Hinweis zumindest auf ein gemeinsames Interessensgebiet mit Sartre. Sebald läßt von einer geschätzten Universitätskollegin, Janine Rosalind Dakyns, erzählen, die als Expertin für Flaubert gilt. Er zitiert sie, über ihre nach einer Ordnung sinnierende Arbeit sprechend, folgendermassen: „Der Sand erobere alles… In einem Sandkorn, sagte Janine, hat Flaubert die ganze Sahara gesehen.“ 24 Hier klingt schon das Ganze an, das ominöse Hologramm und dessen Dechriffierung, nach denen Sebald eindringlich sucht. In seinem Essay Das Geheimnis des rotbraunen Fells über Bruce Chatwin geht Sebald auf dessen Vorliebe für Flauberts Trois Contes ein, nun jedoch auf den subjektiven, teilhaftigen Charakter bezogen. Er könne, heisst es, „keine Seite dieser schreckensvollen, aus der zutiefst hysterischen Disposition ihres Autors entstandenen Geschichte [„vom heiligen Julian, der das blutige Laster seiner Jagdleidenschaft sühnen muss auf einer langen Fahrt durch die heißesten und kältesten Zonen der Erde“] lesen, ohne Chatwin zu sehen, so wie er gewesen ist [...].“ 25 Sebald bewegt sich in diesem pars pro toto als Vermittlerinstanz mit offenem Ausgang, was den Sinn des Ganzen betrifft. Es scheint sinnvoll, das gemeinsame, wohl recht unterschiedliche Verhältnis Jean-Paul Sartres und W.G. Sebalds einerseits zum Individuum, respektive zur Biographie und andererseits zur Gesellschaft zu untersuchen. Das Verhältnis wird den skeptisch-pessimistischen Standpunkt Sebalds kohärent mit seinem Werk erscheinen lassen. Der Anspruch dieser Analyse liegt demnach darin, so viel aus Sebalds Werk zu erfahren, wie man von ihm wissen kann – ohne dabei an reine Faktenaufzählung zu denken. Denn für Sartre wie für Sebald gilt gleichermassen, dass sie es sind und waren, die nicht nur den von ihnen gelesenen Büchern Sinn und Bedeutung verliehen, sondern auch der Welt und den Dingen darin. Sie versuchten, der – dem einen scheinbar absurd und dem anderen katastrophal anmutenden – Geschichte und den Menschen darin, Sinn und Bedeutung beizumessen. An dem von Sartre benannten Beispiel der „Negatitäten“, wie Sartre „Realitäten wie Abwesenheit, Veränderung, Anderssein, Abweisung, Bedauern, Zerstreuung usw.“ 26 bezeichnet, lässt sich besonders deutlich das Mühen beider Autoren, Geschichte in Worte zu erfassen, zeigen. Für beide gilt es festzustellen, dass die Spuren der Kindheit keineswegs in den alternden Menschen Sartre und Sebald verschwinden gehen konnten. Denn, sie Sartre für sich in seiner autobiographischen Schrift Die Wörter bemerkte, alle Charakterzüge des Kindes, wenngleich verbraucht, verblaßt, verlacht, verdrängt, verschwiegen, sind auch noch bei dem Fünfzigjährigen zu finden. Meistens liegen sie flach ausgestreckt im Schatten 23 24 25 26 kommen war. „Es war dieser Augenblick, bemerkt Sebald in einer für ihn typischen Inversion von Anfang und Ende, als ihn die Ahnung durchzuckte, „daß es dies war, womit alles begann“.“ („Das Lächeln nach innen“ Über zwei W.G. Sebald gewidmete Literaturzeitschriften und die Frage: Dürfen seine Leser lachen?, in: TAZ vom 7.6.2003). Dazu Sebald: „Mir geht es um die Partikularität des Beschriebenen: Es geht um Identifizierbares, um Lokalhistorisches, um Dinge, die im eigenen Umkreis, der eigenen Kleinstadt vor sich gingen. [...].“ (Vgl. Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 135 f.) W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 17. W.G. Sebald: Das Geheimnis des rotbraunen Fells, S. 134 f, in: Hans Jürgen Balmes (Hg.): Chatwins Rucksack. Portraits, Gespräche, Skizzen, Frankfurt am Main 2002, S. 133-142. (Kursivsetzung durch den Verfasser) Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 78. 7 und warten. Aber es genügt ein Augenblick der Unaufmerksamkeit – und sie heben die Köpfe und er27 scheinen unter irgendeiner Verkleidung im hellen Tageslicht. Während aber Jean-Paul Sartre auf einen reichen Erfahrungsschatz, den er sich im Zweiten Weltkrieg ansammelte, zurückgreifen kann, um sich dazu während des Krieges und danach philosophisch, schriftstellerisch und politisch verhalten zu können, musste sich der 1944 in Wertach im Allgäu geborene Sebald, darin Hartmann folgend, „quasi in die Opferfamilien „hineinadoptier[en]“ […] auf der Suche nach einem Vermächtnis oder einer starken Identifikation mit dem, was geschehen ist.“ 28 3. Methodik In der folgenden Arbeit wird es darum gehen, eine angemessene, philosophisch-hermeneutische Perspektive auf das Werk Sebalds zu erlangen. Diese Perspektive kann die literaturtheoretische gewinnbringend ergänzen, hebt sie vor allem nicht auf das Unbewusste ab. Am Werke Sartres wird sich seine von ihm selbst entworfene „existentielle Psychoanalyse“ zu aller erst bewähren können. Sein schriftstellerisches Oeuvre, wie am deutlichsten der Roman Der Ekel zeigt, ist von seiner Philosophie zutiefst durchwirkt – und Thiel, ansonsten eher polemisch Sartre verarbeitend, stellt zurecht die stete Ambivalenz fest, dass nämlich „sein Werk zwischen Schriftstellerei und Philosophie schwankt.“ 29 Im ersten Kapitel geht es zuvörderst um die philosophisch-ontologische Fundierung des Menschen, um den allgemeinmenschlichen und konzeptionellen Rahmen, wie ihn Sartre, vor allem in der Transzendenz des Ego und im Das Sein und das Nichts, entwirft. Es wird sich darin zeigen, dass das uns von Sebald bereits Bekannte mit Sartre konstitutiv unter Bezugnahme auf seine phänomenologisch-ontologischen Untersuchungen interpretiert werden kann. Besonders aufweisen lässt sich dies am Beispiel der Zerstörung. Der Sachverhalt der Zerstörung (von intersubjektiven Beziehungen uns intrasubjektiven Gefühlen bzw. von einer das Leben regulierenden Ordnung und von Natur im Allgemeinen) spielt bei Sebald eine prominente Rolle. Sartre kann durch sein philosophisches Konzept den Akt der Zerstörung, der erst durch den Menschen zu konstatieren sein wird, besonders erhellen. Wie in der frühen Essay-Sammlung Transzendenz des Ego schon vorformuliert, wird in Das Sein und das Nichts nochmals prägnant herausgearbeitet, wie das kontingente und den Menschen konstituierende Sein sich unter unserer reflexiven Zeugenschaft als „berstend“ und „zerbrechlich“ gibt. „Damit es Zerstörung geben kann, muß es zunächst ein Verhältnis des Menschen zum Sein geben, das heißt eine Transzendenz; und in den Grenzen dieses Verhältnisses muß der Mensch ein Sein als zerstörbar erfassen.“ 30 Sofern die geleistete Vorarbeit ihre zeit- und modenunabhängige Berechtigung hat, kann im zweiten Kapitel – in Absetzung von der gängigen, insbesondere von der an Freud inspirierten Interpretationsweise 31 – die philosophische, auf der „existentiellen Psychoanalyse“ Sartres beruhende Einordnung und Bewertung des Sebaldschen Lebens und Werks vorgenommen werden. 27 28 29 30 31 Jean-Paul Sartre: Die Wörter, Reinbek bei Hamburg, 342004, S. 144. Geoffrey Hartmann: Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, S. 21. Manfred Thiel: Jean-Paul Sartre. Schriftsteller oder Philosoph? Oder: Schriftsteller für alle sucht Publikum, Heidelberg 1987, S. 165. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 57. So führt Wolf Wucherpfennig kurzerhand „Austerlitz` Gang in die Unterwelt wie Sebalds Phantasie“ psychoanalytisch ausschließlich „als Antwort auf verlorene Mutterliebe“ zurück. Auch wird Sebalds leitendes Motiv in Austerlitz als Protest aufgefasst. Denn, so Wucherpfennig, „[...] darum, weil die Vergangenheit dauernden Ab- 8 Als methodischer Schlüssel zu Leben und Werk wird dabei eine quasi hermeneutische, „existentielle Psychoanalyse“ verstanden werden. Sie wird die Behauptung, wonach überhaupt jegliches literarisches Werk bzw. Leben des Autors mit der vorgenommenen Analyse plausibel interpretiert und eine hermeneutische, „existentielle Psychoanalyse“ somit verallgemeinerbar angewendet werden kann, plausibel stützen. Es muss dabei beachtet werden, dass Sartres entworfene „existentielle Psychoanalyse“ allein nicht ausreichend wäre, wenn sie nicht zugenüge, wie es im ersten Kapitel geschehen wird, aus ihrer Einbettung in Sartres Philosophie heraussondiert würde. Für sich genommen beanspruchte sie nur wenig Platz an Umfang und Inhalt in Sartres Philosophie. Die „existentielle Psychoanalyse“ auf das Werk Sebalds anzuwenden heisst auch, die im ersten Kapitel aufgewiesene Philosophie Sartres, wie sie in seinem frühen Roman Der Ekel Eingang fand, zu dessen Dechiffrierung einzusetzen. Das Philosophem der existentiellen Abgründigkeit, die sich in Ekel und Schwindel, in Melancholie und künstlerischem Bewältigungsversuch äußert, kann zur Analyse exemplarisch auf das Werk Sebalds angewendet werden. In der bisherigen Forschung zu Sebald blieb dieser Aspekt gänzlich unberücksichtigt. sterbens lebendig gehalten werden soll, protestiert Sebald dagegen, dass sie abgetötet wird. Psychoanalytisch lässt sich dies durch die Bindung an den toten Großvater erklären, dem die Erinnerung sozusagen das endgültige Sterben verbietet, eine Bindung, die wiederum Folie ist für eine unbearbeitete Mutterproblematik.“ (Wolf Wucherpfennig: W.G. Sebalds Roman Austerlitz. Persönliche und gesellschaftliche Erinnerungsarbeit, S. 158 f., in: Wolfram Mauser/Joachim Pfeiffer (Hg.): Erinnern. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Band 23, Würzburg 2004, S. 151-163. 9 ERSTES KAPITEL: FUNDIERUNG 1. Sartres philosophisches Konzept 1.1 Transzendenz des Ego In der Schrift Transzendenz des Ego, einer Sammlung philosophischer Essays der Jahre 1931 bis 1939, wird der Grundstein für Sartres weitere Philosophie gelegt. Er wendet sich dabei „gegen die Verdauungsphilosophie des Empiriokritizismus, des Neukantianismus und gegen jeden „Psychologismus““. Er wird mit „Husserl nicht müde zu behaupten, man könne die Dinge nicht im Bewußtsein auflösen.“ Er nimmt damit, so auch Sartres programmatische Überschrift, „eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität“ auf. 32 Husserl nimmt er insofern in Anspruch, um zu zeigen, dass „das Bewußtsein und die Welt […] beide auf einmal gegeben [sind]: ihrem Wesen nach dem Bewußtsein äußerlich, ist die Welt ihrem Wesen nach relativ zu ihm.“ Husserl sehe daher, so Sartre, im Bewußtsein ein unreduzierbares Faktum, das kein einziges physisches Bild wiedergeben kann.“ Ausser, und hier deutet sich für Das Sein und das Nichts eine wichtige Differenzierung an, „im flüchtigen und dunklen Bild des Berstens vielleicht.“ 33 Mit diesem Bersten, gewissermassen einem „Riss“ im Bewußtsein, wird sich nämlich die Möglichkeit des Nichts auftun, das nichts anderes bedeutet als die unbedingte und unabdingbare Freiheit, die sich im Verbund mit dem Für-sich-sein zeigt. Dieses Bersten wird auch ein Grund für Sartre sein, das Bewusstsein bereits strukturell als unwiderrufbar mangelhaft zu zeichnen. 34 Noch wähnt Sartre vordergründig das Transzendente zu bestimmen, denn das „Erkennen ist „bersten nach“, sich von der feuchten, gastrischen Intimität losreißen, um da hinten über sich hinaus nach dem zu entweichen, was es nicht ist,“ und hier kommt die, das ganze Werk Sartres bestimmende poetisch-prosaische Sprache Sartres zum Ausdruck, wie er sie im philosophischen Roman Der Ekel so meisterhaft beherrscht, „dort hinten, bei dem Baum und dennoch außerhalb von ihm, denn er entgeht mir und stößt mich zurück, und ich kann mich ebenso wenig in ihm verlieren, wie er sich in mir auflösen kann: außerhalb von ihm, außerhalb von mir.“ 35 Was will Sartre damit zum Ausdruck bringen? Wohl doch nicht nur, dass „das Bewußtsein kein „Drinnen“ [hat]; es […] nichts als das Draußen seiner selbst [ist], und diese absolute Flucht, diese Weigerung, Substanz zu sein, […] es als ein Bewußtsein [konstituieren].“ Nein, Sartre geht es vor allem darum, mit seinem Begriff des „Berstens“ uns einer Entdeckung zuzuführen, dass wir nämlich, „eben durch unsere Natur, so in eine indifferente, feindseli32 33 34 35 Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, S. 33 f, in Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931- 1939, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 33-37. Ebenda, S. 34. Manfred Frank hat in: Manfred Frank (Hg.): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, 1. Auflage Frankfurt am Main 1991, auf die Vieldeutigkeit des Terminus Bewusstsein hingewiesen. Im weiteren Sinne auch für diese Arbeit relevant scheint eine von Frank vorgenommene dreifache begriffliche Gliederung in: 1. Bewusstsein „als der gesamte reelle phänomenologische Bestand des empirischen Ich, als Verwebung der psychischen Erlebnisse in der Einheit des Erlebnisstromes.“ 2. Bewusstsein „als inneres Gewahrwerden von eigenen psychischen Erlebnissen.“ Und 3. Bewusstsein „als zusammenfassende Bezeichnung für jederlei „psychische Akte“ oder „intentionale Erlebnisse“.“ (Manfred Frank: Edmund Husserl. Bewußtsein als phänomenologischer Bestand des Ich und Bewußtsein als innere Wahrnehmung, S. 213, in: Manfred Frank (Hg.): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, 1. Auflage Frankfurt am Main 1991, S. 213-228.) Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, S. 34. 10 ge und widerspenstige Welt geworfen und ausgesetzt sind.“ Derart sollten wir uns, so Sartre, „de[n] grundlegende[n] Sinn der Entdeckung“ Husserls, wonach „alles Bewußtsein […] Bewußtsein von etwas [ist]“, 36 erschlossen haben. Von nun an sind wir mit einem wesentlichen Aspekt in Sartres Philosophie bekannt: mit der Transzendenz. Sie erfordert ein aktives Moment unsererseits, denn „die Transzendenzphilosophie wirft uns auf die Landstraße, mitten in Gefahren, unter ein grelles Licht. Sein, sagt Heidegger, ist In-derWelt-sein.“ Und weiter fordert Sartre, „dieses „In-Sein“ im Sinne von Bewegung“ zu verstehen, denn „Sein ist in die Welt zerbersten, von einem Nichts an Welt und Bewußtsein ausgehen, um plötzlich als-Bewußtsein-in-die-Welt-zu-zerbersten.“ Beim Versuch des Bewusstseins, „sich wieder zu ergreifen, endlich mit sich selbst zu koinzidieren, ganz warm, bei geschlossenen Fensterläden, […] vernichtet es sich.“ Sartre hebt hier nun besonders die menschliche Notwendigkeit des Davon-Handelns hervor, „als Bewußtsein von etwas anderem als von sich zu existieren“, welche bei Husserl mit „Intentionalität“ umschrieben würde, quasi eine „Überschreitung des Bewußtseins durch sich selbst.“ 37 Auch hier nimmt Sartre wesentliche Bestandteile aus Das Sein und das Nichts vorweg, denn diese mit dem Terminus technicus Intentionalität betitelte Überschreitung auf etwas hin wird sich in menschlichen Verhaltensweisen, auch dem Anderen gegenüber, wieder finden lassen. Namentlich etwa in der Liebe, im Haß und in der Furcht – nach Sartre allesamt „transzendent[e] Objekt[e]“. 38 Die Dinge, so Sartre, sind es, „die sich uns plötzlich als hassenswerte, sympathische, entsetzliche, liebenswerte enthüllen. Es ist eine Eigentümlichkeit jener japanischen Maske, furchterregend zu sein, eine unerschöpfliche, unreduzierbare Eigentümlichkeit, die ihre Natur konstituiert – und nicht die Summe unserer subjektiven Reaktionen auf ein Stück geschnitztes Holz.“ Selbst „das Sein der Intention“, wird Sartre in der Einleitung zu Das Sein und das Nichts schreiben können, „kann nur Bewußtsein sein, sonst wäre die Intention Ding im Bewußtsein.“ 39 Ein grosses Verdienst Husserls sei es daher, Sartre zufolge, dass er „das Entsetzen und den Reiz wieder in die Dinge hineinversetzt“ hat. So sind wir – einerseits – befreit „vom „Innenleben [vie intérieure]“: vergeblich würden wir, wie Amiel [gemeint sind Henri Frédéric Amiels Fragments d`un journal intime von 1884, d. Verf.], wie ein Kind, das sich die Schulter küsst, die Liebkosungen, die Verhätschelungen unserer Intimität suchen, weil doch schließlich alles draußen ist, alles, sogar noch wir selbst: draußen, in der Welt, mitten unter den Anderen, […] mitten in der 40 Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen.“ Mit dem „Innenleben“ oder auch „Seelenleben“, namentlich mit dem Ego gekennzeichnet, bezieht sich Sartre auf die, laut ihm vor allem von Philosophen vertretene Auffassung, wonach seine „formale Präsenz im Inneren der „Erlebnisse“ als ein leeres Vereinigungsprinzip“ verstanden wird. Aber „andere – meist Psychologen – glauben, in jedem Moment unseres psychischen Lebens seine materielle Präsenz zu entdecken als Zentrum der Begierden und Handlungen.“ 41 36 37 38 39 40 41 Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, S. 35 ff. Ebenda, S. 35 ff. Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 61, in: Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931- 1939, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 39-92. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 23. Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, S. 36 f. Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 39. 11 Sartre will nun in der Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung „das Ego weder formal noch materiell im Bewußtsein“ verstanden wissen. Er will vielmehr zeigen, dass auch es, gemeinsam mit den Dingen in der Welt, „außerhalb, in der Welt [ist]; es ist ein Sein der Welt, wie das Ego anderer.“ 42 Hier wird also, um mit Thomas Damast zu sprechen, eine „Vertreibung“ des Ego aus dem Bewusstsein betrieben, so dass es Sartre als unmittelbare Voraussetzung zur Konzeptualisierung der Subjektivität dienen kann. 43 Im ersten Hauptwerk Das Sein und das Nichts wird Sartre sodann ausführlich an den Dingen und dem Sein der Phänomene das An-sich-sein, und am Bewußtsein das als Opposition verstandene Für-sich-sein herausschälen. Die Begrifflichkeiten entlehnt Sartre dabei Hegel, womit neben Descartes auch „die drei grossen H“, – Hegel, Husserl und Heidegger – wie es Gadamer in Sartre. Ein Kongreß 44 nochmals pointiert formulierte, benannt wären, die vor allem für Sartres frühe Philosophie massgeblich sind. Es wird, so Damast, schon „deutlich, daß er einen Systementwurf versucht, der sich gleichzeitig als gedankliche Synthese oder – wie Klaus Hartmann bemerkt – „als Fazit aus Husserl, Heidegger und Hegel versteht“.“ 45 Sartre unternimmt den Versuch, plausibel zu machen, dass die nochmals an Kant nachgewiesene Möglichkeitsbedingung – als solche interpretiert sie Sartre – der „faktische[n] Existenz des Ich denke“ überhaupt erst die Bedingung dafür ist, „daß ich immer meine Wahrnehmung oder mein Denken als die meinigen betrachten kann: das ist alles.“ 46 Hier hebt nun Sartres Auseinandersetzung mit und die Kritik an Husserls Konzept der Beziehung zwischen „ego“ und „cogito“ an, um „das Problem der faktischen Existenz des Ich im Bewußtsein lösen“ 47 zu können. Sartre umschreibt das Problem dabei folgendermassen: „Wird das Ich, dem wir in unserem Bewußtsein begegnen, durch die synthetische Einheit unserer Vorstellungen ermöglicht, oder ist es selbst eher das, was die Vorstellungen untereinander faktisch vereinigt?“ 48 Anders ausgedrückt: Es geht ihm um die Fundierungsleistung zu einer Einheit des Bewusstseinsstromes, die zudem auf die laut Sartre „absurde“ Annahme eines „unbewussten Bewusstseins“, wie es in der Einleitung zu Das Sein und das Nichts heisst, verzichtet. Husserl hatte bekanntlich noch das (reine) Ich als einheitsbildende Grösse, als gleichsam „eine eigenartige – nicht konstituierte – Transzendenz, eine Transzendenz in der Immanenz“ gemutmasst, die im „inneren Zeitbewußtsein“, 49 so Damast, gründen würde. Sartre aber fragt, ob das transzendentale Bewusstsein Husserls, das gemäss der „klassischen These eines transzendentalen Ich […] gleichsam hinter jedem Bewußtsein stünde“, notwendig war. Vielmehr, so Sartre, müsste doch ob der Überzeugung, „daß unser psychisches und psychophysisches ICH [das im Französischen lautende, passive Moi im Gegensatz zum Je, dem aktiven Ich; d. Verf.]“ ausreichend sei, gar nicht mehr zu fragen sein, „ob man es durch ein transzendentales Ich […], jener Struktur des absoluten Bewußtseins [ergänzen]“ muss. 50 42 43 44 45 46 47 48 49 50 Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 39. Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus. Eine Untersuchung zur Einleitung in „L`être et le néant“, Berlin 1994, S. 194. Hans-Georg Gadamer: Das Sein und das Nichts, S. 38, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 37-52. Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 5 f. Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 40. Ebenda, S. 42. Ebenda, S. 41 f. Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S.198. Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 42 f. 12 Die Antwort würde in jedem Falle, so Sartre, negativ ausfallen, denn wir können also ohne zu zögern antworten: die phänomenologische Konzeption des Bewußtseins macht die vereinigende und individualisierende Rolle des Ich total überflüssig. Im Gegenteil, es ist das Bewußtsein, das die Einheit und Personalität meines Ich ermöglicht. Das transzendentale Ich hat also kei51 ne Existenzberechtigung [raison d`être]. Was bedeutet diese gleichsam ichlose, „,nicht-ichliche“ Verfassung der transzendentalphänomenologischen Subjektivität“ 52 für uns? Das bedeutet für uns, so Sartre, dass das Bewusstsein als das das Ich konstituierende zu gelten habe und nicht, wie bei Husserls „Egologie“ 53 anzunehmen, umgekehrt. In Das Sein und das Nichts wird Sartre schliesslich behaupten, dass „als vereinigender Pol der „Erlebnisse“ […] das Ego An-sich, nicht Für-sich [ist].“ 54 Mit Husserl ist sich Sartre hingegen darüber einig, dass „jedes Mal, wenn wir unser Denken erfassen, sei es durch eine unmittelbare oder eine auf die Erinnerung gestützte Intuition, [...] wir ein Ich [erfassen], das das Ich des erfaßten Denkens ist und das sich außerdem als ein Ich erweist, das dieses und alles andere mögliche Denken transzendiert.“ 55 Weiterhin wird, wie schon erwähnt, dieses cogito „durch ein auf das Bewußtsein gerichtetes Bewußtsein herbeigeführt, das das Bewußtsein als Objekt begreift.“ – Hartmann bezeichnet Sartres Ontologie folgerichtig als „eine Ontologie der Intentionalität.“ 56 – Dieses cogito sei absolut, „denn es gibt, wie Husserl sagt, eine unauflösbare Einheit von reflektierendem und reflektiertem Bewußtsein (so, daß das reflektierende Bewußtsein nicht ohne das reflektierte Bewußtsein existieren könnte.)“ 57 Das cogito bedeute aber nicht, laut Sartre, dass man berechtigt wäre zu sagen, „“ich habe Bewußtsein von diesem Stuhl“, sondern „es gibt Bewußtsein von diesem Stuhl“.“ 58 Worauf will Sartre hinaus? So weit dies mit den vorangegangenen Ausführungen zu ersehen ist, geht es ihm bereits in dieser frühen Zeit seiner philosophischen Orientierung aufgrund der „vorgefundenen wissenschaftlichen Ausgangsposition, der der Phänomenologie“, um eine, wie Hartmann es formulierte, „“ontologisch fundierte“ Phänomenologie.“ 59 Hierin liegt Sartres Motivation begründet, „den Untersuchungen der Phänomenologie ein unendliches und absolutes Feld zu konstituieren.“ 60 In den Fokus gerückt wurden das Bewusstsein und das Sein der Phänomene. Das hochkomplexe Beziehungsgeflecht, das zum einen das „paarige“, präreflexive und reflexive Bewusstsein selbst umgibt und zum anderen das Sein der Phänomene umfasst, wird nun näher untersucht werden müssen. Als wichtig in Erinnerung zu behalten ist die Sartresche Behauptung, wonach es kein unbewusstes Bewusstsein gibt. Diese Behauptung wird ihn in diesem Punkt gegen Freud positionieren, doch ist er mit Freud über die Prominenz der Kindheit im Leben eines Menschen einig. Aufgrund dieser Behaup51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 45. Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 310. Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 47. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 212. Ebenda. Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, S. 33, in: Klaus Hartmann: Die Philosophie J.-P. Sartres. Zwei Untersuchungen zu L`être et le néant und zur Critique de la raison dialectique, durchgesehene, um ein Vorwort und ein Register vermehrte 2. Auflage von Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik und Sartres Sozialphilosophie, Berlin/New York 1983. Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 47 f. Ebenda, S. 54. Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, S. 31. Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 54. 13 tung, die in diesem Kapitel unter Abschnitt 3. weiter herausgearbeitet wird, sollte es möglich sein, zu einer anderen Beurteilung des Sebaldschen Werkes zu gelangen. Denn nichts desto trotz, so Sartre, muss der „gewöhnlich angenommene[n] These, nach der unsere Gedanken einem unpersönlichem Unbewußtem entspringen und sich, indem sie bewußt werden, „personalisieren““, eine zwar falsche, weil „grobe und materialistische Interpretation“ einer, darauf kommt es an, „richtigen Intuition“ zugesprochen werden. 61 So kann Sartre die These eines „transzendentalen Bewußtseins“ wagen, das „sich jeden Augenblick zur Existenz bestimmt, ohne daß man sich etwas vor ihm denken könnte. So offenbart uns jeder Augenblick unseres bewußten Lebens eine creatio ex nihilo. Kein neues Arrangement, sondern eine neue Existenz.“ 62 So sollte die wohlbekannte Formel, wonach die menschliche Existenz der Essenz vorangeht, zumindest angedeutet worden sein. Ebenso sollte angeklungen sein, dass diejenigen Interpreten, die sich hauptsächlich motivisch, das heisst, vor allem in Anlehnung an Freuds Psychoanalyse dem Werke Sebalds nähern, sich nicht in letzter Sicherheit wiegen können, treffend analysiert zu haben. 1.2 Präreflexives Bewusstsein und Bewusstsein Bereits auf den ersten Seiten in Das Sein und das Nichts, das den im Unter-Titel benannten, scheinbar paradox klingenden Versuch einer phänomenologischen Ontologie zum Thema hat, kommt Sartre auf die oben verhandelte Thematik des cogito zurück. In der Transzendenz des Ego war noch ausschliesslich vom cogito als reflexivem Bewusstsein die Rede. 63 Sartre will nun eine Erweiterung des cogito. An der „Natur des „percipere““ ist er bemüht zu zeigen, dass „ein Idealismus, der das Sein auf seine Erkenntnis zu reduzieren suchte, zunächst das Sein der Erkenntnis auf irgendeine Weise sichern müßte.“ 64 Husserls Behauptung, wonach das dem percipi selbst Entgehende als ein von George Berkeley bekanntes „esse est percipi“ aufgefasst wird, benötigt laut Sartre ein „Begründung-Sein des percipere und des percipi“, das, den infiniten Regress vermeidend (auch Spinozas „idea ideae ideae usw.“ betreffend), „[...] transphänomenal sein [muß].“ 65 Für Sartre ist nun das präreflexive cogito – unter Aufgabe des Primats der Erkenntnis – „das Bewußtsein das erkennende Sein […], insofern es ist, und nicht, insofern es erkannt ist. […] Das Bewußtsein kann zwar erkennen und sich erkennen. Aber es ist in sich selbst etwas anderes als eine zu sich zurückgewandte Erkenntnis.“ 66 61 62 63 64 65 66 Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 86. Sartres Ablehnung der Freudschen Psychoanalyse bezieht sich im Wesentlichen auf die Vorstellung des Unbewussten. Sartre durchläuft dabei über Jahrzehnte hinweg verschiedene Phasen einer Annäherung und einer forcierten Ablehnung. Auf diesen Sachverhalt wird zu einem späteren Zeitpunkt einzugehen sein. Ebenda, S. 86 f. Vgl. Ebenda, S. 47 ff. Thomas Damast stellt ebenso zurecht fest, wenn er schreibt: „Was dem Aufsatz über Die Transzendenz des Ego noch fehlt, ist der Gedanke, daß sich das Sein des Bewußtseins streng auf die präreflexive oder „Für-sich“- Dimension der Noesis beschränkt.“ (Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 310.) Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 18. Damast hat ausgeführt, dass Sartres Rede von „dem“ Idealismus „den mannigfaltigen Systemen […], die man im Verlauf der Philosophiegeschichte als „idealistisch“ bezeichnet hat“ nicht gerecht werden würde. (Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 19 f.) Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 21, S. 18, S. 167. Ebenda, S. 19. 14 Das präreflexive Bewusstsein ist somit unmittelbar. Nach Sartre muss also die Erkenntnis sowohl ontologisch, als auch epistemologisch begründbar sein, und „wenn wir den infiniten Regreß vermeiden wollen, muß es unmittelbarer und nicht kognitiver Bezug von sich zu sich sein.“ 67 Das präreflexive, spontane Bewusstsein bzw. cogito ist dadurch strukturell von Sartre als „konstitutiv für mein Wahrnehmungsbewusstsein“ gedacht. „Mit anderen Worten, jedes objektsetzendes Bewußtsein ist gleichzeitig nicht-setzendes Bewußtsein von sich selbst.“ Das bedeutet auch, dass alles Wahrgenommene von der Welt, ein Tisch oder auch Werturteile nicht primär „an sich“ existieren, sondern nur „für mich.“ 68 Thomas Damast zufolge „wendet Sartre sich also gegen den Versuch, „Sein“ (bzw. „sein“) als „gedacht-„ bzw. „erkannt-werden“ oder ähnlich zu bestimmen.“ 69 Die Gedanken aus der Transzendenz des Ego fortführendend, behauptet Sartre weiter, dass es ein „präreflexives Cogito [gibt], das die Bedingung des kartesianischen Cogito ist.“ Sartre analogisiert unter Berufung auf Heidegger das unmittelbare Bewusstsein bzw. die unmittelbare Vertrautheit mit sich selbst, „nicht als ein Ding, sondern als eine operative Intention, die nur als „erschlossen-erschließend“ existieren kann.“ Die Zirkelstruktur ist offensichtlich – und von Sartre so gewollt, denn „es ist gerade die Natur des Bewußtseins, daß es als „als Zirkel“ existiert. Man kann das so ausdrücken: jede bewusste Existenz existiert als Bewußtsein, zu existieren.“ 70 Jede bewusste Existenz verfügt nun, anstatt des von Freud angenommenen Unbewussten, über ein unmittelbares, nicht-setzendes Bewusstsein (von) sich, „de[r] einzig mögliche[] Existenzmodus für ein Bewußtsein von etwas“, 71 welches „ursprünglicher ist als das intentionale Wissen des Bewusstseins von sich selbst und von seinen Gegenständen.“ 72 Dem nicht-thetischen steht demnach, strukturell gedacht, das thetische, nachgängige Bewusstsein gegenüber. Das unmittelbare Bewusstsein befindet sich somit nicht im Begriff des Werdens, – „denn dann müsste man annehmen, daß das Bewußtsein seiner eigenen Existenz vorangeht“ –, sondern ausschliesslich „durch sich“, 73 sui generis. Nochmals wird die Formel, wonach die Existenz der Essenz vorausgeht, angeschnitten: „Das Bewußtsein geht dem Nichts voraus und „gewinnt sich“ aus dem Sein“, wobei Sartre zu zeigen bestrebt ist, „1. daß nichts Ursache des Bewußtseins ist“, und „2., daß es Ursache seiner eigenen Seinsweise ist.“ 74 Auch hier findet die Freudsche Auffassung eines Unbewussten eine strukturelle Zurückweisung, die jedoch in der heutigen Interpretations- und Verstehensweise literarischer Schriften keine Resonanz bzw. Infragestellung erfährt. Es scheint daher umso wichtiger, die allgemeine, oftmals fraglose Annahme bzw. gar Anerkennung eines unbewussten Bewusstseins im Freudschen Sinne in Frage zu stellen. 75 Der Mensch, strukturell veranlagt und betrachtet als präreflexives und reflexives Bewusstsein in Einem zu sein, erführe dadurch eine adäquate Anerkennung seiner selbst und seiner damit einhergehenden vollumfänglichen Verantwortung. 67 68 69 70 71 72 73 74 75 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 21. Ebenda, S. 20 f. Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 305. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 22. Ebenda, S. 23. Eva Birkenstock: Heißt philosophieren sterben lernen? Antworten der Existenzphilosophie: Kierkegaard, Heidegger, Sartre, Rosenzweig, Freiburg im Breisgau/München 1997, S. 175. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 25 f. Ebenda, S. 26, mit Anmerkung Sartres. Sartres ambivalentes und changierendes und dabei nicht immer eindeutig konträres Verhältnis zu Freud selbst, soll an anderer Stelle Beachtung erfahren. Hierzu wird ebenfalls auf die Ausführungen von Andreas Cremonini: Die Durchquerung des Cogito. Lacan contra Sartre, München 2003, zu rekurrieren sein. 15 Nachdem das Bewusstsein unter dem Gesichtspunkt der Beziehung zum Seienden – gemäss Sartres Forderung, „zwei absolut voneinander getrennte Seinsbereiche zu unterscheiden: das Sein des präreflexiven Cogito und das Sein des Phänomens“ –, betrachtet wurde, wird es nun einer Analyse seiner „inneren“, strukturellen Verfassung nach unterzogen. 1.3 An-sich-sein Nach Sartre ist „Bewußtsein [...] erschlossene Erschließung der Existierenden, und die Existierenden erscheinen gegenüber dem Bewußtsein auf der Grundlage ihres Seins.“ 76 Das „Sein ist immer die anwesende Grundlage des Existierenden [...]“, wobei, wie schon erwähnt, das „Bewußtsein das Existierende immer überschreiten kann“, und zwar „[...] auf den Sinn des Seins“ 77 hin. Dieser Sinn nun ist das Seinsphänomen, das heißt „etwas, das nur durch eine Subjektivität besteht.“ 78 Der Sinn selbst hat ebenso ein Sein: Ein An-sich-sein, das keinen Bezug zu sich dulden kann. „Es ist eine Immanenz, die sich nicht realisieren kann, eine Affirmation, die sich nicht affirmieren kann, eine Aktivität, die nicht handeln kann, weil es sich mit sich selbst verfestigt hat.“ 79 Dies bedeutet weiter, dass es kein „hinter“ der Erscheinung, keinen metaphysischen Grund gibt, sondern allein die existentia, „entsprechend dem altherkömmlichen Gegensatz von essentia und existentia.“ 80 Somit wird unter anderem einer wie auch immer beschaffener Annahme von Gott entgegengetreten, der „der Welt das Sein gegeben habe“. Sartre beseitigt hier nebenbei das „Vorurteil [...], das wir Kreationismus nennen wollen.“ 81 Dem An-sich-sein wird sowohl jegliche Aktivität, also dass es sich selbst geschaffen hätte, als auch jegliche Passivität, nämlich dass „es erschaffen worden wäre“, abgesprochen, es „kann nicht causa sui sein wie das Bewußtsein.“ 82 Die Begriffe der Aktivität und Passivität bezeichnen demnach ausschließlich „menschliches“ Verhalten. Der Mensch verfügt aktiv über Mittel für einen Zweck und ebenso über passive Objekte, „auf die sich unsere Aktivität richtet.“ 83 Doch „die Konsistenz des Seins ist in sich jenseits von aktiv und passiv. [...], es ist Sich.“ 84 Der Sprache Zoll gebührend, weist Sartre daraufhin, dass „das Sein im Grunde jenseits des Sich ist. […] Tatsächlich ist das Sein sich selbst opak, eben weil es von sich selbst erfüllt ist“, 85 es quasi distanzlos in seiner Identität aufgeht bzw. „die Synthese von sich mit sich“ 86 ist. Sartre bringt so das Sein auf verschiedene, komprimierende Formeln. Zum einen: „Das Sein ist. Das Sein ist an sich.“ 87 Diese Formel „stellt den Gegensatz zum Geschaffensein heraus“, das, wie oben erwähnt, „Sartre ablehnt.“ Zum anderen: „[...] das Sein ist das, was es ist.“ 88 Hier wird das Zusammenfallen (mit sich) als Identität aufgefasst. „Die dritte Formel – „das Ansichsein ist“ – besagt“, 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 37. Ebenda, S. 38. Thomas Damast: Jean-Paul Sartre und das Problem des Idealismus, S. 18. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 41. Johannes Hirschberger: Die Geschichte der Philosophie. Neuzeit und Gegenwart, Bd. II., Freiburg im Breisgau o. J., S. 650. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 40. Ebenda, S. 40 f. Ebenda, S. 41. Ebenda. Ebenda, S. 42. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 42. 16 so Hartmann, „daß das Ansichsein in eignem Recht ist und „nicht von Möglichem abgeleitet oder auf Notwendiges zurückgeführt“ werden kann.“ 89 Es hat nur absolute Totalität bzw. „volle Positivität“, es ist identisch mit sich selbst und „es erschöpft sich darin, es zu sein.“ 90 Es gibt im An-sich-sein „keine Seinsparzelle, die nicht ohne Distanz zu sich selbst wäre, [...] nicht die kleinste Andeutung einer Dualität. [...] Es ist unendlich.“ 91 Es ist „massiv“ und „Synthese von sich mit sich“, aber eben auch „in seinem Sein isoliert“ und keinen Bezug zu dem unterhaltend, „was nicht es ist.“ 92 Im Gegensatz dazu stehen das Sein des Bewusstseins, respektive das Für-sich-sein, „das nicht mit sich selbst in einer vollständigen Adäquation koinzidiert.“ 93 1.4 Für-sich-sein Wie schon oben angedeutet, kommt dem Sein des Bewusstseins die das allgemeine Sein ergänzende, wenn auch gegensätzliche Funktion zu, „dem es „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“.“ 94 Es handelt sich bei diesem Seinstypus um jenen des Für-sich-seins, das sich scheinbar als Paradoxon „definieren läßt als das seiend, was es nicht ist, und als nicht das seiend, was es ist.“ 95 Sartre gibt uns für die Beschreibung des Für-sich-seins einige Charakteristika an die Hand. Sehr Wichtige hiervon wären die des Möglichen und der faktischen Notwendigkeit. 96 Das An-sich-sein konnte „[...] weder vom Möglichen abgeleitet noch auf das Notwendige zurückgeführt werden [...].“ 97 Doch bezüglich des Fürsich-seins des Bewusstseins verhält es sich anders. Es ist nicht identisch mit sich selbst, es ist nicht „von sich selbst voll“, 98 sondern, obwohl in einer „unauflösbaren Einheit“, 99 gespalten in ein präreflexives und ein reflexives Cogito. Ersteres ist die Notwendigkeit für letzteres, und doch verweisen beide aufeinander als „doppelte(s) Verweisungsspiel.“ 100 Sartre erläutert dies anhand „innerer“ Vorgänge wie dem Glauben, der Lust oder der Freude, welche nicht „existieren, bevor sie bewusst sind.“ Somit kann Sartre behaupten, dass „das Bewußtsein (von) Glaube […] Glaube [ist], und der Glaube ist Bewußtsein (von) Glaube. In keinem Fall können wir sagen, das Bewußtsein sei Bewußtsein und der Glaube sei Glaube.“ 101 Weiter noch: „[...] das Bewußtsein ist das Maß ihres Seins.“ 102 Dessen Charakteristikum nun ist die „absolute Immanenz.“ Sobald man dieses Sein erfassen will, entgleitet es einem, verwirrt es einen durch die „Existenz des Spiegelung- Spiegelnden“ und lässt uns eine zirkuläre „Dualität, die Einheit ist“ 103 ahnen. Sartre will damit ein (präreflexives) Bewusstsein vermitteln, das „[...] Bewußtsein (von) 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, S. 34 f. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 43. Ebenda, S. 164 f. Ebenda, S. 43. Ebenda, S. 164. Ebenda, S. 164.. Ebenda, S. 42. Ebenda, S. 452. Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 165. Ebenda, S. 166. Ebenda, S. 167. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 168. 17 sich“ 104 ist. Hiermit wird angezeigt, dass „das Subjekt [...] nicht Sich sein (kann). [...] Aber ebenso wenig kann es Sich nicht nicht sein, da das Sich Anzeige des Subjekts selbst ist.“ 105 Da es nun eine Trennung, den schon oben erwähnten, dem „Bersten“ geschuldeten „Riss“ als das „reine Negative“, von sich gibt – von Sartre als „eine ideale Distanz in der Immanenz des Subjekts zu sich selbst [...]“ 106 bezeichnet – muss das „Für-sich [...] sein eigenes Nichts sein.“ „Das Für-sich ist das Sein, das sich selbst dazu bestimmt zu existieren, insofern es nicht mit sich selbst koinzidieren kann.“ 107 Dieses Nichts wird auch als die „reine Nichtung des An-sich [...], wie ein Seinsloch innerhalb des Seins“ 108 beschrieben, von dem uns schon der Roman Der Ekel beredtes Zeugnis ablegte. Dies ist nun das oben erwähnte Charakteristikum des Möglichen: Ein Existierendes kann sich immer als eine Seinsweise oder als ein Sein des Nichts enthüllen. „Das Nichts ist die eigene [...] und einzige Möglichkeit“ 109 des Seins, denn „es gehört nicht dem Bewußtsein zu, es [das Für-sich; der Verfasser] sich zu geben oder es von anderen zu empfangen.“ 110 Das Bewusstsein des Menschen gliedert sich folglich in einer Einheit eines Für-sich- und eines An-sich-seins mit einem „Nichts“ dazwischen, „das Nichts an Sein und zugleich Nichtungsvermögen ist“, 111 welches ständig transzendiert, also überschritten wird. Das Sein des Bewusstseins ist und bleibt dabei stets kontingent. In dieser Grundlosigkeit der Existenz kann man nun sein Sein, nach Sartre die sog. menschliche-Realität, auch als Seinsmangel erkennen, weil man sich nicht vollkommen denken, an seiner Totalität nicht teilhaben kann, ohne nur Teil zu sein. Hier spielt Sartre auch auf Descartes an, der sich im kritizistischen Zweifel „als ein unvollkommenes Sein (erfasst).“ 112 Nichts und niemand kann mich als Menschen vollkommen begründen und mich beurteilen, das heißt, mir keinen wie auch immer gearteten Sinn zuschreiben, wenngleich dies bedingtermaßen unaufhörlich geschehen mag. Das „Wesen“ des Menschen ist es, dass er kein Wesen hat, sondern in erster Linie nur „ist, um Ursache von sich zu sein.“ 113 Nur man selbst ist dazu in der Lage, sich anzuschicken sich selbst zu begründen, als ein Für-sich, welches ein effektiver, fortlaufender Entwurf ist. Man ist erfolglos dazu genötigt, sein Sein zu wählen, kann es aber doch nie sein, da man dann ausschließlich ein An-sich, ein Objekt in „voller Positivität“ 114 wäre. Das Für-sich-sein kann sich selbst nicht zum Objekt machen, so dass der Mensch niemals einen Standpunkt außerhalb seiner selbst einnehmen kann. Obschon man freilich in steter Bemühung ist, sich von seinem An-sich-sein zu lösen, um werden zu können, um als freies Für-sich zu sein. Man ist als Für-sich „Freiheit, die wählt, aber wir wählen nicht, frei zu sein: wir sind zur Freiheit verurteilt, [...], in die Freiheit geworfen, oder, wie Heidegger sagt, ihr „überantwortet“.“ 115 Hierin liegt also die ursprüngliche Freiheit des menschlichen Daseins. „Und es ist richtig, daß unter den tausend Weisen, 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 168. Ebenda, S. 169. Ebenda. Ebenda, S. 171. Ebenda, S.1055 f. Ebenda, S. 172. Ebenda, S. 176. Ebenda, S. 171. Ebenda, S. 173. Ebenda, S. 175. Vgl. Ebenda, S. 1060 f. Ebenda, S. 838. 18 auf die sich das Für-sich von seiner ursprünglichen Kontingenz loszureißen versuchen kann, eine ist, die in dem Versuch besteht, sich durch Andere als Existenz de jure anerkennen zu lassen.“ 116 Als menschliches Wesen ist man nach Sartre regelrecht dazu verurteilt, frei zu sein, stets das zu sein, was man nicht ist und nicht zu sein, was man ist. 117 Zusätzlich befindet man sich in stetem Konflikt mit dem Anderen, welcher einem ein objektivierendes An-sich-sein zuweisen will, also das, was man augenscheinlich und in Funktion ist: Ein Kellner, ein Poet, ein guter oder schlechter Mensch oder Schriftsteller oder was sonst auch immer. Hier stehen Freiheit und Unfreiheit, Identitätsfindung und Zerstörung in scheinbar ebenso unvereinbarer Konstellation gegenüber wie der Eine und der Andere sich gegenüberstehen. Als Mensch ist man daher per definitionem dazu verurteilt, am Versuch, sich selbst zu (be-)gründen, zu scheitern. Auch Sebalds Vita und Werk lassen sich unter dem Aspekt der Verwiesenheit an den Anderen erforschen. Er ist unter anderem auf der Suche, wenn nicht explizit nach Sich so doch nach Identität, das heißt doch auch wieder nach „einem Bezug des Subjekts zu sich selbst.“ 118 Doch das Sich kann tatsächlich nicht als ein reales Existierendes erfaßt werden: das Subjekt kann nicht Sich sein, denn die Koinzidenz mit sich läßt […] das Sich verschwinden. Aber ebenso wenig kann es Sich nicht sein, da das Sich Anzeige des Subjektes selbst ist. Das Sich stellt somit eine ideale Distanz in der Immanenz des Subjektes zu sich selbst dar, eine Weise, nicht seine eigene Koinzidenz zu sein, der Identität zu entgehen, gerade indem es sie als Einheit setzt, kurz, in einem dauernd instabilen Gleichgewicht zu sein zwischen der Identität als absoluter Kohäsion ohne die geringste Verschiedenheit und der Ein119 heit als Synthese einer Vielfalt. Das nennen wir die Anwesenheit bei sich. Sebald selbst sucht nach Sinn, nach Zusammenhang nicht nur seiner erfahrenen und fingierten Erlebnisse. Seine scheinbar daraus resultierenden (Ver-)Stimmungen verwiesen ihn des Öfteren auf die Frage, ob und inwiefern er unter seinem Schicksal bzw. dieses wiederum unter dem die Melancholie repräsentierenden „Hundsstern“ zu leiden habe. Sein Interesse an „psychopathologischem“ Verhaltensweisen, besonders wenn es künstlerischen Ausdruck erfuhr, zeugt unter anderem davon. Am Anderen gibt sich Sebald daher Mühe, sein Leben als nicht gänzlich sinn- und grundlos zu erleben und das Leben anderer zu verstehen, wenngleich es für ihn nicht akzeptabel scheint, dass alles, auch das zwischenmenschliche Geschehen, letztlich unter dem Aspekt der Zerstörung stattfinden soll, aufgeklärter Fortschritt, sich einstellende Harmonie oder Erlösung somit unmöglich wären. Die Rolle des Anderen muss dementsprechend näher betrachtet werden, um Sartres behauptetes Faktum, dass „ich […] Erfahren des Anderen [bin]“, 120 nachvollziehen zu können. 116 117 118 119 120 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 839. Peter Kampits stellt fest – ob zu Recht, das sei hier nicht weitrer hinterfragt –, dass „das sich einstellende Ungenügen“ bezüglich der Beziehung zum Anderen in Sartre Das Sein und das Nichts uns mit einer „Forderung nach einer gegenseitigen Anerkennung konfrontiert, die freilich vorerst bloßes Postulat blieb“, dass „die gesuchte Verbindung zur Freiheit des Anderen (...) nicht weiter begründet (wurde).“ (Peter Kampits: Sartre und die Frage nach dem Anderen, Wien 1975, S. 241.) Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 42. Ebenda, S. 168. Ebenda, S. 169. Ebenda, S. 636. 19 1.5 Der Andere Anhand verschiedener Verhaltensweisen, zu denen Sartre den schon oben als Beispiel herangezogenen Glauben zählt, aber auch die Scham, „ein Beispiel für das, was die Deutschen „Erlebnis“ nennen“,121 will Sartre plausibel machen, dass es meiner eines unentbehrlichen Vermittlers bedarf, um solche Verhaltensweisen nicht nur ohne Reflexion leben, sondern auch reflexiv beurteilen und bewerten zu können. Es stellt sich somit zum einen die Frage „nach der Existenz Anderer“ und zum anderen jene „nach dem Seinsbezug zum Sein Anderer.“ 122 Der Andere (zunächst als Körper) erscheint mir demgemäss als „der unentbehrliche Vermittler zwischen mir und mir selbst: ich schäme mich meiner, wie ich Anderen erscheine.“ Durch diese vor allem durch den Blick vollzogene Vermittlung wird man in Stand versetzt, sich, dennoch im Zirkel befindlich, als Objekt beurteilen zu können. Und da die Scham, Sartre zufolge, „ihrer Natur nach Anerkennung“ ist, „[...] erkenne [ich] an, daß ich bin, wie Andere mich sehen.“ Im Zirkel deshalb, weil das unmittelbare Erschauern mittels der Scham „ohne jede diskursive Vorbereitung“ 123 erfolgt, es also kein isolierbares Vergleichen eines Für-sich- mit dem An-sich-Sein gibt. Sartre wähnt nebenbei eine Kritik am „Realismus“ und „Idealismus“ vornehmen zu müssen, um auf dem Weg zur mutmasslichen, wahrscheinlichen oder gewissen Erkenntnis des Anderen die „Klippe des Solipsismus“ mittels einer „“internen“ Beziehung“ 124 zu umgehen. Was schlägt Sartre vor, der schon in der Transzendenz des Ego feststellte, dass selbst das „Ich [...] für das Bewußtsein nicht gewisser [ist] als das Ich anderer Menschen. Es ist nur intimer.“? 125 Sartre gedenkt, den Anderen nicht unter der Frage einer intelligiblen oder einer noumenalen Existenz zu fokussieren, sondern ihn als ein unmittelbar (erfahrbares) Phänomen oder auch als ein „kontingente[s] und unreduzierbare[s] Faktum“ aufzufassen, „das auf andere Phänomene verweist: auf ein Phänomen-Wut, die er mir gegenüber empfindet, auf eine Reihe von Gedanken, die ihm als Phänomene seines innersten Sinns erscheinen: was ich am Andern beobachte, ist nichts weiter als das, was ich in mir selbst finde.“ 126 Sartre wird dieses intersubjektive Phänomen der Sphäre des Für-Andere-Sein 127 zuschlagen. Besonders erfahrbar wird dieses durch den Umstand, dass ich mich durch den „Blick des Anderen, den ich nicht mehr als objektive Struktur determinieren kann“, 128 als ein mit Eigenschaften belegtes Objekt dieses Sehens erfasst erachten muss – und vice versa. Diesen Umstand, ebenso wie das unmittelbare Gewahrwerden „innerer Zustände“ mittels des präreflexiven cogito, gilt es nun, so Sartre nach einer einschlägigen Kritik an Hegel, Husserl und Heidegger, schlichtweg anzuerkennen: „Mein Bezug zu Anderen ist zunächst und fundamental eine Beziehung von Sein zu Sein, nicht von Erkenntnis zu Er121 122 123 124 125 126 127 128 Als internes „Erlebnis“ wird das psychische Moment eines weltlichen, externen „Ereignisses“ verstanden. Die Trennung bzw. die nur schwer in Einklang bringende Verbindung von Erlebnis und Ereignis (das sog. Bindungsproblem) durchzieht die Philosophiegeschichte vom Leib-Seele-Problem bis hin zu den modernen dualistischen Konzeptionen des Selbstbewusstseins und Bewusstseins, die unter anderem mittels Emergenz und Supervenienz ein plausibles Konzept zu haben trachten. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 405 ff. Ebenda, S. 406. Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, S. 98. Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, S. 90. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 412 f. Vgl. Ebenda, S. 458 ff. Detlef Hauck: Fragen nach dem Anderen. Untersuchungen zum Denken von Emmanuel Levinas mit einem Vergleich zu Jean-Paul Sartre und Franz Rosenzweig, Essen 1990, S. 30. (=Philosophie in der Eule; Bd. 13), Zugleich: Bochum, Univ., Diss. 1987. 20 kenntnis, wenn der Solipsismus zu widerlegen sein soll.“ 129 Das ganze nimmt sich wie eine schlichte, apodiktische Behauptung aus, die Sartre, sich dessen bewusst, aber erst gar nicht beweisen will, denn „die Existenz der Anderen wird immer anzweifelbar sein, sofern man nur in Worten und abstrakt am Anderen zweifelt, so wie ich schreiben kann, ohne das auch nur denken zu können: „Ich zweifle an meiner eigenen Existenz“.“ 130 Hartmann hat das Für-andere-sein Sartres folgerichtig als „eine Theorie der Begegnung des Anderen und eine Theorie der Seinsbeziehung zum Anderen“ aufgefasst. Und „beide müssen ineinander greifen: man muß vom cogito aus die Begegnung dartun, und darin, in der Begegnung, muß ein „Interesse“ liegen, das unser Sein am Andern nimmt.“ 131 Im Kapitel Der Blick expliziert Jean-Paul Sartre dieses Ineinandergreifen auf eindrucksvolle Art: Die Frau, die ich auf mich zukommen sehe, der Mann, der auf der Straße vorübergeht, der Bettler, den ich von meinem Fenster aus singen höre, sind für mich Gegenstände, daran besteht kein Zweifel. […] Das bedeutet, daß meine Wahrnehmung des Andern als Gegenstand, ohne die Grenzen der Wahrscheinlichkeit zu verlassen und gerade wegen dieser Wahrscheinlichkeit, ihrem Wesen nach auf ein fundamentales Erfassen des andern verweist, wo der Andere sich mir nicht mehr als Gegenstand, sondern als 132 „leibhaftige Anwesenheit“ entdecken wird. Relevanz für die Arbeit erfährt der Andere bzw. der Seinstypus des Für-Andere-Sein durch die negative, weil vor allem konfliktbehaftete Betonung durch Sartre, wie sie zum Beispiel in seinem berühmt gewordenen Diktum aus dem Stück Geschlossene Gesellschaft Ausdruck erfährt: „Die Hölle, das sind die Anderen.“ Der Andere ist also zunächst derjenige, der mir begegnend meine Welt „stiehlt“, der, drastisch gesprochen, der „Tod meiner Möglichkeiten“ ist und der konstitutiv im Begriff ist, mein Universum auf sein Zentrum hin „ablaufen“ zu lassen, zu desintegrieren. „Der Andere, das ist zunächst die permanente Flucht der Dinge auf ein Ziel hin, das ich gleichzeitig in einer gewissen Distanz von mir als Gegenstand erfasse und das mir entgeht, insofern es um sich herum seine eigenen Distanzen entfaltet.“ 133 Scheitert also schon, wie oben gezeigt, das dem Subjekt inhärente Für-sich-sein als immerwährender und fortlaufender Entwurf, so ist auch, nach Sartre, die Beziehung respektive der „Seinsbezug“ zum Anderen zum Scheitern vorgesehen insofern der Konflikt mit dem Anderen nicht aufgelöst werden kann, da strukturell „der Konflikt […] der ursprüngliche Sinn des Für-Andere-seins [ist].“ 134 Die allgegenwärtige Zerstörung, wie sie in ihren Facetten so oft von Sebald, nicht nur in seinen litertheoretischen, frühen Arbeiten thematisiert wurde, hat nach Sartre hier ihren Ursprung. Der Begriff der Zerstörung wird in diesem Zusammenhang weit gefasst werden können. Sie bedeutet die Herstellung einer direkten Verbindung zum Anderen durch das permanente Entwerfen auf etwas hin, das stets auch auf den Anderen einwirkt, „das heißt, auf die Freiheit der Anderen.“ 135 Es ist nun einerlei, ob es sich bei der stattfindenden „Zerstörung“, das heisst Einwirkung auf die Freiheit des Anderen, um 129 130 131 132 133 134 135 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 443. Ebenda, S. 453. Klaus Hartmann: Grundzüge der Ontologie Sartres in ihrem Verhältnis zu Hegels Logik, S. 99. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 457. Ebenda, S. 461. Ebenda, S. 638. Ebenda, S. 641. 21 Verhaltenweisen wie „Liebe“, „Sprache“ oder „Masochismus“ oder „Hass“ und „Sadismus“ handelt. In jedem Fall geht es dem Einen in seinem Streben um ein Erfassen oder auch Anteilhaben des Anderen. Sartre analogisiert dieses Streben mit einer Identifizierung im Sein mit dem Anderen durch Assimilation. Die Einheit ist aber, so Sartre, „de facto unrealisierbar“ und als kontradiktorische Konsequenz hiervon nur wiederum die Bedingung dafür, „an mir zu negieren, daß ich der andere bin.“ 136 Die Beziehung zum Anderen muss aber auch so gesehen werden, dass sich selbst schon der potentielle Leser – als der Andere – zum Autor, in diesem Falle Sebald, und zu dessen Werken in einem asymmetrischen und konfliktbeladenen, vor allem aber in einem hermeneutischen Verhältnis befindet. Es steht in Frage, inwiefern sich Sebald dieses Umstands bedient, um den Leser auf Konfrontation oder in Einvernehmung zu halten. 137 Einleuchtend ist es hingegen, dass darin eine der interpretatorischen Schwierigkeiten liegt und dass, wie später zu sehen sein wird, „die Weise, wie Menschen von vornherein in einem Sinnzusammenhang existieren, [...] als Teilnahme an einem kommunikativen Geschehen definiert [ist]: Daß man nicht nicht kommunizieren kann, ist die elementare Tatsache, auf deren Grundlage Sinn und Verstehen“ 138 erst ermöglicht werden. Die Beziehung zum Anderen wird also im Verbund mit der „existentiellen Psychoanalyse“ Sartres gerade in hermeneutischer Hinsicht fruchtbringende Relevanz haben. Wie Angehrn betont, geht es „der hermeneutischen Dialektik von Selbst und Andersheit nicht nur darum, daß das eigene Selbstverständnis in das Fremdverstehen einfließt; ebenso wichtig ist, daß es in diesem zum Gegenstand wird und sich verwandelt.“ 139 Dieses dynamische und reziproke Verhältnis wird ebenso wie Sartres Bewusstseinsanalyse und seine „existentielle Psychoanalyse“ der späteren Deutung des Sebaldschen Werkes zugrunde liegen. 1.6 Zur Freiheit verurteilt Wir haben bis hierher drei verschiedene Seins-Typen kennen gelernt, ohne dabei auf Unzulänglichkeiten struktureller Art Rücksicht zu nehmen. Jede für sich lässt sich als ein Akt der Negation beschreiben. Nach Sartres struktureller Auffassung liegt ihnen ein wesentliches Merkmal zugrunde, nämlich die Freiheit. „Für das Bewußtsein heißt existieren Bewußtsein von seiner Existenz haben. Es erscheint als reine Spontaneität gegenüber der Welt der Dinge, die reine Trägheit ist.“ 140 Sartre geht es dabei nicht um eine Fortführung der altbekannten und bis heute aktuell geführten Debatte um Willensfreiheit oder („psychologischen“ und „universalen“) Determinismus. Er greift das Thema von einer ganz anderen Seite her auf, nämlich ontologisch fundiert und von der Angst her. In ihr, so Sartre, „erfasse ich 136 137 138 139 140 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 641. Sartres Auffassung ist hier stark verkürzt dargestellt. In Das Sein und das Nichts führt er ausführlich das komplexe Beziehungsgefüge aus. Der Andere wird dabei als Subjektund Objekt-Anderer begriffen, der im steten Verweisungsspiel (sich nämlich als Subjekt nicht objektivieren lassen zu wollen) mit mir gefangen ist. Da man laut Sartre aus „strukturellen“ Gründen selbst nie eins mit sich sein kann, sich dennoch permanent im Modus eines An-und-Für-sich-sein- respektive Gott-sein-Wollens befindet, wird die implizite Abhängigkeit vom Anderen nur als eine weitere, wenngleich wechselseitige Hürde empfunden werden können. Beim Einsatz von Bild-Material geht Sebald sehr wohl davon aus, dass etwas beglaubigt wird, „nur hin und wieder hat ein Bild die gegenteilige Funktion – nämlich den Leser zu verunsichern, was die Authentizität des Textes betrifft.“ (Vgl. Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 137.) Emil Angehrn: Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist 2003, S. 110. Ebenda, S. 118. Jean-Paul Sartre: Die Imagination, S. 97 f., in: Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931- 1939, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 97-254. 22 mich als total frei und gleichzeitig als gar nicht verhindernd könnend, daß der Sinn der Welt ihr durch mich geschieht.“ 141 Sartre charakterisiert die Angst als reflexive[s] Erfassen der Freiheit durch sie selbst, und in diesem Sinn ist sie Vermittlung, denn obwohl unmittelbares Bewußtsein von ihr selbst, taucht sie aus der Negation der Appelle der Welt auf, erscheint sie, sobald ich mich von der Welt, in die ich mich engagiert hatte, löse, um mich selbst als Bewußtsein zu erfassen, das ein vorontologisches Verständnis seines Wesens und einen präjudikativen Sinn für sei142 ne Möglichkeiten hat. Dieser Akt kommt laut Sartre dem Für-sich-sein zu. Und weiter gilt für die Freiheit, dass sie keine Eigenschaft ist, sondern „als die für die Nichtung des Nichts erforderliche Bedingung“ dem Wesen des Menschen stets vorausgehend. Freiheit und Existenz des Menschen fallen demnach ineins, wenn Sartre behauptet, dass „der Mensch [...] keineswegs zunächst [ist], um dann frei zu sein, [...].“ Er ist gleichsam zur Freiheit verurteilt, „insofern die Erscheinung des Nichts von ihm bedingt wird.“ Durch das strukturelle „Nichts“ zwischen An- und Für-sich-sein, was der Unbestimmtheit des Menschen entspricht, kommt also laut Sartre die Freiheit als „Innenstruktur des Bewußtseins“ 143 in die Welt. Wie in der oben ausgeführten Bewusstseinsanalyse gezeigt wurde, ist dem Menschen im seinen zirkulären Sein ein stetes „Losreißen“ bzw. „Abrücken“ inhärent, was notwendigerweise ein sich entwerfen auf etwas hin bedeutet muss. Sartre will damit auch aufzeigen, dass der Mensch seine Weise(n) zu sein zwar wählen kann, dies jedoch nicht unabhängig vom Anderen. In Das Sein und das Nichts und später in seiner Flaubert-Studie stellt er sich der für ihn im Ergebnis unbefriedigenden psychologischen Analyse (Paul Bourgets), die laut Sartre ein Bemühen ist, die komplexe Persönlichkeit eines Adoleszenten [Gustave Flaubert; der Verf.] auf einige primäre Begierden [zum Beispiel eine „grandiose Ambition“ und „das Bedürfnis, viel zu agieren und zu viel zu empfinden“; der Verf.] zu reduzieren, so wie der Chemiker die zusammengesetzten Körper auf eine 144 Kombination von Elementen reduziert. Doch für Sartre gilt dies nicht als „Erklärung der „Berufung“ Flauberts“, vielmehr stellt sich hier die Frage nach dem Warum seines Schreibbedürfnisses. „Warum wurde er nicht Schauspieler? Warum hat er es nicht versucht zu werden? [...] Und warum wählt es [das in der Exaltiertheit mündende Bedürfnis, viel zu agieren und zu viel zu empfinden; der Verf.] gerade, sich symbolisch zu befriedigen, statt sich in Gewaltakten, Fluchten, Liebesabenteuern oder Ausschweifungen zu stillen?“ 145 Sartre lehnt mithin eine Psychologie ab, die zum Beispiel die „grandiose Ambition“ Flauberts als unreduzierbares Faktum geklärt haben will. Er will die Grenzen einer befriedigenderen Analyse weiter ausloten, denn „da, wo der Psychologe stehen bleibt, bietet sich das betreffende Faktum als primär dar.“ Die sog. „Erklärung“ bedarf also selbst einer Klärung. Das uns beschleichende Gefühl, so Sartre, „daß Flaubert seine Ambition nicht „bekommen“ hat“, lässt sich Sartre zufolge besser erklären und verstehen, wenn man annimmt, dass sie, die Ambition, gleichsam als Urwahl bzw. Entwurf „frei“ zu einem früheren Zeitpunkt gewählt wurde. Das heisst, 141 142 143 144 145 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 85, S. 109. Ebenda, S. 108. Ebenda, S. 84 f. Ebenda, S. 957 f. Ebenda, S. 959. 23 dass „weder die Vererbung noch die bürgerlichen Lebensbedingungen, noch die Erziehung […] darüber Aufschluß geben [können]; noch viel weniger die physiologischen Betrachtungen über das „nervöse Temperament“, die eine Zeitlang Mode waren: der Nerv ist nicht bedeutend […].“ 146 Sartre muss sich aber, will er seine geforderte Ausweitung der Analyse durchführen können - die ja eine verstehendmachende Erklärung liefern muss - ebenso auf ein „wirklich Unreduzierbares, das heißt ein Unreduzierbares, dessen Unreduzierbarkeit für uns evident wäre“, festlegen. Für Sartre bedeutet diese Forderung, jene Evidenz als eine des „ursprünglichen Entwurfs“ mit seiner „existentiellen Psychoanalyse“ aufzuweisen. Freiheit im Sinne Sartres bedeutet also eine an seinen Leib gebundene Spontaneität, die im Konflikt mit dem Anderen gewählt bzw. konkretisiert werden muss. Der nicht zu vernachlässigende, moralische Impetus liegt dabei auf der Verantwortung, welche dem Subjekt durch die blosse Existenz auferlegt ist. Für alles, was wir in der je konkreten Situation tun bzw. nicht tun, sind wir demnach voll verantwortlich. Ob unser Wille dabei (sofern es diesen als „gelebten Leib“ überhaupt gibt 147 ) frei ist oder nicht, ist von untergeordneter Relevanz. Relevant ist hingegen der Punkt, wo sich der Entwurfcharakter gemäss einer Weise zu sein – und nicht zu sein, denn diese dialektische Spannung des unmöglichen An- und Für-sich-sein-wollens ist nie aufzuheben – zeigt. Des weiteren ist es wichtig, dass das Subjekt totalisierend betrachtet wird, als in der Gemeinschaft lebend, wie Sartre es später in der Auseinandersetzung mit dem Existentialismus und dem Marxismus prononciert. Diesen Punkt zu finden und verständlich zu machen bestimmt als roter Faden Sartres biographisches Arbeiten, unter anderem zu Flaubert und Genet – und natürlich über sich selbst. Bezüglich des Sebaldschen Werks wird es der Analyse unter anderem obliegen, einen solch möglichen, evidenten Punkt, demnach einen Moment des „ursprünglichen Entwurfs“, aufzufinden und ihn plausibel auszuweisen. Davon allerdings wird erst im zweiten Kapitel gehandelt werden müssen. 2. Sartres Geschichtsverständnis: Zerstörung Sartres Geschichtsverständnis lässt sich vor allem über seine philosophische Schaffensphase über Jahrzehnte hinweg keineswegs als ein monokausales und fixiertes verstehen. Seine Entwicklung liesse sich wohl grosso modo als eine vom existentiellen (Anti-)Humanisten und Freiheitsapologeten hin zum Marxismus, also vom Subjekt zur Gemeinschaft bzw. zur „Klasse“ hin, beschreiben. Mit Schnädelbach „schematisch gesprochen, beginnt Sartre mit reiner Philosophie und kommt bei Marx und einer umfassenden Gesellschaftstheorie an [...].“ 148 In die Fragen der Methode gibt es denn auch den „Versuch einer Methodik“ in der Auseinandersetzung mit Marxismus und Existentialismus. 149 Angestrebt wird ein gewisser Synkretismus, wobei der 1960 erschienene Aufsatz später als Vorwort zur Kritik der dialektischen Vernunft fungieren und auch Titel gebend sein wird. Auch deutet sich hier schon seine methodologische Vorarbeit zu den biographischen Studien zu Flaubert und Baudelaire an. 146 147 148 149 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 960 f. Vgl. besonders dazu das zweite Kapitel Der Körper in Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 539 ff. „[...] während die Frankfurter [Schule-Vertreter u. a. Horkheimer und Adorno; der Verf.] marxistisch und gesellschaftstheoretisch beginnen, um sich dann immer mehr in die Philosophie zurückzuziehen.“ (Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule, S. 19, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 13-35.) Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 9-42. 24 Sartre benennt seinen eingeschlagenen Kurs folgerichtig als „die Totalisierung des zeitgenössischen Wissens [...]: der Philosoph vollzieht die Vereinigung aller Erkenntnisse, indem er sich an bestimmten Leitbildern orientiert, die die Haltungen und Techniken der aufsteigenden Klasse dem eigenen Zeitalter und der Welt gegenüber zum Ausdruck bringen.“ 150 Auf dem Wege dahin lässt sich für Sartre ein Merkmal bestimmen, welches gleichermassen beide politik-philosophische Richtungen durchwirkt, nämlich der Akt der Zerstörung. Wie schon oben angeklungen, kann Zerstörung nur menschengemacht sein. Die Geschichte selbst ist nicht zerstörerisch, doch da Geschichte ohne den Menschen nicht stattfindet, ist der Zusammenhang offensichtlich. Der bedeutungsvielfältige Begriff der „Zerstörung“ soll nun für die jeweilige Ebene, d.h. 1. für die vor allem Das Sein und das Nichts betreffende und 2. für diejenige des Marxismus, herausgearbeitet werden. 2.1 Phänomenologisch-ontologisch Sartre spricht nun in Fragen der Methode – in selbstkritischer Absetzung zu Der Existentialismus ist ein Humanismus von 1946 – vom Existentialismus als Ideologie: „[...] er ist ein parasitäres System, das am Rande des Wissens lebt, des Wissens, dem er sich ursprünglich entgegenstellt, dem er sich aber heute einzugliedern versucht.“ 151 Dennoch gilt für Sartre weiterhin, indem er sich in seiner Analyse auf Sören Kierkegaard bezieht, dass das Subjekt sich an der Existenz „abarbeite[t]“, dass also Ideen allein nicht genügen, will der Mensch sich ändern. „[...] Man muß sie [die Leidenschaft; der Verf.] durchleben, ihr andere Leidenschaften entgegensetzen, sie hartnäckig bekämpfen [...]“, 152 um so dem Wirklichen des Seins auf die Spur zu kommen. In Das Sein und das Nichts hat Sartre für das Sein festgestellt, dass es dann „[...] zerbrechlich [ist], wenn es in seinem Sein eine bestimmte Möglichkeit von Nicht-sein birgt. Aber es ist wieder der Mensch, durch den Zerbrechlichkeit dem Sein geschieht [...].“ 153 Der Mensch muss sich zu dieser Möglichkeit des Nichts-seins aufgrund eines „präjudikative[n] Verständnis[ses] des Nichts als solchen“ verhalten, „entweder positiv oder negativ: er muß die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um sie zu verwirklichen (Zerstörung im eigentlichen Sinn) oder um sie, durch eine Negation des Nichts-seins, immer auf der Ebene einer bloßen Möglichkeit zu halten (Schutzmaßnahmen).“ 154 So werden die Städte und andere menschliche Bauten als Wert, als schützenswert gesetzt und sie können erst nach dieser Setzung durch Naturkatastrophen oder durch Krieg zerstört werden. Sartre behauptet folgerichtig, dass „der ursprüngliche Sinn und das Ziel des Krieges […] im kleinsten Bau150 151 152 153 154 Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 10. Ebenda, S. 14. Natürlich begreift Sartre in dieser Schrift den Existentialismus nur dann als Ideologie, insofern der Mensch das letzte Ziel bzw. der höchste Wert wäre. Für Sartre besteht aber weiterhin seine Intention des Existentialismus darin, dass der Mensch sich selbst schafft, dass er sich selbst die Gesetze, die Werte gibt, dass also weiterhin die absurde, kontingente Existenz einer etwaigen Essenz vorausgeht. Bernand-Henri Lévy wird in Sartre. Philosoph des 20. Jahrhunderts, Wien 2002, an dieser Zweigliederung in Sartres rückblickendem Verständnis und Verfechten des Existentialismus einen „ersten“, jungen und einen „zweiten“, reifen Sartre konstatieren. An dieser Stelle wäre festzuhalten, dass Sartre mit dem Roman Der Ekel einen antihumanistischen Existentialismus und – unter Einfluss des Zweiten Weltkrieges- mit der popularisierenden Schrift Der Existentialismus ist ein Humanismus einen humanistischen Existentialismus differenzieren wird, womit auch Sartres Entwicklung vom Individualismus zum Sozialismus korrelierte. Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 18. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 58. Ebenda. 25 werk des Menschen enthalten [sind]“ und „daß es der Mensch ist, der seine Städte über Erdbeben oder direkt zerstört, der seine Schiffe über Wirbelstürme oder direkt zerstört.“ 155 Zerstörung wird von Sartre als „objektives Faktum“ und gemäss des Prinzips der Entropie als „unumkehrbares und absolutes Ereignis“ verstanden. „In das Sein dieser Vase hat sich die Zerbrechlichkeit eingeprägt […].“ 156 Aufgrund der von Sartre konzeptualisierten Bewusstseinsanalyse setzt sich diese objektive Zerstörung subjektiv und intersubjektiv im Sinne der permanenten „Nichtung“ fort. Prägnant formuliert Sartre die subjektive Nichtung, die man genauso gut als Zerstörung bezeichnen kann, im folgenden Zitat aus: Indem das Für-sich im Sein als Nichtung des An-sich auftaucht, konstituiert es sich zugleich in allen möglichen Nichtungsdimensionen. Von welcher Seite man es auch betrachtet, es ist das Sein, das nur mit einem Faden an sich selbst hängt, oder, genauer noch, das Sein, das, indem es ist, alle möglichen Dimensionen seiner Nichtung existieren macht. In der Antike nannte man die tiefe Verbundenheit und Zerstreuung des jüdischen Volks „Diaspora“. Dieses Wort kann uns dazu dienen, den Seinsmodus des 157 Für-sich zu bezeichnen: es ist diasporisch. Nun, sicherlich liesse sich der geschilderte „diasporische“ Seinsmodus auch für viele andere Menschen unterschiedlicher Ethnien, die zum Beispiel für transnationale Firmen arbeiten, diagnostizieren. Worauf es hier ankommt ist, dass das Sein des Für-sich, da es Sartre zufolge quasi „verfolgtverfolgend“ 158 dreifaches gleichzeitig sein muss, folgendermassen verkompliziert wird: Es kann „1. nicht das sein, was es ist“ und muss „2. das sein, was es nicht ist“ und kann bzw. muss „3. in der Einheit eines ständigen Verweisens das sein, was es nicht ist, und nicht das sein, was es ist.“ 159 Als grundlose Schöpfung, die ich bin, bin ich zudem noch verurteilt, meine Existenz auf ein mögliches Wesen bzw. gar auf die ideale Synthese, nämlich das ens causa sui hin zu entwerfen, welche ich selbst mit dem Tod nicht erlangen kann. Dem Sartreschen Konzept zufolge wird es also stets beim Scheitern bleiben: die Sinnhaftigkeit der Existenz wird strukturell verunmöglicht. Sich dessen bewusst seiend, folgert Sartre, dass „es […] in der Tat skandalös [scheint], daß das Bewußtsein in irgendeinem Moment „erscheint“, daß es auf einmal den Embryo „bewohnt“, kurz, daß es einen Moment gibt, in dem das entstehende Lebewesen ohne Bewußtsein, und einen Moment, in dem ein Bewußtsein ohne Vergangenheit sich in es einschließt.“ Sartre verschliesst sich somit einem deterministischen Menschenbild in dem Sinne, dass unserer Existenz Generation übergreifende und bedingende Sinnhaftigkeit besitzt. Literaturwissenschaftliche Arbeiten, wie bereits einleitend erwähnt, die sich theoretisch auf Freuds Psychoanalyse stützen, behaupten unter anderem gerade dieses, dass nämlich menschliche Verhaltensweisen als Dispositionen (wie zum Beispiel des Gefühl kollektiver Schuld oder die kollektive Unfähigkeit zur Trauer) scheinbar genetisch, oder auf welchem Wege auch sonst immer, an die folgende Generation vererbt würden. Für den späteren Teil der Arbeit im zweiten Kapitel wird unter Verweis auf Sartre diese Herangehensweise am Beispiel W.G. Sebalds als inadäquat herausgestellt werden. 155 156 157 158 159 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 58. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 266. Ebenda, S. 634. Ebenda, S. 267. 26 Zum intersubjektiven Charakter der Zerstörung lässt sich Sartres strukturelle Notwendigkeit des Anderen bzw. des Für-andere-seins, wonach „es […] Beziehung des Für-sich zum An-sich in Anwesenheit des andern [gibt]“, 160 heranziehen. Nicht nur, dass mehrere Körper zum Beispiel im Kriege sich zerstören können; der Andere bedeutet in erster Linie den „Tod“ all meiner anderen Seins-Möglichkeiten. Der Andere verhält sich mir gegenüber zuvörderst erblickend, er „erblickt mich und besitzt als solcher das Geheimnis meines Seins, er weiß, was ich bin […].“ Dieses mir von aussen zugewiesene Sein kann ich nun wiederum negieren bzw. transzendieren wollen, „ich kann mich zum Andern zurückwenden, um ihm meinerseits Objektheit zu verleihen, da ja die Objektheit des Andern meine Objektivität für den Andern zerstört.“ Oder aber ich bin bemüht, mir die Freiheit, mich zu gründen, anzueignen, demnach „die Freiheit des Andern zu assimilieren“, 161 wie Sartre es ausdrückt, um mich meiner Subjektheit zu vergewissern. So könnte ich etwas anderes sein, als der Andere mir auferlegt, indem ich den Andern in seinen Entwurfsmöglichkeiten auf eine bestimmte, objektivierende Perspektive festzulegen versuche. In diesem wechselseitigen und dynamischen Verhältnis gibt es, ebenso wie jene zwischen dem Für-sich- und dem An-sich-sein, eine andauernde Grundspannung zwischen mir und dem Andern, die gerade die Konflikthaftigkeit intersubjektiver Verhältnisse ausmacht. Honneth konstatiert denn auch Sartres Intersubjektivitätstheorie: „Zwischen Subjekten ist eine Beziehung kommunikativen Einverständnisses nicht möglich, da stets eines der Subjekte sich in dem vergegenständlichen Zustand des Für-Andere-seins befinden muß.“ 162 Sartres eindringliche Schilderung gibt uns eine Vorstellung davon: So ist der Objekt-Andere ein explosives Instrument, das ich mit Furcht handhabe, weil ich um es herum die permanente Möglichkeit spüre, daß man es explodieren läßt und daß ich mit diesem Explodieren 163 plötzlich die Flucht der Welt aus mir heraus und die Entfremdung meines Seins erfahre. Honneth versucht immanente Kritik ob der „Suggestivkraft dieser phänomenologisch höchst eindringlichen Detailanalysen, die es schwer macht, sich dem Gang der Argumentation Sartres überhaupt zu entziehen.“ Honneth will zeigen, „daß Sartre eine reduktionistische Beschreibung jener interaktiven Schlüsselsituation des Erblicktwerdens liefert.“ Für Honneth scheint es ungerechtfertigt, dass „Sartre jedes Erblicktwerden undifferenziert als eine Weise der Verdinglichung beschreibt“, 164 da die „normative“ Seite des zum Beispiel bekräftigenden, positiven oder hinterfragenden, negativen Blicks ausser Acht gelassen werden würde. Für Sartres konzeptionelles Für-Andere-sein ist es aber irrelevant, die normative Seite in Honneths Sinne zu berücksichtigen, denn sie ändert nichts daran, dass der Blick des Andern mich auf ein Sein, auf eine soziale Funktion zum Beispiel, ob es nun gut oder schlecht gemeint ist, festzulegen versucht. Ich kann ja immer auch nicht wollen, dass jemandes Blick mich als gutmütig oder griesgrämig zu fixieren scheint. In der biographischen Studie Baudelaire. Ein Essay formulierte Sartre diesen dialektischen Sachverhalt folgendermassen: „Da es nun einmal keine fertig bereitstehenden Prinzipien 160 161 162 163 164 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 634. Ebenda, S. 636 f. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 77, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 73-83. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 529. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 79. 27 gibt, an die man sich halten könnte, wird er [Baudelaire; d. Verf.] entweder in einem amoralischen Indifferentismus verharren oder aber selbst das Gute und das Böse erfinden müssen.“ 165 2.2 Dialektisch Als Ontologe befragt Sartre sodann den Marxismus: „Wie ist es zu verstehen, daß der Mensch die Geschichte macht, wenn andererseits es doch gerade die Geschichte ist, die ihn macht?“ 166 Sartre stellt diese Frage aufgrund der Einsicht, dass das Individuum allein für sich kaum nennenswerte bzw. wirkungsmächtige Bedeutung hat. Das Subjekt wird nun, trotz der intersubjektiven Frontstellung, als ein Gemeinschaftswesen begriffen und zwar unter Heranziehung der Terminologie des Marxismus bzw. des Kommunismus. Es verwundert aber nicht, dass Sartre die starre Dialektik und die bürokratischen und stalinistischen Auswüchse kritisiert und mit der Übernahme existentialistischer Attribute, so zum Beispiel die Freiheit des Subjekts und den ihn auszeichnenden Entwurfcharakter seiner Existenz, den „zeitgenössischen Marxismus“ aufbrechen will. Er wirft ihm unter anderem vor, „alle konkreten Bestimmungen des menschlichen Lebens dem Zufall zuzuschreiben und von der historischen Totalisierung nichts als das bloße Gerippe abstrakter Allgemeinheit übrigzubehalten.“ 167 Doch was lässt sich positiv von ihm sagen und woran lässt sich wiederum der Schwerpunkt der Zerstörung festmachen? Zuerst, so Sartre, gilt es „innerhalb des Marxismus den Menschen zurückzuerobern“, nicht „im Namen eines dritten Weges oder eines idealistischen Humanismus“, sondern über die von ihm als „progressiv-regressive“ 168 bezeichnete Methode. Ziel ist es, die „Leerstelle eine konkreten Anthropologie“ zu füllen und sie im „“Wissen“ zu integrieren.“ 169 Mit der benannten Methode geht es Sartre „vor dem Hintergrund einer zukünftigen Totalisierung“ 170 um einen Akt des Verstehens. Wiewohl die Menschen [...] ihre Geschichte auf der Grundlage vorgefundener tatsächlicher Verhältnisse [machen] (worunter man die erworbenen Eigenschaften, die durch die Arbeits- und Lebensweise aufgezwungenen Deformationen, die Entfremdung usw. zählen muß); [sind] [es] dennoch die Menschen und nicht die vorgefundenen Verhältnisse, die die Geschichte machen, denn sonst wären die Menschen blo171 ße Vehikel unmenschlicher Gewalten, die durch sie die soziale Welt regierten. Dieser als die konkrete Praxis verhandelte Sachverhalt birgt für das von Sartre intendierte „Verstehen der Existenz“ 172 zwei Richtungen: „zum einen rekurriert es „regressiv“ auf die Faktizitäten, die Umstände, das Erlebte, und zum anderen „progressiv“ auf die Entwürfe, die der Einzelne auf Grund des Gegebenen tätigt [...].“ 173 Die Praxis wird von Sartre dabei marxistisch aufgefasst, dessen Grundmo- 165 166 167 168 169 170 171 172 173 Jean-Paul Sartre: Baudelaire. Ein Essay, S. 30. Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 94. Ebenda, S. 92. Ebenda, S. 94 ff. Ebenda, S. 93. Ebenda, S. 100. Ebenda, S. 97. Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 188. Peter Kampits: Jean-Paul Sartre, München 2004, S. 107. 28 tiv, nämlich „das Engagement für die Befreiung der Arbeiterklasse und mit ihr der gesamten Menschheit“ 174 wieder in ihr Recht gesetzt werden muss. Schliesst man vom entfremdet lebenden und sich darin wiederum überschreitenden Einzelnen auf die „Gruppe“, so kann ihr nie „die metaphysische Seinsweise“ von Entitäten wie Bourgeoisie, Kleinbürgertum oder Proletariat zugeschrieben werden, wenngleich sie ihr dennoch gerade auch von Marxisten zugedacht wird. Doch „es gibt nur Menschen“, so Sartre, „und reale Beziehungen zwischen den Menschen; in dieser Hinsicht ist die Gruppe in bestimmtem Sinn nichts als die eine Mannigfaltigkeit von Beziehungen und Beziehungen zwischen diesen Beziehungen.“ 175 Es gäbe, laut Sartre, auch Ausnahmen. Es gibt Gruppen oder Kollektive, die unter scheinbarer identischer Zielgerichtetheit und kurzfristigem intersubjektivem Gelingen agieren. Ein Beispiel ist das klassische Auflehnen Unterdrückter gegen die Unterdrücker, ausgebeuteter Menschen gegen die Ausbeuter, der berüchtigte Klassenkampf also, wenn „das Kapital [...] der Gesellschaft gegenüber [tritt]“, 176 der nur mit Gewalt respektive Zerstörung gegen Menschen und Dinge geführt werden kann. Für Sartre manifestiert sich in diesen Gruppen temporäre und aufrichtige Kohärenz, welche, analog zum subjektiven und intersubjektiven Konflikt, in ein konträres, oftmals terroristisches Verhältnis gegenüber Staat und Kapital mündet. Sartre behauptet also, dass der randständige und von ihm nun etwas modifizierte Existentialismus prinzipiell den Marxismus ergänzen kann, insofern wirklich freie Individuen wenigstens kurzfristig zu einer homogenen oppositionellen Masse zusammengeführt werden können, so dass demnach „die aufsteigende Klasse zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt [...].“ 177 Mit dem oben ausgeführten, wenn auch aus inhaltlichen Beschränkungen der Arbeit sehr stark verkürzt, sollte klar geworden sein, dass Sartres Geschichtsverständnis wesentlich auf der Betonung der durch den Menschen in die Welt gekommenen Zerstörung liegt. So wenig strukturell ein gelingendes intersubjektives Miteinander gelingen kann, so wenig kann eine kurzzeitig homogene und konkrete Gruppe ohne oppositionellen Charakter entstehen. Nichts desto trotz versuchte Sartre, auf seinen konzeptionellen Rahmenbedingungen fussend, Entwürfe für eine Moralphilosophie 178 – und somit eine plausible Ethik – auszuarbeiten, um diesen, das menschliche Dasein kennzeichnenden Mangel, zu beseitigen. Inwiefern und ob diese Moralphilosophie zu verwirklichen wäre, kann hier nicht mehr Gegenstand der Untersuchung sein. In Das Sein und das Nichts veranschaulichte Sartre jedoch noch, wie eng verbunden meine kontingente Existenz, nach Sartre „meine Faktizität, das heißt hier das Faktum meiner Geburt“, mit der Verantwortung, im banalen Sinn von „“Bewußtsein (davon), der unbestreitbare Urheber eines Ereignisses oder eines Gegenstandes zu sein“, 179 für die Zerstörung jeglicher Art ist. Sartre behauptet, dass „es keine Zwischenfälle in einem Leben [gibt]; ein gesellschaftliches Ereignis, das plötzlich ausbricht und mich mitreißt, kommt nicht von außen; wenn ich in einem Krieg eingezogen werde, ist dieser 174 175 176 177 178 179 Iring Fetscher: Sartre und der Marxismus, S. 226, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 226-246. Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 85. Ebenda, S. 174. Ebenda, S. 25. Jean-Paul Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek bei Hamburg 2005. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 950, 954. 29 Krieg mein Krieg, er ist nach meinem Bild, und ich verdiene ihn“, 180 insofern, als ich mich nicht durch Selbstmord oder Fahneflucht entziehen wollte. Es ist eine Frage des Augenblicks und des Mutes zugleich, die dem Menschen trotz äußerer Bedingung und ontologischer Fundierung die Verantwortung überantwortet. Evident wird dies an der Frage nach der moralischen und rechtlichen Schuld derjenigen, die an der Vernichtung unzähliger Menschen, zum Beispiel während des Zweiten Weltkrieges, mitgewirkt haben und die sich bei den anschliessenden Prozessen pauschal, um sich wenigstens des juristischen Schuldspruchs zu erwehren, auf „Befehlsnotstand“ beriefen. 3. Sartres Konzeption der „existentiellen Psychoanalyse“ Sartres innovative philosophische Leistung für den biographisch-historisch interessierten Forscher beruht auf der von ihm konzipierten „existentiellen Psychoanalyse“. Mittels dieser und der später entwickelten „progressiv-regressiven Methode“, welche vor allem in seinem Aufsatz Fragen der Methode dargelegt wurde, galt es für Sartre all das zu verstehen und verstehbar zu machen, „was man“, wie er im Vorwort zu seiner Flaubert-Studie schrieb, „heute von einem Menschen wissen [kann]“. 181 Ob der Tatsache, dass Sartre in seiner Arbeit über Flaubert das Individuum als „einzelnes Allgemeines“, das heisst vor allem auch gesellschaftlich bedingt, verstanden wissen will und somit einen methodischen Mangel an der „existentiellen Psychoanalyse“ benennen und gleichzeitig beheben kann, stellt sie das zentrale Instrumentarium zur Analyse von Leben und Werk eines Menschen, vor allem eines Künstlers dar. Es soll im folgenden die Methode der „existentiellen Psychoanalyse“ zum einen bekräftigt werden, gleichzeitig die allzu gängige literaturwissenschaftliche Bezugnahme auf die Freudsche Psychoanalyse in Frage gestellt bzw. als mangelhaft zurückgewiesen werden. Die Literaturwissenschaft wird vor allem dann eine aussagelose, wenn sie am Unbewussten festhält. 180 181 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 951. Jahrzehnte später wird Sartre jedoch in Sartre über Sartre. Interview mit Perry Anderson, Ronald Fraser und Quintin Hoare, in: Jean-Paul Sartre: Sartre über Sartre. Autobiographische Schriften, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 144-166, so manche seiner drastischen Aussagen revidieren. So sagt er darin, unter Bezugnahme seiner marxistischen Haltung, geradezu kontradiktorisches zu seiner in Das Sein und das Nichts vertretenen Auffassung der absoluten Freiheit, zu wählen, ob man zum Beispiel Fahneflucht begehe oder nicht: „Eigentlich hätte schon mit Das Sein und das Nichts die Entdeckung dieser Macht der Dinge beginnen müssen, denn ich war schon damals gegen meinen Willen Soldat geworden.“ (S. 144.) Im weiteren Verlauf des Interviews wird er diesen Sachverhalt zum einen mit Verweis auf die Bedingungen äußeren Drucks „autobiographisch erklären“, zum anderen als eine Frage des Muts verhandelt wissen wollen. „Die Erfahrung des Krieges war für mich, wie für alle, die daran teilgenommen haben, die Erfahrung des Heldentums. Natürlich nicht meines eigenen Heldentums – ich habe nur einige Koffer getragen.“ (S. 145.) Diese Erfahrung, so Sartre weiter, sei zudem eine falsche Erfahrung des Heldentums. „Nach dem Krieg kam die echte Erfahrung: die Erfahrung der Gesellschaft.“ Im Großen und Ganzen zeichnet er hier also nochmals die Thematik der Fragen der Methode nach, das heißt, die Schwierigkeit und zugleich die Notwendigkeit, Marxismus und Existentialismus kohärent zu vereinbaren. So ist auch die ablehnende Aussage Sartres zu verstehen, wonach er „eine sehr mangelhafte, eine außerordentlich schlechte“ Studie über Baudelaire verfasst habe. (S. 152.) In Das Sein und das Nichts, S. 960, hielt Sartre noch den Psychologen vor, in den Biographien auf „Berichte[] über äußere Ereignisse und [...] Anspielungen auf die großen Erklärungsidole unserer Epoche, Vererbung, Erziehung, Milieu, physiologische Konstitution“ zu setzen, also ausdrücklich die Betonung auf die Gesellschaft zu legen. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch Sartres Duktus auf den Augenblick, der den Menschen ja trotz aller Bedingtheit in die Verantwortung setzt. (Vgl. in Das Sein und das Nichts Erstes Kapitel: Sein und Handeln: Die Freiheit im vierten Teil: Haben, Handeln und Sein, S. 753 ff.) Jean-Paul Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857, I. Die Konstitution, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 7. 30 Christina Howells behauptet, dass Sartre bereits durch seinen Roman Der Ekel einen biographischen Blick bevorzugt, insofern darin der Held Antoine Roquentin eine Lebensgeschichte über den Marquis de Rollebon zu verfassen gedenkt. Freilich lässt Roquentin dieses Unternehmen wieder fallen und Howells mutmasst, dass er dies nicht tat, weil es „die falsche Art Biographie“ war, sondern weil „Roquentin […] die falsche Haltung ihr gegenüber [ein]nimmt.“ 182 Was kennzeichnet die darin falsch eingenommene Haltung? „Er hat“ vor allem, so Howells, „den esprit de sérieux des Bürgers aufgegeben, der denkt, Werte seien einem absoluten oder göttlichen Bereich eingeschrieben, aber hat noch nicht den nächsten Schritt begriffen: dass nämlich er selbst „das Sein ist, durch das die Werte existieren“.“ 183 Sartre selbst hat demzufolge mittels der in Frage stehenden „existentiellen Psychoanalyse“ diesen Schritt vom Roman Der Ekel hin zu Das Sein und das Nichts vollzogen. Damit einher geht zunächst Sartres Kritik an der empirischen Psychoanalyse, wie sie Freud vertreten hat. Alfred Dandyk hat sie hierzu treffend „am Leitfaden der Begriffspaare Substanz-Relation, Kausalität-Finalität, Reduktionismus-Holismus und Empirismus-Apriorismus“ 184 erläutert. Zur ersten Orientierung soll diese Kritik näher betrachtet werden, um im Anschluss Sartres Konzeption darzulegen. 3.1 Sartres Auffassung „Wenn es zutrifft“, so Sartre, „daß die menschliche-Realität […] sich durch die von ihr verfolgten Zwecke anzeigt und definiert, wird eine Untersuchung und Klassifizierung dieser Zwecke unerläßlich.“ Als Zweck liesse sich hier zum Beispiel verstehen, sich, wie im Falle Flauberts, Baudelaires, aber auch W.G. Sebalds, als Schriftsteller zu betätigen. Der Zweck muss insofern befragt werden, als er „[…] Teil der absoluten Subjektivität als ihre transzendente und objektive Grenze [ist].“ 185 Die empirische Psychologie habe zwar gespürt, so Sartre, „daß ein einzelner Mensch sich durch seine Begierden definiert“, aber er will dabei auf ihrer Seite zwei Irrtümer feststellen: Denn „zunächst bleibt der empirische Psychologe […] Opfer der substantialistischen Täuschung. Er sieht die Begierde im Menschen als „Inhalt“ seines Bewußtseins, und er glaubt, der Sinn der Begierde sei der Begierde selbst inhärent.“ 186 Es geht ihm zunächst, ähnlich wie mit der phänomenologischen, Husserl kritisierenden Feststellung, dass das Ich kein Bewohner des Bewusstseins ist, um die Zurückweisung der freudschen Ansicht, wonach zwei Triebe, Eros und Thanatos bzw. Destruktions- oder Todestrieb dem Menschen gleichsam als Substanzen bzw. „als kleine psychische Entitäten“ 187 eingepflanzt wären. Die Triebe und Affekte sind viel mehr, Dandyk weist darauf hin, „als eine Relation zwischen Mensch und Welt“ 188 zu verstehen, „sie sind das Bewußtsein selbst in seiner ursprünglichen pro-jektiven und transzendenten Struktur, insofern es grundsätzlich Bewußtsein von etwas ist.“ 189 182 183 184 185 186 187 188 189 Christina Howells: Sartres existentialistischen Biografien: Fragen der Methode, S. 97, in: Flynn, Thomas R., Kampits, Peter u. Vogt, Erik M. (Hg.): Über Sartre. Perspektiven und Kritiken, Wien 2005, S. 97-115. Ebenda, S. 98. Alfred Dandyk: Unaufrichtigkeit. Die existentielle Psychoanalyse Sartres im Kontext der Philosophiegeschichte, S. 8. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 956. Ebenda. Ebenda, S. 957. Alfred Dandyk: Unaufrichtigkeit. Die existentielle Psychoanalyse Sartres im Kontext der Philosophiegeschichte, S. 8. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 957. 31 Der zweite von Sartre behauptete Irrtum, „der in enger Verbindung zum ersten steht, liegt darin, daß man die psychologische Untersuchung für beendet hält, sobald man die konkrete Gesamtheit der empirischen Begierden erreicht hat.“ 190 Diese definitorische Reduzierung des Menschen auf ein „Bündel von Trieben [tendances]“, auch wenn der Psychologe, laut Sartre, versuchen wird, „ihre Verwandtschaften, ihre Übereinstimmungen und Harmonien“ 191 aufzudecken, lehnt Sartre ab. Denn „eine derartige psychologische Analyse [der Triebe; d. Verf.] [geht] von dem Postulat aus, daß ein individuelles Faktum durch die Überschneidung abstrakter und allgemeiner Gesetze hervorgebracht werde.“ 192 Was die Analyse dabei unterschlage sei das je Individuelle, also das, „was gerade die Individualität des betreffenden Entwurfs ausmacht.“ 193 Sötemann stimmt dem Gesagten zu, insofern zwar „ein jeder Psychotherapeut die Äußerung eines Patienten „Ich bin heute ziemlich traurig“ auf die Konjugation des Verbes „Sein“ hin [versteht]“, aber um dieses Erleben, das die Existentialität des Menschen ausmacht, kennenlernen zu können, um dies einzigartige, in dieser Situation, in dieser Zeit existierende Person verstehen zu können, muß diese Person als Auskunftgeber über sich, als erster Ansprechpartner erkannt werden. Das verweist auf die psychische Eigenwelt jedes Menschen in seinem gesellschaftlichen Kontext, und dieser Verweis ruft nach 194 Methoden, die dem Erleben dieser Eigenwelt Rechnung tragen können. Das von Sartre kritisierte Vorgehen der Psychologen kann demnach, wie schon in 1.6 gesehen, „keine Erklärung der „Berufung“ Flauberts“ liefern, „es [das Schreibbedürfnis Flauberts; d. Verf.] ist im Gegenteil das, was erklärt werden müßte.“ 195 Warum also Flaubert symbolische Befriedigung „im Schreiben statt in der Malerei oder der Musik“ gefunden hat, wird nicht ersichtlich, im Gegenteil, „die Übergänge, das Werden, die Umformungen sind uns sorgsam verhüllt worden, und man hat sich darauf beschränkt, Ordnung in diese Aufeinanderfolge zu bringen, indem man sich auf empirisch festgestellte, aber buchstäblich nicht intelligible Sequenzen bezog [...].“ 196 Auf welche Art und Weise wurden uns „die Übergänge, das Werden und die Umformungen“ verhüllt? Man ahnt schon, worauf Sartre hinaus will. Es geht ihm nicht ausschliesslich um die Zurückweisung der Psychoanalyse, sondern vielmehr um das Herausstellen des „globalen Bezug[s] zur Welt, durch den sich das Subjekt als ein Selbst konstituiert. Anders gesagt, diese empirische Haltung ist durch sich selbst der Ausdruck der „Wahl eines intelligiblen Charakters“.“ Wenn also die empirische Haltung die Wahl des intelligiblen Charakters bedeutet, so weil sie selbst die Wahl ist. Das besondere Merkmal der intelligiblen Wahl […] ist, daß sie nur als die transzendente Bedeutung jeder konkreten empirischen Wahl existieren kann: sie wird keineswegs zunächst in irgendeinem Unbewußten oder auf der noumenalen Ebene vollzogen, um sich dann einer beobachtbaren Haltung auszudrücken, sie hat nicht einmal ontologischen Vorrang vor der empirischen Wahl, sondern sie ist grund- 190 191 192 193 194 195 196 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 957. Ebenda. Ebenda, S. 958. Ebenda. Christian H. Sötemann: Sein und Existenz in Phänomenologie und Psychoanalyse, Hamburg 2005, S. 23. (= Dissertation, Universität Bremen 2005.) Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 958. Ebenda, S. 959 f. 32 sätzlich das, was sich immer aus der empirischen Wahl als ihr Jenseits und die Unendlichkeit ihrer 197 Transzendenz ablesen lassen muß. 3.2 Sartres Ablehnung Sartre lehnt demnach das Unbewusste Freuds ab, da es zum einen vom allgemeinen Abstrakten auf das Konkrete schliessenlassen solle und somit das Individuelle, dass zum Beispiel diese Person genau dieses tut und nichts anderes, eliminiere. Zum anderen würde die Annahme des Unbewussten bedeuten, dass sich dem Subjekt die Intuition seines Handelns (verhüllend) entziehen würde. Für Sartre hingegen erstreckt sich das psychische Faktum vollständig auf das Bewusstsein. „[…] der grundlegende Entwurf [wird] vom Subjekt vollständig gelebt […] und [ist] als solcher total bewußt […]“, was aber nicht bedeute, so Sartre, „daß er von ihm zugleich erkannt werden muß, ganz im Gegenteil“, 198 wie Sartre nochmals auf die schon in der Einleitung zu Das Sein und das Nichts explizierte Unterscheidung von Bewusstsein und Erkenntnis hinweist: Die Reflexion kann zwar, wie wir gesehen haben, als eine Quasi-Erkenntnis aufgefaßt werden. Aber was sie in jedem Augenblick erfaßt, ist nicht der reine Entwurf des Für-sich, wie er sich symbolisch – und oft in verschiedenen Wiesen gleichzeitig – durch das von ihr wahrgenommene konkrete Verhalten 199 ausdrückt: es ist das konkrete Verhalten selbst […]. „Substantielle Täuschung“, die Reduktion des Menschen auf Triebstrukturen bzw. auf die Trieblehre, das Schliessen vom Abstrakten auf das Konkrete mittels thematisierter „bewusstseinsinterne[r] Verstehensbeziehungen“ 200 und die Unmöglichkeit, den Menschen unter den Prämissen der Naturwissenschaften 201 hinreichend analysieren zu können, sind im wesentlichen die bis heute umstrittenen Kritikpunkte Sartres an der empirischen und hybride theoretisierten Psychoanalyse bzw. Psychologie. 197 198 199 200 201 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 967. Ebenda, S. 978. Ebenda. Andreas Cremonini: Vom Genießen der Passivität: Sartre und die Psychoanalyse, S. 69, in: Flynn, Thomas R., Kampits, Peter u. Vogt, Erik M. (Hg.): Über Sartre. Perspektiven und Kritiken, S. 69-96. Vgl. Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen, Frankfurt am Main 102004, S. 41 ff. Freud verficht dabei die Annahme, dass die Psychoanalyse als Wissenschaft zu verstehen ist, die im wesentlichen mit zwei Kategorien, dem „Seelenleben“ in Funktion eines „psychischen Apparates“ mittels Lokalisation im Gehirn und den unmittelbar, aber separierten Bewusstseinsakten am selbigen „Schauplatz“, benannt werden. „Wir nehmen an“, so Freud, „daß das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben, den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop u. dgl. Der konsequente Ausbau einer solchen Vorstellung ist ungeachtet gewisser bereits versuchter Annäherung eine wissenschaftliche Neuheit.“ (S. 42.) Freud wird drei „psychische Provinzen oder Instanzen“ territorialisieren: Das Es, das Ich und das Über-Ich, als „eine dritte Macht“ gewissermaßen. (S. 42 f.) Diese drei Instanzen oder Provinzen unterliegen, gemäß der Freudschen Trieblehre, zwei Grundtrieben, dem „Eros“ und dem „Destruktionstrieb“, Thanatos. „In den biologischen Funktionen wirken die beiden Grundtriebe gegeneinander oder kombinieren sich miteinander. So ist der Akt des Essens eine Zerstörung des Objektes mit dem Endziel der Einverleibung, der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung. Dieses Mit- und Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe ergibt die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen.“ (S. 45.) Es folgen vier Entwicklungsphasen der „Sexualfunktion“ und ihrer Störungsformen (S. 48 ff.) und das Beschreiben der „psychischen Qualitäten“, namentlich des Bewusstseins, des Unbewussten und des Vorbewussten im „psychischen Apparat“. (S. 52 ff.) 33 3.3 Sartres Alternative Im weiteren soll Sartres alternativer Vorschlag der „existentiellen Psychoanalyse“ betrachtet werden, wobei der Fokus auf seinem aus der heutigen Perspektive weitsichtigen Verzicht des Unbewussten 202 und dem Entwurf-Charakter, und folglich den Implizierungen liegen soll. Wie von Sartre bemerkt, wird sie allein noch nicht die gewünschte Definitionshoheit haben. Diesem Umstand trug Sartre bekanntlich mit seiner in den Fragen der Methode und in der Kritik der dialektischen Vernunft elaborierten und in den biographischen Studien zu Flaubert und Genet angewandten „progressiv-regressiven Methode“ Rechnung. Aus diesem Grunde wird auch sie in dieser Arbeit zu berücksichtigen sein, wenngleich ihr aus thematischer Beschränkung nicht der gebührende Stellenwert eingeräumt werden kann. Zu Berücksichtigen insofern sie als eine Ergänzung zur „existentiellen Psychoanalyse“ zu verstehen ist und den geschichtlichen Aspekt des Subjekts komplementär in die quasi existentielle Hermeneutik einflicht. Der „grundlegende Entwurf“ wird „vom Subjekt vollständig gelebt“, so Sartre. Diese Behauptung wird er auch noch 1975 im Interview mit Contat bestätigen, wenn er sagt, dass es seiner Meinung nach „keinen Wesensunterschied zwischen Körper und Bewußtsein gibt.“ 203 „Grob gesprochen könnte man sagen“, so Peter Kampits, dass der Leib, der den Physiologen und Gehirnforscher interessiert, nicht als „mein Leib“ bezeichnet werden kann, sondern als „Leib für den Anderen“. [...] Die daraus sich ergebenden Probleme des Dualismus von Bewusstsein und Leib beziehungsweise der Leib-Seele-Dualismus der philosophischen Tradition lösen sich auf, sobald der Leib für mich nicht als externes Körperding, sondern als gelebter Leib 204 (corps vécu) erfahren und aufgefasst wird. Sartres und Kampits Aussagen sind als eine wichtige Bekräftigung des konzeptualisierten Bewusstseinsverständnisses Sartres zu verstehen, wie es in den obigen Abschnitten dargestellt wurde. Für das Unbewusste bleibt somit keine theoretische Lücke in Sartres Verständnis des Existentiellen in der Psychoanalyse, insofern „[...] die Beziehung des Bewußtseins zum Körper [eine] existentielle Beziehung 202 203 204 Vgl. zur genaueren Umschreibung der „Bauweise eines verhängnisvollen Begriffs“ den hervorragenden Aufsatz von Felix Annerl: Existiert das Unbewusste? Zur Bauweise eines verhängnisvollen Begriffs, in e-Journal Philosophie der Psychologie, März 2005, unter http://www.jp.philo.at/texte/AnnerlF1.pdf; Aufruf am 15.05.2006. Annerl bemüht sich in seinem Aufsatz nicht so sehr um eine Antwort auf die „begriffliche Vielfältigkeit des Systems [der Freudschen Psychoanalyse; d. Verf.] und […] beträchtliche Beziehungslosigkeit der Teile untereinander“, als viel mehr „um eine klare Antwort auf die Fragen nach dem begrifflichen Kern seiner Theorie, die zugleich eine auf die Frage nach der Wurzel seines Erfolgs darstellt: Die eigentliche Grundlage, so meint er [Freud, d. Verf.], bildet der revolutionäre Begriff des Unbewussten.“ (S. 2 f.) Jean-Paul Sartre: Selbstporträt mit siebzig Jahren. Interview mit Michel Contat, S. 186, in: Jean-Paul Sartre: Sartre über Sartre. Autobiographische Schriften, S. 180-246. Durch diesen gleichsam ontologischen Status des postulierten Selbstkonzepts Sartres wird „das Dilemma der mentalen Verursachung, in dem der Dualismus gefangen ist“, wonach nämlich „entweder […] phänomenale Eigenschaften physische Eigenschaften [verursachen] oder nicht“, gewagt umgangen. Denn, so Michael Schütte, „wenn sie es tun – wie der Interaktionist behauptet – ist der Bereich des Physischen nicht kausal geschlossen. Das aber ist empirisch sehr unplausibel. Wenn sie es andererseits nicht tun – wie der Epiphänomenalist meint – sind sie absolute Epiphänomene und damit überhaupt nicht die phänomenalen Eigenschaften, die wir tatsächlich kennen.“ (Vgl. Michael Schütte: Reduktion ohne Erklärung. Phänomenale Eigenschaften aus der Perspektive des Aposteriori-Physikalismus, Paderborn 2004, S. 123 f.) Peter Kampits: Willensfreiheit, S. 63, in: Flynn, Thomas R., Kampits, Peter u. Vogt, Erik M. (Hg.): Über Sartre. Perspektiven und Kritiken, S. 55-67. 34 [ist]. [...] das Bewußtsein seinen Körper nur als Bewußtsein existieren kann.“ 205 Aufgrund der Annahme, dass der Entwurf „vollständig gelebt“ wird, ist dieser des weiteren auch jeglichen EigenReflexion verschlossen: [...] zwar besteht sie ganz und gar aus einem vorontologischen Verständnis des grundlegenden Entwurfs, mehr noch, insofern die Reflexion auch nicht-thetisches Bewußtsein von sich als Reflexion ist, ist sie dieser gleiche Entwurf ebenso wie das nicht-reflexive Bewußtsein. Aber daraus folgt nicht, daß sie über die notwendigen Instrumente und Techniken verfügt, um die symbolisierte Wahl zu isolieren, 206 sie in Begriffe zu fassen und sie ganz allein ins volle Licht zu setzen. Die Reflexion würde also „lediglich Rohmaterial“ liefern, so Sartre, „dem gegenüber der Psychoanalytiker die objektive Haltung einnehmen muß.“ 207 Das klingt, als wollte Sartre seine eigene Alternative unterminieren. Dabei stellt er etwas ganz wichtiges und richtiges fest, das die teilweise Insuffizienz der Reflexion zur Folge hat. Denn, so Annerl, das Unbewusste […] wirkt, so wird Freud von nun an behaupten, einfach kausal. – Und wie auch sonst? Es kann ja schon seiner Definition nach nicht auf der Ebene des Gedanklichen, der Begründung, der Argumentation, der Reflexion, denn eine solche „normale“, rationale Verbindung von Denken und Tun 208 können wir uns nur als bewusste vorstellen. „Was diesen Untersuchungsmethoden für immer entgeht“, fährt Sartre fort, „ist der Entwurf, so wie er für sich ist, der Komplex in seinem eigenen Sein. Dieser Für-sich-Entwurf kann nur genossen werden; die Existenz für sich und die objektive Existenz sind unvereinbar.“ Sartre hält hier die Gemeinsamkeiten seiner und der Freudschen Psychoanalyse für beendet und konstatiert, dass „nichts [einen] daran [hindert], sich a priori eine „menschliche-Realität“ zu denken, die sich nicht durch den Willen zur Macht ausdrückt, deren Libido nicht den ursprünglichen undifferenzierten Entwurf konstituiert.“ 209 Sowohl das Leben als auch das Erleben des Entwurfs oder der Wahl, wie Sartre postuliert, sind dadurch gekennzeichnet, dass es sich dabei um nichts anderes handelt, als um das Sein jeder menschlichen-Realität, und es kommt auf dasselbe hinaus, ob ich sage, daß ein bestimmtes partielles Verhalten die ursprüngliche Wahl dieser menschlichen-Realität ist oder daß sie sie ausdrückt, denn für die menschliche-Realität gibt es keinen Unterschied zwischen existieren und sich wäh210 len. 205 206 207 208 209 210 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 583. Ebenda, S. 978 f. Ebenda, S. 979. Felix Annerl: Existiert das Unbewusste? Zur Bauweise eines verhängnisvollen Begriffs, S. 7. In diesem Sinne fragt Sartre in Das Sein und das Nichts präzise weiter: „Wenn der Komplex wirklich unbewußt ist, das heißt, wenn das Zeichen durch eine Schranke vom Bezeichneten getrennt ist, wie könnte das Subjekt ihn erkennen? Ist es der unbewußte Komplex, der sich erkennt? Aber ist ihm nicht Verstehen untersagt? Und wenn man ihm die Fähigkeit, die Zeichen zu verstehen, zugestehen müßte, müßte man dann nicht gleichzeitig aus ihm ein bewußtes Unbewußtes machen? Was ist denn Verstehen, wenn nicht Bewußtsein davon haben, daß man verstanden hat? Können wir dagegen sagen, daß das Subjekt als bewußtes das gezeigte Bild erkennt? Aber wie vergliche es dieses mit seiner wirklichen Affektion, wo sie doch unerreichbar ist und es nie von ihr Kenntnis gehabt hat?“ (S. 983 f.) Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 980. Ebenda, S. 981. 35 3.4 Sartres Aspekt des Verstehens des Unsagbaren: Die gelebte Erfahrung Sartres Ausführungen aufnehmend, bekräftigt Manfred Frank diese Sichtweise. „Zur Art und Weise, wie der Geist mit Erlebnissen und Empfindungen bekannt ist“, führt Frank „das bevorzugte Beispiel der empiristischen Theorie des „internal sense““ an, womit jene Vertreter bisher mit „eine[r] gewisse[n] intuitive[n] Plausibilität rechnen“ konnten. „Das hängt zusammen“, so Frank, mit der Oberflächengrammatik von Redeweisen wie „Ich verspüre Hunger“, „Ich empfinde Schmerz“ oder gar „Ich spüre ein Stechen im rechten Kniegelenk“. Sie suggerieren, es gebe da zweierlei: 1. den Schmerz, 2. die Empfindung desselben. (Und 3. wird gewöhnlich angenommen, der Schmerz bleibe so lange schmerzlos, wie er nicht empfunden werde; das impliziert die Annahme, einiges Bewusstsein sei unbewusst.) Das ist natürlich Unsinn: Der Schmerz tut schon per se weh. Er muss nicht außerdem, gar nachträglich (in einem Auffassungsakt „höherer Ordnung“) quasi-wahrgenommen/repräsentiert werden, um seine unerwünschte Wirkung zu entfalten. Das hängt mit einer Eigenschaft phänomenaler Zustände zusammen, die die phänomenologische Tradition von Brentano bis Sartre als Zusammenfallen von Sein und Sich-Erscheinen des Bewusstseins bezeichnet hat. [...] Außerdem gilt: Solches phänomenales Bewusstsein ist kein Ich-Bewusstsein: Nicht wir sind ursprünglich mit dem Schmerz, sondern dieser ist mich selbst bekannt. [...] Dabei genügt es nicht, den Zustand einfach nur bewusst zu nennen. Er ist außerdem seiner selbst bewusst. (Man kann dies übrigens auch aus der radikalisierten These von des Bewusstsein Durchsichtigkeit folgern: Bewusstsein hat keine intrinsischen Qualitäten, auch nicht die einer Ichhaftigkeit. Natürlich kann ich meinen Schmerz durch einen phänomenalen Begriff hindurch denken; 211 der ist aber kein Charakter des Phänomens selbst [Sartre 1971].) Aber wie ist dann Verstehen möglich, was könnte die „existentielle Psychoanalyse“ noch an Gewinn bringen, wenn über das Individuum nur die Aussage zu behaupten wäre, dass es den „Entwurf“ oder die „Ur-Wahl“ einfach lebte und die subjektive Leistung einzig im Geniessen dessen liege? Sartre führt nun diesbezüglich an, daß die aus den unbewußten Tiefen ausgegrabenen Komplexe ebenso wie die von der existentiellen Psychoanalyse enthüllten Entwürfe vom Gesichtspunkt Anderer aus wahrgenommen werden. Folglich ist das so zutage geförderte Objekt nach den Strukturen der transzendierten-Transzendenz aufgebaut, 212 das heißt, sein Sein ist das Für-Andere-sein […]. Das bedeutet konkret, wie bereits am Ende von 1.4 nahe gelegt wurde, dass nach Sartre Verstehen darin gegründet ist, den Anderen als erfahrend zu erleben und darin auf die Umwelt angewiesen zu sein. „Die existentielle Psychoanalyse wird also ganz und gar geschmeidig sein und sich den geringsten am Subjekt beobachtbaren Änderung anpassen müssen. Es handelt sich hier darum, das Individuelle zu verstehen und oft sogar das Instantane.“ Nicht nur steht mir der Andere als potentieller Konfliktpartner im „Kampf um Anerkennung“, so Honneth, gegenüber, er ist auch derjenige, der mir überhaupt erst und notwendigerweise als Vermittler von Sinn und Bedeutung gewahr wird. Hier nun ist der die existentielle Psychoanalyse ergänzende, dialektische Methodenansatz Sartres zu verorten, denn 211 212 Manfred Frank: Gibt es eine „innere Wahrnehmung“?, S. 4, in: e-Journal Philosophie der Psychologie, Januar 2006, unter: http://www.jp.philo.at/texte/FrankM2.pdf; Aufruf am 16.05.2006. (Erstpublikation in: Albert Newen (Hg.): Den eigenen Geist kennen, Paderborn 2005, S. 51-62.) Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 979. 36 die Bestimmungen der Person treten nur in einer Gesellschaft in Erscheinung, die sich unablässig gestaltet, indem sie jedem ihrer Mitglieder eine Arbeit, ein Verhältnis zu seinem Arbeitsprodukt und Produktionsbeziehungen zu den anderen Mitgliedern zuordnet – und das alles in einer unaufhörlichen Tota213 lisierungsbewegung. Wenn es nach Sartre keinen Wesensunterschied zwischen Körper und Bewusstsein gibt und das Bewusstsein seinen Körper nur als Bewusstsein leben kann, dann ist damit nicht gesagt, dass alles nur eins sei, nämlich Gehirn. Die Konsequenz hieraus ist nicht, wie Daniel Brandt in seiner Kritik der Hirnforschung um Singer und Roth betont, „[…] alles Wirkliche im Gehirn zu finden“, sondern darzulegen, dass „Welt […] nur Welt mit dem Menschen als weltbildendem Tier [ist], und der Mensch […] sich nur als Mensch begreifen [kann], indem er sich auf die Welt bezieht.“ 214 Der stets unabgeschlossene und immer im Aufschub verortete „Sinn“ der menschlichen Realität ist selbstredend nicht ohne Widersprüchlichkeit zu bestimmen und es wäre nur dann zu bestimmen „leicht, wenn sich so etwas wie ein Wesen des Menschen auffinden ließe, d. h. ein feststehender Komplex von Bestimmungen, von denen aus man den untersuchten Gegenständen einen bestimmten Platz zuweisen könnte.“ Aufgrund der existentialistischen Fundierung des Menschen gibt es jedoch die uns bekannt gewordenen methodischen Vorbehalte. „Diese Bestimmungen selbst“ nämlich, „werden gestützt, interiorisiert und gelebt (als angenommene oder abgelehnte) durch einen persönlichen Entwurf“, der laut Sartres Ausführungen in Fragen der Methode „zwei Grundmerkmale besitzt: er läßt sich in keinem Fall durch Begriffe bestimmen; als menschlicher Entwurf ist er stets (jedenfalls prinzipiell, wenn auch nicht faktisch) verstehbar“, 215 jedoch nicht zwangsläufig direkt erkennbar. Es wurde ja von der teilweisen Insuffizienz der Reflexion gesprochen. Diese Reflexion bedeutet nämlich andererseits zumindest die Möglichkeit einer „indirekte[n] Erkenntnis“, insofern sie „unmittelbare[s] Verstehen des ihnen zugrundeliegenden Entwurfs […]“ ist, die, folgt man Sartre, als „das Resultat der Reflexion auf die Existenz zu verstehen“ ist. „Diese Erkenntnis ist indirekt in dem Sinne, daß sie von allen anthropologischen Begriffen, welcher Art auch immer, vorausgesetzt wird, ohne selbst Gegenstand von Begriffen zu sein.“ 216 Diese indirekte Erkenntnis bedarf demnach ihrer Auslegung. Paul Ricoeur hat in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen und in Anlehnung an Bergsons Theorie von Materie und Gedächtnis die Schwierigkeiten der Gedächtnisarbeit zu benennen versucht, gerade auch unter dem Blickwinkel der Neuro- und Kognitionswissenschaften, die mittels Begrifflichkeiten wie Erinnerungsspuren und propositionaler Inhalte bzw. Vorstellungen Fragen zur Erinnerung zu fassen und zu beantworten versuchen. „Die wichtigste Unterscheidung“, so Ricoeur die Bergsonsche „Anstrengung des Erinnerns (effort de mémoire)“ rezipierend, „ist dabei die zwischen dem „mühsamen Erinnern“ (rappel laborieux) und dem „augenblicklich-spontanen Erinnern“ (rappel instantane), wobei letzteres als der Nullpunkt, ersteres als die bewußte Form der Suche betrachtet werden kann.“ 217 Die Nähe zu Sartres präreflexivem gelebtem Entwurf und der ausgeübten Reflexion bzw. zu dem auf das Unsagbare verweisende Ich 213 214 215 216 217 Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 182. Daniel Brandt: Das Noumenon Gehirn. Von der Abgründigkeit der Hirnforschung, S. 16, in: e-Journal Philosophie der Psychologie, Januar 2006, unter: http://www.jp.philo.at/texte/BrandtD1.pdf; Aufruf am 16.05.2006. Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 181 f. Ebenda, S. 182 f. Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 57. (=Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt; Bd. 50 (Herausgegeben von Wolfgang Essbach und Bernhard Waldenfels)) 37 (Je) und dem reflexive konstruierenden Selbst (Moi) ist deutlich zu sehen. Und es lässt sich nachvollziehen, wenn Ricoeur behauptet: „Die Phänomene des Gedächtnisses, die unserem Wesen so nahe sind, leisten der Hybris der totalen Reflexion mehr als andere beharrlichsten Widerstand.“ 218 3.5 Konsequenzen Die hier erfolgte Darlegung der „existentiellen Psychoanalyse“ Sartres sollte zu folgenden Ergebnissen gekommen sein: Sartre grenzt sich von Freuds hybridem Postulat des Unbewussten ab, indem er es nicht nur verwirft, sondern ihm stattdessen das Individuelle im Allgemeinen mit der Forderung gegenüberstellt, den freien, das heisst allemal den aktiven Menschen in seiner nie abgeschlossenen Totalität begreifen zu wollen. Des weiteren wurde aufgezeigt, dass Sartre es als unmöglich und auch nicht als wünschenswert erachtet, den Menschen mittels dualistischer, ihn determinierender Grundtriebe, dem freudschen Eros und Destruktionstrieb, auf eben dieses „menschliche Triebbündel[]“ 219 reduziert zu wissen. Zudem stellte es sich ein, dass Sartres Konzeption des Bewusstseins einen existentiellontologischen bzw. ontologisch-epistemischen Status geniesst, der auch eine Reduzierung der Wirklichkeit ausschliesslich auf Gehirnprozesse – ohne ein ihm zugrunde gelegtes Bewusstsein – und ob der freien Wahl der jeweiligen Person verunmöglicht. Der Mensch ist letztendlich, so schliessen wir mit Sartre wiederholt daraus, zur Freiheit verurteilt. Er ist massgeblich darauf festgelegt, sich im augenblicklichen Annehmen oder Ablehnen eines Lebensentwurfes für die Zukunft voll verantwortlich (auch wenn es eine Frage des augenblicklichen Muts sein sollte, wie Sartre in späteren Jahren seinen Entschluss, keine Fahnenflucht zu begehen als er in den Krieg einberufen wurde, begründete) wählen zu müssen. Anders gesagt: „[…] mit dem Denken des Entwurfs ist die Frage nach dem gestellt und beantwortet, was das Individuelle als solches auszeichnet: nämlich eine ursprüngliche Synthese, in der der Mensch je einzigartig sein Verhältnis zu sich, zur Welt, zu den anderen bestimmt.“ 220 Mit folgenden Worten und die „existentielle Psychoanalyse“ konzeptionell weiterführend, werden Sartres spätere Auffassung und Programm vom Menschen, der in seiner nicht weiter hintergehbaren Verfasstheit ebenso mit der gesellschaftlichen Umwelt in Wechselwirkung steht, umrissen: Ein Mensch ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelnheit wiederhervorbringt. Da er durch die einzelne Allgemeinheit der menschlichen Geschichte allgemein und durch die allgemeinmachende Einzelnheit seiner Entwürfe einzeln ist, muß er 221 zugleich von beiden Enden her untersucht werden. „Zwar“, so Zimmermann, „bezieht sich das von Sartre Konstatiertre vorerst auf die Person Flaubert, aber es liegt auf der Hand, daß im Grunde jede Person zunächst unter dem Verdacht hermeneutischer Fragwürdigkeit steht.“ 222 So stellt sich in diesem Falle für W.G. Sebald die Frage, worin sein in der 218 219 220 221 222 Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 51 f. Monika Schulten: Ein Vergleich zwischen Diltheys verstehender und Sartres dialektischer Konzeption der Biographie, S. 23, in: Rainer E. Zimmermann (Hg.): Das Sartre-Jahrbuch Zwei, Münster 1991, S. 13-34. Ebenda, S. 22. Jean-Paul Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857. I. Die Konstitution, S. 7. Rainer E. Zimmermann: Ob Geburt oder Tod: Freiheit als Irreduzibilität, S. 16, in: Peter Knopp und Vincent von Wroblewsky (Hg.): Die Freiheit des Nein. Carnets 2001/2002 Jean-Paul Sartre, Wien/Berlin 2003, 38 Gesellschaft gereifter Entwurf gelegen haben und wie er ihn totalisierend wiederum auf die Allgemeinheit gewendet haben könnte. Es sollte klar geworden sein, dass zum Beispiel die alleinige Rückführung seines Schreibens auf ein Trauma nicht suffizient ist. Er hätte ja auch das Schweigen wählen können, das er gerade bei den Deutschen als grundlegende Haltung verabscheut, aber erfolgreich vorgelebt bekam. Sich im Laufe seiner Schriftstellerkarriere immer mehr weg vom wissenschaftlichen Duktus hin zu einem des Ästhetischen entwickelt zu haben, könnte bei ihm, ebenso wie bei Sartre, 223 einer gleichsam gesinnungsmässigen „Kehre“ 224 geschuldet sein, die nachzuzeichnen mit der skizzierten Methode möglich sein sollte, in keinem Fall aber auf eine reine Trieblehre und zwischen Bewusstem und Unbewusstem changierende Theorie nach Freud zu bewerkstelligen ist. Anders gesagt: „Was die Tatsachen der Verstellung und der Verdrängungen der Tatsachen betrifft, so stimme ich ihm [Freud; der Verf.] völlig zu. Aber Wörter wie „Verdrängung“, „Zensur“ oder „Trieb“, die einmal als finalistische, dann wieder eine mechanistische Auffassung insinuieren, lehne ich ab.“ 225 Will man nun mit Sartre und Freud gleichsam zwei Psychoanalytiker von dennoch unterschiedlicher Provenienz, die sich vor allem an der Frage des Unbewussten entgegengesetzt positionieren, zur Analyse W.G Sebalds und dessen Werk heranziehen, so steht man, sowohl als Literaturwissenschaftler als auch als Philosoph, vor folgendem, von Peter von Matt benannten Problem, das „zwei grundsätzlich verschiedene, aber gleich bedeutende ästhetische Dimensionen aufreißt: das Verhältnis vom Dichter zum Werk, das Problem also der Genese des Werks; und das Verhältnis des Werks zum Publikum, einen Aspekt der Wirkungsästhetik.“ 226 Das Wie, dieses Problem zu lösen, ist dabei entscheidend. Mit der fundierenden „existentiellen Psychoanalyse“ Sartres, die er zur „progressiv-regressiven Methode“ erweiterte, wird uns ein hermeneutisches Instrumentarium an die Hand gegeben, das die oftmalige Unentscheidbarkeit eines Darums eines etwaigen bevorzugten Lebensentwurfs nicht zu einem Problem werden lässt, sondern gerade darin die Kontingenz menschlichen Daseins bekräftigt. Die zu ziehende Konsequenz hieraus ist, die Verantwortung dem Individuum zu überantworten. Ein Blick auf die Philosophie in der Literatur Sartres wird dies näher darlegen können. 223 224 225 226 S. 15-39. Mit der „Kehre“ Sartres würde sich der Prozess umschreiben lassen, der den „ersten“ vom „zweiten“ Sartre scheidet. Sartre selbst gibt im Selbstporträt mit siebzig Jahren über seine Wandlung während des Krieges Auskunft: „Vor dem Krieg verstand ich mich einfach als Individuum, ich sah keinerlei Verbindung zwischen meiner individuellen Existenz und der Gesellschaft, in der ich lebte. Am Ende meiner Studienzeit hatte ich daraus eine ganze Theorie gemacht: Ich war „nichts als ein Mensch“, das heißt der Mensch, der sich kraft der Unabhängigkeit seines Denkens der Gesellschaft entgegenstellt, der der Gesellschaft nichts schuldet und über den die Gesellschaft nichts vermag, weil er frei ist. Vor dem Krieg hatte ich keine politische Meinung und ging auch nicht wählen.“ (S. 211.) „Der Krieg“, so Sartre weiter, „hat mein Leben regelrecht in zwei Teile geteilt. [...] Dort also [im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft; der Verf.] bin ich, wenn Sie so wollen, vom Individualismus und vom reinen Individuum der Vorkriegszeit zum Sozialen, zum Sozialismus gelangt. Das war der eigentliche Wendepunkt in meinem Leben: vor dem Krieg, nach dem Krieg.“ (S. 213 f.) Vgl. hierzu: Vincent von Wroblewsky: Bernhard-Henri Lévys gespaltener Sartre oder wie humanistisch ist der Existentialismus?, S. 82, in: Peter Knopp und Vincent von Wroblewsky (Hg.): Carnets 2000 Jean-Paul Sartre, Wien/Berlin 2001, S. 79-98. Jean-Paul Sartre: Sartre über Sartre. Interview mit Perry Anderson, Ronald Fraser und Quintin Hoare, S. 148. Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, Stuttgart 2001, S. 19 f. 39 4. Sartres Philosophie in seiner Literatur Sartre verfasste zeit seines Lebens, neben stets umfangreichen, oftmals mehrbändigen philosophischen Büchern, zahlreiche Romane, Erzählungen, biographische Studien, Theaterstücke, Schriften zur Literatur, zu Film, Kultur und Musik; er schrieb Drehbücher und natürlich zählen auch politische Schriften zu seinem Werk, das hier allein in seiner Themenvielfalt nicht annähernd vollständig widergegeben ist. Am eindrücklichsten lässt sich Sartres Philosophie in seinem literarischen Schaffen am Beispiel seines 1936 verfassten und 1938 veröffentlichten Werks Der Ekel nachweisen. 227 Auf den ersten Blick erscheint dieser, im Klappentext ausdrücklich als philosophisch deklarierter Roman mit seinem Helden Roquentin nur allzu leicht als kunstvoller Deckmantel für Sartres eigene Vita oder gar seine innerste Lebenserfahrung. 228 Doch vor einem solchen Schluss, „Sartre und Roquentin blank miteinander zu identifizieren“, 229 sei gewarnt. Wenngleich sich autobiographische Daten finden lassen, die (teil)identisch mit denen Roquentins sein mögen, so liegt darin auch schon ein Aspekt des Sartreschen Denkens, wonach nämlich mit der Datenerhebung nicht gleichzeitig etwas über das Leben des Subjekts ausgesagt ist. Folgte man W.G. Sebalds intensivem Streben nach Koinzidenzen, würde man hier ebenso fündig werden. Der Ekel nämlich sollte ursprünglich – in Bezugnahme auf Albrecht Dürers gleichnamigen Kupferstich – unter dem Arbeitstitel „Melancholia“ publiziert werden, der aber auf Vorschlag des Verlegers Gallimard umbenannt wurde. 230 Eine weitere koinzidierte Stelle wäre der Sachverhalt, dass Sartre seinen Helden Roquentin im Roman historische Forschungen über einen Kriegsgefangenen, während des Ersten Weltkrieges, anstellen lässt. Sartre selbst sollte ja bekanntermassen nur ein paar Jahre später, in diesem Falle während des Zweiten Weltkrieges, in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Sebald war in seinem schriftstellerischen, prosaischen und lyrischen, oftmals selbstreflektierenden Schaffen ebenfalls einer, auch dem Leser stets präsenten, (selbst gewählten?!) Melancholie bis227 228 229 230 Der Nachweis wird aus inhaltlicher Beschränkung nicht der von Eckart Goebel in „Die geistigen Folgen der Einsamkeit“: La nausée, S. 11, in: Peter Knopp und Vincent von Wroblewsky (Hg.): Carnets 2000 Jean-Paul Sartre, Wien/Berlin 2001, S. 11-42, kritisierten weit verbreiteten Ansicht, „bei Jean-Paul Sartres literarischem Schaffen handle es sich um wenig mehr als die Illustration von Gedankenfiguren und damit – im Vergleich etwa zu Kafka oder Beckett – um inferiore Dichtung“, entgegentreten können. Vgl. Jean-Paul Sartre: Tagebücher November 1939 – März 1940, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 93 f.: „Ich habe den „Ekel“ nicht empfunden, ich bin nicht authentisch, ich bin auf der Schwelle der gelobten Länder stehen geblieben. Aber zumindest zeige ich sie, und die anderen können dann hingehen. Ich bin ein Anzeiger, das ist meine Rolle.“ Eckart Goebel: „Die geistigen Folgen der Einsamkeit“: La nausée, S. 19. Jean-Paul Sartre: Der Ekel, Reinbek bei Hamburg 1990. Vgl. die dementsprechenden Hinweise der Übersetzerin Uli Aumüller im Klappentext bzw. S. 201. Sartre lässt den auktorialen Erzähler des fiktiven Tagebuchs, Roquentin, schon auf den ersten Seiten sagen, dass er, im Gegensatz zu anderen Gästen eines Cafés, die, „damit sie existieren, [sich] zu mehreren zusammentun [müssen]“, als Einzelgänger existiert. „Ich aber lebe allein, vollständig allein. Ich spreche mit niemandem, niemals; ich bekomme nichts, ich gebe nichts.“ Das mit der Wirtin gepflegte Verhältnis gereicht ihm sodann zu folgender Aussage: „Ihr macht es Spaß […], und ich werde eine gewisse Melancholie los, deren Ursache ich nur zu gut kenne.“ Die scheinbare „Ursache“, sie stellt sich im weiteren als eine Frau heraus, Anny, mit der er eine Beziehung führte. „Früher – sogar lange nachdem sie mich verlassen hatte – habe ich für Anny gedacht. Jetzt denke ich für niemanden mehr; ich bemühe mich nicht einmal, nach Wörtern zu suchen.“ (S. 16.) Anny nimmt den Part des intimen Anderen ein, ohne den Roquentin seine Existenzberechtigung verlöre, insofern er seine Traurigkeit über die beendete Beziehung nicht „sinnvoll“ transformieren konnte. 40 weilen krankhaft nahe, wovon auch sein Krankenhausaufenthalt beredtes Zeugnis ist; er beschäftigte sich leidenschaftlich und engagiert mit der lokalen und globalen Historie – und vor allem dem ihr inhärierenden, zerstörerischen Moment –, die er in unterschiedlicher Art und Weise zu fiktionalisieren versuchte. Soll es aber mit dieser Analyse bei einer reinen bzw. metaphysischen „Koinzidenzpoetik“ nicht bleiben, so kommt es also auf eine fundierte Hermeneutik dieser Daten an, die, kann behauptet werden, auf den allgemeinen existentiell-ontologischen, nicht weiter hintergehbaren Status des je einzelnen Menschen abheben muss. Sartres und Sebalds schöpferisches Ansinnen könnte es demnach gewesen sein, im weitesten Sinne „Kunst als das beste Antidoton“ 231 unter anderem gegen existentielle Schwindel-, Angst- und Ekelzustände einzusetzen. Im folgenden soll anhand des Romans Der Ekel dessen Genese nachvollzogen werden. Es zeigt sich Effizienz, die mittels angewendeter „existentieller Psychoanalyse“, mitunter der „progressivregressiven Methode“ Sartres, das heißt „durch Wörter, die die existentiellen Strukturen regressiv benennen“, 232 erreicht wird. Der philosophische Gehalt seines Romans lässt sich nämlich dadurch freilegen. Die unterschiedlichen Interpretationen, die Der Ekel hervorrief sind sodann der Wirkungsästhetik 233 zuzurechnen. Sartre zeichnet zunächst das Bild eines vereinsamten Einzelgängers und Aussenseiters, der zunächst Tagebuch führt und sich Zweifeln ausgesetzt sieht, ob es überhaupt „Sinn“ macht und es Gründe für ein solches Tun gibt: „Nur in einem Fall könnte es interessant sein, ein Tagebuch zu führen: und zwar, wenn*.“ 234 Der hier abgebrochene Anfang, neben dem fiktionalen editorischen „Hinweis der Herausgeber“, wonach „diese Aufzeichnungen [...] unter den Papieren des Antoine Roquentin gefunden [wurden]“, 235 bleibt also auf der fiktionalen Ebene unbestimmt, sowohl für das kommende als auch für das Ende des Romans (man erfährt ja schliesslich nicht, was Roquentin tat (Suizid?) bzw. was mit ihm passierte (Mord?) Festzustellen bleibt für den Leser nur das spurlose Verschwinden Roquentins.) Anfang und Ende, der philosophische Roman als Ganzes, bleiben somit als ein vermeintlich „sinnloser“ Versuch zu verstehen, „von der Unmöglichkeit des Erzählens“ 236 zu erzählen, der einen, in 231 232 233 234 235 236 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999, S. 512. Jean-Paul Sartre: Fragen der Methode, S. 193. Zur Genese des Romans Der Ekel ist Heinz Eppenichs Aufsatz Zur Bedeutung von Sartres Meskalinversuch in: Peter Knopp und Vincent von Wroblewsky (Hg.): Die Freiheit des Nein. Carnets 2001/2002 Jean-Paul Sartre, Wien/Berlin 2003, S. 81-107, aufschlussreich, wenngleich man mit ihm nicht der Meinung sein muss, Sartres Roman wäre aufgrund des Meskalinversuchs vom Februar 1935 und dem damit einhergehenden, wieder erlebten Geburtstrauma gemäß Stanislav Grofs Theorie der vier Stadien der Geburtserfahrung während einer psychedelischen Sitzung, entstanden. Eppenich selbst zweifelt nur geringfügig daran und dies auch nur in einer Fußnote. Doch Sartre hatte, wie auch Eppenich einräumt, schon vor 1935, also vor dem fraglichen Meskalinversuch, Manuskriptfassungen des zu dieser Zeit noch Melancholia lautenden Romans angefertigt. Beides, der Titel und der Zeitpunkt sprechen also gegen die Annahme, der Roman sei Ausfluss des Erlebten während der MeskalinSitzung. Sartre äußert sich in Das Sein und das Nichts eindeutig negativ zur Annahme eines Geburtstraumas: „Wir können keine dieser Erklärungen [hinsichtlich der Faszination aller Arten „von Löchern“ für die Kinder; der Verf.] übernehmen: die des „Traumas der Geburt“ ist äußerst abwegig.“ (S. 1047.) Vgl. Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 11.: „*Hier bricht der Text des undatierten Blattes ab.“ Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 8. Eckart Goebel: „Die geistigen Folgen der Einsamkeit“: La nausée, S. 19. 41 Übereinstimmung mit Eckart Goebel, nicht zur Annahme berechtigt, dass „an dessen Ende [des Romans; der Verf.] die Hoffnung auf die Rettung durch die Kunst stehen soll.“ 237 Wie sollte auch ein hoffnungs- und vor allem sinnvolles Erzählen möglich sein, so Roquentin weiter, denn wenn man allein lebt, weiß man nicht einmal mehr, was das ist, erzählen: das Wahrscheinliche verschwindet zur gleichen Zeit wie die Freunde. […], man gerät mitten in Geschichten ohne Hand und Fuß: man würde einen miserablen Zeugen abgeben. Aber alles Unwahrscheinliche dagegen, alles, was 238 in den Cafés nicht geglaubt werden könnte, entgeht einem nicht. Hier zeichnet sich am Erleben des Einsamseins eine im weiteren zu prononcierende Wahrnehmungsverschiebung ab, die bewusst kokettiert mit dem hin- und her springenden Spiel zwischen allzu sicherem Leben im bürgerlichen Alltag – „diese jungen Leute verwundern mich: sie erzählen, während sie ihren Kaffee trinken, klare und wahrscheinlich klingende Geschichten“ – und seinem Infragestellen seines Lebens (implizit das Leben aller), das er, so die bewusstseinstheoretische Konzeption Sartres, in jedem Fall nur am Andern praktizieren kann und muss. „Aber ich blieb ganz in der Nähe des Menschen, an der Oberfläche des Alleinseins, fest entschlossen, mich im Notfall in ihre Mitte zu flüchten: eigentlich war ich bis jetzt ein Amateur.“ 239 Neben diesem Spiel bemüht sich Roquentin um eine phänomenologische Beschreibung seines intentionalen Erlebens an dieser Fragwürdigkeit „äusserer“ und „innerer“ Realitäten: Jetzt sind überall Dinge wie dieses Glas Bier da, auf dem Tisch. Wenn ich es sehe, habe ich Lust zu sagen: aus, ich spiele nicht mehr mit. Ich verstehe sehr wohl, daß ich zu weit gegangen bin. Vermutlich kann man mit dem Alleinsein nicht „spaßen“. […] aber das Glas selbst will ich nicht sehen. 240 Das Glas ist ein Glas, vollkommen identisch, ohne Abstand, massiv, denn das Glas kann ja keinen Bezug zu sich selbst herstellen. Es ist. Und in der Regel kann das Ding an-sich auch nie empfunden, gelebt, sondern nur aufgrund von Beschreibungen behauptet werden. „Es ist wie die anderen. Es ist geschliffen, es hat einen Henkel, […]. Ich weiß das alles, aber ich weiß, daß da etwas anderes ist. Fast nichts. Aber ich kann das, was ich sehe, nicht mehr erklären. Niemandem. Das ist es: ich gleite auf den Grund des Wassers, in die Angst.“ 241 Der Leser darf sich nicht in die Irre führen lassen, sollte er meinen, dass da wirklich „etwas anderes ist.“ Der Einspruch liegt auf der Hand und die Problemstellung liegt im subjektiven Konflikt der Nicht-Identität mit sich selbst, dem, wie Sartre in Das Sein und das Nichts es detailliert ausführen wird, kein ideales An-und-Für-sich-sein beschieden sein kann. Die „an das Fremdwerden scheinbar 237 238 239 240 241 Vgl. Eckart Goebel: „Die geistigen Folgen der Einsamkeit“: La nausée, S. 21: „So erweisen sich Spekulationen darüber, ob Sartre das Kunstschaffen als mögliche Perspektive zu einer „Rechtfertigung“ der Existenz feilbiete, als wenig sinnvoll. Mag auch Roquentin durchaus von dieser Möglichkeit geträumt haben […], ergriffen hat er sie offenkundig nicht, oder ein absurder Tod hat sie ihm aus der hand geschlagen. Roquentin, das macht die als Emblem der Sinnlosigkeit dem Tagebuch vorangestellte Herausgeberfiktion unmißverständlich deutlich, hat es nicht geschafft.“ (S. 22.) Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 16 f. Ebenda, 16. Ebenda, S. 18. Ebenda. 42 belangloser Dinge“ 242 gebundene Angst rührt also vor allem daher, sich selbst als kontingentes Etwas zu erfassen, dem kein Wesen vorausgeht und dessen Wesen sich zudem im unüberwindlichen Aufschub befindet. Hier lässt sich schon Sartres Behauptung, wonach wir zur Freiheit verurteilt wären, vorwegnehmen und ganz allgemein bzw. auch im Sinne Sartres der Problemkreis des Geschichtlichen umreissen. 243 Mit dem Versuch des Niederschreibens in Tagebuchform wird demnach die Reflexion unsagbaren, unmittelbaren Erlebens, das sich als „sinnlos“ erweist, aufgenommen. Roquentin, um Sicherheit bemüht und sich somit zugleich wieder transzendierend, wird sofort wieder beides, Reflexion und unmittelbares Erleben als „Seelenzustände“ bzw. „Innenleben“, zu diskreditieren versuchen. „Ich bin es nicht gewohnt“, so Roquentin, mir zu erzählen, was mir zustößt, daher bekomme ich die Reihenfolge der Ereignisse nicht richtig zusammen, ich erkenne nicht […]. […] ich habe das, was ich im Café Mably schrieb, noch einmal gelesen und habe mich geschämt; ich will keine Geheimnisse, keine Seelenzustände, nichts Unsagbares […]. 244 Was Sartre Roquentin hier schildern lässt, ist nichts anders, als der konstitutive, konfliktbirgende Aspekt menschlichen Bewusstseins, – mithin der „menschlichen-Realität“ –, das nicht das ist, was es ist und ist, was es nicht ist, wie es in Das Sein und das Nichts lauten wird. So schliesst denn Christina Howells treffend darauf, dass Roquentin […] dem natürlichen Existentialisten ähnlich [ist], der am Ende von Das Sein und das Nichts beschrieben wird: Er befindet sich auf dem Mittelweg, der auch […] Pascals demi-habiles kennzeichnet. Er hat den esprit de sérieux aufgegeben, der denkt, Werte seien einem absoluten oder göttlichen Bereich eingeschrieben, aber hat noch nicht den nächsten Schritt begriffen: dass nämlich“, Sartres Wor245 ten zufolge, „er selbst „das Sein ist, durch das die Werte existieren“. Roquentin ist ob der Annahme, „daß man nie etwas beweisen kann“, nicht nur um sein eigenes Gleichgewicht bemüht, er sieht sich auch als Biograph von de Rollebon in der unmöglichen Lage, Dokumenten bzw. „Tatsachen“ wie er festhält, also Briefen, Memoirenfragmenten, Geheimberichten 242 243 244 245 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 507. Der Problemkreis betrifft die Fragen der „Sinndeutung“ und der „Entwicklung“ von Geschichte. Der Roman Der Ekel ließe sich kurz auch als eine philosophische Antwort Sartres auf diese Fragen lesen. Denn, so Andreas Cesana, „die Unabweisbarkeit der Sinnfrage liegt im Menschsein selbst begründet. Das menschliche Angewiesensein auf Sinn setzt sich auch dann noch durch, wenn in der philosophischen Besinnung jeglicher Daseinssinn brüchig wird und das Fragen keine abschließende Antwort findet. Es gehört zum Wesen des Menschen, sinnhaft leben zu müssen; und insofern er sich stets in einer geschichtlich-kulturellen Situation befindet, lebt er immer schon in vorgegebenen Sinnräumen und in Bestimmung durch die überlieferten Sinnformen.“ (Andreas Cesana: Geschichte als Entwicklung? Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens, Berlin/New York 1988, S. 385. (=Quellen und Studien zur Philosophie, Bd. 22.)) Einen solchen kohärenten Schluss erlauben durchaus der gleichermaßen unbestimmte Anfang, der Verlauf des Romans und das ungewisse Ende aufgrund des kontingenten Verschwindens des Helden Roquentin. Bezogen auf die Möglichkeit von Sinnhaftigkeit der Geschichte, nach der der Historiker Roquentin ja ebenso fragt, hält Cesana folgendes fest: „Unter der Voraussetzung, daß die Geschichte in der heutigen Denksituation nicht mehr einfach als Ergebnis der Vorsehung, des Weltgeistes, ökonomischer oder anderer Gesetze begriffen werden kann, sondern als vom Menschen selbst hervorgebracht aufgefaßt werden muß, ist von der Geschichte zu sagen, daß sie vielleicht keinen Sinn hat, aber immer schon Sinn ist.“ (S. 387.) Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 19. Christina Howells: Sartres existentialistische Biografien, S. 98. 43 und Polizeiarchiven, eine andere als ihnen nur äusserlich bleibende, „strenge Ordnung“ zu verleihen. „Ich habe den Eindruck, eine reine Phantasiearbeit zu machen. Allerdings bin ich ziemlich sicher, daß Romanfiguren echter wirkten, auf jeden Fall unterhaltsamer wären.“ 246 Sartre parallelisiert nun Roquentins Skepsis und Unglauben jenen jungen Café-Besuchern gegenüber zu jener die Historiker betreffend. Sie, die Dokumente, „sie widersprechen sich nicht, nein, aber sie stimmen auch nicht zusammen; sie scheinen nicht dieselbe Person zu betreffen. Und doch arbeiten die anderen Historiker mit gleichartigen Angaben. Wie machen sie das? Bin ich gewissenhafter oder weniger intelligent?“ 247 So wertet Roquentin die Frage, ob „Rollebon an der Ermordung Pauls I. beteiligt [war] oder nicht“ für unentscheidbar, wenn nicht gar für irrelevant. Dies wird seine Einschätzung begünstigt haben, dass nun nicht mehr der historische Mensch Rollebon interessierte, sondern nur mehr der Akt der Verschriftlichung des Buches als eine rein fiktionale Romanarbeit. Auch diesem Ansinnen Roquentins wird ein jähes Ende zuteil: „Monsieur de Rollebon ödet mich an.“ Roquentin erlebt sodann zum ersten Mal eine Art Abgrund-Erfahrung, die Erfahrung einer existentiellen, Schwindelgefühle erregenden Angst: Ich stehe auf, ich bewege mich in diesem blassen Licht; ich sehe es auf meinen Händen, auf den Ärmeln meiner Jacke sich verändern: ich kann gar nicht sagen, wie sehr es mich anwidert. Ich gähne. Ich mache die Tischlampe an: vielleicht kann ihre Helligkeit das Tageslicht vertreiben. Aber nein: die Lampe bildet dicht um ihren Fuß herum eine armselige Lache. Ich mache sie aus; ich stehe auf. An der Wand ist ein weißes Loch, der Spiegel. Das ist eine Falle. Ich weiß, daß ich mich fangen lassen werde. Da! Das graue Ding ist im Spiegel aufgetaucht. Ich trete näher und sehe es an, ich kann nicht mehr 248 weggehen. Das anfangs erwähnte, unbestimmte und konditionale „und zwar, wenn*“ findet nun seinen Ausdruck in einem logischerweise nicht-thetischen Erleben, an dem der Leser teilhat und in dessen Bann und Strudel er sich ziehen lassen kann oder nicht. Der aus der Melancholie Roquentins hervorgegangene und in seiner Intensität von ihm selbst bis ins unerträglich bzw. bodenlose gesteigerte Ekel wird der Leser ebenso wie Roquentin zu spüren bekommen – oder auch nicht. So wie Roquentin in Konflikt mit sich, mit seiner Umwelt und mit seinem Vorhaben gerät, so gerät der Leser, über der Herausforderung, die Erfahrungen Roquentins verstehbar zu machen gebeugt, in einem ebensolchen Konflikt. Der „erklärende“ Rückgriff auf psychoanalytische Kategorien, ein allfälliges Traumaerlebnis zum Beispiel, so wie es Eppenich mit dem drogeninduzierten Geburtstrauma für die Genese Sartres Romans Der Ekel erwog, mag dabei nicht recht dienlich, zumindest aber nicht entscheidensbefähigend sein. So, wie die Biografie Rollebons fiktionalisiert werden könnte, so könnte eben – eine subtile Ironie Sartres – auch dieser philosophische Roman – ohne konkretes Korrelat in Sartres „erlebter Erfahrung“ – von ihm in der Rolle des „Anzeigers“ ohne weiteres und frei fiktionalisiert und inszeniert worden sein. 249 246 247 248 249 Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 23. Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 26. Peter von Matt konstatiert in Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, S. 56 ff. durchaus das Sartresche, konfliktbeladene Wechselspiel zwischen Dichter und Analysierendem: Die Genese eines Werkes verweise offensichtlich immer sowohl auf die Psychologie des Dichters bzw. des Kunstwerkerschaffers, als auch in seiner Wirkungsästhetik auf den Interpretierenden. Auf den ersten Blick scheint diesem vorbehaltlos zuzustimmen zu sein. Doch von Matt sieht dabei die Psychoanalyse Freuds als das geeignete Instrument an, vor allem unbewusste und dem Menschen allgemein „innewohnende“ Motive bzw. Beweggründe (zum Beispiel der sie exemplifizierende Ödipuskomplex) in der Genese des Werks durch den Künstler zu erhellen. Für die Interpretation bedeutet dies aber 44 Des weiteren thematisiert Roquentin seine Gemütslage – gerade auch als er in den Spiegel blickt, um analog jenes spätere aus Das Sein und das Nichts bekannte „Erblickt“ werden auf sich selbst (im zirkulären, wechselseitigen Ideal Ich-Selbst) anzuwenden – auch dahingehend, dass er fragt, wer oder was sich verändert und zwar unabhängig von der Vergangenheit. „Es ist also in den letzten Wochen eine Veränderung aufgetreten. Aber wo? Eine abstrakte Veränderung, die sich auf nichts legt. Bin ich es, der sich verändert hat? Und wenn ich es nicht bin, dann ist es dieses Zimmer, diese Stadt, diese Natur; man muß wählen.“ 250 Roquentin wird wählen. Er wird nicht nur wählen, die Biographie bzw. das Buch über de Rollebon nicht fortzusetzen 251 und stattdessen einen Roman zu schreiben, er wird vielmehr die für ihn bittere, aber authentische Erfahrung – im Gegensatz zur wohl vorherrschenden Unaufrichtigkeit der Leute – und, damit einhergehend, die Aussichtslosigkeit der grundlosen „Existenz“ wählen. Authentische Erfahrung und Aussichtslosigkeit festigen die Grundlage seines bisher nicht verstehbaren Ekels nur noch mehr. „Ich würde mich so gern gehen lassen, mich vergessen, schlafen. Aber ich kann nicht, ich ersticke: die Existenz dringt von überallher in mich ein, durch die Augen, durch die Nase, durch den Mund …“ Doch ein passives Erleiden wird von Roquentin (und von Sartre) umgehend ausgeschlossen, denn „der Ekel hat mich nicht losgelassen, und ich glaube nicht, daß er mich so bald loslassen wird; aber ich erleide ihn nicht mehr, das ist keine Krankheit mehr, kein vorübergehender Anfall: ich bin es selbst.“ 252 Was war passiert, dass Roquentin sich plötzlich zu einer Identifizierung mit sich selbst, dem Ekel und der Existenz in einem hinreissen lässt, wo er doch weiss, dass ein menschliches Identischsein, ein An-und-Für-sich-Sein unmöglich ist? Er habe im Park eine, nämlich „diese Erleuchtung gehabt“ und 250 251 252 bekanntermaßen, dass die Annahme des Unbewussten als erwiesen gilt. Dem ist aber durchaus nicht so, zumindest steht die Möglichkeit und die Art und Weise des Unbewussten bis heute, wie auch die Sartresche Kritik zeigt, in Frage. Selbst wenn die „Haupteinwände gegen die Psychoanalyse [wonach es unmöglich wäre, „alle Faktoren im Entstehungs- und Wirkungsprozeß eines Kunstwerks psychoanalytisch aufzulösen“; der Verfasser], die von der Literaturwissenschaft erhoben werden können, bereits widerlegt sind“ (S. 56.), so gilt dies nicht – und das wird von Peter von Matt in keiner Weise thematisiert – für die Einwände gegen den Pfeiler der Psychoanalyse, nämlich gegen das Unbewusste. Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 14. Vgl. hierzu Sartres ähnlichen Gedanken zur beängstigenden Möglichkeit des „etwas-nicht-mehr-wollens“ in: Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 103 ff. „Und dieses Werk ist eine Möglichkeit, bei der ich Angst spüren kann: es ist wirklich mein Mögliches, und ich weiß nicht, ob ich es morgen fortführen werde; morgen kann meine Freiheit in Bezug zu ihm ihre nichtende Macht ausüben. [...] ich muß mich direkt ihm gegenüber platzieren und meinen Bezug zu ihm realisieren. Das heißt, daß ich im Hinblick darauf nicht nur objektive Fragen stellen muß wie: „Soll ich dieses Buch schreiben?“, denn solche Fragen verweisen mich einfach auf umfassendere objektive Bedeutungen wie: „Ist es angebracht, es in diesem Moment zu schreiben?“, „Überschneidet es sich nicht mit irgendeinem anderen Buch?“, „Ist sein Stoff von hinreichendem Interesse? Ist er genügend durchdacht?“ usw. lauter Bedeutungen, die transzendent bleiben und sich als eine Menge von Forderungen der Welt darbieten.“ Die Freiheit, nichts bestimmen zu lassen, ob etwas geschrieben wird oder nicht, ängstigt erst dann, so Sartre, wenn „dieses Buch in seinem Bezug zu mir erschein[t], das heißt, ich muß einerseits mein Wesen entdecken als das, was ich gewesen bin (ich bin „dieses Buch schreiben wollend“ gewesen, ich habe es entworfen, ich habe geglaubt, es könnte interessant sein, es zu schreiben, und ich habe mich so konstituiert, daß man mich nicht mehr verstehen kann, ohne zu berücksichtigen, daß dieses Buch mein wesentliches Mögliches gewesen ist); [...] („es schreiben wollend“ ich bin gewesen, aber nichts, auch nicht das, was ich gewesen bin, kann mich zwingen, es zu schreiben.).“ Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 144. 45 die Wurzel des Kastanienbaums bohrte sich in die Erde, genau unter meiner Bank. Ich erinnerte mich nicht mehr, daß das eine Wurzel war. Die Wörter waren verschwunden und mit ihnen die Bedeutung der Dinge, ihr Verwendungsweisen, die schwachen Markierungen, die die Menschen auf ihrer Oberfläche eingezeichnet haben. […] Das hat mir den Atem geraubt. Nie, vor diesen letzten Tagen, hatte ich geahnt, was das heißt: „existieren“. Ich war wie die anderen, wie jenem die am Meer entlangspazierten, in ihrer Frühjahrsgarderobe. Ich sagte wie sie: „das Meer ist grün; dieser weiße Punkt da oben, das ist eine Möwe“, aber ich fühlte nicht, daß das existierte, daß die Möwe eine „existierende Möwe“ war; gewöhnlich verbirgt sich die Existenz. Sie ist da, um uns, in uns, sie ist wir, man kann keine zwei Worte sagen, ohne von ihr zu sprechen, und, letzten Endes, berührt man sie nicht. Wenn ich glaubte zu denken, dachte ich im Grunde gar nichts, mein Kopf war leer, oder ich hatte gerade nur ein Wort im Kopf, 253 das Wort „sein“. Diese Passage bekräftigt nebenbei die Annahme Goebels – und die Intention Sartres – von der „Unmöglichkeit des Erzählens“ dessen, was unmittelbar das ist, was es ist. (Dennoch scheint eine gleichsam ästhetische Rechtfertigung der Existenz nun durch die Inangriffnahme eines Romans möglich.) Die reflexive Umwendung des präreflexiven Bewusstseins vom wortlosen Erleben mangelt an sich selbst erfassender Identität, das heisst, sie scheitert an einem Abstand bzw. Hiatus, der nur eine approximative, stets diskursive Vermittlung des Seins durch das Wort erlauben wird. Wenn Roquentin behauptet, dass die „Existenz“ „wir [ist]“, ist damit auch ausgedrückt, wie bereits unter Abschnitt 3 ausgeführt, dass der Körper sein Bewusstsein präreflexiv lebt. Das Gefühl des Ekels ist somit eine „erlebte Erfahrung“ aufgrund der grund- und sinnlosen, das heisst der nicht zu rechtfertigenden menschlichen Existenz. Sartres Roman Der Ekel ist als eine sowohl ästhetische als auch philosophische, mögliche Antwort hierauf zu verstehen. 254 Roquentins Fazit wird kein positives, vielmehr ein „absurdes“ Ende erwarten lassen: Wir waren ein Häufchen Existierender, die sich selber im Wege standen, sich behinderten, wir hatten nicht den geringsten Grund, dazusein, weder die einen noch die anderen, jeder Existierende, verwirrt, 253 254 Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 144 f. Jean-Paul Sartre reiht sich viel mehr, wie Menninghaus hervorragend ausführte, mit der Thematisierung des Ekels wortmächtig in die mehr als 250 Jahre währende Tradition seit Kant ein, eine ästhetisch-philosophische Theorie eines gleichsam „grundlegenden Universalgefühls“ (Zit. nach Antonio Damasio, in: Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 9.) zu formulieren. Freilich gibt es unzählige Gründe bzw. Auslöser für Ekelempfinden. Benjamin zum Beispiel sieht „beim Ekel vor Tieren“ vor allem „die Angst, in der Berührung von ihnen erkannt zu werden. Was sich tief im Menschen entsetzt, ist das dunkle Bewußtsein, in ihm sei etwas am Leben, was dem ekelerregenden Tiere so wenig fremd sei, daß es von ihm erkannt werden könne.– Aller Ekel ist ursprünglich Ekel vor dem Berühren.“ (Walter Benjamin: Ein Lesebuch, Frankfurt am Main 1996. (Herausgegeben von Michael Opitz), S. 81.) Den positiven Aspekt und Nutzen des von Sartre heraufbeschworenen Ekels bekräftigt Menninghaus wie folgt: „Zufälligkeit, Sinnlosigkeit und leere Faktizität hören auf, ein Grund melancholischer Verzweiflung zu sein. Sie schlagen um in durchaus positive Kategorien, die gerade in ihrem Bruch mit falschen Sinnangeboten und Legitimationen der „Absurdität“ des Daseins gerecht werden. Diese „Absurdität“ ist kein Mangel, sondern eine unableitbare Fülle, ein „être de trop“, ein Überflüssig- und Zuvielsein gemessen an jeder Logik sinnhafter Begründung.“ (Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 508.) Bei der Analyse Sebalds Werks wird genau in diesem Aspekt dem Autor Sebald eine nur schwach ausgeprägte Antizipation des absurden Daseins zu konstatieren sein, wiewohl vor allem seinem prosaischen Werk selbst ebenfalls eine von Menninghaus hervorgehobene, gleichwohl für Sartre und wie für Nietzsche geltende Tendenz innewohnt, „eine ekellose Perspektive auf das eigene Leben zu gewinnen, es noch einmal und sogar wie ein Kunstwerk immer aufs neue wiederholen (wiederkäuen) zu wollen […].“ (S. 514.) 46 irgendwie unruhig, fühlte sich in bezug auf die anderen zuviel. [...] Und ich, ich war zuviel für die Ewigkeit. 255 Dieses Statement Roquentins, das seine existentielle Überflüssigkeit in der Welt affirmiert, wird in das Das Sein und das Nichts eine konsequente Ausarbeitung erfahren. Dabei ist die Affirmation durchaus als positiv zu werten insofern man, als ein Akt der Authentizität, die absolute Kontingenz des menschlichen Daseins anerkennt. Ekel ist also für den, der ihn fühlt – aber nicht nur aufgrund „traditioneller Ekelobjekte“!– das „nicht-setzende Erfassen einer Kontingenz, die er ist, als bloße Wahrnehmung von sich als faktischer Existenz.“ 256 255 256 Jean-Paul Sartre: Der Ekel, S. 146. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 604. 47 ZWEITES KAPITEL: ANALYSE „– – Auf Halbmast Stirbt ein sehr nahe stehender Mensch uns dahin, so ist in den Entwicklungen der nächsten Monate etwas, wovon wir zu bemerken glauben, daß – so gern wir es mit ihm geteilt hätten – nur durch sein Fernsein es sich entfalten konnte. Wir grüßen ihn zuletzt in einer Sprache, die er schon nicht mehr versteht.“ 257 1. Sebalds der Zerstörung gewidmete, geschichtswissenschaftliche Sozialisation und sein Geschichtsverständnis in Anlehnung an 1.1Walter Benjamin W.G. Sebalds Wirkungsästhetik erfährt vor allem durch sein schriftstellerisches Werk, seinem letzten „Anti-Roman“ 258 Austerlitz, seinem ersten prosaischen „Elementargedicht“ Nach der Natur und seinen essayistischen Arbeiten in erster Linie zur deutschsprachigen, insbesondere zur österreichischen Literatur 259 und deren randständigen Protagonisten – Martin Klebes bezeichnet sie zurecht als „Sebald`s Pathographies“ –, 260 breite und zum Teil hochlobende Resonanz und Kritiken. Unbekannter sind seine ersten literaturwissenschaftlichen und -kritischen Arbeiten, die hier zur Einteilung und Scheidung seines Werkes in Früh- und Spätwerk als Leitfaden dienen sollen. Gerade in jenen zwei grossen, dem Frühwerk zuzurechnenden Arbeiten zu den Werken Carl Sternheims 261 und Alfred Döblins 262 versammelt und entfaltet Sebald all sein philosophie- und geschichtskritisches und während seines Studiums der Literaturwissenschaften „geschliffenes“ methodologisches Potential, 257 258 259 260 261 262 Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 84. Sebalds Verständnis von „aufrichtiger Literatur“ äußert sich darin, „eine Metapher oder Allegorie eines kollektiven Geschichtsverlaufs zu produzieren. Aber erst in der Metaphorisierung wird uns Geschichte empathetisch zugänglich. Das soll aber nicht heißen, daß ich dem Romanhaften das Wort rede. Ich habe einen Horror vor allen billigen Formen der Fiktionalisierung. Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman.“ (Vgl. Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 137, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, 135-137. Vgl. die Aufzählung bei Uwe Schütte: W.G. Sebald`s Essays über die österreichische Literatur, S. 64, in: Rüdiger Görner (Hg.): The Anatomist of Melancholy. Essays in Memory of W.G. Sebald, Bamberg 22005, S. 63-74. Diese Sichtung ergibt laut Schütte „19 Studien über Autoren des 19. und 20. Jahrhundert“ und „knapp 30 Artikel [...] zu Autoren und Themenbereichen der österreichischen Literatur“. „Daneben schrieb er nur zehn Essays über deutsche Autoren, wobei fast die Hälfte auf „Nacharbeiten“ zu den Büchern über Sternberg [sic!] und Döblin entfallen.“ Vgl. Martin Klebes: Sebald`s Pathographies, S. 65-75, in: Scott Denham / Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma. Winfried Georg Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, Stuttgart 1969. (=Sprache und Literatur; Bd. 58) Im weiteren wird das Autoren-Kürzel W.G. verwendet. W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, Stuttgart 1980. (=Literaturwissenschaft, Gesellschaftswissenschaft; Bd. 45) 48 welches im Spätwerk, also seinen Essays und in seinen ihn einem breiten Publikum bekannt machenden Prosawerken, sowohl in ästhetischer als auch in inhaltlicher bzw. thematischer Weise eindrücklich nachwirkt. Es lässt sich an dieser Stelle nur eine Verschiebung der „Tonart“ behaupten, die im weiteren Erläuterung erfahren wird: Im Frühwerk noch ist Sebald selbstbewusst und gleichsam als Provokateur methodisch-kritisch-rebellisch, im Übergang zum sich exponierenden Schriftsteller, respektive zum Spätwerk, wird er zunehmend melancholischer und in seiner Kritik zwar subtiler, aber methodisch vager. Diese Transformation dürfte einer versuchten, komplizierten Synthese seines durch zahlreiche Theorien quasi schon belasteten und nun resignierenden Denkens geschuldet sein. Von eminenter Wichtigkeit zur Erhellung des geschichtsphilosophischen Hintergrunds von Sebald wird eine eingehendere Analyse seines Frühwerks sein, um, wie Freud diesen auch von Peter von Matt bekräftigten Sachverhalt herausstellte, die „ganz eigentümliche[] Weise von Fixierung an den Helden“ 263 überhaupt sicht- und verstehbar zu machen. Im weiteren wird es also darum gehen, die „eigentümliche Fixierung“ Sebalds an seine vor allem aussenseiterische „Helden“ und deren geschichtlichen, dem Aspekt der Zerstörung Platz bietenden Rahmen aufzuweisen und seine, vor allem an der kritischen Theorie geschulte, methodologische Vorgehensweise 264 sichtbar zu machen. Sebalds massgeblicher Beweggrund gehorcht dabei genau von Matts geforderter Bewahrung vor „einer vorschnellen Apotheose dieser auf vatermörderische Impulse antwortenden Figuren […].“ 265 Denn „es ist der Zweck der vorliegenden Arbeit, das von der germanistischen Forschung in Zirkulation gebrachte Sternheim-Bild zu revidieren.“ 266 Es handle sich bei „dieser Revision vorwiegend“, so Sebald, „um eine Destruktion“, wobei er sich „einer Reihe methodologischer Probleme gegenüber“ 267 stehen sieht und es auch nicht an ihm sei, „zu rechten, welches Sternheim-Bild authentischer 263 264 265 266 267 Sigmund Freud, Zit. nach Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, S. 58. Problematisch wird es wiederum dann, wenn auf Basis des Unbewussten gefolgert wird, dass „für die Psychoanalyse […] eine solche vorlaufende Beziehung, die auf die eine oder andere Imago [des Vaters, Alkoholsüchtigen, Selbstmörders oder Wahnsinnigen; der Verf.] antwortet, zweifellos überall fest[steht].“ (S. 58.) Im Sinne des kritischen, aufrichtigen Überdenkens des zu interpretierenden Künstlers mag das durchaus eine zutreffende, berechtigte und eine wichtige Forderung an eine wissenschaftliche Arbeit sein. Die von Matt festgestellte Tendenz jedoch zur Unaufrichtigkeit, zur Verklärung des „Objekts“ „durch die weitverbreitete Neigung […], aus dem lebendigen Gesicht des historischen Menschen eine glatte Maske zu machen“, kann nicht selbstredend als eine betrachtet werden, „die Wahrheit um solcher unbewußt-eigensüchtigen Motive willen zu verstellen.“ (S. 59; Kursivsetzung durch den Verf.) Vielmehr gilt es mit Sartre, die Unaufrichtigkeit bzw. die Authentizität als eine frei gewählte Form des Existierens zu erfassen, die gerade den Umstand ein nicht-identisches Wesen zu sein, der Einfachheit bzw. Bequemlichkeit halber verhüllen will oder, im Falle der Authentizität, auch nicht. Vgl. hierzu Sebalds autobiographische Einlassungen in Logis in einem Landhaus. Zu Ehren Johann Peter Hebels verfaßte Sebald einen „Kalenderbeitrag zu Ehren des rheinische Hausfreunds“, in welchem er auch seinen Dank an die Leistungen der Frankfurter Schule bekundet. „Als ich 1963 in Freiburg mit dem Studium begann, war das alles [laut Sebald die Vereinnahmung Hebels mit „falschem neogermanischem Zungenschlag“, die noch Heidegger in seiner Rede über Hebel im Jahre 1957 betrieben habe und in Hebel einen typisch deutschen „Heimatschriftsteller“ zu sehen vermeinte; der Verfasser] noch kaum unter den Teppich gekehrt, und nicht selten habe ich mich gefragt, wie trüb und verlogen unser Literaturverständnis wohl geblieben wäre, hätten uns die damals nach und nach erscheinenden Schriften Benjamins und der Frankfurter Schule, die ja eine jüdische Schule zur Erforschung der bürgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte gewesen ist, nicht andere Perspektiven eröffnet. Jedenfalls was mich selber betraf, so hätte ich ohne die Beihilfe Blochs und Benjamins den Zugang zu dem von Heidegger umnebelten Hebel schwerlich gefunden.“ (in: W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere, Frankfurt am Main 22000, S. 12.) Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, S. 60. W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 7. Ebenda. 49 sei, das, welches von der Pathologie dieses Falls keinen Zug erfaßt, oder jenes, welches den pathologischen Facetten den Vorrang über die noch normalen einräumt.“ 268 Neben der umfänglichen Verwendung von vor allem durch Freud geprägter, sozialpsychologischer Termini (orale Fixierung, Voyeurismus, Neurose, paranoid, pathologische Elemente bzw. Stereotypen, um nur einige wenige zu nennen), um psychologische und gesellschaftliche Aspekte Sternheims zu prononcieren, ist es auch der freizulegende, soziologische Rekurs auf Walter Benjamin. Dies äußert sich bei Sebald einerseits durch die Interpretation der Gesellschaftskritik und des Opferwerdens Sternheims und andererseits durch die damit selbst ausgeübte Gesellschaftskritik. Hier nun soll dieser als Diskurs aufzufassende Verweisungszusammenhang zwischen Sebald, Benjamin und der Arbeit zu Sternheim, gleichsam eine Vermittlung zwischen Ästhetik und Geschichtsphilosophie, eine erste zentrale Beachtung erfahren. 269 Sebald nimmt in seiner im Ton strengen bis gar „polemischen“ Sternheim-Arbeit 270 erstmals Stellung ein, indem er der Dichtung des – vom Faschismus noch unberührten und nicht usurpierten – „l`art pour l`art“ das Wort redet, welche Sebald zufolge „in seiner Vollendung über sich selbst hinaus [weist] und [...] den der Kunst immanenten ethischen Prozeß deutlich werden [läßt], an dem ihm zunächst nicht gelegen schien.“ 271 Hier sei Benjamins früher „Dialog über die Religiosität der Gegenwart“ gestreift, der Sebalds Richtung anzuzeigen vermag: „Es war schon kurz vor Mitternacht, als das Gespräch vom Zweck der Kunst die Wendung auf die Religion nahm.“ 272 Die derart verstandene Kunst würde, so Sebald, als eine „negative Sehnsucht“, indem sie „die verlorene Zeit in der Form einer Chiffre, als Beispiel des Verlusts [unter anderem der Traditionen; d. Verf.], an welchem es selber leidet [zitiert]“, die „einzige Hoffnung“ für die Opponenten nicht nur der spätbürgerlichen Literatur sein. Einerseits liege zwar „in der Beschränkung auf den innersten Bereich der Kunst […] das Eingeständnis und die Kritik der Armut, die von der spätbürgerlichen Fassade verleugnet wird“, andererseits aber kündige sie, „hoffnungslos und ohnmächtig, der Welt das letzte Vertrauen“ auf. Die Folge bzw. die „Qualität“, wie Sebald betont, dieses Erlösungsversuchs, der „Kennzeichen aller wahren Kunst“ sei, „ist in dieser Form aufgehoben, in dem dreifachen Sinn, den das deutsche Wort „aufheben“ beinhalten kann.“ 273 268 269 270 271 272 273 W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 9. Sebalds Bücher (davon 14 von bzw. über Walter Benjamin) aus seiner Arbeits-Bibliothek, die als Teilnachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach bereits Eingang fanden, weisen auf eine frühe (spätestens mit 20 Jahren beginnende) und intensive, über Jahrzehnte währende Beschäftigung unter anderem mit Benjamin hin. In Sebalds Exemplar von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels befindet sich zum Beispiel auch, neben vielen Anstreichungen und einigen handschriftlichen Bemerkungen (u. a. ein Freud-Zitat die Trauer betreffend), Benjamins Porträt auf einem bereits vergilbten Zeitungsausschnitt. Valerij Poljudow erhält auf seine als Verriss zu bezeichnende Rezension der Sternheim-Arbeit, Eins mit seinen Gegnern? Sebalds Sternheim-Polemik, in: Die Zeit, 25. Jhrg., Nr. 33, S 15., umgehend eine im Duktus gleich bleibend scharfe Antwort Sebalds, Sternheims Narben, in: Die Zeit, 25 Jhrg., Nr. 33, o. S. Sebald gibt sich in der Antwort als unbeirrbarer bzw. unfehlbarer Literaturwissenschaftler und –kritiker, der hier schon scharf mit seinen „dogmatischen“ Zunft-Kollegen, aber auch später mit dem „schwarzwälder Trampelpfad-Schwätzer“ Heidegger, wie er 1982 sinngemäss in einer Rezension einer Kafka-Monographie (von Gerhard Kurz: Traum-Schrecken – Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980.) schreibt, ins Gericht geht. (Nachzulesen in: Literatur und Kritik, H. 161/162, o. O. 1982, S. 98-100.) Es ist hier vorerst nur zu vermuten, dass Sebalds ablehnende Haltung zur existentialistischen Interpretation des Werkes von Kafka, wie Kurz sie betreibt, einer Nähe Sebalds zu Adorno geschuldet ist, denn „heftige Idiosynkrasien gegen existentialistische Kafka-Deutungen äußerte bekanntlich auch Adorno.“ (in Gerhard Kurz: Traum-Schrecken – Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980, S. 150.) W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 22. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften II.I, Frankfurt am Main 1977, S. 16 ff. Ebenda, S. 23. 50 Das Scheitern sowohl im Leben als auch in der Kunst ist bei Sebald implizit mitgedacht. Das viel bedeutende deutsche Verb „aufheben“ gemahnt natürlich auch an Benjamins Beschreibung des „Kunstwerk[s] im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, wonach das Kunstwerk gerade im Faschismus durch die „Ästhetisierung des politischen Lebens“ im Krieg aufgehoben werden müsse, wo „alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik […] in einem Punkt [gipfeln]. Dieser eine Punkt ist der Krieg.“ 274 Walter Benjamin behauptet in Ursprung des deutschen Trauerspiels einen ähnlich hohen Anspruch an die Kunst, insofern sie sich nicht „in den sogenannten Zeiten des Verfalls“ befindet: „Das höchste Wirkliche der Kunst ist isoliertes, abgeschlossenes Werk. Zu Zeiten aber bleibt das runde Werk allein dem Epigonen erreichbar.“ 275 Sternheim aber, so Sebald, erreiche in seinem ganzen Werk nicht den Rang eines wahrhaften Künstlers. „Die dominierende Ursache für das Scheitern aber lag bereits im Objekt, dem wilhelminischen Bürger selbst […]. Er war der Repräsentant einer Gesellschaft, die sich samt ihrer Umwelt einen Abgrund zutreiben fühlte und dennoch nichts unternahm, als die Bastion ihrer Ideologie auszubauen.“ Diese Gesellschaft, so fährt Sebald Walter Benjamin zitierend fort, „kannte – entsprechend ihrer „moralischen“ Beziehung zur Ethik – keine Eschatologie; und eben darum einen Mechanismus, der alles Erdgeborne häuft und exaltiert, bevor es sich dem Ende überliefert.“ Sowohl das Opfer, als auch der Kritiker Sternheim hätte Sebald zufolge nur noch in der Groteske, „trotz aller Widersprüchlichkeiten seiner psychologischen Konstitution und seines Verhältnisses zur Gesellschaft, etwas zu schaffen“ vermocht, „was zu Recht den Namen Kunst verdient haben würde, denn das Groteske ist ja das Reich der unlösbaren Antinomien.“ 276 Aber auch das zu schaffen, so Sebald, sei Sternheim nicht in der Lage gewesen, da er inkonsequent die unlösbaren Antinomien fatalerweise noch mit einer in den Kitsch abdrehenden Wende zu lösen versuchte. Ein derart an Benjamin geschulter Kunstbegriff ermächtigt Sebald gewissermassen, das komplette Werk Sternheims und darüber hinaus die Person Sternheim selbst zu disqualifizieren – wenngleich Sebald expressis verbis dies gerade nicht beabsichtigt. 277 Es scheint aber nur fraglich legitim zu sein, mittels kunstkritischer Massstäbe nicht nur ein kunstkritisches, sondern geradezu zornig auch ein 274 275 276 277 Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 345. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt am Main 1978, S. 37. W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 118 f. Vgl. Ebenda, S. 10: „Schließlich sollte die in der vorliegenden Arbeit am künstlerischen und essayistischen Werk Carl Sternheims geübte Kritik in keinem Fall – auch wo ihr Ton es zu implizieren scheint – als auf die Person Sternheims gezielt verstanden werden.“ Valerij Poljudow hat sehr wohl den dennoch in Frage stehenden und Sebalds Kritik in Zweifel ziehenden Punkt getroffen: „In Wirklichkeit hat der Kritiker auch dem Menschen Sternheim den Kopf gewaschen.“ (Valerij Poljudow: Eins mit seinen Gegnern? Sebalds Sternheim-Polemik, S. 15.) Zu belegen wäre diese Behauptung, die Sebald in seiner Replik als „grausig idiomatischen Ausdruck“ (W.G. Sebald: Sternheims Narben, S. 46.) vehement zurückweist, am ehesten durch die pejorative anklingende Interpretation, wonach die von Sternheim inszenierte „Vergewaltigung des Mannes durch die Frau [...] eine überaus typische Projektion für einen oral abnorm Fixierten ist, [...].“ (W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 104.) Später ist dann von Sternheim ob eines „abnormal bedingten Bewußtsein[s]“ die Rede. (S.108.) Es ist wohl anzunehmen, dass nicht der grausig idiomatische Ausdruck es war, der Sebalds negative Vehemenz gegen Poljudow begründen kann, sondern vielmehr die persönliche Note gegen Sebald als „angehenden Gymnasiallehrer[]“. (Valerij Poljudow: Eins mit seinen Gegnern? Sebalds Sternheim-Polemik, S. 15.) Dies umso mehr, als Sebald sich darob selbst als „arme Seele[]“ in Not sah, wie sein Bittbrief an Adorno es verdeutlicht. Der persönliche Stolz Sebalds scheint hier die polemische Spitze nicht vertragen zu können, so dass der Schritt zur Universitätslaufbahn hier durchaus ein trotziges Stimulans erhielt. 51 moralisches Verdikt zu sprechen, wie dieser in dieser Angelegenheit Sebald zu konstatieren ist. 278 Das ganze zweite Kapitel nämlich widmet Sebald der Sternheimschen, sozialen und psychologischen Persönlichkeits-Struktur. Sebald gibt sich dabei als profunder Kenner auch der psychoanalytischen Theorie Freuds und wendet diese auf Sternheim umfangreich an. Als Fazit konstatiert Sebald Sternheim – sowohl als Subjekt als auch als Künstler – eine primäre und sekundäre, „mißlungene Assimilation“ 279 bzw., durch Adorno in einem Brief an Sebald bekräftigt, eine auf diesen Ebenen „mißlungene[] Anpassung.“ 280 Das vielschichtige Misslingen ist aber nicht, wie Sebald sie etwa Kafka, Hofmannsthal oder auch Proust sehr wohl zugesteht, als eine „Äußerung[] des aus der Notwendigkeit einer zweiten Assimilation entstehenden Bewußtseins der Entfremdung des Individuums von seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit“ zu verstehen, sondern vielmehr als „der schiere, durch keine ästhetische oder persönliche Qualität sublimierte Ausdruck des Assimilationszwangs und dessen Gleichung vielmehr als dessen Gleichnis.“ 281 Sollte denn dieser von Sebald hervorgehobene Assimilationszwang Sternheims wirklich Ursprung für dessen immerhin gewagtes künstlerisches und moralisches Scheitern sein, würde dies doch zugleich Sebalds Äusserung konterkarieren. Gerade der ihn an den Rand jeglicher Gesellschaft bringende Entschluss, Schriftsteller zu werden, müsste Sebald zufolge an sich geradezu verwerflich sein. Sebald vermeint nämlich, dass Sternheim, „durch seinen Entschluß, Schriftsteller zu werden, […] das einmal Erreichte ohne willentliches Zutun auf[hob], […] erneut zum Außenseiter [wurde] und […] derart die Mechanismen der Angleichung wieder in Bewegung [setzte].“ 282 Sein wirkliches Ziel, so Sebald, sei nicht die Bourgeoisie, sondern „seine eigene, für die Zukunft erhoffte Leistung, die ihn, gegebenenfalls, zum Repräsentanten jener Gesellschaft werden ließe, von der er sich ausgeschlossen fühlt.“ 283 Das Gefühl des gesellschaftlichen und schriftstellerischen Ausgeschlossenseins und Aussenseitertums wird von Sebald im weiteren als ein unbewusstes charakterisiert, welches kausal zur Frustration führe und die Aggressivität gegen Sternheims Herkunftsmilieu erkläre. Sternheim leide demzufolge an einem Minderwertigkeits- und „Schuldkomplex“, an Orientierungslosigkeit und einer daraus resultierenden, paradoxen, skrupulös egozentrischen „Verfallenheit“ an eine „germanizistische[] Ideolo278 279 280 281 282 283 Ähnlich unversöhnlich hart gibt sich Sebald bezüglich Leben und Werk von Alfred Andersch. Vgl. hierzu Klaus Siblewski: Vom Erzählen der Katastrophe: Über W.G. Sebald, in: Sinn und Form: Beitrag zur Literatur, H. 55 (2003), o. O., S. 117-128. Siblewski befindet, dass Sebalds Essay über Andersch „[…] in seinem schneidenden Ton aus dem elegischen Ensemble seiner Werke heraus [fällt]. Sebald verweigert Andersch, was er sonst all seinen Prosafiguren gewährt: Verständnis.“ So hält Sebald Andersch, laut Siblewski, „[…] ein anscheinend offenes, in Wirklichkeit aber abgefeimtes Spiel mit der Vergangenheit“ vor und Andersch hat aus Sebalds Sicht nicht nur schlechte Bücher geschrieben, er war auch ein schlimmer Opportunist“, da er unter anderem vor der Landeskulturverwaltung Gau Hessen-Nassau den rassischen Status seiner aus einer deutsch-jüdischen Familie stammenden Frau verschwiegen hatte. (S. 117 f.) Der von Siblewski hier angeführte Essay über Andersch findet sich in W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, Frankfurt am Main 2001, S. 111-147. W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 48. Ebenda, S. 73. Dabei ist interessant, dass Sebald Zusammenhang und Inhalt des Briefes zu Gunsten seiner Argumentation heranzieht. Es handelt sich zwar nicht um Schmücken mit fremden Federn, aber doch um eine illegitime Autoritätsbeanspruchung, die Sebald an Adorno vornimmt. Sebalds erstem Werk liegt ein ambitiöses Verhalten zugrunde, das, neben unausgewiesenen Zitatübernahmen, aber nicht zuungunsten des frühen Literaturwissenschaftlers ausgelegt werden soll. Ebenda, S. 49. Ebenda, S. 50. Ebenda. 52 gie.“ 284 Sebald wagt ein unlauteres, wenn nicht gar ein sophistisches Spiel, wenn alles, was Sternheim schreibt und verlautbart, letztlich eine „Erklärung im Schuldkomplex eines Revolutionärs [findet], der sich gegen eine Sache auflehnt, der er sich unbewußt verfallen fühlt.“ 285 Es sollte deutlich geworden sein, wie sehr sich Sebalds hermeneutische Literaturtheorie auf das schon kritisierte und nicht haltbare Schema Bewusst- und Unbewusstsein stützt. Der kritische, urteilende und wertende – antipathetische – Impuls bei Sebald wird jedoch weiterhin von Benjamin dahingehend beeinflusst, als dieser eine sehr rigorose Auffassung von „wahrer Kunst“ vertritt. Das moralische Verdikt Sebalds Sternheim gegenüber ist aber genau darauf gegründet, was der Mensch prinzipiell seiner Freiheit schuldet: Diese nämlich zu affirmieren. Wie Sebald selbst schrieb, hat Sternheim sich ja für ein Schriftstellerleben entschieden. Sternheims zu kritisierender „Fehler“ wäre einzig darin zu sehen, in seiner Ausübung der Kunst, mit Sartre gesprochen, „unwahrhaftig“ bzw. „unaufrichtig“ zu sein. Doch einerlei, Sebald ist sich ja dessen durchaus bewusst, dass überhaupt ein authentisches Porträt Sternheims nur schwer zu haben ist. An dieser Stelle soll und kann auch nicht entschieden werden, ob Sebald das Gerücht, Sternheim „habe das Übel an der Wurzel [der Krise des Dramas am Ende des 20. Jahrhunderts; der Verf.] kuriert, indem er der Sprache selbst eine neue, bis dahin unerhörte Prägnanz gegeben hätte“ 286 als solches kenntlich gemacht und berichtigt habe. Benjamins ästhetisch-philosophischer Einfluss auf Sebald einerseits und Sebalds Festhalten am Unbewussten andererseits, äußern sich auch in seiner 1980, also elf Jahre später erschienenen literaturwissenschaftlichen Arbeit Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins. Dabei unternimmt Sebald viel versprechend „eine Untersuchung der unauflösbaren Widersprüche der Döblinschen Positionen“, 287 um ihn derart eines inadäquaten Bewusstseins zu überführen. Bis dahin, so Sebald, sei diese fehlgeschlagen und zwar zum einen wegen fehlenden „terminologische[n] Rüstzeugs für eine materialistische Analyse, zum anderen wurden Klärungsversuche immer wieder vereitelt von den konfusen Entwicklungen und Gedankengängen im Werk Döblins selbst“ und vom „für Döblins Entwicklung so maßgebliche[m] ideologische[n] Dilemma“ – erinnert sei hier an Sternheims ähnlich gelagerter Situation – sich als „Kleinbürger“, gar als „Häretiker des Bürgertums“ in den „vom Assimilationskomplex verstärkten Widersprüchen“ 288 positionieren zu müssen. Sebald zieht auch bei der Analyse des Döblinschen Werkes den Nutzen aus Benjamins kulturund literaturwissenschaftlichen Einlassungen. Wenn man die existentiellen Voraussetzungen als gegeben nimmt, zu welchen jene „banal-triviale“ gehört, sterben zu müssen, weil man geboren wurde, so lässt sich mit Benjamin dieser Zyklus vom je unterschiedlichen Standpunkt aus entweder als „Tyrannendrama“ oder als eine „Märtyrerhistorie“ 289 – nicht nur im barocken Trauerspiel – beschreiben. Sebald bekräftigt die sich anschliessende, von Benjamin behauptete „Allegorisierung der Physis“, 290 die „nur an der Leiche sich energisch durchsetzen“ 291 kann, vor allem dann, wenn die besagte Leiche Resultat einer Ermordung gewesen ist. Hier kündigt sich unter anderem Sebalds Interesse an Leichen 284 285 286 287 288 289 290 291 W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 50 f. Ebenda, S. 51. Ebenda, S. 115. W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S.7. Ebenda, S.7 ff, S. 11. Walter Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 54. Ebenda, S. 193. W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 65. 53 (nicht nur in den Döblinschen „Seziersälen der Anatomie“ 292 ), respektive und insbesondere an suizidalen Akten an. 293 Sebald vereint gekonnt in seinem Werk sowohl die Schilderung von Gemälden als auch die von Biographien, vor allem unter dem Gesichtspunkt des toten Leibes: wie der Leib zu seinem Tode kam, wer ihn verschuldet hat und wie der Tod nun gedeutet wird bzw. gedeutet werden kann. Ausserdem montiert Sebald gezielt Bilder in allen möglichen Formen in seine prosaischen Werke, ganz im Sinne Benjamins, der in Kleine Geschichte der Photographie das Besondere im Gegensatz zu gemalten Bildern betonte: Bei der Photographie aber begegnet man etwas Neuem und Sonderbarem: in jenem Fischweib aus New Haven, das mit so lässiger, verführerischer Scham zu Boden blickt, bleibt etwas, was im Zeugnis für die Kunst des Photographen Hill nicht aufgeht, etwas, was nicht zum Schweigen zu bringen ist, ungebärdig nach dem Namen derer verlangend, die da gelebt hat, die auch hier noch wirklich ist und niemals gänz294 lich in die „Kunst“ wird eingehen wollen. So lässt sich Sebalds Döblin betreffende Feststellung, wonach „das Moribunde […] sich seither aus seinen Beschreibungen des pflanzlichen und kreatürlichen Lebens nicht mehr wegdenken [läßt]“ durchaus auch auf Sebalds Leben und Werk anwenden, wenngleich sich Sebald irritiert zeigt zum einen über die Wahl „eines rationalisierenden Systems, in dem der grauenhafte Charakter der Evolution und das ephemere Dasein des einzelnen gleichermaßen aufgehoben sind“ und zum anderen über „die Bereitschaft, mit der ein positivistischer Mediziner phantastischen Konjekturen sich hingibt.“ 295 292 293 294 295 W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 94. Ein literarisierter Hinweis Sebalds findet sich in der zweiten Geschichte von W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt am Main 2001. Der Protagonist Paul Bereyter, der dem geneigten Leser vom Autor als sein ehemaliger Grundschullehrer in S., freilich unter anderem Namen, zu identifizieren nahegelegt wird, wird freiwillig, das heisst tödlich „bei der Eisenbahn enden“. Interessant in diesem Zusammenhang ist die ihm beilegte Lektüre. Paul habe, so Sebald, „gelesen und gelesen – Altenberg, Trakl, Wittgenstein, Friedell, Hasenclever, Toller, Tucholsky, Klaus Mann, Ossietzky, Benjamin, Koestler und Zweig, in erster Linie also Schriftsteller, die sich das Leben genommen hatten oder nahe daran waren, es zu tun. Seine Exzerpthefte geben einen Begriff davon, wie ungeheuer ihn insbesondere das Leben dieser Autoren interessiert hat [...] und immer wieder stößt man auf Selbstmordgeschichten“ Nicht wenige dieser Autoren, dazu zählt natürlich auch der hier nicht genannte und – Koinzidenz – ebenfalls namenskonvertierte Jean Améry, waren, so man aus seiner Arbeitsbibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach ersehen kann, Sebald sehr vertraut, ihm sozusagen auch „ans Herz“ gewachsen. Améry, der den Freitod wählte, bedachte Sebald mit einigen ihn würdigenden Arbeiten. Die Einlassung des Erzählers in dieser zweiten Erzählung, wäre im weiteren dazu geeignet, Sebalds eigenes, erwartungsvolles – widerstrebendes – Verhältnis zum Sterben – auf welchen Wege auch immer – zu belegen. „Es sei eben, sagte ich zu Mme. Landau, als ich von diesen Eisenbahnstunden [in der Grundschule in S.; der Verfasser] erzählte, letzten Endes schwer zu wissen, woran einer sterbe.“ (Vgl. S. 86-92.) Auch in Austerlitz wird der Erzähler dem gleichnamigen Protagonisten Austerlitz von einer skurrilen Suizidgeschichte berichten, welche ihm das Bekenntnis entlockt, wonach „er den Schreiner von Halifax sehr wohl verstehen könne, denn was gäbe es Schlimmeres, als auch noch das Ende eines unglücklichen Lebens zu verpfuschen.“ (W.G. Sebald: Austerlitz, S. 143.) Sebald hatte ein ausgesprochenes Faible – nicht nur für literairisierte – „Selbstmordgeschichten“, welches in einer weiterführenden Arbeit untersucht werden müsste. Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 289. W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 94 f. Sebald zeigt sich mehr nur als irritiert auch darüber, dass Döblin sich gleichsam aus dem Stegreif anschickt, „die Gesamtheit des Kosmos erläuternd zu beschreiben, um der Ratlosigkeit seiner selbst und seiner Zeit Abhilfe zu schaffen. Dieser Versuch entspricht durchaus dem hybriden Duktus seiner Romane und ist ein Zeugnis für die schlechte Naivität, über die die rationale Analyse der Welt stets zu kurz kommt.“ (Ebenda, S. 95.) Nun ließe sich hier provokanterweise polemisch fragen, ob nicht auch Sebalds literarischer Versuch über Lebenszusammenhänge in Nach der Natur und Schwindel. Gefühle. ein ähnlich „naives“ Vorgehen Sebalds bezeugen würde. 54 Für Benjamin und Döblin, wie auch für Sebald selbst, bestätigt sich somit Sartres Sichtweise, nach der der Tod des Menschen es ist, der ihn für alle Zeiten seinem ursprünglichem, stets fluktuierendem und mangelhaftem Für-sich-sein entreisst. Der Andere erscheint nun vollends als derjenige, der gänzlich über den Toten verfügen kann, ihm jedes An-sich-sein zuweisen kann, ohne noch Ein- oder Widerspruch erwarten zu müssen. 296 Ähnlich verhält es sich ja mit der schöpferischen Leistung der Fotographie. Sebald affirmiert diesbezüglich Roland Barthes, der laut Sebald „[...] in dem inzwischen omnipräsenten Mann mit der Kamera einen Agenten des Todes und in den Photographien so etwas wie Relikte des fortwährend absterbenden Lebens [sah].“ 297 Benjamin benennt ein frühes Beispiel anhand der Lichtbilder Daguerres. Diese „waren jodierte und in der camera obscura belichtete Silberplatten, die hin- und hergewendet sein wollten, bis man in der richtigen Beleuchtung ein zartgraues Bild darauf erkennen konnte.“ 298 Sie, so stellt Benjamin fest, „verwandelten […] sich in technische Hilfsmittel“, mit denen Maler wie Utrillo „seine faszinierenden Ansichten von den Häusern der Bannmeile von Paris nicht nach der Natur, sondern nach Ansichtskarten verfertigte“ oder indem der englische Porträtmaler Hill „seinem Fresko der ersten Generalsynode der schottischen Kirche im Jahre 1843 eine große Reihe von Porträtaufnahmen zugrunde“ 299 legte. Sebald weiss sich diese Wirkungs- und Verwendungsweise von unbekannten Fotos, aber auch jene von Porträts, von Bildwerken bekannter deutscher Renaissance-Künstler wie Grünewald, Dürer oder Altdorfer und bildlosen Bildbeschreibungen – gleichsam halluzinatorischen Sprach- und Traumbildern – für die vielschichtige Bedeutung seines Werkes nutzbar zu machen. 300 Geschuldet ist diese sich vor allem im prosaischen Werk niederschlagende, vieldeutige Nutzbarmachung unter anderem Walter Benjamin. 301 Vielleicht wäre sie, sofern es aus biographischer Aktenlage ersichtlich gemacht werden bzw. erhärtet werden könnte, auch als Hommage an Benjamins eigenem Leben und Werk und letztendlich an seinen Suizid im Jahre 1940 zu werten. In jedem Fall lässt sich Benjamins Befund, wonach 296 297 298 299 300 301 Auch Sebald ist sich dessen bewußt, rekurriert er in Die Ringe des Saturn auf Sir Thomas Browne, der „in seinem berühmten, halb archäologischen, halb metaphysischen Traktat über die Praxis der Feuer- und Urnenbestattung zu der späteren Irrfahrt seines eigenen Schädels den besten Kommentar geliefert [hat] an der Stelle, wo er schreibt, aus dem Grabe gekratzt zu werden, das sei eine Tragödie und Abscheulichkeit. Aber wer, so fügt er hinzu, kennt das Schicksal seiner Gebeine und weiß, wie oft man sie beerdigen wird.“ (W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 21.) W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 178. Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 289. Ebenda, S. 289. (Kursivsetzung durch den Verfasser) Man beachte hier die wortgetreue und inhaltliche, jedoch nicht als Zitat ausgewiesene Koinzidenz, die hier das Benjaminsche „nach der Natur“ zu Sebalds gleichermassen mehrdeutigem Titel und Motto seines „Elementargedichts“ Nach der Natur liefert. Im Gespräch mit Sigrid Löffler betont er explizit: „Familien-Fotalben sind ein Schatz an Information.“ (Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 136, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald) Der ausführliche Rekurs auf Barthes erhellt besonders Sebalds Technik. Dazu Astrid Deuber-Mankowsky: „Benjamin macht nun das Bild nicht zu einem Gegenstand der Philosophie, er rekurriert im Gegenteil auf das Bild, um der [...] Unterscheidung von Erfahrung und Erkenntnis der Erfahrung Genüge zu tun. Das heißt, er schreibt im „Bild“, um die Erfahrung nicht dem Erkenntniszusammenhang preiszugeben und sie darin zu verlieren. Deshalb ist auch das Darstellungsproblem eine der wichtigsten Fragen des philosophischen Schreibens.“ (in: Astrid Deuber-Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen: Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung, Berlin 2000, S.91. Zugleich: Berlin, HumboldtUniversität, Dissertation, 1999.) 55 aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum Trotz […] der Beschauer unwiderstehlich den Zwang [fühlt], in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige 302 noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken können, auf ein wesentliches Ziel des Sebaldschen Werkes übertragen. So lässt sich auch, analog zur „Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen“, Sebalds Heranziehen der psychoanalytischen Terminologie und des der kritischen Schule entliehenen sozialkritischen Vokabulars – „der psychomotorische Konnex bleibt dabei unbewußt“, so Sebalds Ausführungen zu Sternheims „Pseudokonservatismus und Aggressivität“ 303 im Privatleben und im künstlerischen Werk – bei seinen grossen literaturwissenschaftlichen Arbeiten als Versuch interpretieren, gleichsam von dem „Optisch-Unbwußten“ der „Haltung im Sekundenbruchteil des „Ausschreitens““ auch das „Triebhaft-Unbewußte[]“ 304 zu erfahren. Was Deuber-Mankowsky dem Bestreben Walter Benjamins mit seinem Werk konstatierte, steht durchaus im Einklang mit Sebalds Schaffen: „Die Wahrheit wird zu einer Frage der Darstellung“ 305 von unmittelbarer Erkenntnis und Erkenntnis der Erfahrung, wobei einerseits das Bild als das durchlässig mittelnde und das den ewigen Abgrund zwischen Erfahrung und Erkenntnis überbrückende Prinzip fungiert, „sich gegen seine Grenzen, gegen Vergänglichkeit, Zufall und Kontingenz zu immunisieren.“ 306 Andererseits versteht Sebald das „photographische Bild“ als eines, das die Wirklichkeit nur „in eine Tautologie“ verwandelt. „Was für die Photographie recht sein mag, ist jedoch für die Kunst nicht billig.“ 307 So vermag sich Sebald je nach Darstellungswunsch der „Wahrheit“ und/oder der „Wirklichkeit“ der abwechselnden Heranziehung von Fotographien, von Malerwerken und Bildbeschreibungen bedienen. Er schreibt sie ein in seine Texte und reichert sie an durch seine kunstvollen Wortbilder, die aus Traum- und Erinnerungsbildern genauso wie aus halluzinierten Zuständen hervorgehen. Gerade die darstellende Kunst, in der Sebald bei dem Maler und Jugendfreund Jan Peter Tripp eine „Wirklichkeitstreue [in] einem fast unvorstellbaren Grad“ erreicht sieht, „bedarf der Ambiguität, der Polyvalenz, der Resonanz, der Verdunkelung und der Erleuchtung, kurz, der Transzendierung dessen, was nach einem unumstößlichen Satz der Fall ist.“ 308 Doch was ist schon „der Fall“? Während also Benjamin zur Sinnbestimmung sowohl des zu Betrachtenden und als auch des Betrachters selbst das dennoch schweigsame „winzige Fünkchen Zufall“ und „die unscheinbare Stelle“ in einer gekonnten Fotographie suchte, begreift Sebald, je länger er die Bilder Tripps betrachtete, „desto mehr [...], daß sich hinter dem Illusionismus der Oberfläche eine furchterregende Tiefe verbirgt.“ „Sie ist sozusagen“, so schließt Sebald, „das metaphysische Unterfutter der Realität“, 309 welches doch nur wenig erfolgreich, sprich sinnvoll, das Reich der Lebendigen vom jenen der Toten zu kaschieren vermag. 302 303 304 305 306 307 308 309 Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 290. W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 50 ff, S. 53. Walter Benjamin: Ein Lesebuch, S. 290. Astrid Deuber-Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen: Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung, S. 91. Ebenda, S. 90. W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 178. Ebenda, S. 174, 178. Ebenda, S. 181. 56 Das „metaphysische Unterfutter“ ist es, was uns antreibt und bewegt, aber was es ist, bleibt auch Sebald unbeantwortet. Folgende Aussage gilt für sein gesamtes Werk: „Wir sind doch alle hoffnungslose Ignoranten, wir haben doch keine Ahnung, was uns treibt, was uns bewegt.“ 310 Sebalds Einlassungen erinnern hier in ihrer Dringlichkeit stark an den Grundton aus Sartres Roman Der Ekel, der dieser existentiellen und den Menschen mit seiner Plötzlichkeit überwältigenden Affektion bis heute unerreicht Ausdruck verlieh. „Die Tannenwälder“, so heisst es in der zweiten langen Erzählung aus Die Ausgewanderten „standen schwarz in den Bergen, bleiern glänzten die Fensterscheiben, und der Himmel hing so tief und so dunkel herunter, als müßte eine tintige Flüssigkeit gleich herauslaufen aus ihm.“ 311 Das Tannengrün war für Sebald seit frühester Kindheit Sinnbild für das Versagen der Vernunft – Jagdtod dem Tier, zur Versöhnung ein Tannenzweigchen in die Äse – und Auslöser einer starken Aversion den dörflichen und friedhöflichen, nicht nur deutschen Trauerriten gegenüber. Stimmigerweise ist in der letzten Geschichte aus Schwindel. Gefühle., die die vier Wochen dauernde Rückkehr des Erzählers nach W. im Allgäu und in seine frühe Kindheit thematisiert, vom Tode des Jägers Schlag die Rede. Nicht nur wird auch hier der Freitod Schlags hypostasiert, hielt doch Grossvater es „für ausgeschlossen, daß der Schlag, der doch auf das genaueste mit den Grenzen seines Reviers vertraut gewesen sein müsse, versehentlich auf die andere Seite hinübergeraten sei.“ 312 Sondern es geht hier dem Erzähler um eine daraus resultierende frühe, kindliche existentielle Ekelerfahrung im Anschluss an dem Erblicken der eiserstarrten Leiche. Zum einen überkommt den Erzähler nach Ausbruch einer wahrscheinlichen Diphteritis die Vorstellung, der Schmied hielte sein in Flammen stehendes Herz, zum anderen deliriert er, „daß es sich bei dem, was in diesem Topf eingelegt worden war, nicht um sauber in ihrer Schale aufgehobene Eier, sondern um etwas weiches, den Fingern Entgleitendes handelte, von dem ich sogleich wusste, daß es nichts anderes als Augäpfel waren.“ 313 1.2 Theodor W. Adorno Sebald setzte sich zu Beginn seines Studiums neben Benjamin auch intensiv mit Theodor W. Adorno, weniger ausgiebig mit Horkheimer und Marcuse auseinander. Mit Adorno stand Sebald kurzzeitig in Briefkontakt, wie auch aus seiner Arbeit zu Carl Sternheim hervorgeht. Da auf den handschriftlichen Nachlass mit dieser Arbeit aus archivarischen Gründen nicht zurückgegriffen werden kann, muss Sebalds Anleihen an Adorno ebenfalls werkimmanent betrachtet werden. Aus Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära lässt sich ableiten, was thematisiert wurde. Wie aus einer Fussnote Sebalds hervorgeht, ist es Sebalds Behauptung, „daß im Gegensatz zu der von Sternheim behaupteten Restriktion der ratio in der künstlerischen Produktion gerade seine Werke auf einem rationalistischen Funktionalismus beruhen […]“, 314 die durch Adorno gestützt werden sollte. Sebald geht es, auch mit Blick auf die Literaturgeschichte, um die Zurückweisung der Sternheimschen Kunstauffassung, wonach sie etwas ahistorisches und exklusives sei, quasi „von 310 311 312 313 314 W.G: Sebald, zit. nach: Renate Just: Im Zeichen des Saturn. Ein Besuch bei W.G. Sebald, S. 40, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, S. 37-42. W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 89. W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 269. Vgl. W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 272 ff. W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 30. 57 vornherein nur einer Auslese wirkliches Bedürfnis […]“, 315 um „das „Wesentliche“ oder den „Ursinn“ des Wirklichen zu erheischen.“ 316 Im Gegenteil, so Sebalds Meinung, „war lange Zeit vor Sternheim bekannt, daß eine Erklärung des Phänomens „Kunst“ durch eine Definition nicht möglich ist, sondern nur in Form einer Diskussion in jedem einzelnen Fall“, 317 sie sei somit „erst im Laufe des bürgerlichen Zeitalters dazu geworden“ 318 als was sie Sternheim hypostasiert. Ebenso wenig wie Kunst exklusiv definierbar sei, ebenso wenig sei es die Philosophie, zumindest diejenige, wie sie Adorno neben Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben und Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (gemeinsam mit Max Horkheimer) vor allem mit seinem sperrigen Werk Negative Dialektik dargelegt hat. Aus diesem Werk lässt sich vor allem das dritte Kapitel, Meditationen zur Metaphysik im dritten und letzten Teil als geeignet heranziehen, die Sebaldsche geschichts-philosophische und ästhetische Orientierung an Adorno aufzuweisen, die ja wesentlich – ähnlich so bei Benjamin – dem Misslingen der Kultur (nach Auschwitz) gewidmet ist. Obschon Adorno es in Frage stellt, ob die schwerwiegende Behauptung falsch gewesen sei, „nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben“, so doch nicht „die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.“ 319 Diese Frage wird, wenn auch mit anderen Mitteln, Sebald aufnehmen und sowohl für sich als auch für seine interessierten Leser zu beantworten versuchen, indem er Adornos Aussage durch sein Werk einer Zuspitzung zuführen will: Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten. Zur Vergeltung suchen ihn Träume heim wie der, daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre […]. 320 Sebald wurde 1944 an Himmelfahrt geboren und er erinnert selbst in einem seiner Werke, Nach der Natur, daran, wie seine Mutter einst aus dem in Flammen gesetzten Nürnberg nach Bad Windsheim flüchten musste und sich dort ihrer Schwangerschaft gewahr wurde. Eine typisch sebaldsche, fingierte Koinzidenz liesse sich hier ausmachen, eine teilweise Erklärung auch für das Misstrauen Sebalds, das er seiner sozialen Umwelt und natürlichen Umgebung, der „bösen“ Natur ist man geneigt zu sagen – expressis verbis in Austerlitz – entgegenbringt. 321 Doch 315 316 317 318 319 320 321 Carl Sternheim, zit. nach W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 30. W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 33. Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 30 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 11975, S. 355. Ebenda, S. 355 f. Sebald lässt schließlich Hebel all die Kriege, Schlachten und Unglücke aufzählen, all die „zwischen 1789 und 1810 eingetroffenen Kalamitäten“. Die Aneinanderreihung, in ihrer „Wahllosigkeit und Willkürlichkeit, mit der da das ungereimtste zueinanderkommt, ist zu verstehen als ein Reflex auf eine Epoche, in der die letzten Überreste des heilsgeschichtlichen Weltbilds zerschlagen wurden, während zugleich in endlosen Revolutionen und Kriegen die profane Geschichte gewaltsam sich auszubreiten begann.“ Der Überblick über diese 20 Jahre, in denen „die blutigen Kriege in Deutschland, in den Niederlanden, in der Schweiz, in Italien, in Polen, in Spanien, [...] die Schlachten bei Austerlitz und Eylau, bei Eßlingen und Wagram [...]“ stattfanden müsste ausreichen, „um zu begreifen, daß man am frühen Morgen nie weiß, wie es vor der Nacht wird.“ (in: W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 24 f.) 58 damit fällt ein greller Strahl auf die Wahrheit selbst. Spekulation spürt eine gewisse Pflicht, ihrem Gegner, dem common sense, die Position des Korrektivs einzuräumen. Das Leben nährt den Horror der Ahnung, was erkannt werden muß, gliche eher dem, was down to earth sich findet, als dem, was sich 322 erhebt […]. Das Leben-zum-Tode verschränkte Geflecht nötigt zu einer Sinnstiftung gleichsam einer metaphysischen Erfahrung, ungeachtet dessen, ob jene „überhaupt noch möglich ist.“ 323 Auch hier stehen wieder die Wahrheit und die Wirklichkeit – in ähnlich ummantelter und heraufbeschworener Metaphysik – in Frage, für Sebald und für Adorno gleichermassen. Gegen Sternheims Wirklichkeitsgewinnung und reproduktion gewendet behauptet nun Sebald, dass Sternheim in seinen Werken die Wirklichkeit [mißhandelt], indem er die Zynismen einer Gesellschaft enthüllt und sie im selben Atemzug als den höchsten Sinn des Wirklichen proklamiert, als dessen „eigene Nuance“. Das „Himmlische“ aber, das sich trotzdem noch „in raumloser zeitloser Fülle gebiert“, 324 trägt die irisierenden Züge des spätbürgerlichen Kitschs. Sebalds Kritik ist sicherlich berechtigt, doch allen kulturell Schaffenden eigen ist zumindest die Frage nach Wirklichkeit respektive der Darstellung dieser, die, wie man auch bei Sebald und Adorno feststellen kann, häufig auf eine metaphysische Betonung des Unerklärlichen und Abgründigen im Menschen und mit ihm in der Geschichte abhebt. Sebalds Kunstgriff ist die nicht nur intertextuelle Verschränkung vieler Facetten, die er aus den verschiedenen philosophischen Konzepten gewinnt. Zu nennen wären nach dem bis hierher aufgezeigten philosophiegeschichtlichen Hintergrund Sebalds: Geschichte und Natur – menschliche und unbelebte – gleichermassen als leitende, literaturwissenschaftliche Themata mit der Betonung auf ihren Verfallscharakter; 325 der dem Menschen wohl prinzipiell zugrundeliegende Schwindel (in seiner mehrdeutigen und naheliegenden Ausprägung als Gefühl und als „Selbst-Betrug“, aber auch in einer weiter gefassten Form als Ver-Schwinden, zum Beispiel eben des Subjekts). Nicht zu vergessen, die darstellenden Künste in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und theoretischen Konzeptionen, welche als Mittel zur Hervorbringung einer etwas anderen Metaphysik, nämlich der typisch Sebaldschen Koinzidenz in ihrem melancholischen Duktus dienlich sind. Sebald geht in seiner Arbeit über Döblin sogar soweit, Adornos Terminus vom „beschädigten Leben“ ohne Zitatnachweis in seiner Analyse zu verwenden. Während Adorno von „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ spricht, bezieht Sebald in seiner Analyse ausgreifend den Tod mitein. „[Döblin] [beschwört] die heilsame Kommunikation des schlafenden Menschen mit der Natur. [...] Dementsprechend wird auch der Tod zum zeitweiligen und trostreichen Asyl des beschädigten Lebens.“ 326 322 323 324 325 326 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 357. Ebenda, S. 365. W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 34. Adorno lokalisiert in der Vergängnis das Moment, „in dem Natur und Geschichte kommensurabel werden“ und bekräftigt Benjamins Ausführungen in Ursprung des deutschen Trauerspiels. (in: Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 353.) W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 115. In seiner Hommage an Johann Peter Hebel in Logis in einem Landhaus wird er, in ähnlichem Sinne, von einer „Lichtspur über unser von Gewalt entstelltes Le- 59 Eine dies äusserst prägnant schildernde Stelle findet sich in Sebalds Logis in einem Landhaus. Sebald stellt dabei erinnernd eine in Frage stehende Verbindung nicht nur zwischen dem Tode, Todeszeitpunkt und -umständen seines geliebten und wertgeschätzten Grossvaters, Josef Egelhofer, und dem Tode Robert Walsers im Frühjahr und Winter des Jahres 1956, sondern auch eine Verbindung zwischen den sich scheinbar ähnelnden, verwandtanmutenden 327 und dennoch unbekannten, nur Sebald persönlich nahe stehenden Menschen: Vielleicht sehe ich darum den Großvater heute, wenn ich zurückdenke an seinen von mir nie verwundenen Tod, immer auf dem Hörnerschlitten liegen, auf dem man den Leichnam Walsers, nachdem er im Schnee gefunden und fotografiert worden war, zurückführte in die Anstalt [Herisau in der Schweiz; dort verbrachte Walser die letzten 23 Jahre seines Lebens; der Verf.]. Was bedeuten solche Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Korrespondenzen? Handelt es sich nur um Vexierbilder der Erinnerung, um Selbst- oder Sinnestäuschungen oder um die in das Chaos der menschlichen Beziehungen einprogrammierten, über Lebendige und Tote gleichermaßen sich erstreckenden Schemata einer uns unbegreifli328 chen Ordnung? Diese Passage verdeutlicht eindrücklich das kunstvolle Streben – die „melancholische Bastelei“ 329 – Sebalds nach Sinnstiftung eines in Frage stehenden Subjekts, nach objektiven Bedeutungszusammenhängen in einer scheinbar durchwegs rationalistischen, nichts desto trotz permanent zerstörbaren Lebenswelt. Ebenso wird hier das Potential ersichtlich, die oftmals schwer einzuordnenden Ebenen und Problematiken der Ich-Zuschreibungen in Sebalds Texten genauer voneinander abzusetzen und herauszustellen. Wichtiger jedoch erscheinen die emotive Haltung Sebalds und die gewählte Form des Umgangs damit, also im weit gefassten Sinne mit Natur und Geschichte. Beides, die Haltung, wie der Umgang, lassen sich als eine mögliche Antwort vor allem eines Künstlers auf Adornos kritische Feststellung verstehen, die die Rolle des (millionenfachen) Opfers – in diesem Falle der Jude – betrifft. „Das Gefühl“ nämlich, so Adorno, das nach Auschwitz gegen jegliche Behauptung von Positivität des Daseins als Salbadern, Unrecht an den Opfern sich sträubt, dagegen, daß aus ihrem Schicksal ein sei`s noch so ausgelaugter Sinn gepreßt wird, hat sein objektives Moment nach Ereignissen, welche die Konstruktion eines Sinnes der Imma330 nenz, der von affirmativ gesetzter Transzendenz ausstrahlt, zum Hohn verurteilen. 327 328 329 330 ben“ sprechen, die sowohl der Erzähler Hebel als auch der ihm 1811 erschienene Komet über das vergossene Blut auf den Schlachtfeldern der Erde zeichneten. (in: W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 19.) Sara Friedrichsmeyer spricht in diesem Zusammenhang, auf Goethes Die Wahlverwandtschaften bezogen, von „Sebald`s Elective and Other Affinities“. (Sara Friedrichsmeyer: Sebald`s Elective and Other Affinities, in: Scott Denham / Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma, S. 77-89.) W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 137 f. Vgl. dazu Claudia Öhlschläger und Michael Niehaus in ihrem Vorwort: „Der Begriff melancholische Bastelei wird als komplementäre Kategorie zu dem der politischen Archäologie aufgefasst: Er charakterisiert die artifizielle, textinterne Dimension Sebaldscher Texte: Er markiert das Problem der Fiktionalität, das mit dem von Sebald in Anschlag gebrachten, an Lévi-Strauss orientierten Verfahren der Bastelei (bricolage) konvergiert. Damit ist zunächst einmal der Befund bezeichnet, dass die Tätigkeit des Schreibens eine Form von „wildem Arbeiten, von vorrationalem Denken“ ist, in der die Konstellierung „akkumulierter Fundstücke“ (Sebald) eine wichtige Rolle spielt. Dies bezeiht sich auf die Bildmaterialien, die Sebald in seine Texte einmontiert, aber auch auf die verschiedenartigsten Formen intertextueller Bezüge, die Sebalds Geschichten durchziehen und mit der Literaturgeschichte vernetzen.“ (in: Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 9.) Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 354. 60 Davon zeugt der Schwindel in seiner erwähnten vielfachen Bedeutung, den Sebald in seinen anthropologisch-psychologischen Charakterisierungen reeller und fiktiver Gestalten und in seinen labyrinthischen, wiederum Schwindelgefühl erregenden Fluchten durch verfallene und verfallende Natur- und Bau-Ruinen dem Leser so gekonnt heraufbeschwört. Ein transzendenter, melancholisch stimmender Sinn ist allenfalls auch noch in der Sartreschen Bedeutung auszumachen: Der Entwurf auf ein Sein hin, das man nicht ist, der Konflikt durch und mit dem Anderen, der prinzipiell der Tod meiner Möglichkeiten, der eilfertige Entwender meiner fliehenden Welt ist. Ähnlich wie Sartre das menschliche Dasein als eine immerwährende Flucht – in Form des stets zu modifizierenden Entwurfs auf ein zukünftiges Sein hin – des Bewusstseins vor seinem Sein auffasst und nur einen sehr dürftigen Rechtfertigungsgrund für die Existenz liefert, thematisiert auch Sebald in seiner Analyse des Döblinschen Werkes die „pathologische Rastlosigkeit“ „als Kennzeichen des organischen Lebens“. „Das Nomadische, der Wandertrieb zeigt sich als Fluch und Laster der menschlichen Existenz.“ 331 Sebald wird gewusst haben, wie zutreffend diese frühe Feststellung nicht nur für das Werk Döblins, sondern auch später für ihn selbst, den exilierten, fleissigen Wanderer und Wallfahrer an verstörende Orte im Wandel der zerstörerischen Zeit, ist. Zum Ausdruck kommt dieses „Paradigma“, als welches „Kafka und Canetti die Geschichte des jüdischen Volkes“ 332 verstanden haben mögen, in allen seinen späteren, überwiegend prosaischen Werken und bis ins Meisterhafte exemplifiziert in seinen hell-dunklen Bildern, die das letzte Prosawerk Austerlitz wie ein roter Faden durchziehen, gleichsam als ästhetisch-komplementäre „DNS“ des Sebaldschen Gesamtwerkes. 1.3 Max Horkheimer Sebalds Affinität zu Horkheimers Philosophie, lässt sich nicht so sehr an dem mit Adorno kooperativen Werk Dialektik der Aufklärung aufweisen, als viel mehr an einem im Jahre 1933 erschienen Aufsatz Horkheimers, Metaphysik und Materialismus 333 betitelt. In diesem Aufsatz wird unter anderem ein Thema angesprochen, das die Entsprechung in einem zweifachen Bestreben Sebalds hat: Die Geschichte kann auch zukünftig nicht als Fortschritt begriffen werden, da die Vernunft selbst materialistischen Zwängen und Wünschen, konkret also den gesellschaftlichen Zuständen unterworfen ist. Der Mensch wird demnach weiterhin von seiner Natur beherrscht, der Aufschwung zur Naturbeherrschung bleibt, wenngleich auch katastrophal, im wesentlichen erfolglos. Der Mensch, insbesondere W. G. Sebald in seinen Prosawerken, begibt sich dennoch auf die Suche nach Sinnstiftung, die trotz ihres immerwährenden Scheiterns in Form fehlgeleiteter Utopien und Eschatologien einen Reflex im metaphysischen Verstehensraum hinterlässt. Nicht anders bei Sebald, wie an der herausgearbeiteten Begrifflichkeit der „Metaphysik der Koinzidenz“ schon angedeutet wurde. Paradigmatisch hierfür ist Sebalds aus seinen „Anmerkungen zu Gottfried Keller“ herausgegriffener Satz, welcher das „hochgradig melancholische Kritzelwerk“ betrifft: „Die Kunst des Schreibens ist 331 332 333 Vgl. W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 105 ff. Ebenda, S. 105. Max Horkheimer: Materialismus und Metaphysik, S. 7-42, in: Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt am Main 62005. (Erstmals gedruckt in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang II, Leipzig 1933, Heft 1, S. 1-33.) 61 der Versuch, das schwarze Gewusel, das überhand zu nehmen droht, zu bannen im Interesse der Erhaltung einer halbwegs praktikablen Persönlichkeit.“ 334 Der Aufsatz Horkheimers ist nun – neben Herbert Marcuses Essay Philosophie und kritische Theorie 335 und wohlweislich auch seines Werkes Triebstruktur und Gesellschaft 336 – dazu geeignet, Sebalds oftmals irrational anmutenden Hintergrund seines Denkens und Schreibens – vielmehr in seiner eigenen Prosa, nicht so sehr in seinen literaturwissenschaftlichen Texten –, deutlicher hervorzuheben. Horkheimer selbst nämlich kann als Referenz zu Sebalds Werk betrachtet werden, weil er anschaulich den metaphysischen Raum ausleuchtet und das durch den Menschen hervorgebrachte Zerstörungspotential des irregeleiteten Materialismus benennt. Sebald fühlt sich, müsste er den zwischen Materialismus und Metaphysik eine Entscheidung treffen, paradoxerweise eindeutig zu letzterem hingezogen, was auch in seiner kritischen Auffassung eines etwaigen, vernunftgeleiteten Fortschrittsgedankens gegenüber zum Ausdruck kommt. Der Verlauf der Geschichte ist ja eben gerade nicht vernunftgeleitet, so Sebalds Fazit, dann hätte es nämlich ab der Französischen Revolution nicht zu solch menschengemachten Katastrophen wie den beiden Weltkriegen kommen dürfen. Es bleibt die Sinn-Suche, für Sebald wie auch für Döblin, und Sebalds Interpretation trifft durchaus auf ihn selbst zu: „Das Bedürfnis nach einem konkordanten System, in dem auch die Negation des Lebens und der Welt sinnvoll sich ausnähme, steht hinter Döblins anachronistischen naturphilosophischen Essays.“ 337 So sind auch Horkheimers etwas resigniert wirkende Worte über die Vernunft aufzufassen: Trotz aller Rückfälle, dunklen Perioden und Umwege ist es nach Kant der Weltgeschichte geheimer Sinn, zum Sieg der Vernunft zu führen. Mit ihr waren die Begriffe der Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit verknüpft. Sie galten Ideen, der die der Vernunft eingeboren sind, von ihr erschaut oder notwendig gedacht werden. Das Zeitalter der Vernunft ist der Ehrentitel, den das Bürgertum für seine Welt 338 in Anspruch nahm. Sebalds Arbeiten zu Döblin und Sternheim liefern genau eine solche Kritik der spätbürgerlichen Welt – inwiefern jene Vertreter mit Vernunft begabt sind oder nicht, ist für ihn irrelevant. Sebald vermutet unter anderem darin, daß Döblin im radikalen Sozialdarwinismus ein Zentralstück bürgerlicher Ideologie und eine jener Verhaltensnormen erkannt hat, welche die Inhumanität der von ihm beschriebenen Gesellschaft auch dann 334 335 336 337 338 W.G. Sebald: Her kommt der Tod die Zeit geht hin. Anmerkungen zu Gottfried Keller, S. 125 f., in: W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 95-126. Vgl. auch Herbert Marcuse: Philosophie und kritische Theorie, in: Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt am Main 21973, S. 102-127. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1970. Marcuse bekennt in seinem Vorwort, dass er sich hinsichtlich seiner „theoretischen Position [...] [s]einem Freund, Max Horkheimer, und seinen Mitarbeitern am Institut für Sozialforschung [...] verpflichtet“ fühlt. (S. 8.) Laut Reinbert Tabberts an mich schriftlich gerichtete Aussage war Sebalds von diesem Buch Marcuses sehr beeindruckt und auch nachhaltig beeinflusst. W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 98. Vgl. dazu Max Horkheimer: Vernunft und Selbsterhaltung, S. 271, in: Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, S. 271-301. (Erstmals in: Walter Benjamin zum Gedächtnis. Hektographiertes Typoskript. Institut für Sozialforschung (New York/Los Angeles) 1942, S. 17-60.) 62 noch perpetuierte, als die allgemeine Not der wirtschaftlichen Krise die Menschen aufeinander hätte verweisen müssen. 339 Döblin, so Sebald, liefert hier gleich selbst ein unrühmliches Beispiel mit, als er sich nämlich „in seinem Aufsatz Reims, der im Dezember 1914 in der für die liberale bürgerliche Kultur durchaus repräsentativen Neuen Rundschau erschien, zu geradezu erstaunlichen Haßtiraden“ verstieg. Man kann zu Recht fragen, warum sich die Menschen untereinander die zu erwartende Hilfe verweigerten und ob die Antwort eher dem fehlbaren System des Materialismus oder mehr der Metaphysik geschuldet ist: Und wie die Philosophie im Unterschied von der wissenschaftlichen Forschung stets auf dieses „Rätsel des Lebens … auf dieses Ganzes, in sich Verschlungene, Geheimnisvolle“ gerichtet ist, so betrachtet auch Dilthey selbst das Problem, was ich in der Welt soll, wozu ich in ihr bin, was in ihr mein Leben 340 sein wird, als dasjenige, welches „mich am meisten angeht“. Während Horkheimer anlässlich Diltheys Bestrebungen zur Kennzeichnung der philosophischen Systeme und der Weltanschauung selbst, feststellt, dass sie „ebenso wie Religion und ursprüngliche Metaphysik zu „Bedeutung und Sinn des Ganzen“ führen“ sollen, kann man diese Tendenz auch bei Sebald erkennen. Obwohl eines besseren belehrt und in seinen Analysen auch hervorragend herausgearbeitet, beharrt Sebald nicht nur in seinem biographisch-fiktivem Werk vehement auf einem metaphysischen System, nämlich dem der „Metaphysik der Koinzidenz“. Uwe Schütte stellt somit richtig fest, dass „das Ungreifbare, subjektiv Empfundene [...] für ihn eine ebenso relevante Kategorie wie das Dingliche [war].“ 341 Dies verband ihn offenbar, so Schütte weiter, unter anderem mit Autoren wie Peter Handke, dessen Roman Die Wiederholung Sebald mit der folgenden Bemerkung bedachte: „Es gibt offensichtlich heute kein Diskursverfahren mehr, in dem die Metaphysik noch einen Platz beanspruchen dürfte. Und doch hat Kunst, wo und wann immer sie sich wirklich ereignet, zum Bereich der Metaphysik den engsten Bezug. [...].“ 342 Dieses von Sebald forcierte Schaffen einer „halbwegs praktikablen Persönlichkeit“ mittels Transzendierung der philosophischen Systeme setzt im Allgemeinen ein autonomes Subjekt voraus, im besonderen aber, so Sebald, „bedarf der Schriftsteller einer nicht zu unterschätzenden Tapferkeit [...].“ 343 Das denkende und erlebende Ich steht demnach auch für Sebald in diskursiver Frage und mit ihm „der Sinn individueller Existenz“, wobei Döblin, folgt man Sebald, „auf die Kategorie des „Ursinns“ stößt, jenen ebenso großartigen wie nichtssagenden Begriff also, mit dem alle selbstvergessene Philosophie dem Dilemma ihrer Abstraktionen zu entgehen trachtet.“ 344 Wenngleich Sebald hier die Suche nach dem Ursinn verunglimpft, so ist sein Schaffen gerade auch dieser Suche zutiefst verpflichtet. Der von Sebald kritisierte „Ur-Sinn“ erhält vielmehr eine 339 340 341 342 343 344 W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 17. Max Horkheimer: Materialismus und Metaphysik, S. 7. Horkheimer zitiert hier aus Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Band VIII, Leipzig und Berlin 1931, S. 206 f. Uwe Schütte: Ein Lehrer. In memoriam W.G. Sebald, S. 61, in: Akzente. W.G. Sebald zum Gedächtnis, Heft 1/Februar 2003, München 2003, S.56-62. W.G. Sebald: Jenseits der Grenze – Peter Handkes Erzählung Die Wiederholung, S. 163, in: W.G. Sebald: Unheimliche Heimat, S. 162-178. Ebenda. W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 100. 63 schon sich anbahnende Antwort seinerseits, nämlich die „Metaphysik der Geschichte“, 345 samt der „Metaphysik der Koinzidenz“, die durch den Künstler annäherungsweise expliziert werden muss. 2. Existentielle Psychoanalyse auf das Sebaldsche Werk angewendet Es scheint – neben den in der Philosophie ohnehin schon bestehenden – durchaus weitere methodologische Vorbehalte zu geben, eine nur schwer theoretisierbare, den Geisteswissenschaften verpflichtete „Folie“, die „existentielle Psychoanalyse“ Sartres nämlich, auf das Leben und Werk eines engagierten Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers anzuwenden. Die akuten Vorbehalte liegen unter anderem darin begründet, dass Sartre seine „Folie“ bis zu einem gewissen Grade aus seinem eigenen Werk, insbesondere an Die Wörter festzustellen, subjektiv, ergo posteriori abgeleitet hat, um sie im weiteren als a priori, demnach allgemein anwendbar zu behaupten. Dieser scheinbar widersprüchliche Vorbehalt lässt sich aber andererseits in den Hintergrund drängen, pragmatisch aufgrund der positiven Leistung, die sie dem Anwender erbringen bzw. ermöglichen kann. Erst recht ermöglicht wird das hermeneutische Projekt durch die formale Erweiterung der „existentiellen Psychoanalyse“ mittels der „progressiv-regressiven Methode“, welche das Widersprüchliche sinnvoll, nämlich dialektisch aufheben lässt. Ähnlich wurde dieser Sachverhalt schon 1910 von Wilhelm Dilthey sehr zutreffend problematisiert: Der Punkt ist erreicht, an welchem sich nun Gesellschaft und Geschichte vor uns auftun. [...] Der einzelne Mensch in seinem auf sich selber ruhenden individuellen Dasein ist ein geschichtliches Wesen. Er ist bestimmt durch seine Stelle in der Linie der Zeit, seinen Ort im Raum, seine Stellung im Zusammenwirken der Kultursysteme und der Gemeinschaften. Der Historiker muß daher das ganze Leben der Individuen, wie es zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort sich äußert, verstehen. [...] Die logischen Subjekte, über die in der Geschichte ausgesagt wird, sind ebenso Einzelindividuen wie Ge346 meinschaften und Zusammenhänge. Sartre gab einige philosophisch-literarische Beispiele für seine Methode und auch für deren Weiterentwicklung. Der Analyse Sebalds dienend sind in dieser Absicht selbstredend und chronologisch entsprechend das philosophische Hauptwerk Das Sein und das Nichts, insbesondere das Kapitel Die existentielle Psychoanalyse, die autobiographische Form von Die Wörter und sodann die vielbändige Flaubertstudie, Der Idiot der Familie. In diesen Werken lässt sich ein gemeinsamer Punkt ausmachen, den auch, gleichsam stellvertretend für die Frankfurter Schule, Herbert Marcuse als zentralen Analyseaspekt erachtet hat. Dieser dürfte Sebald, freilich unter einem anderen Gesichtspunkt, nicht unbekannt gewesen sein: Die traditionelle Grenze zwischen der Psychologie einerseits und der politischen und der Sozialphilosophie andererseits ist durch die Lage des heutigen Menschen unscharf geworden: ehemals autonome und identifizierbare Prozesse sind durch die Funktion des Individuums im Staat übernommen und absorbiert worden – durch das öffentliche Dasein des Einzelnen. So wandeln sich psychologische in politische Probleme: private Verirrungen spiegeln heute in viel unmittelbarerer Weise die Verwirrung des 345 346 W.G. Sebald: Austerlitz, München und Wien 2001, S. 18 f. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt am Main 1981, S. 163 f. 64 Ganzen wider, und die Heilung persönlicher Störungen hängt viel direkter als ehedem von der Heilung 347 der Gesamtstörung ab. Marcuse hat sich von den Vertretern der Frankfurter Schule am intensivsten 348 mit Sartres Philosophie meinungsbildend auseinandergesetzt und sein Werk kritisch beurteilt. Horkheimer und Adorno wurden von Marcuse nur noch in ihrer überwiegenden Ablehnung bzw. kaum spürbaren Akzeptanz von Sartres „existentialistischer“ Philosophie bestätigt bzw. nur wenig dazu ermuntert. Sebalds mangelhaft fundierte Ablehnung des Existentialismus äussert sich unter anderem in seinem kritischen, Hans Erich Nossack, Hermann Kasack und Alexander Kluge gewidmeten Aufsatz Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. 349 Sebald thematisiert darin die literarisch oftmals geschilderte „Schuld“, den Holocaust überlebt zu haben. Er stellt dabei die zweiteilige These auf, „[...] daß aus der sogenannten „Bewältigung der Vergangenheit“ ohne den Beitrag von Autoren jüdischer Provenienz [Sebald nennt Elias Canetti, Peter Weiss und Wolfgang Hildesheimer; d. Verf.] wahrscheinlich nicht allzu viel geworden wäre.“ Dies würde sich laut Sebald daran zeigen, daß sich das von Nossack artikulierte Gefühl der Schuld in den Jahren nach dem Fall des 3. Reichs zunächst umgesetzt hat in eine weiterhin schicksalsgläubige Existentialphilosophie, die bemüht war, dem „Nichts“, „durch Haltung zu begegnen“ und ihren Begriff hatte in der Kategorie persönlichen Schei350 terns, in der auch Nossack „die uns gemäße Todesart“ erblickt. Sebald, der in philosophischer Hinsicht – wie nicht nur die Einlassung im Brief an Adorno und die kurze zitierte Passage zur Schuldfrage schon kenntlich machen – berechtigterweise auf die Seite der Frankfurter Schule zu schlagen ist, nimmt in dieser Analyse dennoch eine Zwischenstellung ein, die genauer definiert sein muss. So gilt es zum einen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Frankfurter Schule und der Philosophie Sartres zu benennen. 351 Zum anderen muss Sartres dem literarischen Werk zugrunde liegende Ästhetik – wie sie Sartre exemplarisch in Der Ekel tradiert hat – herausgestellt sein, so dass die Ergebnisse auf Sebald hin untersucht werden müssen. Sebald scheint zentrale Themen oder auch Philosopheme (neben Zerstörung unter anderem die Affektionen Ekel, Angst und Abgrunderfahrung betreffend) von Sartre be- und verarbeitet zu haben, 347 349 350 351 Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 7 Vgl. hierzu Herbert Marcuse: Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L`être et le néant, in: Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft, Bd.2, Frankfurt am Main 81970, S. 49-84. W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreiung totaler Zerstörung, in: W.G. Sebald: Campo Santo, München und Wien 2003, Herausgegeben von Sven Meyer, S. 69-100. W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreiung totaler Zerstörung, S. 79. Herbert Schnädelbach hat sich bereits vor zwanzig Jahren an diese Arbeit gemacht, die aber seitdem nicht fortgeschritten zu sein scheint, sieht man von einem Versuch neueren Datums ab. Arno Münster, Verfasser einer politischen Biographie über Ernst Bloch, nimmt den Faden wieder auf. Sein Beitrag Jean-Paul Sartre und die Verantwortung des Intellektuellen in der Gesellschaft führt aus, „[...] dass Ernst Bloch, Adorno, Herbert Marcuse und Sartre dennoch insofern wichtige theoretische Verbündete sind, als sie gemeinsam im theoretisch-politischen Kontext der 60er und 70er Jahre Front machen nicht nur gegen den dialektischen Hyper-Empirismus eines Gurvitch, sondern auch gegen den subjektfeindlichen Strukturalismus, den logischen Positivismus des „Wiener Kreises“ (Carnap, etc.) und die angelsächsische sprachanalytische Philosophie.“ (Arno Münster: Jean-Paul Sartre und die Verantwortung des Intellektuellen in der Gesellschaft, S. 31 f., in: Horst Müller (Hg.): Die Übergangsgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Kritik, Analytik, Alternativen, Norderstedt 22007, S. 12-35.) 65 auch wenn der intertextuelle Verweis nicht zu belegen ist. Dennoch kann an einem grossen Themenkomplex der Geschichte der bibliothekarische Nachweis gebracht werden, dass Sebalds Auseinandersetzung mit seinem Vater (und Großvater) von der Lektüre Sartres Die Wörter flankiert wurde. 352 Sebalds Zwischenstellung liesse sich demnach treffend beschreiben, indem man ihn und seine aufgeworfenen Problemfelder einerseits ontologisch von Sartre her auffasst, andererseits ihm den – sich selbst und die Gesellschaft – reflektierenden Blick der Frankfurter Schule unterstellt. Nun sieht man sich noch einem letzten Problem gegenüber, nämlich der biographischen Faktenund Datenlage. Sie wäre zu berücksichtigen ob der Frage, wie Sebalds verschriftlichtes Leben im Werk angemessen analysiert werden kann. Allerdings ist sie als noch nicht vorhanden zu beziffern, angesichts eines Lebens, von dem öffentlich zugänglich gemacht nur wenige Kenntnisse vorliegen. Die wenigen Kenntnisse, vor allem aus Interviews, müssen dazu dienen, aus dem literaturwissenschaftlichen und schriftstellerischen Werk heraus eine möglichst plausible Analyse anzusteuern, die den oftmaligen, zum Teil dreifachpotenzierten Erzähler aus den Prosawerken 353 mit dem Autor der literaturwissenschaftlichen Arbeiten identifiziert und vice versa. Chronologisch ist diese Form durchaus gerechtfertigt. Am Anfang der Universitätskarriere Sebalds steht nämlich zum einen der unerfüllt gebliebene Wunsch einer frühen Publikation seines autobiographischen Romans und zum anderen der kurze, Sebald frustrierende Zwischenstopp als Lehrer in einer privaten Institution in St. Gallen, dem Rosenberg-Internat. Es ist wohl anzunehmen, dass die Nichterfüllung der gehegten Hoffnungen umso mehr den Weg einer zunächst wissenschaftlichen Laufbahn begründen bzw. rechtfertigen musste, wie auch der dringliche Brief an Adorno vom 14. Dezember 1968 anzunehmen nahe legt. Das würde auch die irritierende Divergenz bezeugen, wonach nämlich das prioritäre, subjektive Befinden Sebalds dem allgemein-politischen Klima während der Studentenunruhen in Frankfurt und anderswo scheinbar ungeachtet vorangestellt wird. Während mit studentischer Wut der Disput zwischen Theorie und Praxis gegen Adorno und Horkheimer vorangetrieben wird, schlägt Sebald den Weg der Theorie ein, isoliert und gerade so, „als habe Sebald in jenen ereignisreichen Tagen jede Zeitungslektüre verweigert“, oder als „lebte [er] auf dem einsamen Eiland seiner privaten Sorgen und Nöte.“ 354 So liessen sich die beiden Wünsche – nach existenzsicherndem Ruhm und wissenschaftlicher Reputation – als komplementäre Antriebswege verstehen, aus denen heraus die dort jeweilige gemachte Lebenserfahrung beiden Disziplinen zugute kommen konnte. Der ästhetische Weg war allerdings noch nicht eingeschlagen, er sollte vielmehr über erste Lyrikpublikationen in der österreichischen Literaturzeitschrift Manuskripte angedacht werden. Die Analyse muss demnach davon ausgehen, dass Sebalds Gesamt-Werk nicht einem unbewussten Trieb oder einer frühen kindlichen Traumatisierung geschuldet ist, sondern seinem eigenwilligen Streben nach einer kommensurablen allgemeinen Welt, in die hinein er sich seit Kindestagen unverschuldet versetzt fühlt. Wie die Kindheit bis ins Gesamt-Werk ihre Spuren hinterlässt, muss anhand der autobiographischen Tendenz seines Schreibens eruiert werden. Die Tendenz ist sodann rückge- 352 353 354 W.G. Sebalds Ausgabe in der ins Deutsche Literaturarchiv Marbach übergegangenen Arbeitsbibliothek weist zahlreiche Spuren einer intensiven Lektüre auf. So weit mir der Einblick offen war, ist Sartres Die Wörter das einzige Werk von ihm, das sich im Besitz Sebalds befand. Das heißt, wenn der Erzähler1 dasjenige Gehörte vom Erzähler2 , der wiederum etwas über den Erzähler3 zu berichten weiß, vermittelt bekommt, dem Leser mitteilt. Vgl. allgemein zum Briefwechsel zwischen Sebald und Adorno: Marcel Atze und Sven Meyer: „Unsere Korrespondenz“. Zum Briefwechsel zwischen W.G. Sebald und Theodor W. Adorno, S. 32, in: Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren., S. 17-38. 66 koppelt an die eigenen Motive Sebalds, Literaturwissenschaftler und Prosaist gleichermassen zu sein. Darin liegt die etwas schwer durchführbare Trennung der beiden Disziplinen, so dass sich unvermeidlich im literaturwissenschaftlichen Werk Prosaisches und im Prosawerk Literaturwissenschaftliches findet. Diese gezielt vorgenommene Komplementierung dient vor allem dazu, eine ästhetisch betriebene Annäherung des Subjekts an die allgemeingültige „Wahrheit“ zu gewährleisten. 2.1 Analyse des literaturwissenschaftlichen Werks Sebalds literaturwissenschaftliches Arbeiten beginnt über einen zur damaligen Zeit wieder vielgeachteten und wiederentdeckten Autor, Carl Sternheim, dem Sebald zufolge ungerechtfertigter weise „eine Ehrenloge in der deutschen Literaturgeschichte eingerichtet wurde.“ 355 Ein anderer Schriftsteller, der durch Sebald seines Thrones enthoben werden wird, ist der Schriftsteller und spätere Arzt Alfred Döblin 356 . Der dritte namhafte Autor im Bunde, dessen Leben und Werk durch Sebald einer strengen Kritik – wie auch bei den beiden erst genannten vor allem ob ihrer ästhetisch-ethischen, politischen Haltung – unterzogen wird, ist Alfred Andersch. Der Aufsatz zu Andersch, abgedruckt in Luftkrieg und Literatur, fällt in das späte literaturwissenschaftliche Schaffen Sebalds. Das Urteil über ihn dient somit auch zur Überprüfung einer etwaigen Sebaldschen Kontinuität vom frühen bis zum späten literaturkritischen Werk. Mit den drei benannten Schriftstellern ist ein Schwerpunkt erkennbar, der vor allem auf negative, ablehnende Kritik Sebalds an den Protagonisten gerichtet ist. Sebald affirmiert aber umso mehr zahlreiche randständige Schriftsteller des deutschsprachigen Raums, so zum Beispiel die von ihm verehrten Schriftsteller Robert Walser und Gottfried Keller. Als zweiter Schwerpunkt muss demnach Sebalds literaturwissenschaftliches Arbeiten untersucht werden, das den Randständigen Autoren ein Wohlwollen entgegenbringt, eine positive Bewertung nicht nur des Werks, sondern auch des jeweiligen Menschen. Insbesondere an diesen Menschen, der Leben und Werk extrapoliert Sebald seine metaphysischen Konzepte. Die metaphysischen Konzepte wiederum sind Ausdruck auf die Frage nach der Sinn- und Bedeutsamkeit von „Welt“. Sie finden vor allem in Sebalds Prosa Eingang. 2.1.1 Falsches Bewusstsein und Verhalten Die zwei Haltungen sind nicht weiter fragwürdig, suspekt scheint eher der Umstand, dass der eine, Robert Walser nämlich, aufgrund seines Anstaltsrefugiums keine abwertende Würdigung erfährt, während dem anderen, Carl Sternheim zum Beispiel, trotz seiner verschiedentlichen Geisteserkrankungen eine eindrucksvolle Abneigung durch Sebald zu teil wird. Die kurze briefliche Korrespondenz mit Adorno liesse nämlich durchaus eine etwas gemässigtere Kritik an Sternheim zu, gerade auch „[...] nach allem, was [er ] aus [Adornos], Horkheimers und Marcuses Büchern und Aufsätzen gelernt ha355 356 W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 12. Reinbert Tabbert, der frühere Kollege und Freund Sebalds zu Beginn ihrer gemeinsamen Lektorentätigkeit an der Universität Manchester 1967, äußerte in einem Brief an mich, dass Sebald die Dissertation über Döblin „eine Last“ gewesen sei. Herrn Dr. Tabbert bin ich herzlichen Dank für seine wertvollen Hinweise schuldig. Sebald gibt anlässlich der Alfred-Döblin-Kolloquien (W.G. Sebald: Alfred Döblin oder die politische Unzuverlässigkeit des bürgerlichen Literaten, in: Werner Stauffacher (Hg.): Internationale Alfred-Döblin-Kolloquien 1980-1983, Bern, Frankfurt am Main, New York 1986, S. 133-139. (= Jahrbuch für Internationale Germanistik: Reihe A, Kongressberichte; Bd. 14)) unumwunden zu, dass es ihm auch später nicht gelungen sei, sich Döblin wohlwollend anzunähern bzw. gar seine Meinung über ihn zu revidieren. (Vgl. ebenda, S. 133.) 67 be.“ 357 Adorno gibt in seiner Antwort auf Sebalds „bescheidene Frage [warum Adorno ihn in den Minima Moralia „in einem für ihn ehrvollen Zusammenhang“ erwähnt; d. Verf.]“, 358 zu bedenken, dass der Ausfall Sternheims gegen Proust als Stellvertreter des „verkommenen Judentums in Frankreich“ 359 „[...] allerdings so scheußlich [ist], daß man ihn nun wirklich nur dem bereits geistig erkrankten Sternheim [...] zuschreiben möchte [...].“ 360 In den einleitenden Worten seiner 1969 publizierten Magisterarbeit über Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära, stellt Sebald ein von Samuel Beckett entnommenes Zitat voran, das als ein den Literaturwissenschaftler Sebald leitendes Motto in den folgenden drei Jahrzehnten konzentrierten Arbeitens erachtet werden muss. „For once on the first floor Watt lost sight of the ground floor, and interest in the ground floor. This was indeed a merciful coincidence, was it not, that at the moment of Watt`s losing sight of the ground floor, he lost interest in it also.” 361 Hier trifft nicht nur Beckett die Ironie und somit die Kehrseite der Melancholie, die auch Sebald eigen waren. Sondern er benennt auch die irratoniale und weitgreifende, mal nützliche, weil lebensdienliche (weisse oder helle), mal schadende, weil lebensschädliche (schwarze oder dunkle) Koinzidenz, die zumindest hilfreich erklären soll, was nicht zu erklären ist. Bei Sternheim wie auch bei allen anderen Schriftstellern wendet Sebald das für ihn fundamental zeichnende schwarz-weiße Deutungsmuster an. „Sternheim“, so Sebald, als ein Symptom seiner Zeit, [...] kritisiert die spätbürgerliche Welt. Und er verherrlicht sie, indem er das als negativ [E]rkannte unvermittelt hypostasiert und behauptet, jetzt sei es etwas Positives. Diese Koinzidenz von Abscheu und Bewunderung erklärt sich meiner Ansicht nach einzig aus dem Phänomen der Assimilation, das bei Sternheim durchaus pathologische Formen ang[e]nommen hat. 362 Sebald wird an Beckett festhalten, ihm treu bleiben und unter anderem auch ihm in Unerzählt, Resultat eines langjährigen Gemeinschaftsprojekts mit seinem Freund Jan Peter Tripp, seine hintersinnige Reverenz erweisen: Er wird Dich bedecken mit seinem Gefieder & unter seinem Flügel dann 363 ruhest Du aus. 357 358 359 360 361 362 363 W.G. Sebald an Adorno im Brief vom 24. April 1967. Vgl. W.G. Sebald – Theodor W. Adorno: Briefwechsel (1967/1968), S. 12, in: Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren., Eggingen 2005, S. 12-16. W.G. Sebald an Adorno im Brief vom 24. April 1967. Vgl. ebenda, S. 12. Carl Sternheim, zit. nach ebenda. Adorno an Sebald im Brief vom 28. April 1967. Vgl. ebenda, S. 14. Samuel Beckett, zit. nach W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 12. W.G. Sebald an Adorno im Brief vom 24. April 1967. Vgl. W.G. Sebald – Theodor W. Adorno: Briefwechsel (1967/1968), S. 12, in: Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren. W.G. Sebald und Jan Peter Tripp: Unerzählt. 33 Texte und 33 Radierungen, München/Wien 2003, S. 67. 68 Ein weiterer, ihn ab der Sternheimarbeit und auch in Zukunft leitender Gedanke, erfolgt durch die Antizipation der Forderung Horkheimers, dass „“gegenwärtig [...] bestimmte Grundeinsichten in das Wesen der Gesellschaft [...] bedeutsamer sind als der Besitz oder Nichtbesitz ausgedehntester Spezialkenntnisse“.“ 364 Hierin gründet Sebalds Entscheid zu einer die ausschliessliche Werkimmanenz ins Hinterlicht verdrängenden Methode der sozialgeschichtlichen, psychologischen, mithin biographischen Analyse von Werk und Leben seiner Protagonisten. Leben und Werk sind derart aufeinander bezogen, dass „falsches“ Bewusstsein bedingt zu inadäquatem Verhalten führt. Die Kritik an Sternheim, Döblin und Andersch führt die exemplarisch vor. So spricht Sebald von Sternheim auch als Täter und Opfer. Fraglich wird dieses Konzept als generalisierendes Urteil. Sebald zählt nämlich mit Andersch auch Heinrich Böll zu denjenigen deutschen Autoren, die einer adäquaten, ästhetisch-ethischen Beschreibung der Rolle Deutschlands vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht fähig waren. Insbesondere der, wie Sebald reklamierte, quasi schon mehrmalige Wiederaufbau Deutschlands unterlag einer Einebnung all dessen, was an die Untaten erinnerte. Durch die fehlende oder falsche Erinnerung, sowohl an die Untaten als auch an die erlebte Niederlage, parallelisiert Sebald vor allem in Luftkrieg und Literatur provokativ die Deutschen als Täter und Opfer. 365 Die historische Kontinuität von Carl Sternheim bis hin zu den nächsten Nachkriegsgenerationen ist frappant. Sebald müht sich, das pauschale Urteil falschen Bewusstseins und Verhaltens bei ausgewählten Autoren auf das heutige Deutschland zu übertragen. Dieser Versuch birgt logische Fehlschlüsse und wird jenen nicht gerecht, die „guten Willens“, unter anderem aufgrund der Leseerfahrung durch Böll und Andersch, ebenso versucht haben, sich der Wahrheit anzunähern. 2.1.2 Sebalds „Finte“ An dieser Stelle muss eine prosaische ,Finte` in Sebalds literaturwissenschaftlichem Schaffen benannt werden, die nicht von seiner Biographie abgelöst betrachtet werden kann, andererseits aber auch nicht strikt der Literaturwissenschaft zuzurechnen ist. Vielmehr äußert sich darin die bedeutungsoffene Situation Sebalds wider, dies vor allem ob Sebalds geschichtswissenschaftlicher Sozialisation. Somit dürfte ein Tribut anderer Art, – nämlich biographischer Natur und zugleich koinzidierte Intention Sebalds –, anzunehmen sein, den Sebald seit seiner Zeit als freiwilliger England-Emigrant Max Horkheimer zollt. Der historische Rahmen ist dabei klar umrissen. Adornos Minima Moralia wurde ihm, Horkheimer, dem eigentlich hinzu zuziehenden, aber durch die Wirrnissee des Zweiten Weltkrieges verhinderten Co-Autoren, gewidmet. „Für Max als Dank und Versprechen“ 366 , heisst es eingangs, und nun sofort kritisch werdend, „die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und 364 365 366 Max Horkheimer, zit. nach W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 20. Vgl. zu dieser nur am Rande erwähnten Debatte den Aufsatz von Ingo Wintermeyer: „... kaum eine Schmerzensspur hinterlassen ...“?. Luftkrieg, Literatur und „cordon sanitaire“, in: Sigurd Martin und Ingo Wintermeyer (Hg.): Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds, Würzburg 2007, S. 137-161. Theodor W. Adorno: Minima Moralia, S. 12. 69 am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben.“ 367 Es liegt nur allzu nahe, dass Sebald diesen Freundesdienst Adornos an Max Horkheimer dankenswerterweise ummünzte in seine eigenwillig durchgeführte Änderung des nun prononcierten Rufnamens Max. Maximilian war ursprünglich sein dritter Vorname. Das väterlicherseits vererbte Namenspaar Winfried Georg degradiert Sebald zu den wenig verräterischen Initialen W.G., für seine Freunde und Kollegen hingegen ist er nun einfach: Max. Max wird nun im mehrdeutigen Sinn „aufgehoben“ sein (nicht zuletzt in Sebald selbst), eine lebende Erinnerung am von Adorno gespendeten Dank und Versprechen auf dem Weg zur zusammengehörigen Ethik und Ästhetik, demnach bis zu Sebalds Unfalltod zu einer von Adorno eindrücklich eingeforderten und geklagten „Lehre vom richtigen Leben“. Max, diese einerseits ihm schon von Geburt an eingeschriebene, andererseits selbstbewusst-prononcierte, umgeschriebene Namensgebung, das wird zugleich, wie Mark M. Anderson feststellte, 368 eine Volte gegen das Elternhaus sein – wohl vor allem gegen seinen Vater – das er nun als Max für drei Jahrzehnte nicht mehr besuchen wird. Max, auch dies eine weitere, sein ganzes Leben klammernde Koinzidenz von der Namensgebung an bis hin zum Schluss von Austerlitz, das ist auch der Tribut an eine reale Person, die zum selben Zeitpunkt verschwindet, als – man denke an die Figur der „Wiederkehr der Toten“ - W.G. Sebald geboren wurde. Es handelt sich hierbei um Max Stern aus Paris, der durch „deutsche Hand“ nach Kaunas und dort ums Leben kam und der uns, gemeinsam mit anderen Gefangenen, „in die kalte Kalkwand des Bunkers geritzt“, „bloß ein Datum und eine Ortsangabe mit ihren Namen“ hinterließ: „Lob, Marcel, de St. Nazaire; Wechsler, Abram, de Limoges; Max Stern, Paris, 18.5.1944.“ 369 Eine letzte Namenskoinzidenz: Max, als Kurzform des Rufnamens Maximilians, tritt in Austerlitz über dies als Vater von Austerlitz auf, dessen Fluchtgeschichte von ihm nur mutgemaßt wird. Schon vor Austerlitz, in der vierten langen Erzählung in Die Ausgewanderten, spielt Sebald mit dem Datum, das an seine Geburt fast punktgenau heranreicht. Es handelt sich um die Bildunterschrift eines Passepartouts von Mrs. Irlam, das vom Erzähler auf den 17. Mai 1944 datiert geschildert wird und Mrs. Irlam als junges Mädchen bei der Heilsarmee zeigen soll, als er, von der Schweiz kommend, soeben und auf unbestimmte Zeit zu Forschungsarbeiten im Hotel Arosa in Manchester abgestiegen ist. Die vierte Erzählung ist demnach stark biographisch eingefärbt, so dass auch hier diese Koinzidenz von Sebald ganz darauf ausgerichtet zu sein scheint auf eine bedeutungstragende bzw. sinnstiftende Metaphysik. 367 368 369 Theodor W. Adorno: Minima Moralia, S. 13. Mark M. Anderson: Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind. W.G. Sebalds Dilemma der zwei Väter. Biographische Skizzen zu einem Portrait des Dichters als junger Mann, S. 35, in: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen 7/8 2006, S. 32-39. W.G. Sebald: Austerlitz, München und Wien 2001, S. 417. Für die Richtigkeit dieser drei Lebensjahrzehnte umspannenden Klammer spricht, dass laut Franz Loquai Sebald seine Quelle – einzusehen in Sebalds Arbeitsbibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach –, die die entsprechende Passage ausweist, „durch drei dicke Randstriche rechts der Datumsangabe markiert“ hat. (Vgl. hierzu Franz Loquai: Vom Beinhaus der Geschichte ins wiedergefundene Paradies. Zu Werk und Poetik W.G. Sebalds, S. 254, in: Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren., S. 244-256.) Beachtenswert ist die reflexive Verfassung und Gespanntheit Sebalds, der über drei Jahrzehnte seinen Hang bzw. seine selbstgewählte Koinzidenz oder auch Verwandtschaft zu Max kultiviert hat. Frappant ist auch der Ort: Paris, zugleich Wirkungsstätte Benjamins (und seines Passagenwerks); Benjamin, der auf der Flucht über die Pyrenäen auch die Nähe zum Inhaftierungslager Gurs, einem weiteren reellen Handlungsort aus Austerlitz, fürchten musste. 70 Erhärtet wird die angenommene biographische Relevanz des Datums, und überhaupt von Frau Irlam, gleichsam seiner Erretterin, durch die anschliessenden, die „Selbstmordgeschichten“ ins rechte Licht rückenden Erwägungen des Erzählers im jungen Erwachsenenalter: Darum vielleicht ist es mir, im Zurückdenken an die Zeit meiner Ankunft in Manchester, mehrfach so gewesen, als sei der von Mrs. Irlam, von Gracie – You must call me Gracie, hatte sie gesagt –, als sei der von Gracie mir auf mein Zimmer gebrachte Teeapparat, dieses ebenso dienstfertige wie absonderliche Gerät, es gewesen, das mich durch sein nächtliches Leuchten, sein leises Sprudeln am Morgen und durch sein bloßes Dastehen untertags am Leben festhalten ließ damals, als ich mich, umfangen, wie ich war, von einem mir unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit, sehr leicht aus dem Leben hätte ent370 fernen können. Nicht genug, erfährt der Protagonist der letzten langen Erzählung, Max Ferber, eine ähnlich koinzidierte Errettung wie der Erzähler. „Am 17. Mai [1939; der Verf.]“, so schildert Ferber seine zwar wohlgeordnete, ohne die Eltern aber äußerst dramatisch anfühlende Exilierung von Oberwiesenfeld aus, „dem fünfzigsten Geburtstag meiner Mutter [Luisa Lanzberg, der, auf historischen Daten fußend, die letzte Sequenz in der vierten langen Erzählung gewidmet ist; d. Verf.], brachten die Eltern mich auf den Flughafen hinaus.“ 371 Sebald gibt der grund- und sinnlosen Existenz also Bedeutung, indem er im besten Sinne Metaphysik betreibt: Max Ferber, der Maler und die mehr oder weniger authentischen und identitätschangierenden Erzähler- und Autor-Ichs, dürfen alle um den 17. Mai herum auf ihre und vor allem durch Frauen – der Topos des Mutter-Komplexes wäre nichts Fremdes in Sebalds psychologisch geschultem Repertoire – bewogene Errettung aus misslichen und unverschuldeten Lebens-Lagen zählen. Sie erleben sozusagen eine vorläufige, das heisst fragile, mit der Geburt des Autors nahezu perfekt überlagerte und erfolgreich transzendierte Wiedergeburt. Die Notwendigkeit der Existenz ist damit nicht ausgesagt, die Kontingenz des Daseins schon –und gerade darauf antwortet Sebald unter anderem mit Schwindelgefühl und Ekelevokationen im Sinne von Sartres Roman Der Ekel. Sebald hat, diesen Überlegungen zufolge, schon am Anfang seiner akademischen Karriere eine biographische, nicht nur mit der Vergangenheit des Vaters, sondern auch mit existentiellen Belastungen komprimierte Spur umgewandelt. Diese über 30 Jahre hinweg währende Fährte über das auf seine nahende Geburt datierte Bild Mrs. Irlams einerseits und im weiteren durch die Heranziehung der realen Person Max Sterns andererseits, kann oder muss letztlich als nochmals bekräftigt aufgefasst werden. Seine Vergangenheit, seine Abstammung machte er für sich derart ertragbar und für die Zukunft machte er sich diese Umwandlung ethisch-ästhetisch fruchtbar. Dies geschah unter anderem dadurch – bittere Ironie der Geschichte –, indem Sebald auf eine glückliche Koinzidenz zurückgreifen konnte, deren Entlehnung aber, nämlich die eigenmächtige Namensgebung Max, nicht weniger komprimitierend sein dürfte, konnte Adorno doch nur aufgrund des Zweiten Weltkrieges Horkheimer Minima Moralia widmen. Sicher, Sebald wähnt sich auf der richtigen Seite, um im weiteren Verlauf seine ins Werk gesetzte Koinzidenz, nämlich den Opfern gebührend, zu rechtfertigen. Gerade dadurch wird auch die Dialektik der Geschichte bzw. der Aufklärung erfahrbar. Wohin diese uns führen soll und kann, bleibt dennoch in Frage stehend. Prekär wird das 370 371 W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 224 ff. Ebenda, S. 279. 71 Opfer-Täter-Verhältnis dann, wenn man wie Sartre von der absoluten Freiheit des Individuums ausgeht. 2.1.3 „Lehre vom richtigen Leben“ An dieser frühen Stelle lässt sich wohl auch ein weiterer wichtiger biographisch motivierter Entscheid Sebalds ablesen, der während des Studiums in Freiburg im Breisgau gereift zu sein scheint. Indem Adorno sich von den benannten Fehlleistungen der Philosophie abkehrt, nimmt Sebald gerne auch dessen Position ein – und wendet sich nun zwar auch „der Lehre vom richtigen Leben“ zu, aber dies mittels der Literatur und deren fiktionalisierenden und methodischen, das heisst vor allem intertextuelle Chancen nutzenden Instrumenten. Die „Lehre vom richtigen Leben“, das heißt mit Marcuses Worten auch, den je „richtigen“ Blick auf die „Wirklichkeit des Menschen“ gerichtet zu wissen wollen. Welche Konsequenzen ziehen Sartre und Frankfurter Schule daraus? Sartre, und das sieht auch Marcuse korrekt, interpretiert die Wirklichkeit des Menschen im Hinblick auf seine absolute, individuelle und unmittelbare, unhintergehbare Freiheit. Er zieht sehr wohl in Betracht, dass der Mensch auch gesellschaftlich bedingt ist, in seiner soziologischen Konstituierung geradezu auf den Anderen angewiesen ist. Er betont aber doch die individuelle Möglichkeit des Menschen, sich – zumindest im Für-sich-Sein – wie auch immer zu diesen Bedingungen frei und also in einer Wahl sich äussernd, verhalten zu können. Marcuse indes bezweifelt diese absolute Freiheit, indem er betont, dass ein konkret versklavter Mensch eben nur dieses – unfrei – ist, nicht mehr und nicht weniger. Darum sieht Marcuse in der Affirmation dieser so verstandenen, persönlichen Freiheit den Sartreschen „Punkt der Selbstabdankung erreicht“, denn die bis heute andauernde Vertreibung des Menschen, die Gewaltakte gegen die Menschen und schliesslich: „die Verfolgung der Juden und „die Zangen des Henkers“ sind der Terror, der die Welt heute ist, sie sind die brutale Wirklichkeit der Unfreiheit.“ 372 Sebald stimmt mit Marcuse darüber ein, wenn er bei Carl Sternheim dessen Rede von der „eigenen Nuance“ nur als „Surrogat“ verstanden wissen will „im Prozeß des Zerfalls der Werte.“ 373 „Das Prinzip eines sich immer mehr verselbständigenden, unbedingten Individualismus“, laut Sebald der Katalysator dieses Zerfallprozesses, „erscheint in Sternheims Idee von der „eigenen Nuance“ als der neue Wert.“ Diese Idee umzusetzen versteht Sebald bei Sternheim gewissermassen als „Selbstbefreiung“. 374 „Jedermann, so geht der Tenor der Sternheimschen Theorie, kann seine eigene Situation transzendieren, seinen eigenen Entwurf ausführen, jedermann hat seine freie Wahl. Wie ungünstig die Bedingungen auch sein mögen, der Mensch muß sie hinnehmen [...] und aus dem Zwang seine Selbstverwirklichung machen.“ 375 Sebald wirft demnach das erkenntnistheoretische und moralphilosophische Problem dieser Verwirklichungstendenz eines jeden Individuums ähnlich wie Marcuse und Adorno auf. Seine deutlich zu vernehmende Abneigung gegen Sternheims „Theorie“ ist hier als Reflex zu verstehen, der von seiner an der Universität Freiburg im Breisgau langgehegten Aversion gegen Heidegger, und im weiteren auch gegen die „existentialistische“ Philosophie, herrührt. Mit Adorno teilt er dessen Aversion, wie folgendes Verdikt zeigt: „Lehrt der Existentialismus mehr als solche Tau- 372 373 374 375 Herbert Marcuse: Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L`être et le néant, S. 65. W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 43. Ebenda. Ebenda, S. 44. 72 tologie [von der determinierten Wahl der feien Wahl; d. Verf.], so macht er sich gemein mit der für sich seienden Subjektivität als dem allein Substantiellen.“ 376 „Eine Freiheit jedoch“, so Sebald, „die sich aus dem Opfer der Vernunft oder des Lebens ergibt, kann nicht mehr als das verstanden werden, was die Energie diese Wortes beinhaltet, denn beide Alternativen, aus denen sie derart sich herstellt, zerstören die Wirklichkeit des Menschen: seine Existenz.“ 377 Bei Adorno nicht anders: „Die Vorstellung absoluter Freiheit zur Entscheidung ist so illusionär wie je die vom absoluten Ich, das die Welt aus sich heraus entlässt.“ 378 Das Problem haben Sebald und Adorno, unabhängig davon, ob es auf Sternheim zutreffen mag oder nicht, richtig erkannt, doch eine befriedigende Antwort darauf bleibt aus. Die Notwendigkeit zu einer „faschistischen Ideologie“, die Sebald bei Sternheim sieht, ist nicht unbedingt gegeben, ebenso wenig muss die Feststellung zutreffend sein, „daß sich eine so verstandene Freiheit vorwiegend in Form von Brutalitäten und in einem Jargon äußert, der dem nazistischen im voraus schon verpflichtet ist.“ 379 Lassen sich die „eigene Nuance“ Sternheims und die „freie Wahl“ Sartres grosso modo auf einen Nenner bringen, sich nämlich auf etwas hin transzendieren zu können, was man nicht ist und auch nie sein kann, so kann doch allgemein nur das Scheitern jedweden Versuchs festgestellt werden. Die Bewertung dieses lebensalltäglich oder künstlerisch umgesetzten Versuchs, ob gemäss der „Lehre vom richtigen Leben“ falsch oder richtig, gelungen oder nicht, ob wider die Vernunft oder mit ihr, muss – und das ist das provokante Moment in Sartres Philosophie und Sebald zufolge wohl auch in Sternheims Werk – von Mal zu Mal aufs neue und konfliktbehaftet ausgehandelt werden. Für Adorno hingegen nicht, denn, so die Polemik: „Der Existentialismus befördert das Unvermeidliche, das bloße Dasein der Menschen, zu einer Gesinnung, die der einzelne wählen soll ohne Bestimmungsgrund der Wahl, und ohne daß er eigentlich eine andere Wahl hätte.“ 380 Herbert Schnädelbach bedauert, dass es zu Lebzeiten Sartres und Adornos nie einen Dialog gab. In Sartre. Ein Kongreß geht er dem Verhältnis tastend nach und versucht, „eine philosophische Beziehung“ zwischen der „Tradition kritischer Theorie im Umkreis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung“ und Sartre herzustellen. 381 Herbert Marcuse betont zu Recht in seiner Analyse von Das Sein und das Nichts den Wert des Werks als ein „Traktat über menschliche Freiheit“. 382 Doch „die Tatsache, daß Sartres Darstellung ontologisch korrekt und eine altehrwürdige Gestalt des Idealismus ist, akzentuiert nur die Ferne dieser Philosophie von der „Wirklichkeit des Menschen“.“ 383 Hier wird Schnädelbachs Einwand verständlich, der den Blick auf die „Wirklichkeit des Menschen“ gar nicht so divergent erachtet, wie es Marcuses Argumentation nahe zu legen scheint. Wichtig erscheint der Ausgangspunkt, der die Bedingungen der intersubjektiven, konfliktbehafteten Sozialpsychologie erhellen hilft. Der Ausgangspunkt liegt nämlich im Subjektiven und so stellt Schnädelbach treffend die Frage, 376 377 378 379 380 381 382 383 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 60. W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 44. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 60. W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 434. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 60. Vgl. Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule, S. 13, in: Traugott König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 13-35. Herbert Marcuse: Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L`être et le néant, S. 65. Ebenda. 73 ob man sich nicht auch aus anthropologischen Gründen mit dem „unglücklichen Bewußtsein“ identifizieren und mit Sartre sein Unglück als die notwendige Bedingung seiner Bewusstheit, seines Tätigeins und seiner Freiheit begreifen sollte. Dies liefe deswegen nicht auf eine Anthropologisierung der gesellschaftlich induzierten Entfremdung hinaus, weil nur ein Wesen mit jener existentiellen Grundstruktur 384 des Für-sich-seins und des Über-sich-hinaus-seins die Erfahrung von Entfremdung machen kann. Zumindest Sebalds unvermeidbar unbefriedigende Antwort liegt demnach im Kern der Sache, aber auch im starken Drang, überhaupt auf eine selektive Wertung zu bestehen. Es kommt nun hinzu, dass Sebald diese nicht ausschliesslich literaturwissenschaftliche Wertung ja selbst vermitteln will. Seinem Wunsch folgend, ebenfalls als Autor von Prosa und Lyrik sich etablieren zu können, sieht er vor allem darin jenes Moment gegeben, seine „eigene Nuance“ auf die Vermittlung „der Lehre vom richtigen Leben“ zu verwenden. Dieser Vermittlungsprozess aus den Lebenserfahrungen einerseits, aus den gewonnenen Einsichten der literaturwissenschaftlichen Arbeit – aufgrund seines geisteswissenschaftlichen Hintergrundes – andererseits, ist nun die eigentliche Antwort Sebalds, welche sich in den erzählerischen Werken manifestiert. Über diese Werke erst kann sich der Erfolg seiner literaturwissenschaftlichen Detailarbeit einstellen, erst mit ihm wird Sebald Ruhm und Anerkennung zuteil, der ihm als Wissenschaftler versagt geblieben wäre. 2.2 Analyse des schriftstellerischen Werks 2.2.1 Schwindel, Ekel: eine Grundstimmung Der den Ekel vor der sinnlosen Existenz beschwörende Abgrund, wie am Ende vom zweiten Kapitel in 1.1 angedeutet wurde, scheint sich in offensichtlich in Sebalds Werk durchgehend aufzutun. Er wird wiederholt von Sebald inszeniert, wie ein scheinbar belangloser und eine Reise ans Meer einleitender Satz in der dritten Erzählung in Die Ausgewanderten nahe legt: „Tatsächlich konnte man draußen meinen, es sei am Nachtwerden, so tintenschwarz und so tief hing der Himmel herab.“ 385 Der Höhepunkt der Reise wird von Onkel Kasimir beschlossen. Dieser „blieb stehen und schaute auf das Meer hinaus. Das ist der Rand der Finsternis, sagte er. Und wirklich schien es, als sei hinter uns das Festland versunken [...].“ 386 Sebalds Art und Weise, das Grauen und das Abgrundhafte, die sowohl mit dem Erleben des Schwindels als auch mit dem des Ekels einhergehen, ästhetisch erfahrbar zu machen, wird die Verwendung von Bildern – einerseits von schwarz-weissen Fotographien und andererseits von hellen und dunklen „Bild-Wörtern“, gemäss Sartres Charakterisierung des sie generierenden Künstlers bzw. Dichters – sein. Als eindrückliche Steigerung des unmittelbaren und ekelerregenden Gewahrens der bodenlosen Tiefe wird von Sebald dem Leser das Erlebnis des Malers Max Ferber (Koinzidenz hin oder her) vor Augen geführt, als dieser, der Protagonist der vierten langen Erzählung in Die Ausgewanderten, sich auf einer seiner wenigen Reisen seit seiner Jugendjahre in die Schweiz befindet, um die ihm bei der Malerarbeit so oft vorschwebenden Isenheimer Bilder Grünwalds und insbesondere das von der Grablegung in Wirklichkeit zu sehen [...]. Dabei begriff ich allmählich, auf die durchbohrten Leiber 384 385 386 Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule, S. 29. W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 125 f. Ebenda, S. 129. 74 schauend und auf die vor Gram wie Schilfrohr durchgebeugten Körper der Zeugen der Hinrichtung, daß an einem bestimmten Grad der Schmerz seine eigene Bedingung, das Bewußtsein, aufhebt und somit sich selbst, vielleicht – wir wissen sehr wenig darüber. Fest steht hingegen, daß das seelische Leiden praktisch unendlich ist. Wenn man glaubt, die letzte Grenze erreicht zu haben, gibt es immer noch wei387 tere Qualen. Man fällt von Abgrund zu Abgrund. Nach einer längeren, wiederum offensichtlich biographisch eingefärbten Ausführung Sebalds, kommt sodann einmal mehr die Rede auf Ferber und seine in München zugebrachte Kindheit um das Jahr 1933 herum. Weiter als bis zum neunten Lebensjahr, so Ferber, würden seine Erinnerungen nicht zurückreichen, was wohl „mit dieser Einbuße oder Verschüttung der Sprache zusammen[hängt]“. Selbst von der Zeit danach sei ihm „kaum etwas anderes erinnerlich [...] als die Prozessionen, Umzüge und Paraden, zu denen es offenbar immer einen Anlaß gegeben hat.“ Als staunender Beiwohner dieser Szenen, „es war, als entfalte sich unmittelbar vor den Augen der Zuschauer eine neue Menschenart nach der andern“, überkam Ferber eine zutiefst reichende, existentielle Erfahrung, als er sich nämlich, als der vermeintlich Andere und Jude, der er war, sich ausgeschlossen fühlen musste aus diesem kommenden, neuen Menschenverbund der Blut-und-Boden-Mythologie. „Gleichermaßen erfüllt von Bewunderung, Zorn, Sehnsucht und Ekel, habe ich zunächst als Kind und dann als Heranwachsender stumm in der je nachdem jubelnden oder von Ehrfurcht ergriffenen Menge gestanden und meine Unzugehörigkeit als eine Schande empfunden.“ 388 „Ekel“, so charakterisiert ihn Winfried Menninghaus sehr zutreffend, „heißt eine der heftigsten Affektionen des menschlichen Wahrnehmungssystems. [...] Er ist ein Alarm- und Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und Kampf, in dem es buchstäblich um Sein oder Nicht-Sein geht.“ 389 In Austerlitz wird Sebald den gleichnamigen Erzähler sinnbringende Einlassungen Maries schildern lassen, wie der Ekel sich steigern lässt „[...] in eine regelrechte medizinisch-diagnostische Wortkoloratur hinein [...].“ 390 Marie und er verbringen gemeinsame Tage in Marienbad und Austerlitz wird angesichts dieser scheinbar intimen Bekanntschaft einer Erlösung von seinem Leiden an der Existenz, da er doch „sozusagen aus dem Nirgendwo stammte“, 391 so nahe wie nie mehr wieder kommen. Dieser Annäherung ging Maries Rede „von den Mineralbrunnen und den sogenannten Auschowitzer Quellen“ voraus, von denen sie behauptete, so Austerlitz, daß sie sich besonders empfohlen hätten bei der in der Bürgerklasse damals weitverbreiteten Fettleibigkeit, bei Unreinigkeiten des Magens, Trägheit des Darmkanals und anderen Stockungen des Unterleibs, bei [...] gichtischen Leiden, Milzhypochondrie, Krankheiten der Nieren, Blase und der Urinwerkzeuge, Drüsengeschwüren und Verformungen skrofulöser Art, aber auch bei [...] Zittern der Glieder, Lähmungen, Schleim- und Blutfüssen, langwierigen Hautausschlägen und beinahe jeder anderen nur denkbaren 392 krankhaften Affektion. 387 388 389 390 391 392 W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 252 ff. Ebenda, S. 271 f. (Kursivsetzung durch den Verfasser) Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 7. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 299. Ebenda, S. 369. Ebenda, S. 299 f. 75 Sebald hat, ohne es wohl recht zu wissen – und folgt man dieser Lesart, die Sebald selbst vor allem bezüglich Kafkas Werk als unzureichend vehement verwarf, 393 – mit seinen Geschichten von Ausgewanderten und Vertriebenen nicht so sehr eine Studie zu Heimat und Exil, zu Vertreibung und Holocaust zustande gebracht, als viel mehr eine genaue Beschreibung einer dem Menschen wesentlichen Erfahrung, nämlich des Ekels, so wie er auch von Sartre in seinem gleichnamigen Roman ausgelotet wurde. Gerade dann, wenn die Protagonisten und der autobiographisch klingende Erzähler versuchen, ihr Leben auf einen subjektiven Erkenntnisgrund hin zu reflektieren, kumulieren sich diese in der Wahrheit der Abgrunderfahrung, dass nämlich nichts das Leben hinreichend rechtfertigen kann. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Nähe Sebalds zu Benjamin jene zu Sartre nicht automatisch ausschliesst, sondern dass es sich um anthropologisch kohärente Überlagerungen handelt, die von Anfang mitgedacht gehören. Anzunehmen wäre gar, dass Sebald Benjamins Bemerkungen über den Ekel bekannt waren. 394 Vor allem Schwindel. Gefühle., Die Ausgewanderten und auch Austerlitz liessen sich dann erst recht als eine Ästhetisierung dieses Gefühls deuten, auch als Sebalds Antwort auf seine gemachten Lebenserfahrungen als Kind und im jungen Erwachsenenalter. Ihre Fortsetzung – und zugleich ihren Abschluss – findet die Ästhetisierung des Ekels vor der kontingenten Existenz in Austerlitz. Die Erfahrung könne jemanden schier um den Verstand bringen, besonders nach dem Betreten eines gleichsam konservierten Raumes, der an die Kindheit erinnern lässt. Sebalds in allen Werken präferierte Form der potenzierenden Erzählerformationen ermöglichen ihm viele fiktive Zwischenschritte, die Erfahrung doch als allgemein menschlich kommensurabel zu machen. Nun erzählt Austerlitz (Potenz2) die Geschichte von Ashman3, dem sich wiederum laut seiner selbst verlautbarten Version beim Betreten seines ehemaligen Kinderzimmers „der Abgrund der Zeit“ aufzutun schien. Im Anschluss, vom Erzähler1 gebündelt, wird die Abgrund-Erfahrung ins Allgemeine gehoben: Ashman und Hilary, Iver Grove und Andromeda Lodge, woran ich auch denke, sagte Austerlitz, während wir über die dunkler werdenden Grashänge des Parks hinabstiegen zu den in einem weiten Halbrund vor uns aufgegangenen Lichtern der Stadt, alles löst in mir eine Empfindung des Abgetrenntseins 395 und der Bodenlosigkeit aus. 393 394 395 Vgl. hierzu unter anderem die Magisterarbeit Sebalds über Carl Sternheim. Darin will Sebald „Kafkas Versuch einer Legitimation seines Aufenthalts im Dasein“ nicht als primär existentiell verstanden wissen, sondern als „Äußerung[] des aus der Notwendigkeit einer zweiten Assimilation entstehenden Bewußtseins der Entfremdung des Individuums von seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit [...].“ (W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 49.) Sebald unterlässt es, den von ihm argwöhnten Schritt zu tun und die primär existentielle und gesellschaftlich bedingte sekundäre Entfremdung als zusammengehörig zu denken, so wie es bei Sartre der Fall sein wird. Vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 9. Benjamin, der auch, laut Menninghaus, „den Ekel zu einem nicht wegzudenkenden Muster menschlicher Subjektivität erklärt“ hat, schreibt dazu: „Zur Theorie des Ekels. Es gibt keinen Menschen, der frei von Ekel wäre; nur das ist denkbar, daß einer nie im Leben dem Anblick, dem Geruch oder sonstigen Sinneseindruck begegnet, der seinen Ekel hervorruft.“ (Walter Benjamin: Zur Moral und Anthropologie, S. 88, in: Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 54-89, zit. nach Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, S. 9.) Es gilt hier zu beachten, dass Sebald an dieser Stelle nicht, wie im Benjaminschen Duktus, den Ekel vor etwas affirmiert, sondern vielmehr den Ekel, wie er bei Sartre dargelegt wird, der Ekel also vor der sinn- und grundlosen, gar beschämenden Existenz. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 157. 76 Wird hier Ekel wie ein Gefühl des Schwindels evoziert, so gibt Sebald auch eine andere Variante des Abscheus wider. Unter anderem in Die Ausgewanderten, in der vierten langen Erzählung, wird Sebald sehr wohl noch den Ekel im gewöhnlicheren Sprachgebrauch beschwören, der den Erzähler hier während einer Zugreise befällt: Mir gegenüber hatte sich, obschon sonst genügend Platz war, ein dicker, querschädliger Mann von vielleicht fünfzig Jahren hingehockt. Er hatte ein rotfleckig angelaufenes Gesicht und sehr engstehende, etwas einwärts verdreht Augen. Schwer vor sich hin schnaufend, wälzte er in einem fort seine unförmige Zunge, auf der sich noch Essensreste befanden, in seinem halboffenen Mund herum Die Beine gespreizt, saß er da, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in eine kurze 396 Sommerhose. 2.2.2 Bildlichkeit: ein permeables Verknüpfungselement Ein nicht zu vernachlässigender, wenn nicht der wegweisende Aspekt schlechthin, von Anfang an in allen Sebalds Prosa-Werken prominent und wohl von seiner literaturwissenschaftlichen Beschäftigung und seiner an der Frankfurter Schule gereiften Sozialisation abgeleitet, ist die Bildlichkeit, das Zitieren und Einmontieren von Schwarz-Weiss-Photographien – von der wortmächtigen bildlosen Bildbeschreibung mal ganz abgesehen. Neben der viel zitierten Retardierung der Sprache einerseits und des Lesens andererseits, war sie Sebald auch als Mittel, als (vielleicht letztes) ästhetisches Prinzip dienlich, seine ironisierende, dennoch resignative „Metaphysik der Koinzidenz“ – die wegweisend bereits am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere stand - plausibel zu machen. Ein Blick auf einen einflussreichen Autor, nämlich Roland Barthes, den Sebald gleichermassen affirmiert 397 wie jener wiederum Jean-Paul Sartre, ist demnach angebracht, um Sebalds Verwendung von Bildlichkeit besser einordnen zu können. Bildlichkeit im Text ist kein neues Phänomen. 398 Sebald beruft sich unter anderem affirmativ auf Roland Barthes` Ausführungen zur Photographie in der Schrift Die helle Kammer, 399 die Barthes nicht umsonst Jean-Paul Sartres phänomenologischem Aufsatz Die Imagination gewidmet hat. „Bei der Suche nach der PHOTOGRAPHIE“ nämlich, so Barthes, „half mir also die Phänomenologie ein 396 W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 328. 397 Im Interview mit Christian Scholz spricht Sebald von dem „schönen Barthes-Text“. (W.G. Sebald und Christian Scholz: Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Ein Gespräch über Literatur und Photographie, S. 2.) Die Aussage aus dem Interview und die Bezugnahme auf Barthes in Unheimliche Heimat und Logis in einem Landhaus deuten zunächst nur geringes Antizipieren des Barthes-Textes an, bei näherem Besehen des Sebaldschen Werkes aber wird deutlich, dass bei Sebald ausführlichst die theoretischen Bemerkungen zur Photographie rezipiert werden, wenngleich auch diese von Sebald nicht immer als solche ausgewiesen werden. Eine Belegstelle hierzu ist die geschilderte „Rekonstruktion“ einer „von blinden Flecken durchsetzte[n] Vergangenheit“ durch den Protagonisten Paul Bereyter in Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 80. Sie korrespondiert unmittelbar mit einem Qualia des punctums bei Barthes, dem „blinden Feld“ bzw. die „ZEIT“. (Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, S. 105 ff.) Die Rede vom „schönen Barthes-Text“ scheint daher eher eine die Wichtigkeit des Textes verdeckende Untertreibung zu sein. Vgl. hierzu Markus R. Webers Beitrag Die fantastische befragt die pedantische Genauigkeit. Zu den Abbildungen in W.G. Sebalds Werken, S. 63 f., in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, W.G. Sebald, S. 63-74. Weber betrachtet ausschliesslich die deutschsprachigen Autoren und Theoretiker, die Bilder in ihren Texten konstitutiv verwenden, so unter anderem Kluge, Brinkmann und Handke. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989. 398 399 77 Stück weit mit ihrer Zielsetzung und mit ihrem sprachlichen Instrumentarium aus.“ 400 „Am Anfang“ seiner Untersuchungen, stellte Barthes fest, war da ein Paradox, dem ich nicht entkam und auch nicht zu entkommen suchte: auf der einen Seite der Wunsch, endlich einen Wesenszug der PHOTOGRAPHIE benennen zu können und damit die Umrisse einer eidetischen Wissenschaft vom photographischen Bilde zu skizzieren; auf der anderen Seite das unbeirrbare Gefühl, die PHOTOGRAPHIE sei wesentlich, wenn man so sagen kann (ein Widerspruch 401 in den Begriffen), nichts anderes als Kontingenz, Einzigartigkeit, Abenteuer [...]. Bei Barthes gibt es zum einen zwei unterschiedliche Momente beim Beschauen einer Photographie, jenen des studiums und jenen des punctums, die nicht unbedingt gleichzeitig auftretend an einer Photographie festgemacht werden müssen. Der Beschauer selbst, der spectator in der Barthesschen Terminologie, rückt zum anderen ebenso ins Zentrum des Interesses, geht von ihm als Betrachter doch das subjektive Begehren aus, das vom Photographen bzw. dem operator Geschaffene und zu Betrachtende bzw. das spectrum, zuerst zu selektionieren, um es dann im weiteren zu definieren, zu studieren. Das vom Betrachter ausgehende Studium von Photographien, beispielsweise „als Zeugnisse politischen Geschehens“ oder „als anschauliche Historienbilder“, fungiert als begriffliches Korrelat zum menschlichen Interesse. Es bedeutet für Barthes „Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit.“ 402 Das punctum hingegen qualifiziert Barthes als ein aktives, nun das zweite und das wahre Wesen einer Photographie ermöglichende Moment des Photos. Dieses zweite „Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. [...] Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich auch verwundet, trifft).“ 403 Die meisten Photographien, die man zu Gesicht bekommt, regten nur zum studium an, und selbst ein punctum initiierendes Photo ist äussert vage ob des inhärierenden absoluten subjektiven Charakters: Denn den einen trifft es, den anderen nicht. Barthes erläuterte diese sehr gut an dem Sachverhalt, dass auf einem lange gesuchten Photo, dem Photo nämlich seiner verstorbenen Mutter im Kindesalter von fünf Jahren, für ihn dasjenige Wesen sich manifestierte, was für uns „nichts als ein belangloses Photo [...] des absolut beliebigen „Gegenstands überhaupt““ 404 wäre. Auch das, was trifft, ein „Detail“, ein „blindes Feld“ oder, als ganz wesentlich, die ZEIT, 405 wie Barthes ausführt, ist mitunter von (reflektierender) Betrachtung zu Betrachtung changierend. Auch eine gewisse Latenz des punctums kennzeichnet die Besonderheit dieser einen PHOTOGRAPHIE. Mittels des punctums erfolgt eine approximative Verengung des Photos auf sein wahres „Wesen“, seine wahre Natur hin. Im besten Falle stellt sich eine Identität ein, ein in sartrescher Manier beschworenes „An-und-Für-sich des Körpers“ 406 des Referenten, vulgär die Einheit von Physis und Psyche, ohne Bewegung im Moment des Betätigens des Auslösers. Barthes spricht daher nicht nur im Hinblick auf die Kindphotographie 400 401 402 403 404 405 406 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, S. 29. Ebenda. Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 35 f. Ebenda, S. 83. Ebenda, S. 105 ff. Ebenda, S. 89. 78 seine Mutter von der mehr transzendentalen als transparenten „Emanation des Referenten“, 407 sondern im Blick auf die „PHOTOGRAPHIE [...], wörtlich verstanden“, 408 im Allgemeinen. Die „Pose“, das mögliche maskenhafte, das Wesen und das unmöglich An-sich-Seiende verhüllende und oftmals gerade bevorzugte Verhalten des spectrums, wird bestmöglich und dennoch „ungekünstelt“, das heisst in gewisser Weise zufällig, gebannt. Neben dieser Eigentlichkeit betont Barthes zwei diesbezüglich auch W. G. Sebald tangierende Eigenschaften. „Stets“, so Barthes, „versetzt mich die PHOTOGRAPHIE in Erstaunen, [...] dieses Beharren tief in die religiöse Substanz, aus der ich geformt bin.“ 409 Und aus diesem Staunen heraus ergibt es sich, daß sie [die PHOTOGRAPHIE; der Verf.] die fundamentalen Fragen an mich richtet: warum lebe ich hier und jetzt? [...] Es ist die Art von Fragen, die mir die PHOTOGRAPHIE stellt: Fragen, die einer „dummen“ oder simplen Metaphysik entstammen (die Antworten sind das Komplizierte daran): wahr410 scheinlich die wahre Metaphysik. Eine weitere Faktizität scheint gegeben in der Aussage, dass mit dem Anfertigen des photographischen Bildes nicht mehr und nicht weniger über das Motiv ausgesagt wird als: „“Es-ist-so-gewesen“.“ 411 Warum? Wie ist es gewesen? Fragen, die zu Romanen und langen Erzählungen anregen können, Fragen, die zu beantworten dem spectator wichtig sein können angesichts der betretenen „Ebene des gewöhnlichen TODES.“ 412 In jedem Falle wird sich an dieser Doppelung, die das Vergangene als Reales in einem Bild bedeutet, der sinngebende und der „der religiösen Sphäre“ 413 entwundene Ton zeigen, der ihr zugrunde liegt: Die Melancholie. Sie gilt als Tribut im Hinblick auf den TOD und den von ihm verursachten Schrecken: daß es nichts zu sagen gibt über den Tod des Menschen, den ich am meisten liebe, nichts über sein Photo, das ich betrachte, ohne es je ausloten, umwandeln zu können. Der einzige „Gedanke“, zu dem ich fähig bin, ist der, daß am Grunde dieses ersten Todes mein eigener Tod eingeschrieben ist; zwischen diesen beiden bleibt nichts als das Warten; mein einziger Rückhalt ist diese Ironie: darüber zu 414 sprechen, daß es „nichts sagen gibt“. Diese Ironie mag man auch bei W.G. Sebald zu vernehmen meinen, gemessen an seiner Aussage, dass Photographien „einen Sog auf den Beschauer ausüben und ihn sozusagen auf diese ganz ungeheure Art herauslocken aus der realen Welt in eine irreale Welt [...]“ 415 des unausweichlichen, gewöhnlichen Todes. Aus dieser irrealen Welt vermeint nun Sebald so manches Mal einen Wink vernehmen zu können, einen Gruss aus dem nebulösen, verschwommenen Reich der Toten, eine – paradoxerweise – schmerzende Erinnerung an den nahenden Tod im Realen. Sebalds ineinandergeschlungenes Leben und Werk liessen sich somit, zumindest oberflächlich besehen, als eine reflektierte Repräsentation der den Menschen zur Verzweiflung bringenden „Krankheit zum Tode“ Kierkegaards verstehen. Dieser 407 408 409 410 411 412 413 414 415 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, S. 90. Ebenda. Ebenda, S. 92. Ebenda, S. 95. Ebenda, S. 87, 89, 104 ff. Ebenda, S. 103. Ebenda. Ebenda. W.G. Sebald und Christian Scholz: Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Ein Gespräch über Literatur und Photographie, S. 2. 79 Bezug scheint umso plausibler, als auch Sebald in seinem Vorwort über Sternheim mit Kierkegaard vermeinte, dass „“es eben eine Form von Verzweiflung ist, nicht verzweifelt zu sein, sich nicht bewußt zu sein, daß man es ist“.“ 416 So auch dann, wenn in Die Ausgewanderten die Rede auf „Pauls Augen“ zu sprechen kommt: „Anfang 1982 begann der Zustand von Pauls Augen sich zu verschlechtern. Bald sah er nur mehr zerbrochene oder zersprungenen Bilder.“ 417 Diese erneut in Austerlitz betriebene Doppelung der Repräsentation – der der Zerstörung inhärente, metaphysische Tod des Motivs und materielle Tod der Fotographie – scheint ihm ein geeignetes Verfahren zur Annäherung auch an die doppelte Kontingenz des Daseins, das heißt sowohl des Lebens als auch des Todes. Diesbezüglich äußert sich Sebald in Unheimliche Heimat, dass „Barthes` Konjektur [„daß jede Photographie unabweisbar das Zeichen eines zukünftigen Todes in sich trägt“, so Sebald; d. Verf.] doppelt wahr [ist], denn wir wissen nicht, was aus dem Besitzer dieses Kramladens geworden, nur daß er, mit Sicherheit fast, eines unzeitigen und gewaltsamen Todes gestorben ist.“ 418 Sebalds Verwendung der Bildlichkeit, insbesondere seiner bevorzugten Heranziehung von Schwarz-Weiß-Bildern lässt sich aber nicht ausschließlich auf Barthes` Verweis zurückführen. Sebald will es ja nicht dabei belassen, dass etwas-so-gewesen-ist, sondern sucht unter anderem auch mit Alexander Kluge nach Antworten auf die Frage, warum etwas hat so-sein-können. 419 In der bisherigen Rezeptionsleistung wurde dies unterschlagen, wenngleich auch Heiner Boehncke in seinem Aufsatz Clair obscur. W.G. Sebalds Bilder 420 versucht hat, über die Referenz auf Barthes Bemerkungen zur Photographie hinauszugehen. Ein detaillierter Versuch, Sebalds Verwendung der Bildlichkeit wesentlich umfangreicher und fundierter zu erklären, wurde bereits im zweiten Kapitel unternommen, der vor allem Sebalds geschichtswissenschaftliche Sozialisation und deren Implikationen zum Gegenstand hatte. Eine hier zu nennende, der ZEIT nahestehende Implikation, vermittelt Barthes` Auffassung von Historie: Die GESCHICHTE nämlich. Gemäss Barthes, „ein nach positiven Regeln konstruiertes Gedächtnis, ein rein intellektueller Diskurs, der die mythisches ZEIT auslöscht; und die PHOTOGRAPHIE ist ein sicheres, jedoch vergängliches Zeugnis [...]“ für „[...] das Zeitalter der Revolutionen, der Zwistigkeiten, der Attentate, der Explosionen, kurz: der Ungeduld und all dessen, was 416 417 418 419 420 Sören Kierkegaard, zit. nach W.G. Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der wilhelminischen Ära, S. 11. W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 88. In Austerlitz wird der Erzähler eine ähnlich einschneidende Erfahrung einer eingeschränkten Sehfähigkeit, den Prozess der Diagnostik und der Behandlung machen. Die Behandlung, so wird implizit angesprochen, liefe auf weniger Lesen und weniger Schreiben hinaus. „Und jetzt, indem ich dies niederschreibe, sehe ich auch wieder die kleinen Lichtpunkte, die bei jedem Druck auf den Auslöser in meinen weit aufgerissenen Augen zersprangen.“ (Vgl. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 55 f.) W.G. Sebald: Unheimliche Heimat, S. 63 f. Vgl. hierzu W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreiung totaler Zerstörung, S. 89 ff., in: W.G. Sebald: Campo Santo. Vgl. Heiner Boehncke: Clair obscur. W.G. Sebalds Bilder, S. 54, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, W.G. Sebald, S. 43-62. „Nie jedoch steht der Sog in irreale Welten, die melancholische Einsicht in den eigenen Verfall allein. Immer kommt es in Sebalds Prosa zu einer charakteristischen Schaukelbewegung zwischen dokumentarischen Diskursen, ausgetüftelten Recherchen, lebhafter Reflexion und trauriger Bewegungslosigkeit, allegorischer Starre, nebelhafter Ungewissheit.“ Nicht zu unterschlagen ist an dieser Stelle der Aufsatz Carolin Duttlingers, der aber vor allem für die Analyse von Sebalds letztem Prosawerk Austerlitz zum Tragen kommen kann. Duttlinger betont ebenso den Verweis auf Barthes und Benjamin, was die Bildlichkeit bei Sebald betrifft. (Vgl. Carolin Duttlinger: Traumatic Photographs: Remembrance and the Technical Media in W.G. Sebald`s Austerlitz, in: J.J. Long and Anne Whitehead (Hg.): W.G. Sebald – A critical Companion, Edinburgh 2004, S. 155-171.) 80 das Reifen leugnet.“ 421 Die Photographie ist ein Zeugnis für den permanenten gewaltvollen Tod, nicht für die Erinnerung, nur „den Weg der Gewissheit“ einschlagend: „das Wesen der PHOTOGRAPHIE besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt.“ 422 Der Mensch gibt ihr stets ein Mehr dazu, ein Mehr an Bedeutung und vermag eine persönliche Beziehung herzustellen, die ohne die Photographie nicht möglich gewesen wäre. Und eingedenk der Unmöglichkeit bzw. der Fraglichkeit einer induzierten Erinnerung, lässt Sebald am Ende der dritten langen Erzählung in Die Ausgewanderten den Großonkel Adelwarth des (wieder mit Sebald leicht zu identifizierenden?) Erzählers selber schreiben: Die Erinnerung, fügt er in einer Nachschrift hinzu, kommt mir oft vor wie eine Art von Dummheit. Sie macht einen schweren, schwindligen Kopf, als blickte man nicht zurück durch die Fluchten der Zeit, sondern aus großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren. 423 Scheinbar so einfach – es-ist-so-gewesen – benennt Barthes das vermeintliche Wesen der Photographie. Aber die Verwendung nimmt sich sichtlich komplizierter aus, geht es doch über auf die Bedeutungsebene, die nun Sebald in und mit seinen Schwarz-Weiß-Photographien und -wortbildern oftmals labyrinthisch angelegt entfaltet. Seine kritische, in gewisser Hinsicht schon prophetisch anmutende Einlassung in der 1985 erschienen Aufsatzsammlung Die Beschreibung des Unglücks wird zweierlei betonen, das zum einen Sebalds späteres Heranziehen von photographischen Bildern tangiert und prononciert, zum anderen die Sicht Barthes untermauert. Die frühe Einlassung wird aber auch die spätere, widersprüchliche oder je nach Blickwinkel auch erwartungsvolle Haltung Sebalds kennzeichnen. Diese Haltung ist insofern widersprüchlich, als Sebald mit seiner Disposition – dem Hang zur Melancholie einerseits, dem vererbten Herzleiden andererseits – ästhetisch und mit bewusst gesetzter, wie auch immer sich im weiteren Verlauf einstellender Koinzidenz kokettiert: Die entscheidende Differenz zwischen der schriftstellerischen Methode und der ebenso erfahrungsgierigen wie erfahrungsscheuen Technik des Photographierens besteht allerdings darin, daß das Beschreiben das Eingedenken, das Photographieren das Vergessen befördert. Photographien sind die Mementos einer im Zerstörungsprozeß und im Verschwinden begriffenen Welt, gemalte und geschriebene Bilder hingegen haben ein Leben in die Zukunft hinein und verstehen sch als Dokumente eines Bewusstseins, 424 dem etwas an der Fortführung des Lebens gelegen ist. W.G. Sebald gilt nicht umsonst als ein meisterlich versierter Literat – sowohl als Literaturwissenschaftler und Essayist, als auch als Schriftsteller. Von seinem ersten, stark autobiographischem Romanversuch abgesehen, der laut Tabbert nie publiziert wurde, 425 avancierte er in den letzten beiden 421 422 423 424 425 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, S. 104. Ebenda, S. 95. W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 214 f. Die Anleihen bei Benjamins, von Klee adaptierten Angelus Novus, dem „Engel der Geschichte“ in seiner IX. These Über den Begriff der Geschichte, sind deutlich vernehmbar, so zum Beispiel in der Paraphrasierung von Türmen und Trümmerhaufen, ebenso wie der intertextuelle Bezug zu Barthes. W.G. Sebald: Helle Bilder und dunkle. Zur Dialektik der Eschatologie bei Stifter und Handke, S. 178, in: W.G. Sebald: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, Frankfurt am Main 42003, S. 165-186. Reinbert Tabbert: Max in Manchester. Außen- und Innenansicht eines jungen Autors, S. 21, in: Akzente. W.G. Sebald zum Gedächtnis, S. 21-30. In Porträt W.G. Sebald gibt Tabbert näheren Aufschluss über das Manuskript 81 Lebens- und Schaffensjahrzehnten zu einer Person, die viel mit und durch Literatur bewegt hat. Sebald wurde berühmt, sein früher Traum vom Schriftstellerruhm demnach erfüllt. 426 Er hat seine „geschriebenen Bilder“ – Sartres „Bild-Wörtern“ äquivalent, die der Künstler bzw. der Dichter zu schaffen gewillt ist –, mit einem appellartigen Nachdruck – vor allem in Nach der Natur. Ein Elementargedicht, in Die Ausgewanderten und Austerlitz – überliefern können und diese mal mit Schwarz-WeißPhotographien bekräftigen oder in ihrer Wirkung aufheben können – insbesondere auch in Austerlitz. Er gab sich als nimmermüder, ins politisch Tagesgeschäft eingreifende Kritiker, als Gesellschaftskritiker insbesondere, der vor allem mit seinen Prosatexten eine gewisse „Altersmilde“ spüren liess. Sebald entspricht auf ganzer Linie Sartres Verständnis vom Intellektuellen bzw. vom Künstler. Die „Altersmilde“ geht einher mit seinem Hang zur Einsetzung einer unsagbaren Metaphysik, verstanden als machbarer und vielleicht auch wünschenswerter Trost in einer von Zerstörung geprägten Lebenswelt ohne weiteres Telos. Der Titel Nach der Natur allein gibt diesen mehrdeutigen Charakter sehr gut wider, wie auch Claudia Albes in ihrem hervorragenden Aufsatz Porträt ohne Modell 427 darauf hingewiesen hat. Sebalds ästhetisches Programm spiegelt demnach: 1. die permanente Zerstörung der menschlichen und dinglichen Natur wider. Es transformiert diese, 2. auf eine mögliche metaphysische Ebene hin, und deutet 3. die Bedingtheit und auch die Beschränktheit menschlicher Natur aufgrund der hin und her pendelnden, begrifflich Freud entlehnten Triebstruktur zwischen Tod und Leben. Dieser gemäss kann der Mensch nicht anders handeln, als er es letztlich tut. Sebalds Verwendung der Bildlichkeit ist insbesondere darauf ausgelegt, die Metaphysik – das Wesen des Es-ist-so-gewesen oder „das Unterfutter der Realität“, so Sebald in seinem Aufsatz zu Tripps „hyperrealer“ Malerei – zu betonen, ohne die der Mensch scheinbar nicht auskommen will – ob 426 427 „eines autobiographischen Romans über zwei letzte Tage eines Studiums in Freiburg mit anschließender Reise des Protagonisten zur Freundin in die Schweiz und zu den Eltern ins Allgäu, samt eingeflochtenen Erinnerungen an die Kindheit und an einen Aufenthalt in Belgien.“ (Reinbert Tabbert: Porträt W.G. Sebald, S. 11, in: Literaturblatt für Baden und Württemberg 6/2002) In einem Brief an mich erklärt Tabbert auch, dass bis auf weiteres der Zugriff auf das Manuskript Sebalds versagt sein wird. Klar indessen wird, dass Sebald schon früh den Hang zur Provokation oder, allgemeiner gefasst, zum Gehört- und Wahrgenommenwerden hatte. Mit seinen Briefen an Adorno bezüglich Sternheim und mit der Bitte um „eine Referenz an das Sidney Sussex College in Cambridge“ ob der Arbeit an Döblin (so W.G. Sebald in einem Brief an Theodor W. Adorno vom 14.12.1968, Vgl. W.G. Sebald – Theodor W. Adorno: Briefwechsel (1967/1968), S. 15, in: Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren.) weist Sebald zielstrebig den Weg seiner zweigeteilten Karriere, den er weitausgreifenden Schrittes hofft gehen zu können. Das Werk Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen ist demnach primär als Rekapitulation von Sebalds eigenem Leben zu lesen, welches verschränkt sich dem Leser äußert mit den Lebensläufen der Protagonisten und der vermeintlich eingeschriebenen zerstörerischen Geschichte. Dieser Ruhm machte ihn jedoch, so Reinbert Tabbert an mich, nicht so zufrieden, als dass er ihn „richtig genießen konnte.“ Vgl. Claudia Albes: Porträt ohne Modell. Bildbeschreibung und autobiographische Reflexion in W.G. Sebalds „Elementargedicht“ Nach der Natur, S. 53 f., in: Michael Niehaus/Claudia Öhlschläger (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 47-65. 82 er es nicht kann, diese Frage gälte es selbstverständlich ebenfalls zu beleuchten. Nach der Natur bedeutet bei Sebald vor allem und von Anfang an die empirisch unbeantwortbaren Fragen nach ihr zu stellen: Wie ist die Koinzidenz zu verstehen, die scheinbar so manches Mal und offensichtlich mit biographischen und historischen Daten korreliert? Gibt es nicht doch einen Sinn, der hinter den zerstörbaren Dingen ebenso wie hinter den fragilen Lebenszusammenhängen nur wahrgenommen werden müsste? Wie lässt es sich sodann rational verhalten zur Metaphysik, wo doch Glaube und Fortschrittsoptimismus auf ganzer Linie, Adorno, Horkheimer, Benjamin und letztlich Herbert Marcuse bürgen Sebald hierfür, scheitern müssen? Was hat es auf sich mit dem unsichtbaren Reich der Toten, die von irgendwo herüberwinkten, was mit Sebalds, in seinem Werk zugenüge ausgedrücktem Hang zur (ironischen?) Eingrenzung seines Todeszeitpunktes bzw. der Todesart, seiner Inversion von „Selbstmordgeschichten“ in die Prosa? Man ginge aber verkehrt in der Annahme, die hier beglaubigte Altersmilde würde etwas am statuierten Urteil der der Zerstörung gewidmeten Naturgeschichte ändern. Im Gegenteil, durch die ausführliche Heranziehung und auch Zitation photographischer Bilder von Personen und Dingen soll der Mensch von einem nicht-dokumentarischen Appell sich genötigt fühlen, dass gerade nicht eine etwaige Metaphysik es ist, der das menschliche Handeln als Motivationsgrund folgen würde. Vielmehr folgt der Mensch seinem Drang, über etwas – sei es die Natur, sei es der Mensch – Macht zu gewinnen, etwas an ihnen zu brechen oder zu begradigen, was ihm nicht passend scheint. Sebalds Bildlichkeit ist genau darauf ausgerichtet, einerseits dem studium Barthes Platz zu lassen, andererseits dem punctum die Rolle aufzubürden, die menschliche Wunde in der Metaphysik der Koinzidenz zu benennen. Sebalds Werk schlägt demnach einen Bogen seines kritischen Studiums vor allem der Frankfurter Schule bzw. der Kritischen Theorie hin zu einem bildenden, synthetisierenden Mittel, seine fundierten Erkenntnisse auf eine gesetzte Art und Weise einer breiten Öffentlichkeit – sein früher Traum – anzubieten. Sebald betreibt also, ähnlich wie Barthes, so Duttlinger, „a more associative, discursive style of argument which problematises the boundaries between “theory” and “literature” […].” 428 Perspektivisches Resultat ist die von Austerlitz betriebene und vom Erzähler behauptete „Metaphysik der Geschichte“, die (labyrinthisch) im Kreis verläuft zwischen abwärtsdrehendem Zeit-undRaumgefüge, zwischen kontrolliert, geordneter, aufbauender Architektur und der der unberechenbaren Natur inhärenten Zerstörung. Angesichts des reflexiven Verhältnisses des Menschen zu sich und seiner Umwelt harrt die „Metaphysik der Geschichte“ einer Antwort auf die naheliegenden Fragen, wie etwas „wirklich“ beschaffen und erkennbar ist und warum dieses Etwas so und nicht anders erscheinen kann. Austerlitz wird vom Erzähler in jenen erfragbaren und fragwürdigen Diskurs lokalisiert: Es war für mich von Anfang an erstaunlich, wie Austerlitz seine Gedanken beim Reden verfertigte, wie er sozusagen aus der Zerstreutheit heraus die ausgewogensten Sätze entwickeln konnte, und wie für ihn die erzählerische Vermittlung seiner Sachkenntnisse die schrittweise Annäherung an eine Art Metaphy429 sik der Geschichte gewesen ist, in der das Erinnerte noch einmal lebendig wurde. Die Nähe zu der hier bestimmten „Metaphysik der Koinzidenz“ wird evoziert von Sebald und Sebalds Werk selbst. Die das ganze Werk Sebalds durchziehende, gar konstitutive schwarz-weisse, hell-dunkle 428 429 Carolin Duttlinger: Traumatic Photographs: Remembrance and the Technical Media in W.G. Sebald`s Austerlitz, S. 155. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 18 f. 83 betriebene, bei näherem Besehens schon redundant anmutende „Überblendung“ 430 von fiktionalreeller Traum-Wirklichkeit, von Photographien und Bild-Wörtern ist auch hier gewollt, methodisch penibel reflektiert. 431 So spricht der Erzähler – nebst der durch Austerlitz vermittelten Hypostasierung der „Metaphysik der Geschichte“ – auf den ersten Seiten davon, dass Austerlitz auch während ihrer Unterhaltung über das ganz allgemein, „gewiß übersehene Unglück“ der Geschichte, „lange noch von den Schmerzensspuren, die sich, wie er zu wissen behauptete, in unzähligen feinen Linien durch die Geschichte ziehen“ 432 räsonierte. Die Verwendung der hell-dunklen Versinnbildlichungen geraten Sebald nur deshalb nicht redundant, weil er sie oftmals auch kontradiktorisch ins Recht setzt. In Austerlitz ist auf fast jeder Seite von changierendem Licht und Schatten, von hell und dunkel, von strahlend und düster, vom Auf- und Untergehen zu lesen. Es mag daher dem geneigten Leser wohl gewohntermassen leichter fallen, die „Kollorationen“ als gewissermassen determiniert zu absorbieren. Der von Sebald aufgebaute, ästhetische Kontrastraum ist aber auch nicht ohne das Wissen zu verlassen, dass nämlich das „Geheimnis“ jedweder Konstitution auch bei ihm nicht gelüftet werden kann. In einem am 12. Juli 1998 ausgestrahlten Interview des niederländischen Fernsehsenders VPRO gibt Sebald sehr genaue Hinweise zu dem in Frage stehenden Komplex dieser ästhetisch zu realisierenden Sinnstiftung: I`m certainly not sure that I am able to make sense out of whatever I come across at all except in the effort of recording it, so, whatever sense there is, is primarily an aesthetic sense. I realise that making in prose a decent pattern out of what happens to come your way is a preoccupation, which, in a sense, has no higher ambitions than, for a brief moment in time, to resecure something out of that stream of history that keeps rushing past. This is why, among other reasons, I have photographs in the text, because the photograph is perhaps the paradigm of it all. The photograph is meant to get lost somewhere in a box in an attic. It is a nomadic thing that has only a small chance to survive. I think we all know that feeling when we come accidentally across a photographic document being of one of our lost relatives, 433 being of a totally unknown person. […]. Der „Ton“ dieser gebrauchten Bildlichkeit, nämlich der der Melancholie, unterstreicht die aussichtslose Bürde, die ein solches Konzept zu bewältigen hat. Jene „höhere Stereometrie ineinander verschachtelte[r] Räume“ 434 muss also um des Verstehens willen sprachlich bebildert zum Wahrnehmen gebracht werden, auch dann, wenn die Absenz des Bildes, auch dies ein Usus Sebalds, beschrieben wird. Wiederum in einem Interview äussert sich Sebald bezüglich des metaphysischen Gehalts von gleichsam „nomadisierenden“ Photographien. Von diesen, im Gegensatz zu gemalten Porträts, ginge „dieser 430 431 432 433 434 W.G. Sebald: Austerlitz, S. 9. Verwiesen sei auf den Aufsatz von Claudia Albes: Porträt ohne Modell, S. 75, in: Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Albes gibt einen bestechenden Einblick in Sebalds „Elementargedicht“ Nach der Natur, und die diesem zugrundeliegende hell-dunkle Bildbeschreibungen. Aber auch ihrer Meinung zufolge mündet Sebalds ästhetisches Primat, zuende geführt in Austerlitz, in „[...] einer ihm unbewußten Dynamik [...]“, der Sebald folgen würde. Richtig hingegen scheint der erste Teil von Albes` – auf Sebalds autobiographisches Bemühen bezogene – Feststellung, „daß sich das schreibende Ich selbst nicht durchsichtig ist. Strittig ist jedoch der zweite Teil ihrer Feststellung, wonach das schreibende Ich Sebalds „durch unkontrollierbare Mechanismen der Verdrängung und Wiederholung gesteuert wird.“ (S.75) W.G. Sebald: Austerlitz, S. 20. Vgl. W.G Sebald und Gordon Turner (Interviewer: Michaël Zeeman): Introduction and Transcript of an interview given by Max Sebald, S. 24, in: Scott Denham/ Mark McCulloh (Hg.): W.G. Sebald: History – Memory – Trauma, S. 21-29. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 265. 84 Appell“ aus, „eine Forderung an den Beschauer, zu erzählen oder sich vorzustellen, was man, von diesen Bildern ausgehend, erzählen könnte.“ Der Grund dieses appellartigen Impulses an den Beschauer liege wohl vermutetermassen darin, dass es sich um sehr komplizierte, metaphysische Geschichten [handelt], nicht in irgendeinem mystagogischen Sinne, sondern in dem Sinn, dass es irgendwo eine sekundäre oder uns beigeordnete, übergeordnete, nachgeordnete Form der Existenz gibt. Die Leute, die aus dem Leben verschwinden, treiben sich 435 irgendwo in diesem Leben noch herum. Es ist nicht so sehr die Behauptung, dass jene verschwundenen Menschen sich noch irgendwo in diesem Leben, das heisst wohl irgendwo in der Erinnerung herumtreiben würden, die irritierend wirken kann. Sondern vielmehr ist es der vermeintliche Appell, den Sebald beim Betrachten von Bildern wahrnehmen will oder muss, der so häufig bei den Rezepienten für Irritation sorgen wird. Dieser ausgehende Appell von zufällig gefundenen Bildern ist aber zweifelsohne ein, wenn nicht gar der Anlass für die Sebaldsche bedeutungsschwangere „Metaphysik der Koinzidenz“. Ebenso unübersehbar ist die Nähe zu Roland Barthes. Das Appellhafte, das Sebald als Impuls zur Bildbetrachtung, qualifiziert, entspricht dem quasi ins Auge springenden punctum, das zum studium einer Photographie anregt, vielmehr aber den Beschauer unmittelbar und kurzfristig zutiefst betroffen bzw. unwissend zurücklässt. 436 Das die Betroffenheit auslösende punctum entspricht der irrationalen Seite des menschlichen Strebens nach einer Ordnung, welches nicht selten, laut Sebalds dunkler Teleologie immer ins Gegenteil, nämlich zur Unterwerfung und zur Zerstörung führt. Das rationale studium, das ein Bild beim Betrachter auslösen kann, vermag hingegen nichts zu unternehmen, eine wenn möglich „unschuldige“ Ordnung festzuschreiben. Die beiden widerstreiten sich als die dunkle und helle Seite der anthropologischen Konstante. Die Natur für sich bedürfte ja keiner Ordnung. Sie ist das, was sie ist, während der Mensch dies nie sein wird. Diese Feststellung und Ansicht nehmen beide, Sartre als auch für Sebald, für sich in Anspruch. Unterscheiden lässt sich diese Perspektive durch die je unterschiedliche, mehr oder weniger trostspendende Konsequenz hieraus: Sartre hält die subjektive Freiheit noch im Begriff des Scheiterns hoch, Sebald setzt indes die Metaphysik ins Bild. Die Frage also, warum Sebald durchgehend, sowohl in seinem literaturwissenschaftlichem, als auch in seinem prosaischen Werk, als der das hell-dunkle Kontrastpaar präferierende „Wortkolorateur“ auftritt, muss von der absoluten Freiheit des Autors her beantwortet werden. Es wäre in dieser Hinsicht äusserst wichtig, auch seinen frühen, autobiographischen, noch unveröffentlichten Roman auf das wohl nicht schwer zu hypostasierende hell-dunkle Bebilderungssystem hin zu untersuchen. An dieser Stelle aber steht aufgrund des Fehlens dieser wichtigen Quelle das Ende am Anfang. Sebald gibt diesbezüglich nochmals am nahenden, gewissermassen schon vorausahnenden Lebensende, in einem 435 436 W.G. Sebald und Christian Scholz: Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument. Ein Gespräch über Literatur und Photographie, S. 1 f., in: Neue Zürcher Zeitung, 26./27. Februar 2000, S. 1-6. Renate Just beschrieb sein Arbeitszimmer als „mönchisch“. „Nur eine Falttasche aus Pappe liegt auf dem Tisch, voll mit älteren Photos und Karten: Familienbilder, Gletscher, Vulkanausbrüche, Mädchen in Dreißigerjahrekleidern, ein Kind auf dem Schaukelpferd, dessen Kopf schon lange weggeblichen ist. Solche Bilder bewahrt er auf mit einer vagen Ahnung, daß er einmal die Geschichte dahinter erzählen wird. „Ich find das alles sehr rührend“, sagt er, weiß aber erklärtermaßen nicht warum.“ (Vgl. Renate Just: Im Zeichen des Saturn. Ein Besuch bei W.G. Sebald, S. 40.) 85 im Jahre 2000 mit Volker Hage geführtem Interview, 437 genaue Auskunft. Diese kann durchaus als summarische Retrospektive einerseits und als zukünftige Fussnote oder Wink auf sein in Wort und Bild gebrachtes Werk andererseits, gesehen werden. Auskunft über die mögliche „innere Konstitution“ des Menschen, über das in Frage stehende „Geheimnis“ 438 hinter unserer geschichtlichen und individuellen Existenz und über seine eigenen frühkindlichen Beweggründe auf der Suche nach der „Wahrheit“. Von diesem Interview aus lassen sich sodann direkte Verweise auf sein durch und durch schwarz-weisses opus magnum Austerlitz ziehen. Dieser Vexierpfeil wird unter anderem im wörtlichen Sinne zumindest die Latenz der Sebaldschen Krankheit tangieren, denn schliesslich stellt sich Austerlitz die Frage nach der Kontingenz schlechthin: „Nach und nach entsann ich mich auch“, so Austerlitz, „wie es mir während der Fahrt [in der Metro in Paris; d. Verf.] auf einmal unwohl geworden war, wie ein Phantomschmerz sich ausbreitete in meiner Brust und wie ich dachte, ich werde jetzt sterben müssen an diesem schwachen Herzen, das ich geerbt habe, ich weiß nicht von wem.“ 439 Sebald hatte einen angeborenen, vererbten Herzfehler, der ihm vermutlich auch den Autounfall koinzidierte. Doch vielmehr steht auch die Vererbungslinie in Frage, nicht zuerst die geordnete, statistisch rationalisierbare, demnach die genetische oder auch transgenerationelle Linie, sondern vor allem die irrationale, metaphysische, nicht weiter erhellbare: Vom Vater oder/und von der Mutter? Und zweifelnd: Von ihm wieder weiter an die Tochter?, wie Sebald es im letzten Teil seines Elementargedichts Nach der Natur tieftraurig mutmaßte: Kind, sag mir, / drückt dich dein Herz wie mich / meines, Jahr um Jahr / aufgeschüttet von den Wellen / des Meeres eine Kiesbank / bis hinauf in den Norden, / jeder Stein eine tote Seele / und dieser Himmel so grau, / so gleichmäßig grau, / und so niedrig / hab ich den Himmel / noch nirgends gesehen. 440 Sebald wird es sich wohl wider besseres Wissen gewünscht haben, den vieldeutigen „Herzfehler“ mütterlicherseits geerbt zu haben, denn die historische und ebenfalls schwerwiegende Erblast und –schuld seitens des Vaters würde seinen Unwillen und den Ekel ihm (und sich selbst) gegenüber nur verschärft haben. 2.2.3 Kontingenz oder die Krux mit dem Leben und dem Tod Der Fokus beim Studium des Sebaldschen Spätwerks sollte dabei nicht ausschließlich, wie bis dahin größtenteils geschehen, auf primäre Topoi (Kindheits-)Trauma und Erinnerungsarbeit, Holocaust und Heimatlosigkeit bzw. Exil gerichtet sein, sondern auf das ästhetische Prinzip des freien, irritierenden und manipulierenden, dennoch versöhnenden, ironisierenden Schaffens aus einem freien und voll umfänglich verantwortlichen Zeitgenossen heraus. Sartres Pochen auf eben diesen Sachverhalt, dass der Mensch sich zu sich selbst verhalten und somit wählen kann, zu sein, was er nicht ist, kann an Sebald bestätigt werden. Sebald verhielt sich zu sich, wählte sein Tun und Unterlassen – und hielt irritierender weise am Unbewussten fest, da es ihm wohl erklären ließ, was er sich nicht erklären konnte. 437 438 439 440 Vgl. das Interview Volker Hage im Gespräch mit W.G. Sebald, in: Akzente. W.G. Sebald zum Gedächtnis, Heft 1/Februar 2003, S. 35-50. Vgl. das Interview Volker Hage im Gespräch mit W.G. Sebald, S. 43 f. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 378. W.G. Sebald: Nach der Natur, S. 94 86 Nichts desto trotz gilt: Mit der kritischen Einlassung ob Funktion und Stellenwert von photographischen und geschriebenen Bildern – „Bild-Wörter“ – hebt Sebald bestimmbare Grenzen auf, wenn er beide zugleich in seine Prosawerke einflicht. Ist ihm, zum Zeitpunkt des Erscheinens von Austerlitz, noch „an der Fortführung des Lebens gelegen“, „when he said to a close friend „I´ll be glad to get out of all this“ and began to talk in detail about his own funeral“? 441 Man sei nun zugenüge durch Sebalds Werk an etwaige Koinzidenz gemahnt und nicht weiter überrascht angesichts des Unfalltodes im Dezember des Jahres 2001, dem wohl laut seines ehemaligen Kollegen Sheppard ein Aneurysma 442 bzw. laut Mark M. Anderson auch ein anderweitiger, vererbter Koronarfehler, 443 zugrunde gelegen haben muss. Angesichts der zahlreichen, ähnlichlautenden Einstreuungen in seinen Prosawerken – „[...] als kehrten die Toten zurück oder als stünden wir im Begriff, einzugehen zu ihnen“, heißt es dazu in Die Ausgewanderten, 444 vom „geerbten“, „schwachen Herzen“ ist in Austerlitz die Rede 445 – zu der wohl von Roland Barthes entlehnten Formel der „Wiederkehr des Toten“, 446 nicht nur mittels der Beschwörung von Fotographien, mag zu fragen sein, inwiefern Sebald seine eigene biographische Tendenz (sein Faible für Melancholie und sein negatives (Menschen-)Natur- und Geschichtsverständnis, um hier nur zwei Aspekte zu benennen) mittels der Ästhetisierung erfolgreich transzendiert hat. Sicher zu sagen ist, dass Sebald durch die Ästhetisierung und Transzendierung des Todes sein Hauptarbeitsfeld gefunden hat, das er nun, im Unterschied zum literaturwissenschaftlichen Fokus, der entweder falsches Bewusstsein, wie bei Carl Sternheim und Alfred Döblin oder falsches Verhalten, wie bei Alfred Andersch ausleuchtete, um seine eigenen Dispositionen bereichern konnte. Eine für Sebald diesbezüglich markante Stelle des Fragens nach dem je individuellen Sinn, gerade angesichts der ihm eingeschriebenen, utopischen Reiche des Todes und des Lebens, und der Bedeutung bzw. Bedeutsamkeit von Geschichte und Mensch allgemein, vermittelt uns der Ich-Erzähler Austerlitz im gleich lautenden Roman: 441 442 443 444 445 446 Vgl. hierzu den hervorragenden und bisher wenig beachteten Aufsatz von Richard Sheppard: Dexter – sinister. Some observations on decrypting the mors code in the work of W.G. Sebald, S. 438, in: Journal of European Studies 35(4), S. 419-463. Online unter http://jes.sagepub.com vom 27.04.2007. Sheppard bezieht sich darin vor allem auf das von Long und Whitehead herausgegebene Buch W.G. Sebald – A critical Companion und überprüft deren zentrale Themata vor allem auf die biographische Stichhaltigkeit hin. Natürlich muss hier gesagt sein, dass die Ernsthaftigkeit der prophetischen Verlautbarung Sebalds nur schwer zu bemessen ist. Ähnliches liest sich nämlich schon in der Vorbemerkung seines sehr persönlichen, bereits 1998 erschienen Werkes Logis in einem Landhaus. Sebald sei es wichtig, heisst es darin, noch rechtzeitig vor Ableben die Ehrerweisung an Hebel, Walser und andere wertgeschätzte Autoren und Bekannte zustande zu bringen. Die „konstant gebliebene Vorliebe für Hebel, Keller und Walser war es, die mich auf den Gedanken brachte, ihnen, eh es vielleicht zu spät wird, Habe die Ehre zu sagen.“ (W.G. Sebald: Logis in einem Landhaus, S. 5.) Doch auch hier scheint die prätendierte Kunst einer im nachhinein sich selbst erfüllenden Prophezeiung zeitlich noch früher anzunehmen zu sein, wie Sebalds Gedicht Das vorvergangene Jahr uns ahnen lässt: „[...] Auf der Heimfahrt Phantasien / von einem tödlichen Unfall“. (W.G. Sebald, zit. nach Sven Meyer: Der Kopf, der auftaucht. Zu W.G. Sebalds Nach der Natur, S. 77, in: Atze, Marcel und Loquai, Franz (Hg.): Sebald. Lektüren., S. 67-77.) Woher rührt Sebalds Hang zur Eingrenzung seines Todeszeitpunktes bzw. der Todesart, ist man geneigt zu fragen. Weitere Beispiele lassen sich finden, so der unterlegte Text zur Radierung Tripps von Samuel Beckett. Der engelsungleiche Tod wohl breitet darin seine Flügel aus. Richard Sheppard: Dexter – sinister. Some observations on decrypting the mors code in the work of W.G. Sebald, S. 420. Mark M. Anderson: Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind, S. 38. W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 36, 68 f. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 378. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, S. 17. 87 Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die 447 Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können. „Ineinander verschachtelte Räume“ suggerieren ein Ordnungsprinzip, welches paradoxerweise, trotz Austerlitz` Betonung jener höheren Stereometrie ebenso, inexistent ist. Der Konjunktiv, „als gäbe es keine Zeit“, hat sicher Berechtigung, doch sowohl Zeit als auch Raum erweisen sich als Gedankenkonstrukte des Menschen, um jene Ordnung erst behaupten zu können, von der allgemein angenommen wird, dass sie unserer Wirklichkeit entspricht. Leben und Tod sind dieser Ordnung scheinbar untergeordnet und bilden den Maßstab menschlichen Vorstellungsvermögens von Anfang und Ende. Sebald, eingedenk dieser doppelten Illusion, weiss dennoch, dass das Problem der Faktizität nicht behoben ist. Der Charakter des Es-ist-so-gewesen von Photographien, diese bei Barthes gemachte Feststellung, nimmt sich nun als unabweisbares Paradoxon aus. Es dient der Versinnbildlichung der Illusion von einem Zeitfluss bzw. eines Zeitstromes, überhaupt von der Möglichkeit von Erkenntnis, welche die „Falschheit des schönen Scheins“ 448 zu berichtigen hätte. Auf den systematisch schwer fassbaren Komplex der Geschichte abgehoben bedeutet dies laut Sebald auch, daß Geschichte nicht so abläuft, wie die Historiker des 19. Jahrhunderts uns das erzählt haben, also nach irgendeiner von großen Personen diktierten Logik, nach irgendeiner Logik überhaupt. Es handelt sich um ganz andere Phänomene, um so etwas wie ein Driften, um Verwehungen, um naturhistorische 449 Muster, um chaotische Dinge, die irgendwann koinzidieren und wieder auseinanderlaufen. Dieselbe Problematik wird in fast wörtlicher Wiederholung in Austerlitz aufzufinden sein, der, wie Walter Benjamin zu seiner Zeit in Paris, in der Nationalbibliothek „in stummer Solidarität mit den zahlreichen anderen Geistesarbeitern an [s]einem Platz gesessen [...]“ 450 ist. Austerlitz, das wäre eine weitere Referenz an Benjamin, ist dort 1956 auf der Suche nach seinem Vater bzw. nach noch rekonstruierbaren Spuren von ihm, der damals zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges nach Paris flüchtete und den Austerlitz, möglicherweise ebenso wie Benjamin damals tatsächlich in den Freitod sich flüchtete, auf der Flucht über die Pyrenäen wähnte. Die typische autobiographische Ästhetisierung seines eigenen und, der Kontingenz wegen, dem Zweiten Weltkrieg geschuldeten Lebens, wird im Folgenden deutlich, als Austerlitz „[...] Bilder von ihrer Reise [der Eltern; d. Verf.] durch das Großdeutsche Reich [sah], [...] den Vater, immer in seinem schönen Anzug und dem schwarzen Velourshut auf dem Kopf, aufrecht und ruhig, unter all diesen angstvollen Leuten. Dann wiederum dachte ich“, so fährt Austerlitz fort, „daß Maximilian Paris gewiß rechtzeitig verlassen haben wird, daß er südwärts gefahren, zu Fuß über die Pyrenäen gegangen und irgendwo auf der Flucht verschollen ist.“ Dort in Paris aber, so Austerlitz, habe er sich 447 448 449 450 W.G. Sebald: Austerlitz, S. 265. Ebenda, S. 52. Vgl. W.G. Sebald im Interview: Volker Hage im Gespräch mit W.G. Sebald, in: Akzente. W.G. Sebald zum Gedächtnis, Heft 1/Februar 2003, S. 43. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 366. 88 in den kleingedruckten Fußnoten der Werke [verloren], die ich mir vornahm, in den Büchern, die ich in diesen Noten erwähnt fand, sowie in deren Anmerkungen und so immer weiter zurück, aus der wissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit bis in die absonderlichsten Einzelheiten, in einer Art von ständiger Regression, die sich in der bald vollkommen unübersichtlichen Form meiner immer mehr sich 451 verzweigenden und auseinanderlaufenden Aufzeichnungen niederschlug. Geschichtswissenschaft wird hier verstanden als „ständig sich fortentwickelndes Wesen [...], das als Futter Myriaden von Wörtern braucht, um seinerseits Myriaden von Wörtern hervorbringen zu können.“ 452 Diese zu Recht kritisch betrachtete, dennoch bedingt notwendige „Regression“ wird stets insuffizient sein, denn sie erhellt nicht „unsere innere Konstitution“, sie entdeckt uns nicht das „Geheimnis“, das hinter unserer Existenz zu vermuten wäre. Im Rückblick freilich wird bleibt wieder nur das schier verzweifelnde Fragen, das immerhin den guten Willen zeitigt, einen scheinbar hoffnungslosen Lernprozess individueller oder gesellschaftlicher Besserung einzuklagen. In einem Pariser Zirkus, so die schwarz-weisse Ironie Sebalds und als Anleitung zum glücklich-unglücklichen Leben dienende Essenz, wird Austerlitz gemeinsam mit Marie ein weiteres, zutiefst irritierendes, schwindelerregendes Erlebnis haben: Was in mir selber vorging, als ich dieser von den Zirkusleuten mit ihren etwas verstimmten Instrumenten sozusagen aus dem Nichts hervorgezauberten, ganz und gar fremdländischen Nachtmusik lauschte, das verstehe ich immer noch nicht, sagte Austerlitz, ebensowenig wie ich seinerzeit hätte sagen können, ob mir die Brust zusammengedrängt wurde vor Schmerzen oder sich zum erstenmal in meinem Leben ausweitete vor Glück. [...] aber heute, in der Rückschau, kommt mir vor, als sei das Geheimnis, von dem ich angerührt wurde, aufgehoben gewesen in dem Bild der schneeweißen Gans, die reglos und unverwandt, solange sie spielten, zwischen den musizierenden Schaustellern stand. Mit etwas vorgerecktem Hals und gesenkten Lidern horchte sie in den von dem gemalten Himmelszelt überspannten Raum hinein, bis die letzten Töne verschwebt waren, als kennte sie ihr eigenes Los und auch das derjenigen, 453 in deren Gesellschaft sie sich befand. Deshalb also ist es nützlich, den Blick auf die frühe Kindheit zu richten, weil dort Impulse auszumachen sind, die uns auf den Weg gebracht haben, sich in freier Wahl mit diesem klärungsbedürftigen und unabschließbaren Komplex auseinander zu setzen. Darauf basiert Sartres „progressiv-regressive Methode“. Auf der Suche nach der undurchsichtigen Wahrheit erst stellt sich das Ermangeln einer Teleologie der Geschichte heraus. Die Haltung dazu kann unterschiedlich sein. Sebald sieht sie als, summarisch betrachtet, abwärtsweisende Spirale. 454 Sartre erachtet sie konstitutiv als Konflikt, der in 451 452 453 454 W.G. Sebald: Austerlitz, S. 366 f. (Kursivsetzung durch den Verfasser) Ebenda, S. 367. Ebenda, S. 385 ff. Dienlich ist hier Sebalds affirmative, scharfsinnige Referenz an Alexander Kluge, die im engen Zusammenhang mit Austerlitz steht: „Wenn es in der Folge der gesellschaftlich und naturgeschichtlich determinierten menschlichen Kapazität zur Verarbeitung von Erfahrung ausgeschlossen scheint, daß die Spezies einer von ihr selbst hervorgerufenen Katastrophe anders als auf bloß zufällige Art entrinnen könnte, so heißt das nicht durchweg, daß auch eine retrospektive Überprüfung der Bedingungen der Zerstörung vergebens wäre. Der Lernprozeß, der sich im nachhinein vollzieht, ist vielmehr – und das ist die raison d`être von Kluges 30 Jahre nach dem Ereignis [die Zerstörung Halberstadt am Ende des 2. Weltkrieges; d. Verfasser] zusammengesetzten Text – die einzige Möglichkeit, die im Menschen sich regenden Wunschvorstellungen umzubiegen auf die Antizipation einer Zukunft, die nicht schon von der aus der verdrängten Erfahrung resultierenden Angst besetzt wäre.“ (W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung, in: W.G. Sebald: 89 die eine so gut als auch in die andere Richtung ausgeweitet werden kann. Der Konflikt um die „innere Konstitution“ ist aber von uns abhängig, und nicht von der Annahme eines nicht erklärbaren Geheimnisses oder dem bestimmenden Wirken der Koinzidenz. Früheren Aussagen zufolge, muss für Sebald ein Ding-und-Erlebnis-Komplex – so die rätselhafte Wendung „[…] die Stunde der verlassenen Dinge“ 455 in W.– der Auslöser für sein von ihm selbst bekundetes „manisches“ Interesse an Erdkunde und Geschichte und im weiteren für sein lebenslanges Suchen nach einer der Zerstörung und „Verstörung“ 456 adäquaten Vermittlungs- und Erklärungsinstanz gewesen sein. Es handelt sich um profane Dinge, die erst ein Kind mit Bedeutungspunkten derart versehen kann, dass sie Fragen offen lassen – und die Schreckgespenster der Kindheit nicht mehr zu bändigen wissen. Zu nennen wären ein Schwarz-Weiß-Foto aus dem Familien-Fotoalbum, ein Kartenspiel für ihn und Sebalds ältere Schwester zu Weihnachten, das Städtequartett aus dem ersten Quelle-Katalog, nebst Kamelhaarpantoffeln mit Schnallen. Das Bild wurde von seinem Vater aufgenommen und zeigte einen Toten, das Spiel wurde als Zugeständnis an die Pantoffeln gesehen, das die Geschwister an den Wochenendtagen mit dem Vater spielten. Zu nennen wären die Reiseerlebnisse Sebalds, welche zerstörte Ruinen-Städte als den Normalzustand anzeigten, ein Hausbrand im Ort, der Geschichtsunterricht mit der Lehrerin Fräulein Rauch, 457 der Tod des Jägers Schlag, 458 dessen Hergang – wie so viele vermeintliche Selbstmordgeschichten Sebalds auch – gemäss dem Grossvater „eine undurchsichtige, nicht recht geheure Geschichte“ 459 bliebe. 2.2.4 „Bessere Sehnsucht“ als Mittler zwischen „Metaphysik der Geschichte“ und „Metaphysik der Koinzidenz“ Sebald stellt ja in all seinen Äußerungen und über Jahrzehnte hinweg die berechtigte Frage nach dieser dreifachen (psychologischen, soziologischen und architektonischen) „inneren Konstitution“, nämlich jene des Individuums, 460 des „menschenabweisenden und den Bedürfnissen jedes wahren Leser von vornherein kompromisslos entgegengesetzten Gebäude[s]“ 461 der neuen Nationsbibliothek in Paris, und der soziologischen, wenn er jene „der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft“ 462 thematisiert. Besteht dann aufgrund „Kluges detaillierte[r] Beschreibung der gesellschaftlichen Organisation des Unglücks“, zu Recht „die unausgesprochene Hoffnung, daß ein richtiges Verständnis der von uns arrangierten Katastrophen die erste Voraussetzung wäre für die gesellschaftliche Organisation des 455 456 457 458 459 460 461 462 Campo Santo, S. 94 f.) Diese Sicht bekräftigt er nochmals in: Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 136, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald: „In der Interaktion und Interferenz von Bild und Text waren Klaus Theweleit und Alexander Kluge für mich augenöffnende Leseerfahrungen.“ W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 265. Sebald verwendet den Begriff der ,Verstörung` sowohl im Interview mit Volker Hage, als auch in Austerlitz (S. 400.) und seinem Aufsatz Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung, S. 101. Vgl. W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 262 f. Sebald zitiert hier sicherlich Kafkas badischen Jäger Hans Schlag in seiner Erzählung Auf dem Dachboden. W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 269. Zusätzlich fingiert Sebald die Koinzidenz mit dem Jäger Gracchus aus Kafkas gleichnamiger Erzählung, sei doch eine „kleine Barke“ auf dem linken Oberarm des Jägers Schlag tätowiert gewesen. (Ebenda, S. 272.) Der Jäger wird einfach verdoppelt. Vgl. W.G. Sebald im Interview mit Volker Hage aus dem Jahre 2000. Vgl. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 388. Vgl. W.G. Sebald: Konstruktionen der Trauer. Günter Grass und Wolfgang Hildesheimer, S. 101, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S. 101-127. 90 Glücks“? Kaum, so Sebalds Fazit, würde „der planmäßige Aufbau des Unglücks, den Kluge historisch herleitet aus der Entwicklung der industriellen Produktionsverhältnisse, das abstrakte Prinzip Hoffnung“ 463 rechtfertigen, auch nicht in einer „[...] von unserer besseren Sehnsucht ersonnenen Welt.“ 464 Prosaischen Ausdruck erfährt diese pessimistische Wendung jenes frühen Aufsatzes Sebalds erneut in Austerlitz, worin er sich über die Schliessung der alten Nationalbibliothek beklagt. Die alte wird nun, trotz der Kreation von Myriaden von Wörtern zur neuerlichen Erschaffung weiterer Myriaden, als der helle, „gute“ Ort verklärt: […] der Kuppelsaal mit den grünen Porzellanlampenschirmen, die ein so gutes, beruhigendes Licht gaben, ist verlassen, die Bücher sind von den im Kreisrund sich fortsetzenden Regalen geräumt und ihre Leser, die einst auf Tuchfühlung mit ihren Platznachbarn und in stummen Einvernehmen mit denen, die ihnen vorausgegangen waren, an ihren mit kleinen Emailleschildchen nummerierten Pulten gesessen 465 sind, scheinen sich aufgelöst zu haben in die kühle Luft. Die neue, „menschenabweisende“, 466 nach dem damaligen französischen Präsidenten benannte Nationalbibliothek wird schon mit dem „Abwärtstransport“ vom Promenadendeck ins Parterre mittels eines Förderbandes diskreditiert, der laut Austerlitz wohl „[…] eigens zur Verunsicherung und Erniedrigung der Leser“ 467 ersonnen wurde. So erschien es ihm im weiteren beim Betrachten der Bibliotheksbesucher, […] daß diese vereinzelt oder in kleinen Gruppen am Boden kauernden Gestalten sich hier in der letzten Abendglut niedergelassen haben auf ihrem Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai. Es versteht sich von selbst, daß man aus der roten Sinaivorhalle nicht ohne weiteres hineingehen kann in 468 die innere Bastion der Bibliothek […]. Nur allzu deutlich wird hier von Sebald dasjenige verschränkt, was aus der literaturwissenschaftlichen Analyse von Geschichte und Naturgeschichte gewonnen wurde, und nun in schriftstellerischer Kunst Erkenntnis gewinnend aufgehoben werden soll. Sebald arrangiert kontingentes Material aus den Jahrhunderte umspannenden Alben (Photographien, Landschaftsbilder, Porträts und Postkarten aus der Registratur der dinglichen Welt samt Lebensgeschichten beinhaltend) seiner Zeit zu einem Kunstobjekt, das in der Heraufbeschwörung einer fraglichen, belehrenden Erinnerung auch ein wenig unausgesprochene Hoffnung sein soll, daraus sich sein Glück zusammenstellen zu können. Die melancholische Grundstimmung ist ihm wohl beides hierbei, Lust und Laster, sich gegenseitig bedingend, mal das eine verstärkend, mal es verringernd. Die zunächst möglich scheinende Balance bleibt eine geheimnisvolle Kunst, an deren Ende auch Austerlitz zu vernehmen meint, „[...] daß die Grenze zwischen dem Tod und dem Leben durchlässiger ist, als wir gemeinhin glauben [...].“ 469 463 464 465 466 467 468 469 W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte, S. 95 f., in: W.G. Sebald: Campo Santo. W.G. Sebald: Campo Santo, S. 24, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S. 19-38. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 387 f. Ebenda, S. 388. Ebenda, S. 391. Ebenda, S. 391 f. Ebenda, S. 397. 91 2.2.5 Versuch der Restitution Die Frage indes nach der Schuld und Scham, welche Sebald zufolge „dem Skrupulantismus der Überlebenden“ 470 entspringe, stellt sich auch für Austerlitz zwingend, weil Sebald sie bereits in seinem Aufsatz über Geschichte und Naturgeschichte als zentrales Problem jedweden künstlerischen Versuchs über die große Katastrophe in den Blick – und sich zur Aufgabe nahm. Die Erinnerung an das zivilisatorische Scheitern auszulöschen, indem – allegorisch gemäß des deutschen Wiederaufbaus des zerstörten Dritten Reiches – die alte der neuen Bibliothek weichen musste, schlägt fehl, da Austerlitz in der neuen beim Anblick der Registraturkammer die zwanghafte Vorstellung auf[kam], daß dort, in der kleinen Festung von Terezín, in deren nasskalten Kasematten so viele zugrunde gegangen sind, mein wahrer Arbeitsplatz gewesen wäre und daß ich ihn nicht eingenommen habe aus eigener Schuld. 471 An dieser Stelle wird klar, welch grosses Verdienst Sebald dem Schriftsteller Nossack konzedierte, dessen „Ästhetisierung“ der Zerstörung Hamburgs im Jahre 1943 als „eine „Beschreibung“ der Katastrophe eher von ihrem Rand her als aus ihrem Zentrum heraus möglich ist.“ 472 Austerlitz durfte also nicht im Zentrum, in der Festung von Theresienstadt sein, um vom Rande her, mit Sebald gesprochen, berichten zu können von „[...] einer alle künstlerische Imagination übersteigenden Erfahrung.“ 473 Sebald lässt sich demnach mit seinem Prosastück Austerlitz in der direkten Nachfolgerschaft unter anderem von Nossack, Peter Weiss und Canetti sehen. Die „Metaphysik der Geschichte“ lässt sich als Hypothese lesen, dass es einen Grund gegeben haben mag, am Rande überlebt zu haben, demnach nicht, wie Millionen andere, im Zentrum vernicht worden zu sein. Dieser zugleich lebensberechtigende Grund wird nach Sebald, in Anlehnung an Weiss, am „kategorischen Imperativ der Erinnerung“474 bemessen, die zerstörerische und verstörende Geschichte erzählen zu müssen und dies trotz des „Ekel[s] vor diesem „neuen Leben“.“ 475 Warum er, Austerlitz, überlebt hat, das versucht Sebald durch ein ausgewiesenes „missing link“ in der Anthropogenese zu beantworten, nämlich durch die hier konzedierte „Metaphysik der Koinzidenz“. Beide, Metaphysik der Geschichte und der Koinzidenz, sind so gegensätzlich in ihrer Struktur und dennoch komplementär wie das Helle und das Dunkle, wie das Individuum und die Gesellschaft. Die eingenommene, gleichsam Licht ins Dunkel bringende und sich mit den Opfern und den Autoren solidarisierende Zeugenschaft Sebalds über den Vektor Austerlitz seines letzten Werkes, gezeugt während eines väterlichen Soldatenurlaubs und geboren am Ende des zweiten Weltkriegs, wird auch am Verweis auf die „nahezu emblematische[] Koinzidenz“ ersichtlich, die Peter Weiss literarisch durch 470 471 472 473 474 475 W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung, S. 79. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 397. W.G. Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung, S. 82. Ebenda, S. 80. W.G. Sebald: Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung du Grausamkeit im Werk von Peter Weiss, S. 140, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S. 128-148. W.G: Sebald: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung, S. 85. 92 seinen Zeugen 6 fingiert, demzufolge zwei bei einer „medizinischen Exekution“ assistierende Funktionshäftlinge auf „Schwarz und Weiss“ 476 lauteten. Die strenge Ablehnung der „Existentialphilosophie“ durch Sebald – sowohl als Philosophem als auch als methodische Folie zur Literaturanalyse – liegt nun wohl in einer eher mangelnden Rezeption Sartres vielseitigen Werkes. Existentialphilosophie war ja nicht nur auf Heidegger reduziert – wie Sebald selbst in seinem Essay Mit den Augen des Nachtvogels. Über Jean Améry, 477 der sich ausdrücklich auf Sartres Philosophie bezog, bemerkte – und warum er Sartre – trotz der gemeinsamen Nähe zu Paris, einer Art höchst polyvalenten Drehscheibe für ihn gleichwohl wie für sein letztes Werk Austerlitz – nicht rezipierte, kann nur vermutet werden. Dabei weist doch Sartre mit Sebalds Paten Nossack, Weiss, Kluge und denen der Frankfurter Schule und Kritischen Theorie in eine ähnliche Richtung der Betrachtung und Beschreibung der wechselseitigen Bedingungen individuellen und gesellschaftlichen, durchweg ökonomischen Lebens. Es geht sowohl Sartre als auch Sebald um die Frage, was man von einem Menschen wissen kann, um die zentrale Frage des existentiellen und gesellschaftlich totalisierten Scheiterns. Nicht minder bei Sebald. Glaubt doch Austerlitz am Ende seiner Reise, die unmittelbar auch das Ende der Erzählung anklingen lässt, und bevor er und der Erzähler in Paris sich trennen, „man sei eingetreten in eine Märchenerzählung, die, genau wie das Leben selber, älter geworden ist mit der verflossenen Zeit.“ Sebald hat schon in seiner Beschäftigung mit Peter Weiss und auf „die Xylographien in den Grimmschen Märchen und insbesondere die naiven, farbenstarken Bilder Struwelpeterbuchs [sic!]“ mit ihrer inhärierenden, so Sebald, „eigenartigen moralischen Wissenschaft“ auf einen frühen, die Kindheit, insbesondere die kindliche Phantasie – durch Schreckgespenster – prägenden Zeitpunkt, verwiesen. In dieser, gleich der den „codex iuris“ repräsentierenden, „eigenartigen moralischen Wissenschaft“, die das Kind durch Erzählung dieser finsteren Geschichten vermittelt bekommt, ist der Grund auszumachen, dass es sich, wie Sebald aus eigener Erfahrung wohl schreiben kann, „gerade im Unheimlichsten, häuslich [...] ein[richtet]: perverses Wohlbehagen an einer spezifisch deutschen Form lehrhafter Grausamkeit.“ 478 Bereits in der Döblin-Arbeit, in der ja auch diese schon seit Bismarck währende, spezifisch deutsche Grausamkeit, unter dem Aspekt der Zerstörung verhandelt wird, interpretiert Sebald die Korrektur Döblins, wonach statt „Paris“ zuerst das Wort „Berlin“ stand, dahingehend, dass seine Fixierung an Berlin [...] das direkte Korrelat seiner Hoffnung [ist], daß man eine Existenz, die das Judentum mit dem Begriff des Exils umschrieb, nicht nur häuslich sich einrichten könne, sondern daß das Exil letztlich mehr bedeute als bloß die Erwartung der Erlösung und versöhnbar sei mit der vollen Ak479 tivität des Lebens. Diese von Sebald unverschuldete Grausamkeit, die die Abstammung von einem dem Dritten Reich dienenden Vater beinhaltet, wird Sebald mitbewogen haben, auf Wanderschaft zu gehen, ungeachtet der negativen Perspektive, gibt es doch, so Adorno in Minima Moralia, „kein richtiges Leben im fal476 477 478 479 W.G. Sebald: Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung du Grausamkeit im Werk von Peter Weiss, S. 143. Vgl. hierzu W.G. Sebald: Mit den Augen des Nachtvogels. Über Jean Améry, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S. 149-170. W.G. Sebald: Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung du Grausamkeit im Werk von Peter Weiss, S. 138 f. W.G. Sebald: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 76. (Kursivsetzung durch den Verfasser) 93 schen.“ 480 Sebald wähnte sich ob seiner freiwillig-unfreiwilligen, diasporischen Exilexistenz, so darf man schließen, in einer stets zeitlich und örtlich „unheimlichen Heimat“, wie auch der Titel einer Aufsatzsammlung zur österreichischen Literatur lautet: Erst als ich 1965 in die Schweiz und ein Jahr darauf nach England ging, begannen sich, aus der Entfernung heraus, in meinem Kopf Gedanken zu bilden über mein Vaterland, und diese Gedanken haben sich, in den mehr als dreißig Jahren, die ich nun schon auswärts lebe, in zunehmenden Maße kompliziert. Die ganze Republik hat für mich etwas eigenartig Irreales, so ungefähr wie ein nicht enden wollendes Déja-vu. In England nur gastweise zuhause, schwanke ich auch hier zwischen Gefühlen der Vertrautheit und der Dislokation. Einmal, in einem Traum, wurde ich schon, wie Hebel, gleichfalls in einem Traum, in Paris, als Landesverräter und Hochstapler entlarvt. Nicht zuletzt aufgrund solcher Befürchtungen ist mir die Aufnahme in die Akademie willkommen als eine unverhoffte Form der Legiti481 mation. Die Literatur, so Sebald, hat die Aufgabe den Versuch einer Wiedereinsetzung des Rechts anstelle des erlittenen Unrechts zu übernehmen. Darum konnte Sebald nicht länger nur Literaturwissenschaftler bleiben. Er musste sein an den Helden seines Lebens extrapoliertes Wissen ästhetisieren, um sich noch, wennschon in jeder Hinsicht heimatlos, dennoch ansatzweise orientieren zu können in „der historia calamitatum der Menschheit und dem, was wir dem kollektiven Unglück noch an Kultur abdingen.“ 482 „Es gibt viele Formen des Schreibens;“, so Sebald anlässlich zur Einweihung eines der Literatur verschriebenen Stuttgarter Hauses kurz vor seinem Tod, „einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um den Versuch einer Restitution.“ 483 Sebald ist in einer Linie mit den Denkern der Frankfurter Schule und mit jenen der Kritischen Theorie, mit den die große Zerstörung überlebenden Schriftstellern Nossack, Weiss, Améry und Kluge, fast generell mit allen schreibenden Außenseitern wie Walser oder Ernst Herbeck und Protagonisten von Selbstmordgeschichten wie beispielsweise Paul Bereyter oder der Jäger Schlag zu sehen, die sich allesamt in der „Absicht der Repräsentation der Grausamkeit“ versammelt hatten. Sie ist, so Sebald, ein immer scheiternder Versuch, „weil unsere Art aus dem, was sie anrichtet, nicht zu verlernen mag. Darum nimmt die beschwerliche Arbeit an der Kultur so wenig ein Ende wie die Qual und Pein, deren Remedur sie anstrebt.“ 484 Was Sebald Peter Weiss konzedierte, trifft auf ihn selbst in programmatischer Hinsicht zu: Der Fall des Peter Weiss demonstriert den Versuch, in heroischer, selbstzerstörerischer Arbeit die Absolution zu erlangen, [...] um begleitet vom pavor nocturnus und beladen mit einem ungeheuren ideologischen Ballast eine Pilgerfahrt anzutreten durch die Geröllhalden unserer Kultur- und Zeitgeschichte, [...] als [...] Ausdruck eines ephemeren Erlösungswunsches nicht bloß, sondern als der des Willens, am 485 Ende der Zeit auf der Seite der Opfer zu stehen. 480 481 482 483 484 485 Theodor W. Adorno: Minima Moralia, S. 43. W.G. Sebald: Antrittsrede vor dem Kolloquium der Deutschen Akademie, S. 250, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S. 249-250. W.G. Sebald: Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung du Grausamkeit im Werk von Peter Weiss, S. 146. W.G. Sebald: Ein Versuch der Restitution, S. 248, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S.240-248. W.G. Sebald: Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung du Grausamkeit im Werk von Peter Weiss, S. 146 f. Ebenda, S. 147. 94 Sebald solidarisierte sich als ganze, sprichwörtlich mit Leib und Seele schreibende Person, als Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, mit den Opfern der gesamten „historia calamitatum der Menschheit“. Die fragliche Solidarisierung kostete ihm sehr viel Überwindung. „Viel hätte, glaube ich, an diesem Vormittag nicht gefehlt“, so schreibt er in Schwindel. Gefühle. über den gemeinsamen Besuch der oberhalb der Donau gelegenen Burg Greifenstein, und er hätte mit Ernst Herbeck „das Fliegen gelernt, oder ich zumindest, was man braucht für einen anständigen Absturz. Aber die günstigsten Augenblicke versäumen wir immer.“ 486 Auch diese, ein Jahrzehnt zurückliegende Gunst der Stunde ausschlagend, schrieb er Austerlitz, gleichsam ein schwarz-weißes Requiem, als auch eine Geschichte mit starkem autobiographischen Bezug. Dieses Werk war dem Einlösen seines Versuchs einer Restitution erfolgreich gewidmet. 486 W.G. Sebald: Schwindel. Gefühle., S. 49. 95 SCHLUSS Am Anfang der Arbeit stand das Postulat, dass es um es des Verstehenswillen nicht nützlich ist, das Werk des Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers W.G. Sebald aufgrund des Schemas „bewußt“ und „unbewusst“ zu interpretieren. Die Reduzierung des Sebaldschen Werks auf unbewusste, verdrängte bzw. verarbeitete, durchgearbeitete Kindheitstraumata – mithin auf das sprichwörtlich „gebrannte Kind“ 487 (Graham Jackman) oder auf eine „unbewältigte Mutterproblematik“ 488 (Wolf Wucherpfennig) – ist insuffizient. Sie ignorierte den eigenen, konstitutiven, wenn auch widersprüchlichen Charakter und Willen Sebalds, mithin nicht nur seine künstlerische Freiheit. Sebald wendet sich selbst dagegen, auch wenn er das psychoanalytische Vokabular des Unbewussten vor allem in seinen literaturkritischen Arbeiten anwendet und bei den Germanistenkollegen im Mindesten als bekannt voraussetzt. Er stellt strikte Forderungen an das allgemein zum Scheitern verurteilte Leben des Individuums: Die Ästhetisierung der Katastrophengeschichte mittels Literatur. Trost beim Scheitern ist ihm das Surrogat einer Sinnhaftigkeit, welche sowohl die „Metaphysik der Geschichte“ als auch die „Metaphysik der Koinzidenz“ gegenläufig und doch komplementär repräsentieren soll. Das Ende von Austerlitz belegt die Unabschliessbarkeit dieses nicht weiter hinterfragbaren Geschichtskonglomerats – zwischen Geschichte und Naturgeschichte –, das selbst dann nicht enden will, wenn man, wie der Erzähler verlautbart, wie des öfteren „aus einem unguten Traum“ 489 aufwacht: Ich weiß nicht, sagte Austerlitz, was das alles bedeutet, und werde also weitersuchen [...]. Früher, sagte Austerlitz zuletzt, sind hier heraußen große Sümpfe gewesen, auf denen die Leute Schlittschuh liefen im Winter, genau wie vor dem Bishop`s Gate in London, und überreichte mir die Schlüssel seines Hauses in der Alderney Street. Ich könne dort, wann immer ich wolle, sagte er, mein Quartier aufschlagen 490 und die schwarzweißen Bilder studieren, die als einziges übrigbleiben würden von seinem Leben. Sollen der Traum, und im weiteren Sinne auch das Trauma, als eine Instanz des Unbewussten Geltung beanspruchen, so bleibt gerade das Warum einer Untat, das unheimliche Warum so vielen Unglücks unbeantwortet. Sebalds Schreiben verbleibt am Ende wieder bei etwas Ominösem im Dunklen verfangen und benennt somit nicht das Individuum als letzte freie und verantwortliche Instanz für das abgründige Scheitern der Zivilisation. Sebalds Verdienst rührt daher vor allem in der reflexiven Wendung seiner Lebenserfahrungen auf das Individuum im Allgemeinen und deren Stellung in der Geschichte im Besonderen. Seine reflexiven Gedankenanstrengungen münden unausweichlich in die Sartresche Annahme der generellen Entfremdung des Individuums aufgrund der Nicht-Identität des An-sich- und des Für-sich-Seins. Die Analyse der gesellschaftlichen Entfremdung lässt Sebald allerdings den Platz bei der Frankfurter Schule und der Freudschen Trieblehre einnehmen. Sartre behauptet hingegen den konstituierenden Konflikt mit dem Anderen, der nur dadurch bewältigt werden könne, versuchsweise die jeweilige Freiheit des Anderen anzuerkennen, seine aufzugeben und erneut wiederzuerlangen. Für Sartre bleibt 487 488 489 490 Vgl. Graham Jackman: „Gebranntes Kind“? W.G. Sebald`s „Metaphysik der Geschichte“, in: German Life and Letters, 57;4 Oxford/ Malden Oktober 2004, S. 456-471. Vgl. Wolf Wucherpfennig: W.G. Sebalds Roman Austerlitz. Persönliche und gesellschaftliche Erinnerungsarbeit, S. 158 f. W.G. Sebald: Austerlitz, S. 412. Ebenda, S. 410. 96 dieser Sachverhalt schlichtweg kontingent, wenn nicht absurd, für Sebald stellt sich durch das ganze Werk die sehnsüchtige Frage nach einem verborgenen, höheren Sinn, der nur nach der Natur vergeblich gesucht werden müsste. Die individuelle Entfremdung findet bei Sebald ihren Ausdruck in den existentiellen, ekelerregenden Abgrunderfahrungen, des Bewusstwerdens des Nichts, was das Individuum halten könnte, gekoppelt mit der Zerstörung fast eines ganzen Volkes. Über sein gesamtes Prosawerk, angefangen von Nach der Natur, Schwindel. Gefühle., gefolgt von den vier langen Erzählungen Die Ausgewanderten, Die Ringe des Saturn bis hin zu Austerlitz kulminiert sich dieses Gefühl nun scheinbar quantitativ messbar an der Festung von Breendonk in Belgien, die der Erzähler am Ende erneut aufsucht. Während des Studiums eines ihm beim ersten Treffen in Paris von Austerlitz ausgehändigten Buches wird der Leser erneut zuerst der fingierten Koinzidenz gewahr, dass auch der Protagonist dieses Buches eines Herztodes starb. Sein in Südafrika lebender Enkel Dan Jakobson, ein wissenschaftlicher Kollege von Austerlitz, so der Erzähler weiter, schrieb über die bis zum Jahre 1920 meist schon stillegelegten Diamantengruben, so auch über die beiden größten, die Kimberley Mine und die De Beers Mine, und da sie nicht eingezäunt waren, konnte, wer es wagte, bis an den vordersten Rand dieser riesigen Gruben herantreten und hinabblicken in eine Tiefe von mehreren tausend Fuß. Wahrhaft schreckenserregend sei es gewesen, schreibt Jakobson, einen Schritt von dem festen Erdboden eine solche Leere sich auftun zu sehen, zu begreifen, daß es keinen Übergang gab, sondern nur diesen Rand, auf der einen Seite das selbstverständliche Leben, auf der anderen Seite sein unausdenkbares Gegenteil. Der Abgrund, in den kein Lichtstrahl hinabreicht, ist Jakobsons Bild für die untergegangene Vorzeit seiner Familie und seines Volkes, die sich, wie er weiß, 491 von dort drunten nicht mehr heraufholen läßt. Während die existentielle Entfremdung in einem permanenten Spannungszustand des An- und Fürsich-Seins aufgehoben ist, stellt sich ob der gesellschaftlichen Verwerfungen, die angesichts der dauernden Zerstörungen von Lebenszusammenhängen beschieden werden müssen, die Frage nach dem Sinn und Werden von Geschichte, nach der Wahrheit von ihr: Aber was wissen wir schon im voraus vom Verlauf der Geschichte, der sich entwickelt nach irgendeinem, von keiner Logik zu entschlüsselnden Gesetz, bewegt und in seiner Richtung verändert oft im entscheidenden Moment von unwägbaren Winzigkeiten, durch einen kaum spürbaren Luftzug, durch ein zur Erde sinkendes Blatt oder durch einen von einem Auge zum anderen quer durch eine Menschversammlung gehenden Blick. Nicht einmal in der Rückschau können wir erkennen, wie es wirklich vordem gewesen ist. Die genaueste Wissenschaft von der Vergangenheit reicht kaum näher an die von kei492 ner Vorstellungskraft zu erfassende Wahrheit heran [...]. Die Sebaldsche „Metaphysik der Geschichte“ aus Austerlitz und die „Metaphysik der Koinzidenz“ interagieren komplementär und wechselseitig ähnlich wie das Subjekt und die Gesellschaft. Die unternommene Totalisierungsbewegung auf die Wahrheit hin bleibt approximativ wie auch Sartre mit seiner begrifflichen Wendung der „detotalisierten Totalisierung“ feststellte, die ihm zur Analyse Flauberts zugrunde lag. Sebald versucht gewissermassen in konzentrischen Kreisen, analog zwar zum Motto aus Die Ringe des Saturn, sich in geradezu entgegengesetzter Richtung vom Rand her dem Zentrum der 491 492 W.G. Sebald: Austerlitz, S. 416. W.G. Sebald: Kleine Exkursion nach Ajaccio, S. 17, in W.G. Sebald: Campo Santo, S. 7-18. 97 „Wahrheit“ anzunähern. Er unternimmt die autobiographisch-literarischen Wanderungen von seinem ostenglischen, literaturwissenschaftlichen Zentrum aus. Nach und nach, mit Abstechern nach China und Afrika, schickt er sich an, über Italien und Österreich, über die Schweiz und Deutschland, den letzten Annäherungsversuch mit Austerlitz zu fingieren. Sowohl die subjektive als auch die gesellschaftliche Entfremdung wird darin entfaltet, als handelte es sich um Notwendigkeiten und nicht um die Zutat des freien Willens des Subjekts, der trotz Vernunftbegabtheit nichts anderes als Zerstörung hervorzubringen im Stande ist. Sebalds ästhetisierte, somit transzendierte Dispositionen – unter anderem die Melancholie, 493 die pauschale Kritik und harsche Provokation zum Beispiel den Germanisten gegenüber (und demnach nicht die oftmals vermuteten frühkindlichen Traumata Sebalds!) – sind ihm hierzu nur bestenfalls schmückendes Beiwerk. Er weiss doch zu genau um die ansonsten vorherrschende und beschämende Tatsache, „daß wir unseren Toten von der vielfältigen Schönheit des Lebens nichts bieten als den billigsten Ersatz.“ 494 Sebalds, den Opfern der Judenvernichtung dargereichter „Grabschmuck“, ist alles andere als billig. Es ist, um mit dem kurzen Text Campo Santo aus Sebalds Nachlass zu schliessen, „fast wie ein den Toten nachgesandtes Schuldbekenntnis, wie eine halbherzige Bitte um Nachsicht an diejenigen, die man vor der Zeit unter die Erde gebracht hat.“ 495 Will man einen „ursprünglichen Entwurf“ Sebalds annehmen, dann diesen, den Toten der früh schon geahnten „lautlosen Katastrophe, die sich ohne Aufhebens vor dem Betrachter vollzieht“, 496 sowohl ästhetisch, als auch menschlich angemessen die letzte Ehre zu erweisen. „Nicht nur als freundliche Sozialgeste, sondern als Verlängerung des jeweils aussterbenden Gedächtnisses in die Gegenwart.“ 497 So lässt sich Sebalds Interpretation verstehen, der zufolge Rembrandt – in seiner berühmten Darstellung der Prosektur eines Hingerichteten durch Dr. Nicolaas Tulp – sich auf die Seite des Opfers, des gerichteten Verbrechers Aris Kindt stellt. „Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den erstarrten cartesischen Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht den Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten.“ 498 Sebald und sein Werk stehen somit im Spannungsfeld zwischen subjektiver, existentieller und gesellschaftlicher Entfremdung und dessen Vermittlung. In Die Ringe des Saturn lässt Sebald den Erzähler in einem (autobiographischen), phänomenologischen Rückblick auf einen Krankenhausaufenthalt, die ontologische Entfremdung und Grundlosigkeit auf den Punkt bringen. Die Nähe zu Sartres „Bersten“ 499 des Egos in unmittelbares, gelebtes und reflektiertes Bewusstsein, klingen sehr deutlich an: 493 494 495 496 497 498 499 Sebalds eigene Aussage im Interview Sven Siedenberg untermauert dies: “Es wird in meinen Büchern nicht auf eine explizite Weise von Schwermut geredet, aber sie ist ständig präsent. Ich bin schon ein Melancholiker. Das ist eine emotionale Disposition.“ (Vgl. Sven Siedenberg: Anatomie der Schwermut: Interview mit W.G. Sebald. Über sein Schreiben und die Schrecken der Geschichte, S. 147, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, S. 146-148. W.G. Sebald: Campo Santo, S. 22, in: W.G. Sebald: Campo Santo, S. 19-38. Ebenda, S. 23. W.G. Sebald: Nach der Natur, S. 77. So W.G. Sebald im Gespräch mit Sigrid Löffler. Vgl. Sigrid Löffler: „Wildes Denken“. Gespräch mit W.G. Sebald, S. 136, in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, S. 135-137. W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 27. Vgl. Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, S. 33 f. 98 Ich begann meinen Körper zu spüren, den tauben Fuß, die schmerzende Stelle in meinem Rücken, registrierte das Tellergeklapper, mit dem draußen auf dem Gang der Krankenhaustag anhob, und sah, als das erste Frühlicht die Höhe erhellte, wie, anscheinend aus eigener Kraft, ein Kondensstreifen quer durch das von meinem Fenster umrahmte Stück Himmel zog. Ich habe diese weiße Spur damals für ein gutes Zeichen gehalten, fürchte aber jetzt in der Rückschau, daß sie der Anfang gewesen ist eines Rißes, der seither durch mein Leben geht. Die Maschine an der Spitze der Flugbahn war so unsichtbar wie die Passagiere in ihrem Inneren. Die Unsichtbarkeit und Unfaßbarkeit dessen, was uns bewegt, das ist auch für Thomas Browne, der unsere Welt nur als Schattenbild einer anderen ansah, ein letzten Endes unauslotbares Rätsel gewesen. In einem fort hat er darum denkend und schreibend versucht, das irdische Dasein, die ihm nächsten Dinge ebenso wie die Sphären des Universums vom Standpunkt des Au500 ßenseiters, ja man könnte sagen, mit dem Auge des Schöpfers zu betrachten. Sebald formuliert in diesem Sinne, und dieses Zitat steht für sein Gesamtwerk, das unmögliche Bestreben, Eins zu sein bzw. An-und-Für-sich-, demnach „Gott-gleich-“ zu sein, wie Sartre es in Das Sein und das Nichts formulierte. Die Verurteilung zur Freiheit ist genau an dieser Stelle angesiedelt und muss, ob ihrer schwindel- und ekelerregenden Grund- und Sinnlosigkeit, vollständig gelebt werden auf ein im weiteren Verlauf je neu zu bestimmendes Ziel hin. Früh schon wurde Sebalds sich dieses Zwiespalts bewusst, wie seine Antwort auf eine eher unscheinbare Feststellung Poltronieris schließen lässt: Ich wußte halt nicht mehr, ist man noch richtig im Kopf oder ist man es nicht mehr. Ich habe mich eine beträchtliche Zeit lang nahe am Rand meiner Vernunft befunden. Die Gefahr, daß man den Verstand verliert ist nicht gering, vielen Leuten widerfährt es, daß die über ein, zwei Jahrzehnte aufgebaute soziale und psychische Identität ins Feuer gerät. Bei Leuten, die einen kreativen Impuls in sich tragen, ist das noch ausgeprägter. 501 Darin liegt Sebalds ursprüngliche Wahl der Schriftstellerei begründet, nicht im Unbewussten. Die inszenierte „Metaphysik der Koinzidenz“ dient Sebald letztlich als ästhetisches Korrelat für den Umstand, den Sartre für das Für-sich-Sein des Bewusstseins ausmachte, „das nicht mit sich selbst in einer vollständigen Adäquation koinzidiert.“ 502 500 501 502 W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, S. 29. Vgl. dazu das Interview Marco Poltronieri: Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe? Ein Gespräch mit W.G. Sebald, S. 141 f., in: Franz Loquai (Hg.): W.G. Sebald, S. 138-144. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 164. 99 LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS Primärliteratur von Jean-Paul Sartre Sartre, Jean-Paul: Sartre über Sartre. Autobiographische Schriften, Reinbek bei Hamburg 1977. – Sartre über Sartre. Interview mit Perry Anderson, Ronald Fraser und Quintin Hoare, in: Sartre über Sartre. Autobiographische Schriften, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 144-166. – Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931- 1939, Reinbek bei Hamburg 1982. – Bewußtsein und Selbsterkenntnis. 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Sebald, S. 146-148. 104 LEBENSLAUF Geboren am 15.03.1973 in Landau an der Isar, Deutschland 1995-1998 Ausbildung zum Examinierten Krankenpfleger am Städtischen Klinikum Nürnberg, Deutschland 1998-2001 Abitur am Nürnberg- bzw. Hermann-Kesten-Kolleg, Nürnberg, Deutschland Seit 1999 Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, Deutschland 2001-2007 Magister- und Lizenziatsstudium der Philosophie, Osteuropäischen Geschichte, Kognitionswissenschaft und Vergleichenden Literaturwissenschaft an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Deutschland und Zürich, Schweiz; Tutor 2006 und 2007 2002 Geburt Sohn Cedric Manolo, Davos, Schweiz 105