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PREDIGT AM 31.7.16 (10. SO. N. TRIN.) IN M&S ZU RÖMER 9,1-8.14-16
Liebe Gemeinde!
Die Volkabstimmung in Großbritannien über den sogenannten „Brexit“, also über den Austritt aus der EU, hat ein mittleres politisches Erdbeben ausgelöst. Es scheint so, als ob die
Menschen auf den britischen Inseln sich mehrheitlich als „Briten“ verstehen und weniger als
Europäer. Aber so einfach ist es nicht. Schotten entdecken, dass sie Schotten sind, und wollen nicht mehr zu Großbritannien gehören, zur EU aber schon. Die Frage: „Wer sind wir?
Wo gehören wir hin?“ zerreißt die britische Gesellschaft.
Wer sind wir? Diese Frage treibt auch hier viele Menschen um. Nach 1945 stolz zu sagen:
„Ich bin ein Deutscher“, das ist vielen schwergefallen. Dabei können wir durchaus auf vieles andere in der Geschichte stolz sein. Aber wir sind ja nicht nur Deutsche, sondern auch
Munninger (Schwörsheimer), und wir sind Christen in diesem Gottesdienst. Wir sind auch
Familienväter und -mütter, Großeltern oder Kinder, Nachbarn oder Kollegen im Betrieb.
„Wer sind wir?“: Diese Frage lässt sich also nicht mit drei Wörtern beantworten. So ist es
auch mit der Frage: „Wer sind wir als Christen?“ In der Bibel finden wir zwei Teile. Das
sogenannte „Alte Testament“ ist – grob gesagt – zugleich die Bibel der Juden. Das bedeutet:
Irgendwie müssen wir uns zum Judentum stellen. Ohne das Volk Israel gibt es keinen Jesus
Christus und kein Christentum.
Der Apostel Paulus setzt sich damit im Römerbrief auseinander. Er schreibt im 9. Kapitel:
„Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe.
Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem
Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Aber ich sage damit nicht, dass Gottes Wort hinfällig geworden sei. Denn nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen;
auch nicht alle, die Abrahams Nachkommen sind, sind darum seine Kinder. Sondern nur
„was von Isaak stammt, soll dein Geschlecht genannt werden", das heißt: nicht das sind
Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind, sondern nur die Kinder der Verheißung
werden als seine Nachkommenschaft anerkannt. Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn
Gott ungerecht? Das sei ferne! Denn er spricht zu Mose: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich
gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ So liegt es nun nicht an
jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“
Ich spüre eine große Leidenschaft in den Worten des Paulus. Es ist nicht die polemische
Leidenschaft eines Populisten. Er will nicht andere aufhetzen. Er ist selbst betroffen und
bewegt. Paulus ist ja selbst ein Jude gewesen. Als Jude ist er in Kleinasien aufgewachsen
und hat eine theologische Ausbildung in der „heiligen Stadt“ Jerusalem genossen. Nachdem
er von Christus berufen wurde, wollte er seine Landsleute auch dafür gewinnen. Aber die
meisten winkten ab. Bei Nichtjuden fand Paulus Zuspruch und Erfolg. Der Jude Paulus
wurde zum „Heidenapostel“. Er gewann Menschen, die nicht vorher Juden gewesen waren,
sondern z.B. Griechen und Römer, und aus einem ganz anderen Hintergrund heraus Christen wurden.
„Wer bin ich?“ Für Paulus persönlich war die Sache klar: Bei Jesus Christus fand er sein
Glück, seine Rechtfertigung und sein Heil. Christ sein, das war jetzt seine Identität, „in
Christus sein“, wie Paulus es ausdrückt. Aber Paulus konnte seine Vergangenheit und sein
Volk nicht einfach vergessen. Was war jetzt mit den Juden? Was ist mit dem Volk Israel?
Sind sie vom Heil ausgeschlossen? Paulus spricht sehr leidenschaftlich und nachdenklich
darüber. Aber er redet ganz ohne Hass. Das unterscheidet ihn von Demagogen früherer und
heutiger Zeit.
Ja, wer sind die Juden? Wer sind wir als Christen? Was haben wir gemeinsam, was trennt
uns? Für grobschlächtige Antworten ist Paulus nicht zu haben, auch nicht für Hetzkampagnen. Rassistische Gedanken gibt es bei ihm gar nicht. Paulus denkt nicht in solchen Kategorien. Und als geborener Jude wird er sich auch nicht selbst zerfleischen. Was ist mit den
Juden und den Christen? Paulus kann darüber nicht sprechen, ohne von Gott zu reden.
Ich finde das gut. Wenn Menschen erst einmal anfangen, darüber zu philosophieren, was
mit „den“ Juden oder „den“ Deutschen usw. ist, wird es schnell gefährlich. Da lauert der
Hass gleich um die Ecke. Da liegt es mehr als nahe, zu verallgemeinern und die wirklichen
Menschen gar nicht mehr zu sehen. Da übersehen wir, wie vielfältig unsere eigene Identität
ist. Nicht nur bei dem Fußballer, der bei der EM ein Tor geschossen hat und der einen Vater
aus Ghana und eine deutsche Mutter hat.
Menschen können eine gebrochene Identität haben. Menschen können uns enttäuschen. Paulus war sicher enttäuscht, dass viele seiner Landsleute nicht auf ihn hören wollten. Hätten
nicht gerade sie ihn verstehen können, sogar verstehen müssen?! Menschen können etwas
anderes sein, als wir denken. Im Film „Hitlerjunge Salomon“ nach einer wahren Geschichte
sagt der Lehrer, woran man einen Juden erkennt, und ahnt nicht, dass dieser Hitlerjunge
selbst ein Jude ist.
Wo ist Identität zu finden? Wo ist jemand ganz er selbst? Gott ist der Eine. „Ich bin, der ich
bin“, übersetzt er seinen Namen im 2. Buch Mose. Man kann geradezu sagen: Gott ist die
Identität. Gott ist er selbst – so sehr, wie es niemand von uns sein kann. Gott bleibt derselbe.
Wir können uns auf ihn verlassen. Gott will der rote Faden in unserem Leben sein. Er ist
auch der rote Faden im Leben seines Volkes. Dieser rote Faden reicht weit zurück. Die Geschichte Gottes mit den Menschen fängt nicht erst im Jahr 0 an. Vorher hat Gott die Welt
und mit ihr die Menschen geschaffen. Vorher hat er schon eine Geschichte mit seinem Volk
Israel. So vieles hat Gott seinem Volk Israel zugedacht. Paulus zählt vieles auf: die „Kindschaft … und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die
Verheißungen“. Die Verheißungen, das sind die Zusagen, das ist, was Gott in Aussicht gestellt und versprochen hat. Da gilt das Sprichwort: „Versprochen ist versprochen und wird
nicht gebrochen.“ Gott erfüllt seine Verheißungen. Das ist Paulus wichtig. Das ist auch für
uns wichtig. Es bedeutet: Wir können uns auf Gott verlassen. Es bedeutet auch: Gott sagt
nicht heute, dass er das Volk Israel erwählt, und will morgen dann nichts mehr von ihm wissen. So ist Gott nicht! Der rote Faden reißt nicht ab. Die Israeliten sind sein Volk. Gott
nimmt sein Wort nicht zurück. Die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel ist nicht vorbei.
Das liegt nicht daran, dass Juden bessere oder schlechtere Menschen wären. Es liegt daran,
dass wir uns auf Gott verlassen können. Was Gott verheißen hat, das wirkt in die Zukunft.
Wer sind wir Christen? Wer sind die Juden? Wir und sie – beide sind Menschen, denen Gott
etwas zugesagt hat – Erben der Verheißung. Es gibt keinen Grund, einander zu hassen. Aufgrund ihrer Geschichte hätten die Juden mehr Grund, die Christen zu hassen, als umgekehrt,
nach all dem Leid, was ihnen zugefügt wurde. Paulus empfindet keinen Hass. Er fühlt Trauer und Schmerz. Warum, darauf komme ich noch.
Paulus lenkt unseren Blick ein Stück weit von den Menschen weg und hin auf Gott. Er fragt
nicht: „Warum sind Juden so und warum sind andere anders?“ Stattdessen schwingt die
Frage mit: „Warum hat Gott ausgerechnet das Volk der Juden erwählt und kein anderes?“
Die Antwort nimmt Paulus aus dem Alten Testament: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich
gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Aus freien Stücken hat
sich Gott diesem Volk zugewandt. Und so stimmt beides: Es hätte auch ein anderes Volk
sein können – und das andere: Es war aber kein anderes; gerade dieses hat sich Gott ausgesucht. Wenn man damit meint: „Es ist Israel von Gott zugefallen“, könnte man sogar sagen:
„Es war Zufall.“ Wir haben Gott nicht zur Rechenschaft zu ziehen, wem er sich zuwendet.
Gott ist frei in seinem Handeln.
Manchmal haben wir Probleme mit dieser Freiheit. Wir fragen: „Warum lässt Gott das zu?
Warum geschieht dies und jenes nicht?“ Manche legen all ihre Probleme und Sorgen in diese Fragen hinein. Sie sind mit solchen Fragen nicht allein. Wir finden sie schon in den
Psalmen, die fromme Juden zuerst gebetet haben: „Gott, warum hast du mich verlassen?
Warum hast du mich verstoßen? Warum hast du mich vergessen?“ Sie warten auf eine Antwort. In der deutschen Sprache warten wir auf ein „weil“: Gott hat das getan, weil… Aber
dieses „Warum“ heißt wörtlich „Wozu“. Gott, wozu hast du das getan? Zu welchem Ende
führst du das hinaus?
Das ist die Frage, die auch Paulus bewegt. Er schaut auf eine große Geschichte der Segnungen und Verheißungen zurück. Gott hat sein Volk Israel reich ausgestattet. Es ist das Volk,
das der Welt den Glauben an den einen Gott gebracht hat. Noch heute sind die zehn Gebote,
die Gottesliebe und die Nächstenliebe für viele der Maßstab ihres Handelns.
Das alles finden wir schon im Alten Testament. Dort steht auch: „Barmherzig und gnädig ist
der HERR, geduldig und von großer Güte.“ In dem Juden Jesus hat Gott seine Barmherzigkeit gezeigt. Durch Jesus Christus haben auch viele Menschen aus anderen Völkern zum
barmherzigen Gott gefunden. Auch wir sind ein Teil dieser Geschichte geworden, einer Geschichte der Segnungen und Verheißungen, die im Volk Israel angefangen hat.
Aber Paulus spürt auch Trauer und Schmerz. Viele seiner Landsleute wollen sich nicht Jesus Christus zuwenden. Er möchte nicht von ihnen getrennt sein. Aber sie sehen das Heil
nicht in Jesus. Er ist für viele von ihnen nicht der Messias. Paulus hat bei seinen Landsleuten viel Ablehnung erfahren, als er von Christus predigte. Das lässt ihn nicht kalt. So ist er
hingerissen und hergerissen: Hingerissen von seinem Leben in Christus und hergerissen von
seiner Anhänglichkeit an seine jüdischen Landsleute und dem Vertrauen, dass Gott sein
Wort hält. Da ist kein Hass gegen die Juden. Da ist vielmehr der Respekt vor dem, was Gott
gerade gegenüber diesem Volk erklärt und getan hat. Da ist aber auch keine Gleichgültigkeit, als ob es egal sei, ob die Juden etwas mit Jesus anfangen können oder nicht. Paulus
ringt im Römerbrief noch weiter mit dem Thema. Er erwartet, dass auch Israel zu Jesus
Christus finden wird, wenn die anderen zu ihm gefunden haben. Ganz am Ende steht der
Lobpreis des unergründlichen und barmherzigen Gottes:
„O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie
unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! … Denn von ihm und
durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“
LIEDER: 599,1-4; Intr. 765; 290,1-4; 289,1-2+4; 434
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