Anfangen ohne Ende - Friedrich-Schiller

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Anfangen ohne Ende. Vortrag
Magnifizenz,
Hohe Festversammlung,
liebe Studierende und Studienanfangende,
„Anfangen ohne Ende“
Anzufangen, das ist immer eine besondere Zeit. Irgendwie aufregend, kompliziert,
verunsichernd. Doch auch voller Elan, Ernst, Euphorie.
Meistens drängt sich einem der Eindruck auf: die anderen finden viel schneller hinein,
die anderen wissen schon, wie alles funktioniert - und nur man selbst sei tastend und noch
unsicher.
Es mag Sie trösten: fast allen geht es so und den Älteren ging es früher auch so. Allem
Anfang wohnt ein Zauber inne, so Hermann Hesse, aber der Zauber ist manchmal ebenso
bezaubernd wie auch ziemlich unheimlich.
Das Beste, was Sie tun können ist: wirklich Anfänger zu sein und sich ganz auf dieses
Anfangen einzulassen. Nie wieder werden Sie so frisch auf die Dinge blicken. Nie kitzeln
Sie so viele Fragen wie beim Anfangen. Nie verändert sich die eigene Welt so rasant wie
im Anfangen. Seien Sie getrost Anfänger, mit Anmut und Würde.
Nicht nur für Sie, liebe Studienanfänger, beginnt etwas Neues; sondern auch für uns
Dozierende fängt mit Ihnen etwas Neues an.
Sie bringen jeweils Ihren einzigartigen Blick auf die Welt mit, Ihre individuellen
Fragen und Ihren Eigensinn. Damit beschenken Sie uns Dozierende und Ihre
Mitstudierenden. Je lebendiger Sie sich einbringen, umso eher können im Dialog neue
Erkenntnisse für uns alle entstehen. Universität heißt in ihrer anfänglichen Bedeutung
„universitas magistrorum et scolarium“. Universität ist also die Gemeinschaft der
Lehrenden und Lernenden. Wir Dozierende wollen unser Wissen mit Ihnen teilen, wir
wollen mit Ihnen lernen und uns von Ihren Gedanken herausfordern lassen.
Universität ist auch darin Gemeinschaft, dass sie Forschende, Studierende ganz
unterschiedlicher Fächer verbindet. Das ist manchmal aufreibend und anspruchsvoll, aber
Interdisziplinarität und Transdisziplinärität zeichnen uns aus. Dialogisches Denken über
alle möglichen Grenzen hinweg - das fasziniert mich an Universität am meisten.
Liebe Studierende, mit der Wissenschaft fängt man am besten an, indem man sich
wissenschaftlich mit dem Anfang beschäftigt. Die Wissenschaften sind fasziniert vom
Anfang, von der Frage nach Ursprung, Beginn und ersten Entwicklungen.
Im Folgenden stelle ich Ihnen exemplarisch vor, nach welchen Anfängen
Wissenschaften fragen. Dabei will ich Sie zugleich einführen, was Wissenschaft und
Studium als Lebensform heißen könnten.
Wir fragen nun in drei Teilen nach dem Anfang der Zeit, nach dem Anfang des
menschlichen Lebens und nach dem Neuanfang im Leben.
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Anfangen ohne Ende. Vortrag
Teil 1: Der Anfang der Zeit
Wie hat die Welt angefangen? Und wie hat die Zeit angefangen, ohne die wir uns unsere
Welt gar nicht vorstellen können?
Zeit bedeutet eine Ordnung von früher und später, von vorher und nachher. Man
braucht Zeit nicht so verstehen, aber wir gegenwärtige Menschen begreifen Zeit als linear,
ein Moment folgt auf den anderen.
Das heißt auch: zu jedem Moment gibt es einen vorherigen und einen nachfolgenden.
Einen Anfang der Zeit sich vorzustellen, heißt: sich einen Moment vorzustellen, in
welchem die Zeit beginnt. Wenn die Zeit beginnt, muss aber etwas vor der Zeit gewesen
sein. Jeder Beginn impliziert ein Vorher. Es setzt voraus, wir hätten die Zeit und das, was
vor der Zeit war. Das aber ist auch wieder eine Unterscheidung in vorher und nachher.
Vorher und nachher sind selbst: eine zeitliche Ordnung.
Der Anfang der Zeit setzt schon eine zeitliche Ordnung voraus, die eigentlich erst mit
der Zeit beginnen soll. Wenn wir einen Anfang der Zeit denken, stellen wir uns eine
Zeitlichkeit vor, in welcher die Zeit dann anfängt. Ein Widerspruch.
Als Wissenschaftler erschreckt uns das nicht, sondern führt uns zu neuen Bahnen des
Denkens.
Ein Anfang der Zeit ist nicht widerspruchsfrei zu denken. Welche Schlüsse würden
Sie daraus ziehen?
- Statt einen Anfang könnte man die Unendlichkeit der Zeit denken. Zur Zeit gehöre es,
ohne Anfang und - nebenbei: auch ohne Ende - zu sein. Der Zeit wäre die Endlosigkeit
eingeschrieben. Zeit begrenzte alles, sie selbst aber wäre unbegrenzt.
Zu dieser Lösung entschieden sich manche Denker des Mittelalters, zum Beispiel
Thomas von Aquin.
- Man könnte sich - zweite Möglichkeit - auch mit dem Verhältnis von Zeit und Welt
befassen. Gibt es Zeit eigentlich als sie selbst? Oder gibt es Zeit nur, insofern es etwas
gibt, das dann zeitlich verfasst ist? Setzt Zeit nicht die Existenz von Energie und Materie
voraus? Dann wäre die Frage zu umzuformulieren in die Frage: Wie fängt die Welt im
Sinne von Materie und Energie an? Und mit diesem Anfang würde dann auch die Zeit
anfangen. Bevor es nichts gab, gab es auch nichts, das zeitlich hätte sein können. Zeit als
Ordnung finge an mit dem Anfang von etwas, was sich ordnen lässt.
- Oder nochmal ganz anders. Lässt sich über Zeit wie über ein Objekt sprechen? Hat
Zeit überhaupt eine objektive, von uns Menschen unabhängige Realität? Ist Zeit vielleicht
von uns Menschen abhängig? Ist sie eine Ordnungsstruktur, die wir Menschen
verwenden?
In diese Richtung dachte Immanuel Kant. Er versuchte zu zeigen, dass Zeit eine
Anschauungsform des Menschen ist. Kant nennt das eine „reine Form der sinnlichen
Anschauung“. Diese Anschauungsform Zeit sei zwischen uns Menschen gleich. Sie sei uns
so gegeben, dass wir sie auch nicht ablegen oder uns gegen sie entscheiden könnten. Das
führt zu weitreichenden Fragen, wie Wahrnehmung und Erfahrung funktionieren und
was Wissenschaft ist, wenn sie auf den Anschauungsformen des Menschen basiert. Damit
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Anfangen ohne Ende. Vortrag
hat sich der Philosoph Johann Gottlieb Fichte vor mehr als 200 Jahren an dieser
Universität auseinandergesetzt, und mit ihm und gegen ihn die Denker Friedrich Wilhelm
Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Diese Denker und ihre Epoche, den
deutschen Idealismus können Sie sehr gut in Jena studieren, ebenso wie gegenwärtige
Strömungen, die zu ganz anderen Gedanken über Zeit und Wahrnehmung kommen, wie
zum Beispiel die Phänomenologie. In Jena können Sie sich aber auch wunderbar in die
Romantiker vertiefen, welche darüber philosophierten, dass der Mensch gerade auch in
seiner Zeitlichkeit auf das Unendliche bezogen ist.
Fazit: Lernen Sie, Probleme zu lieben. In der Wissenschaft kommt man gerade nicht
weiter, indem man schnelle Lösungen sucht. Sondern indem man sich in die Probleme
vertieft und sie so präzise und prinzipiell wie möglich ergründet, schreitet die
Wissenschaft voran. An kleinen Problemen kann man die ganze Welt neu verstehen
lernen. Werden Sie also zum leidenschaftlichen Problemliebhaber, zur passionierten
Problemliebhaberin - und Sie werden reichste Erkenntnis empfangen.
Und noch etwas: Es gibt Fragen, die man ebensowenig beantworten wie abweisen
kann - so eine Formulierung des Philosophen Immanuel Kant. Vielleicht sind das sogar die
spannendsten Fragen. Der Philosoph Helmut Plessner spricht diesbezüglich von der
„unergründlichen Ergründbarkeit“ der Welt1. Sich mit solchen Fragen einzulassen,
bedeutet Anfangen ohne Ende.
2 Teil. Der Anfang des menschlichen Lebens
Wann fängt menschliches Leben an? Wann fing Ihr Leben an?
Leicht zu sagen ist, welche Entwicklungsschritte ein menschlicher Embryo bis zur
Geburt durchläuft. Biologie und Medizin haben in den letzten Jahrzehnten unglaublich
genaue Erkenntnisse darüber gewonnen, was zwischen befruchteter Eizelle und der
Geburt eines Menschen geschieht. Es ist eine kontinuierliche Entwicklung, die von einer
einzigen Zelle bis zum höchst komplexen Geburtsvorgang führt. Zum ersten Mal in der
Geschichte wachsen nun Menschen auf, die von ihrer eigenen Embryonalzeit ein
Ultraschallbild ansehen können.
Wenn Sie ein Bild von sich selbst als Embryo, zum Beispiel in der 4. Woche der
Schwangerschaft, ansehen: Sind Sie da schon ein Mensch?
Die Beschreibung der kontinuierlichen Entwicklungsstadien des menschlichen Lebens
beantwortet noch nicht die Frage: Ab wann ist man ein Mensch? Wann beginnt das
Menschsein?
Den biologisch-medizinischen Befund einer kontinuierlichen Entwicklung
interpretieren gegenwärtig Forscherinnen höchst unterschiedlich. Ich greife nur zwei
Positionen heraus:
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Helmuth Plessner: Mensch und Tier. Hamburger Vortrag 1946, in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Frankfurt
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Anfangen ohne Ende. Vortrag
Einige sagen: Wie der Embryo, so entwickelt sich auch das Menschsein graduell und
ist erst mit der Geburt vollständig gegeben. Auch die sozialen Bezüge, in die ein Embryo
eingebettet ist, wachsen graduell - so ein weiteres Argument.
Die Frage aber ist, ob es sich mit dem Begriff des Menschseins vereinbaren lässt, ein
Mehr und Weniger an Menschsein anzunehmen. Ist Menschsein vielleicht nicht eher ein
Begriff, der nur ja und nein Unterscheidungen zulässt: Mensch oder Nicht-Mensch? Kann
man dreiviertel Mensch sein?
So fragt eine entgegengesetzte Position. Diese argumentiert: gerade weil die
Entwicklungsschritte kleinteilig seien und graduell, fehlt in der Entwicklung des Embryo
ein radikaler, tiefer Einschnitt. Weil es ein so deutlichen Umschlagpunkt in der
Entwicklung fehlt, an dem der Embryo oder das Kind plötzlich Mensch wird, deshalb sei
das Menschsein des Embryo von Anfang an gegeben.
Die einen sagen also, der Embryo entwickelt sich stufenweise zum Mensch, die anderen
vertreten: der Embryo entwickelt sich als Mensch.
Das ist keine nur theoretische Frage, sondern sie hat weitreichende Konsequenzen für
unser Handeln. Ein Beispiel ist die Frage, ob und unter welchen Bedingungen
Präimplantationsdiagnostik rechtlich zulässig und ethisch verantwortbar sein soll. Aus
jedem Modell, wie und womit das Menschsein anfängt, folgen andere ethische Imperative.
Zu all diesen komplexen Fragen finden Sie intensive Forschung im Ethikzentrum der
Universität Jena, der Philosophie sowie natürlich in der Medizin und der Biologie.
Doch die eigentliche Pointe habe ich bisher noch nicht genannt: Menschsein ist mit
Menschenwürde verknüpft. Womit Menschsein anfängt, damit fängt auch die
Menschenwürde an und der Anspruch darauf, diese Würde zu achten und zu schützen.
Das Menschenwürdekonzept explizierten vor allem Denker in der Aufklärung, in
kritischer und affirmativer Auseinandersetzung mit Christentum, Antike und Renaissance.
Die Aufklärung immer noch besser für heute zu verstehen, widmen sich viele Jenaer
Wissenschaftler im Laboratorium Aufklärung. Menschenwürde ist der zentrale Begriff für
unser Recht, für unsere kulturellen Orientierungen und ethischen Entscheidungen.
Und doch sind wir erst mitten dabei zu begreifen, was Menschenwürde konkret
bedeutet: folgt aus der Menschenwürde, dass wir die Pflicht haben, einzugreifen, wenn
andere Staaten massenhaft und systematisch die Menschenwürde missachten? Wie
verwirklicht sich der Respekt von Menschenwürde im Zusammenleben von behinderten
und nicht-behinderten Menschen? Wie können wir uns gegenseitig helfen, unsere
Menschenwürde als Grundlage unserer Selbstachtung zu leben - unabhängig von
Scheitern und Erfolg? Wie können wir mit Wissenschaft zur Humanisierung unserer Welt
beitragen?
Mit Wissen und Bildung können Sie die Welt gestalten. In Ihrer Verantwortung liegt
es, wie Sie gestalten und was Sie mit Ihrem Wissen anfangen. Auch darauf bereiten Sie
sich in der Universität vor.
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Anfangen ohne Ende. Vortrag
Fazit: Fakten (wie die kontinuierliche Embryonalentwicklung) erhalten für uns eine
Bedeutung erst durch die Schlussfolgerungen, die wir aus ihnen ziehen. Fakten werden erst
durch uns und für uns bedeutsam. Sollen sie unser Handeln bestimmen, dann müssen
Fakten interpretiert werden. Entscheidend ist, in welche Zusammenhänge wir Fakten
stellen, welche Fakten wir als relevant erachten und wie wir sie bewerten. Fast immer
kann man Fakten gegensätzlich interpretieren; mehrere Schlüsse sind möglich, die
Wirklichkeit ist mehrdeutig. Auch das im Übrigen ein eigenes Forschungsgebiet unserer
Universität.
Im Studium werden Sie lernen, mit dieser Mehrdeutigkeit von Fakten reflektiert
umzugehen. Nicht Fakten und Zahlen treffen Entscheidungen, sondern Menschen sind es,
die aufgrund von interpretierten Fakten und Zahlen entscheiden.
3. Teil: Anfangen können
„Der Anfang öffnet eine Zukunft“2. Mit Anfang verbinden wir etwas Neues, etwas
Anderes, etwas Kreatives. Anfang verheißt Freiheit.
Aber können wir das überhaupt, wirklich neu anfangen? Ist nicht jede einzelne
Handlung bestimmt von vorhergehenden Handlungen, Erfahrungen und Geschehnissen?
Die politische Denkerin Hannah Arendt sieht Menschen von ihrer Vergangenheit
festgelegt, ja dadurch gefangen und gebunden. Diese Bindung ereignet sich, weil wir in
einem sozialen Raum leben. Die anderen kennen, beurteilen und bewerten uns. Die
anderen erinnern sich, was wir gesagt, geplant und getan haben, und die anderen sind
davon immer mitbetroffen.
Mittels dieser Wirkungen sind wir mit anderen verbunden, im Guten und Schlechten.
Bindungen kann man äußerlich zerreißen und abbrechen, aber Hannah Arendt sieht uns
innerlich immer durch diesen Wechselwirkungszusammenhang aus der Vergangenheit
gebunden.
Wie kann trotzdem Neu-Anfangen möglich werden? Hannah Arendts starke These
lautet: Verzeihen ist der eine menschliche Akt, welcher Anfangen möglich macht.
Hannah Arendt denkt das für denjenigen, der verzeiht und für denjenigen, dem
Verzeihung geschenkt wird. Wer verzeiht, löst sich von den Bindungen und Wirkungen
der Vergangenheit, der setzt im Gegebenen neue Zukunft. Wem verziehen wird, der wird
freigesprochen von den Bindungen und der Festlegung auf seine bisherigen Taten. Im
Verzeihen schenken Menschen sich neues Anfangenkönnen und damit anfangendes
Handeln. Eine politische Erfahrung für Hannah Arendt: im miteinander Handeln eröffnen
Menschen einander neue Freiheit.
Was geschieht beim Verzeihen? „Ausschlaggebend ist …, daß in der Verzeihung zwar
eine Schuld vergeben wird, diese Schuld aber sozusagen nicht im Mittelpunkt der
Handlung steht; in ihrem Mittelpunkt steht der Schuldige selbst, um dessentwillen der
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Emil Angehrn: Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik, in: Emil Angehrn (Hg):
Anfang und Ursprung. Die Fragen nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft, Berlin / New
York 2007, 247-274, hier 251.
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Anfangen ohne Ende. Vortrag
Verzeihende vergibt.“3 Dem Schuldigen wird aus Respekt vergeben, was Hannah Arendt
mit politischer Freundschaft umschreibt.4 Dass Hannah Arendt auch mit Taten rechnet, die
weder hinreichend bestraft noch wirklich vergeben werden können, sei nur angemerkt.
Nur im gegenseitigen Verzeihen werden wir Menschen wieder frei für neues Handeln
und für echtes Anfangen.
„Nur durch dieses dauernde gegenseitige Sich-Entlasten und Entbinden können
Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in der Welt frei
bleiben, und nur in dem Maße, in dem sie gewillt sind, ihren Sinn zu ändern und neu
anzufangen, werden sie instand gesetzt, ein so ungeheueres und ungeheuer gefährliches
Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnens einigermaßen zu handhaben.“5
Indem Sie anderen verzeihen, das viele Kleine im Alltag und große existentielle
Wunden, schenken Sie sich und anderen den Raum neuer Freiheit. Und so sehr wünsche
ich uns allen, dass wir beglückende Erfahrungen machen, dass uns verziehen wird, dass
andere mit uns Nachsicht haben und uns nicht festlegen auf Vergangenes.
Verzeihung, Vergebung und Versöhnung sind auch Schlüsselthemen der Theologie.
Die Reformation wurde angefeuert von der Überzeugung Martin Luthers, dass alle
Menschen aus der Versöhnung leben und dass diese bedingungslos von Gott geschenkt
wird, immer neu, immer befreiend und aufrichtend. Die Theologie in Jena beschäftigt sich
aber nicht nur mit der Reformation, sondern zum Beispiel auch mit politischen
Versöhnungsprozessen der Gegenwart. Das Jena Center for reconciliation studies
untersucht Modelle, wie verfeindete Menschengruppen zu Versöhnung finden, z.B. In
Südafrika und Israel/Palästina. Freiheit und Versöhnung gehören zusammen.
Fazit: Freiheit ist nichts Statisches, kein Besitz und keine bloße Formel. Freiheit
entsteht, indem wir sie einander schenken, indem wir sie befördern und sie mutig
ergreifen. Friedrich Schiller wird oft „Dichter und Denker der Freiheit“ genannt. An der
Friedrich-Schiller-Universität lehren und forschen wir, weil Freiheit fragil ist und
umkämpft. Weil wir mit der Freiheit immer noch anfangen und sie lange noch nicht zu
Ende gedacht haben, noch lange nicht für alle Menschen verwirklicht und lange noch
nicht mit Gerechtigkeit und Verantwortung erfüllt haben.
Ich komme zum Schluss und möchte Ihnen den wunderbaren Buchanfang von Paul
Austers neuen Werk: Berichts aus dem Inneren zitieren. Er beschreibt darin sein
Kindheitserleben.
„Am Anfang war alles lebendig. Die kleinsten Gegenstände waren mit pochenden
Herzen ausgestattet, und selbst die Wolken hatten Namen. Scheren konnten gehen,
Telefone und Teekessel waren Cousins, Augen und Brillen waren Brüder. Das Zifferblatt
der Uhr war ein Gesicht, jede Erbse in deinem Napf hatte eine eigene Persönlichkeit, und
der Kühlergrill vorn am Auto deiner Eltern war ein grinsendes Maul mit vielen Zähnen.
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Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 8. Auflage, München 1996, 308.
Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 8. Auflage, München 1996, 310.
Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 8. Auflage, München 1996, 306.
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Anfangen ohne Ende. Vortrag
Bleistifte waren Luftschiffe. Münzen waren fliegende Untertassen. Die Äste der Bäume
waren Arme. Steine konnten denken, und Gott war überall.“6
Ihr Anfang an der Universität wird wohl nicht so poetisch werden, doch möge er so
quicklebendig und ungestüm sein wie eben beschrieben.
Mögen Sie in der universitären Gemeinschaft, in der „universitas magistrorum et
scolarium“, wohlwollende Mentorinnen finden, geistessprühende Lehrer und zugewandte
Freunde und Freundinnen.
Wir wünschen Ihnen, dass Ihre Studienzeit an der Friedrich-Schiller-Universität auf
gute und erfolgreiche Weise einmal endet.
Aber noch mehr hoffen wir, dass das Studium nur den Anfang Ihres lebenslangen Lernens
darstellt. Wer einmal wirklich mit Wissenschaft anfängt, den lässt sie nicht mehr los. Wer
sich auf das Fragen mutig eingelassen hat, für den hören die Fragen nie mehr auf. Viele
Philosophen verbinden das mit dem kühnen Gedanken, dass im Erkennen und Lernen
das Glück einem blüht.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen von Herzen ein Anfangen ohne Ende!
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Miriam Rose, 23. Oktober 2014, Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Paul Auster, Bericht aus dem Inneren, Reinbek 2014, 9.
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