1 Manuskript, aufgeschaltet auf fen.ch am 3. Mai 2011 Peter Fuchs Die Unbeeindruckbarkeit der Gesellschaft – Ein Essay zur Kritikabilität sozialer Systeme Ein Schlüsselproblem bei der Rezeption und der Anwendung des Systembegriffs der Systemtheorie ist die ständig mitlaufende Metaphorik des Raumes.1 Psychische und soziale Systeme werden als Räume oder Quasi-Räume imaginiert. Sie verfügen dann über Grenzen, die ihren Innenraum vom Außenraum (der Umwelt) trennen und sich überschreiten lassen in einer Art Grenzverkehr. Solche Systeme werden vorgestellt als Be-Inhalter, als Behältnisse von systemeigenen Einheiten, Strukturen und Prozessen, die nicht in ihrem Außen vorkommen. Übersehen wird dabei, daß das Sinnsystem definiert ist als Differenz von System und Umwelt. Als Differenz, das heißt: Es ist nicht deren linke Seite, es ist so wenig lokalisiert wie die rechte Seite, die Umwelt, von der ohne System kaum die Rede sein könnte. Nicht anders verhält es sich mit dem System: Es ist, was es ist, durch die Differenz zur Umwelt. Seine Einheit ist diese Differenz. Kurz: Sinnsysteme sind nicht wie die Dinge, die wir sonst kennen. Sie sind transklassische ‚Objekte‘ oder – in behelfsmäßiger Formulierung – Unjekte. Wenn man von dieser Abstraktionslage ausgeht, ändern sich die Bedingungen, unter denen man über Gesellschaftskritik nachdenken kann. I Sinnsysteme sind konzipiert als Zeitsysteme. Sie konservieren keinen Bestand, sie sind niemals vollzählig. Ihre elementaren Einheiten sind Ereignisse (Kognitionen, Kommunikationen).2 Die Besonderheit dieser Ereignisse findet sich darin, daß sie sich in der Sinnzeit ereignen, also nicht als identitäre Geschehnisse, die man im Singular nennen könnte. Was jeweils als Identität zustandekommt, wird in der Form der Nachträglichkeit ermittelt, durch Anschlüsse, die das, was geschah, als Bestimmtes, als Zugehöriges aufgreifen: durch Anschlüsse, die selbst auf Anschlüsse angewiesen sind. Das operative Ereignis ist dann nicht die singuläre Kognition oder Kommunikation, sondern deren Hinbeobachtung im Modus eines Danach, das sein Vorher erzeugt – vorübergehend. Sinnsysteme sind aus dieser Perspektive volatile Systeme. Sie befinden sich nicht in einem ontologisch faßbaren Zustand.3 Ebendies nötigt dazu, die räumliche Figur der Grenze umzudenken auf Systeme, für die die Sinnzeit konstitutiv ist. Die Grenze, ohne die der Systembegriff sinnlos wäre, wird gleichsam ausgezogen in der Zeit, die, im Schema Vorher/Nachher beobachtet, an Änderungen 1 Vgl. Fuchs, P., Die Metapher des Systems, Studie zur allgemein leitenden Frage, wie sich der Tanz vom Tänzer unterscheiden lasse, Weilerswist 2001. Die Theorie, um die es hier geht, nenne ich seit einiger Zeit Allgemeine Theorie der Sinnsysteme. 2 Vgl. Luhmann, N., Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984. 3 Dies begründet die für Systemtheorie typische Strategie der De-Ontologisierung durch Funktionalisierung. Volatilität ist der Name für die Konstruktion eines Problems, als dessen Lösung zum Beispiel die Selbstphänomenalisierung der Sinnsysteme gedeutet werden kann. Ich komme darauf zurück. 1 2 registriert wird. Die Grenzen der Sinnsysteme sind demnach Zeitgrenzen. Bündig formuliert: Sie stellen sich her als Beibehalten der Fortsetzbarkeitsbedingungen von sinnförmigen Operationen.4 Und: Sie werden beobachtbar, wenn Änderungen ebendieser Bedingungen bemerkt werden. In sozialer Systemreferenz, von der im weiteren ausgegangen wird, heißt dies, daß das Theorem der Geschlossenheit sozialer Systeme nicht von einem ‚Behältnismodell‘ her beschrieben werden kann. Solche Systeme haben keine in sich zurücklaufende Ränder, die zusammenhalten, was zusammengehört. Die Schließung erfolgt in der Zeit durch die Anschlüsse bzw. Nachträge, die Vorereignisse als passend, als systemkompatibel diskriminieren. Genau das ist der Grund dafür, daß die soziale Operation Kommunikation selbst nicht beobachtet werden kann. Ihre Synthese erfolgt immer in einem Danach, das selbst nicht zugriffsfähig ist. Im Blick auf psychische Systeme formuliert Paul Valéry treffend: "Wir können unseren Gedanken nicht zuvorkommen."5 Die Härte dieser Form der Schließung erhellt aus der Nichterreichbarkeit der operativen Synthesis. Sie kommt, plakativ gesagt, immer aus der Zukunft. Die Frage, die sich auf Grund derart asketischer Argumentation stellt, ist: Wie kommt es, daß wir, obwohl noch niemand ein Sozialsystem gesehen hat, den Eindruck haben, tagtäglich und folgenreich mit Sozialität verknüpft zu sein und in ihr gleichsam eingerichtet zu existieren? Diese Problemkonstruktion läßt sich schärfen, wenn man mit Luhmann davon ausgeht, daß soziale Systeme keine Körper, kein Bewußtsein, nichts Psychisches enthalten, sondern sich autopoietisch via Kommunikation reproduzieren. Sie verfügen demnach nicht über die Funktion der Wahrnehmung, des an Erleben gebundenen Weltkontakts. Sie sind deswegen auch nicht existentiell betreffbar. Für sie gibt es keine Möglichkeit der Phänomenalisierung. Und das heißt in paradox anmutender Zuspitzung: Sie sind im Blick auf Sinn als Sinnsysteme anästhetisch. Sie arrangieren, gruppieren, disseminieren im Rahmen ihrer Reproduktion Sinndeutungsmöglichkeiten, aber sie können Sinn nicht lesen. Er hat für sie keine ‚Erscheinung‘. Dies mag die Ursache dafür sein, daß Luhmann die Gegebenheitsweise von Sinn nahezu durchweg phänomenologisch bestimmt, also grosso modo auf psychische Systeme bezieht, für die das Medium Sinn die Qualität der ‚Phänomenheit‘ annimmt.6 Soziale Systeme sind auf psychische Systeme angewiesen, die sinn-entnehmend operieren im Zuge neuronal gestützter Wahrnehmung. Sie ist eine Bedingung der Möglichkeit phänomenalisierter Sinnwelten. Im Gegenzug statten soziale Systeme psychische Systeme durch Sozialisation mit der Sinnform aus. Der Terminus, der diese Reziprozität zum Ausdruck bringt, ist: Interpenetration.7 II 4 Vgl. Luhmann 1984, a.a.O., S.35/36. Cahiers/Hefte, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., Bd. 4, 1990, S.55. 6 Vgl. zum Ausdruck ‚Phänomenheit des Phänomens’ Derrida, J., in: Positionen, Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Lous Houdebine, Guy Scrapetta, Granz/Wien 1986, S.72. 7 Siehe zum Begriff Interpenetration (in der Parsons'schen Fassung) Jensen, St., Interpenetration - Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme, in: ZfS 7, 1978, S.116-129; Münch, R., Über Parsons zu Weber: Von der Theorie der Rationalisierung zur Theorie der Interpenetration, in: ZfS 9, 1980, S.18-53. Siehe direkt zum Parsons'schen Begriff Luhmann, N., Interpenetration bei Parsons, ZfS 7, 1978, S.299-302. Wir werden uns im weiteren orientieren an Luhmann, N., Interpenetration: Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme, in: ZfS 6, 1977, S.62-76, ferner am Kapitel "Interpenetration" in Luhmann 1984, a.a.O., S.286-345. 5 2 3 Interpenetration ist als Begriff und theorietraditionell für das Verhältnis zwischen psychischen und sozialen Systemen reserviert. Er bezieht sich auf den Sonderfall einer ‚Fundamentalgrenze‘, die durch die absolute Abschottung ‚körperverdeckter‘ psychischer Systeme gekennzeichnet ist, die füreinander intransparent sind und deswegen prinzipiell unausrechenbar. Das ist der Ausgangspunkt des Theorems doppelter Kontingenz, die als das Problem bestimmt wird, durch das Kommunikation (und damit soziale Systemik) katalysiert wird: Kommunikation wird deutbar als Lösung des Dauerproblems der Verbindung des Unverbindbaren. Damit gewinnt der Begriff der Interpenetration seine besondere Stellung. Er bezeichnet, wenn man so will, das Verfahren, durch das die Ko-Evolution oder Ko-Origination psychischer und sozialer Systeme möglich wird. Im Kern geht es um die Installation wechselseitiger Irritabilität im gemeinsamen Medium Sinn, genauer darum, daß sich beide Systemtypen ‚vorkonstituierte Eigenkomplexität‘ appräsentieren, die sie ausnutzen zum Aufbau je eigener Strukturalität und Prozessualität, ohne daß es zu einem Austausch, einem Transfer der Systemoperationen kommt. Beispielsweise liefern psychische Systeme (vorzugsweise sprachlich) Äußerungen an, die von sozialen Systemen, die selbst weder sprechen noch Sprache verstehen können, in Eigenselektivität arrangiert werden, so daß sich psychische Systeme auf diese andere Komplexität einlassen müssen. Ein anderes Beispiel ist, daß die Körper eine Ökonomie der Verräumlichung anbieten, die die Vorbedingung der Möglichkeit von Speicherung ist.8 Interpenetration ist, so gesehen, eine Technik, die von jeder Spezifik dessen absieht, worum es in Kognition und Kommunikation geht. Sie ist indifferent gegenüber Bedeutung und Bedeutsamkeit. Sie geschieht unabhängig davon, was Menschen umtreibt. Da man schlecht bezweifeln kann, daß Menschen existentiell betreffbare Einheiten sind, verwendet Luhmann an dieser Problemstelle den für ihn ungewöhnlichen Begriff der zwischenmenschlichen Interpenetration.9 Dieser Ausdruck bezeichnet die Ebene, auf der Menschen für Menschen (einschließlich der Körper) Bedeutsamkeit entfalten und damit einander eine anders ‚gestimmte‘ (differente statt indifferente) Komplexität offerieren. Luhmanns Beispiele dafür sind Moral und Systeme der Intimität. Es ist schnell zu sehen, daß Kritik an sozialen Strukturen und Prozessen auf dieser Ebene generiert und ethisch bzw. moralisch konditioniert wird. Ebenso deutlich ist aber, daß mit der zwischenmenschlichen Interpenetration die Referenz auf Menschen zentral wird. Sie substituiert den Bezug auf soziale Systeme durch den Bezug auf Menschen und aus Menschen zusammengesetzten Organisationen, die als ‚Täter‘ stilisierbar sind, schließt aber von da aus durch auf die ‚Täterschaft‘ der sozialen Großsysteme: auf die Gesellschaft und ihrer Funktionssysteme, die – was wir oben ausgeschlossen haben – als menschendurchsetzt imaginiert werden. Die Gesellschaft und ihre primären Subsysteme (Funktionssysteme) sind jedoch weder erreich- noch beeindruckbar. Sie haben keine soziale (ja nicht einmal eine postalische) Adresse, unter der sie sich anschreiben oder auffinden ließen. Daraus folgt, daß sie über kein 8 Krämer, S.: Friedrich Kittler − Kulturtechniken der Zeitachsenmanipulation, in: Lagaay, A./ Lauer, D. (Hrsg.), Medientheorien. Eine philosophische Einführung,. Frankfurt/NY 2004, S. 201-224, S.211. 9 1984, a.a.O., S.303ff. 3 4 Zentrum verfügen, durch das sie repräsentiert würden und dem Mitteilungshandlungen zugerechnet werden könnte. Sie sind zwar Kommunikationsverkettungen, aber sind selbst nicht Einheiten, die für Kommunikation als mitteilende Instanzen in Frage kommen. Anders ausgedrückt: Gesellschaftskritik trifft nicht die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Politik … an.10 Und die Gesellschaft ist kein responsible being: Sie kann nicht antworten. Dieses Problem spitzt sich dadurch zu, daß das, was wir Gesellschaft nennen, so etwas darstellt wie fungierende Indifferenz: Sie besteht „aus dem Zusammenhang derjenigen Operationen, die insofern keinen Unterschied machen, als sie einen Unterschied machen.“11 Das heißt: Gesellschaft konstituiert sich nicht über das, wovon Kommunikationen handeln, worauf sie sich beziehen, für wen sie welche Bedeutung haben. Sie ist beobachtbar als die Ausblendung jeder ‚quiditas‘ (Washeit). Ihr Urdatum ist die ‚Daßheit‘ (quoditas) der Kommunikation, gleichgültig, ob es um Exekutionskommandos oder Bachblütentherapie geht. Diese Lage entsteht durch die De-Hierarchisierung der sozialen Welt im Kontext der funktionalen Differenzierung und den damit einhergehenden Ausfall einer repraesentatio identitatis der Gesellschaft. Systemtheoretische Ausdrücke dafür sind: Polykontexturalität, Heterarchie, Hyperkomplexität. Der erste Begriff bezeichnet, geballt formuliert, die Unmöglichkeit einer einheitlichen (und nicht gegenbeobachtbaren) Beobachtung der Gesellschaft. Heterarchie verweist auf so etwas wie die ‚Horizontalität‘ autonomer Funktionssysteme, die nicht im Schema einer Hierarchie angeordnet sind. Hyperkomplexität markiert die Situation, daß in ebendieser Gesellschaft Kommunikationen zirkulieren, die diesen Befund ‚bekanntgeben‘.12 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint Gesellschaftskritik nichts weiter als eine Donquichotterie zu sein. Sie stieße buchstäblich ins Leere. Sie wäre unter der Voraussetzung funktionaler Differenzierung der seltsame Fall der Stabilisierung spezifischer Kommunikation unter Dauer-Entmutigungsbedingungen. Diese ‚Hartnäckigkeit‘ ist erklärungsbedürftig, nicht zuletzt auch deswegen, weil „jede Kritik, jede Gegenkraft, das System nur ernährt."13 III Ein Weg, sich einer Erklärung zu nähern, ist der Funktionalismus dieser Systemtheorie.14 Der Begriff der Funktion ist in ihr so abstrakt gehalten, daß er methodisch nicht nur auf Systeme anwendbar ist. Die Methode besteht darin, je fragliche Phänomene als Lösungen von Problemen aufzufassen, die wissenschaftliche Beobachter konstruieren – in einem Tableau 10 Das ist der Ausgangspunkt meiner Analysen zum Phänomen Terror in: Das System „Terror“, Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne, Bielefeld 2004. 11 Luhmann, N., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, Bd.1, S.91. 12 Vgl. umfangreicher Fuchs, P., Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt a.M. 1992. 13 So die Formulierung in einem Interview von Baudrillard, J., in: Rötzer, F., Französische Philosophen im Gespräch, München 1987, S.29. 14 Vgl. Fuchs, P., Die Theorie der Systemtheorie – erkenntnistheoretisch, in: Jetzkowitz, J./Stark, C. (Hrsg.), Soziologischer Funktionalismus. Zur Methodologie einer Theorietradition. Opladen 2001, S.205-218. 4 5 vergleichbarer (wechselseitig instruktiver) Problemkonstruktionen und Problemlösungen. Damit wird eine nicht ontologisierende, ‚flexible‘ Deutbarkeit möglich. Im Blick auf Gesellschaftskritik ist zunächst auffällig, daß sie – wesentlich ein Kind der Aufklärung – Imposanz gewinnt im Kontext der Umstellung der Gesellschaft von Stratifikation auf funktionale Differenzierung. Das legt nahe, diese gesellschaftliche Großtransformation in die Problemkonstruktion einzubeziehen und die Frage zu stellen, welche Effekte diese Veränderung so erzeugt, daß Gesellschafts- und Sozialkritik plausibel und folgenreich werden. - - - - 15 Ein zentrales Moment dieses Wandels ist, wie gesagt, die De-Hierarchisierung der sozialen Ordnung. Die Gesellschaft verliert die sie repräsentierenden Instanzen und Mächte. Sie ist wie ihre Funktionssysteme inadressabel und wird von niemandem vertreten, ist also weder appellations- noch satisfaktionsfähig. Bemerkenswert daran ist, daß Gesellschaftskritik Konturen gewinnt im Moment, in dem der kritikable ‚Gegenstand‘ ausfällt. Das läßt die Vermutung zu, daß die Kritik ebendiesen Gegenstand selbst konstruieren muß. Funktionale Differenzierung löst die Schichten und Stände auf, in denen wesentliche Lebens- und Kommunikationsbewandtnisse gleichsam lokal betreut wurden. Die damit verknüpften Funktionen werden de-lokalisiert und an gesellschaftsweit operierende Systeme wie Wirtschaft, Recht, Politik, Erziehung, Religion, Kunst etc. delegiert, die jene Funktionen in autopoietischer Autonomie exklusiv ausüben. Im selben Zuge ändert sich der Inklusions/Exklusions-Modus. Partizipation an relevanten sozialen Kontexten wird nicht mehr durch Eingeborensein in Schichten ermöglicht und reguliert. An diese Stelle tritt als neues Legitimationsprinzip die Gleichheit der Chancen jedes Individuums im Blick auf die Teilhabe an den Funktionssystemen. Gefordert ist der Form nach eine All-Inklusivität, die – angesichts empirischer Ungleichheiten – wie ein Ungleichheitsdetektor arbeitet.15 Gesellschaftskritik gewinnt in diesem Zusammenhang ihre stärkste Plausibilitätsressource. Mit der funktionalen Differenzierungen geht eine ‚Kontingenzexplosion‘ einher: Alles, was geschieht, beobachtet und mitgeteilt wird, kann mehr und mehr als möglich, aber nicht notwendig behandelt werden.16 Was sich verliert, ist die Möglichkeit einer verbindlichen Welterzählung.17 Der Ausdruck dafür war in relativ Vgl. Fuchs, P., Das Phantasma der Gleichheit, in: Merkur 570/571, 1996, S.959-964. Auf eine entscheidende Ausnahme komme ich gleich zurück. 17 In berühmter Formulierung: „Le grand récit a perdu sa crédibilité, quel que soit le mode d´unification qui lui est assigné: récit spéculatif, récit de l´émancipation.“ Lyotard, J.-F., La Condition postmoderne, Paris 1979, S.63. Aber schon die Romantik läßt sich begreifen als seismographische Reaktion: "Die Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, weil ihr eine occasionelle Beziehung zur Welt wesentlich ist, statt Gottes aber nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen bloßen Anlaß macht .... Jetzt erst (nach dem Ausfall von Formeln wie Gott, Staat, P.F.) entfaltet das Occasionelle die ganze Konsequenz seiner Ablehnung jeder Konsequenz. Jetzt erst kann wirklich alles zum Anlaß für alles werden und wird alles Kommende, alle Folge in einer abenteuerlichen Weise unberechenbar ... Aus immer neuen Gelegenheiten entsteht eine immer neue, aber immer nur occasionelle Welt, eine Welt ohne Substanz und ohne die Abhängigkeit des Funktionellen, ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition ... geführt nur vor der magischen Hand des Zufalls, the magic hand of chance." Schmitt, C., Romantik,in: Prang, H. (Hrsg.), Begriffsbestimmung der Romantik, Darmstadt1968, S.73-92, hier S.90/91. 16 5 6 naher Vergangenheit: Postmoderne. Jenes Ausufern von Kontingenz, lesbar als massiver Orientierungsverlust, müßte erneut Gesellschaftskritik entmutigen, tut es aber offenbar empirisch nicht. Diese Skizze eines Syndroms von Problemkonstruktionen läßt es zu, tentativ die Funktion von Gesellschaftskritik zu bestimmen. Sie speist, wenn man so sagen darf, Kommunikationen, durch die gesellschaftliche Polykontexturalität (Heterarchie etc.) als kontingent aufgefaßt wird: als selbst nicht notwendig, als selbst anders möglich. Spitz formuliert: Sie setzt Kontingenz kontingent. Sie projiziert anders mögliche (vor allem: zukünftige) Gesellschaften, argumentativ flankiert durch die Schwierigkeiten, die mit der ‚Kontingenzformel‘ der modernen Gesellschaft (Gleichheit) auftreten. Kontingenz kontingent setzen, zwingt dann dazu, Momente der Notwendigkeit für jene Projektionen einzuführen. Das sind einerseits ethische Momente, die aus dem Bezirk zwischenmenschlicher Interpenetration abgezogen werden, in der es um die Bedeutsamkeit von Menschen für Menschen geht; andererseits muß die je aktuelle Gesellschaft so imaginiert werden, daß zu ihren Eigenschaften nicht nur Kritikempfindlichkeit, sondern vor allem Änderungsfähigkeit und Intervenierbarkeit gehören. Die Systemtheorie gerät ins Visier der Gesellschaftskritik jeglicher Couleur, weil sie gelesen werden kann als Theorie, die Kritik an Kritik übt. Diese Lesart muß man nicht teilen, aber sie läßt sich nachvollziehen, wenn man berücksichtigt, daß eine wissenschaftlich grundierte, komplexe Gesellschaftstheorie den Gesellschaftsprojektionen der Kritik den Boden entzieht aus den Gründen, die oben skizziert wurden: Die moderne Gesellschaft ist inadressabel und indifferent gegenüber jedem spezifischen Sinn, der durch Kommunikation prozessiert wird. Sie ist nicht hierarchisch geordnet und verfügt nicht über verbindliche Ziele, nicht über Einheitsformeln, die definieren könnten, was sie zu sein hat, aber nicht ist. Die Gesellschaftskritik kann dann die Systemtheorie verwerfen (etwa, wie es oft geschieht: als affirmativ) und an ihren jeweiligen Projektionen normativ festhalten oder sich auf lernbereit stellen, was nichts weiter heißt als: sich auf den systemtheoretischen Befund ernsthaft einzulassen. Das bedeutet nicht, auf Gesellschaftskritik zu verzichten, sondern sie anderen (komplexeren) Kognitions- und Kommunikationsbelastungen auszusetzen. Es ist sogar möglich, so die These, entsprechende Enttrivialisierungen vorzunehmen und die Systemtheorie dabei als Ressource zu nutzen. Wenn die Gesellschaft nicht adressabel ist, kann zum Beispiel gefragt werden: Ist sie (und sind ihre Funktionssysteme) denn irritabel? Kann man Anlässe lancieren für strukturell weitreichende Selbständerungen? Wenn Durchgriffskausalität nicht funktioniert bei derart geschlossenen Systemen, läßt sich dann über das Mittel der Auslösekausalität nachdenken? IV Die Gesellschaft ist, wie wir sagten, unberührbar durch Kritik. Gleichgültig, was mit welchen Folgen für wen kommuniziert wird, sie ist gegenüber jeder Fremdreferenz absolut egalitär. 6 7 Sie kennt als funktional differenzierte Gesellschaft keine durchgreifenden Verbindlichkeiten. Sie geschieht, wie sie geschieht. Darauf kann man den mit dieser Gesellschaftsform einsetzenden Boom der Ausdifferenzierung von Organisationen beziehen, die funktional in die Vakanz von Verbindlichkeit eintreten. Sie kopieren, wenn man so will, die Form der mittelalterlichen Stratifikation in segmentäre Einheiten, die qua Hierarchie eine Repräsentanz ihrer Identität herstellen, also wie nur noch Leute (vielleicht auch wie Familien) adressabel sind. Sie kommen mithin anders als die Gesellschaft und die Funktionssysteme als Mitteilungshandelnde in Frage, eben als responsible beings, denen Verantwortung unterstellt werden kann. Solche Systeme übernehmen die Funktion, die Kommunikationsströme der Funktionssysteme zu organisieren auf der Basis einer Autopoiesis von Entscheidungen, die via Weisungskette mit Verbindlichkeit ausgestattet werden. Organisationen erzeugen auf diese Weise Ontologien, in deren Rahmen gilt, was als entschieden behandelt wird. Sie sind Notwendigkeitsgeneratoren, die sich antreffen lassen, oder genauer: deren Identitätsrepräsentionen soziale Adressabilität garantieren. Summarisch formuliert: In gleicher Weise, wie unbeobachtbare Kommunikation sich phänomenalisiert in der ständig mitlaufenden Konstruktion von Mitteilungshandelnden, phänomenalisiert sich die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme durch Organisationen. „Über Organisationen macht die Gesellschaft sich diskriminationsfähig, und zwar typisch in einer Weise, die auf Funktion, Code und Programme der Funktionssysteme abgestimmt ist.“18 Und: „Innerhalb der Organisationen und mit ihrer Hilfe läßt die Gesellschaft die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit scheitern. Sie wandelt sie gleichsam um in Grundsätze der Zukunftsoffenheit, nach denen immer noch und immer wieder anders entschieden werden kann, wie unterschieden wird."19 Gesellschaftskritik ist unter diesen Voraussetzungen nur als Organisationskritik möglich. Zu berücksichtigen ist, daß auch Organisationen eine geschlossene Autopoiesis von Entscheidungen realisieren. Sie sind aber als adressable Systeme irritabel. Sie sind gegenüber Informationen (Fremdreferenzen der Kommunikation) nicht indifferent. Sie scannen in der Perspektivik ihrer Eigenrationalität und Eigenintelligenz die soziale Welt ab auf Ereignisse und Strukturen, die ihre Entscheidungspraxis kontextualisieren bzw. kontextualisieren könnten. Kritik, die nicht im Genre des Appellativen verbleiben will, müßte deswegen Perspektivenübernahmen leisten können, durch die es möglich wird, kritische Kommunikation für Organisationen lesbar zu machen – in der Form von Irritationstableaus, die von Durchgriffskausalität auf Auslösekausalität umsetzen.20 Eine Methode, die dabei helfen und sich systemtheoretisch empfehlen würde, wäre: Äquivalenzfunktionalismus. Diese Art des Funktionalismus, die wir oben schon skizziert haben, ist prima vista für Projekte der Gesellschaftskritik schädlich. Im Prinzip geht es ja um 18 Luhmann, N., Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien, H-U./Gehrhardt, U./Scharpf, F.W. (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse: Festschrift für Renate Mayntz, Baden-Baden 1994, S. 189 – 201, S.192. 19 Ebenda. 20 Vgl. Luhmann, N., Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, S.401. Von hier aus läßt sich eine Parallele zur Welt der Organisationsberatung instruktiv ausziehen. 7 8 eine de-ontologisierende Heuristik, die rigides Tatsächlichkeitsdenken ausschließt. Das heißt nicht, daß Probleme im Zuschnitt der sozialen Welt als irreal behandelt würden, sondern nur, daß ein essentialistischer Zugriff auf solche Probleme flexibler mögliches Denken blockiert und schnell zu fundamentalistischen Positionen führt. Das Gegenmittel ist die Einführung von Beobachtern, die Soziallagen als Problemlösungen auffassen, für die das Problem (oder ein Set von vergleichbaren Problemen und äquivalenten Problemlösungen) rekonstruiert werden kann.21 Wenn man etwa mit Luhmann sagt, daß „die Gesellschaft die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit scheitern“ läßt in den Organisationen, dann kann man beklagen und kritisieren, daß es sich so verhält, aber auch mitsehen, daß dieses Scheitern funktional deutbar ist: als Lösung des Problems sozialer Ordnung in einer polykontexturalen Gesellschaft durch die lokale Inanspruchnahme der Form der Hierarchie, die segmentäre Verbindlichkeit garantiert. Das kann man als evolutionäre Errungenschaft, mithin als alternativlos auffassen oder funktionale Äquivalente entwerfen, die das je Gegebene ins Licht anderer Möglichkeit rücken. V Die eine Frage ist, ob sich systemtheoretische Denkfiguren fruchtbar eingemeinden lassen in gesellschaftskritische Diskurse; eine andere Frage dagegen, ob das Bild, das die Systemtheorie von der modernen Gesellschaft zeichnet, sich selbst – und sei es nur ansatzweise – einem kritischen Impetus verdankt. Das läßt sich auf den ersten Blick ausschließen, insofern die Theorie dezidiert der Wissenschaft zugeordnet ist und deren Produktion von irrtumsfähigen (wissenschaftsintern kritikablen) Sätzen. Andererseits ist kaum zu bestreiten, daß diese Systemtheorie rezipiert und diskutiert wird über die Grenzen der Wissenschaft hinaus. Luhmann spricht von Supertheorien. Sie „sind nicht einfach 'Weltanschauungen' oder Ideologien. Sie beruhen auf der Ausdifferenzierung eines besonderen Kommunikationssystems für Wissenschaft innerhalb der Gesellschaft und beziehen sich funktional auf Strukturprobleme dieses Systems. Sie sind dadurch historisch abhängig von vorgängigen Prozessen gesellschaftlicher Differenzierung, die eine Ausdifferenzierung von Wissenschaft erst ermöglichen. Supertheorien gibt es erst in der neueren Zeit; vielleicht können wir sagen: erst nach Kant, der zum ersten Mal die Notwendigkeit sah, als Reaktion auf sich ausdifferenzierende Wissenschaft erkenntnistheoretische und moralische Fragen (und beide im Zusammenhang miteinander) neu zu formulieren."22 Systemtheorie als Supertheorie reflektiert ihre gesellschaftliche Bedingtheit mit. Sie berücksichtigt den Umstand, daß sie situiert ist in der Gesellschaft, die sie beschreibt. Ihr ‚Super‘ meint nicht: superior, sondern nur, daß sie nicht ‚bezirksfest‘, mithin eine ‚Spill-over21 Ein schönes Beispiel für das Verfahren ist: Reiter, U., Lärmende Geschenke. Die drohenden Versprechen der Korruption, Weilerswist 2009. 22 Luhmann, N., Die Moral der Gesellschaft (hrsg. v. Detlef Horster), Frankfurt a.M. 2008, S.58. 8 9 Theorie‘ ist. Sie vollzieht einerseits Wissenschaft und bezieht von hier aus ihre NichtIgnorabilität; andererseits kann sie nicht davon absehen, daß ihre ‚inkongruenten Perspektiven‘ gesellschaftsweit streuen: als Irritationen. In einem für diese Theorie typischen Duktus läßt sich sagen, daß sich das Kritikpotential der Systemtheorie auf der Ebene einer Kritik zweiter Ordnung herstellt. Sie beobachtet, wie Gesellschafts- und Sozialkritik ihre (historisch konditionierten) Unterscheidungen wählen und welche Ontologien durch diese Wahlen aufgespannt und betrieben werden. Sie kann gelesen werden als eine Ökonomie der Ent-Naivisierung der Kritik erster Ordnung. Diese Ökonomie ist – cum grano salis – nicht intendiert, sondern so etwas wie ein Epiphänomen des Supertheoretischen an der Systemtheorie, die kein Konkurrenzunternehmen zur Gesellschaftskritik sein kann, aber eine Gesellschaftstheorie liefert, die die Gesellschaftsprojektionen der Kritik als unterkomplex diskriminiert, kombiniert mit dem Angebot möglicher Komplexitätssteigerungen. 9