Würde ohne Zweifel

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DIE ZEIT vom 31. 01. 2008
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Politik
Alexander S. Kekulé |
Würde ohne Zweifel
Nicht Zellhaufen, sondern Menschen müssen geschützt werden. Eine Antwort auf Karl Kardinal Lehmanns Plädoyer in der Stammzellendebatte
In einem Punkt hat Kardinal Lehmann
recht in seinem Plädoyer für den Lebensschutz (ZEIT Nr. 4 vom 17. Jan.
2008): Die Würde des Menschen kann
nicht abgestuft oder aufgewogen werden da sind sich alle christlichen Religionen und die Ethik der Aufklärung
ausnahmsweise einig. Deshalb darf die
Menschenwürde des frühen Embryos
sofern er sie besitzt nicht gegen die
Würde der Kranken aufgerechnet werden, die durch seine Stammzellen gerettet werden könnten. Derartige, hierzulande leider oft geforderte Güterabwägungen sind unethisch wir kämen ja
auch nicht auf die Idee, einen Erwachsenen zu töten, um mit dessen Organen
anderen Menschen das Leben zu retten.
Stattdessen muss offen über den moralischen Status eines im Labor hergestellten, fünf Tage alten Embryos diskutiert
werden. Diese Blastozyste, eine mit bloßem Auge kaum sichtbare Kugel aus
rund 180 Zellen, würde sich im Mutterleib ab dem siebten Tag in die Gebärmutterwand einnisten. Für die Gewinnung embryonaler Stammzellen werden
jedoch bei einer künstlichen Befruchtung (In-vitro-Fertilisation, IVF) übrig
gebliebene Blastozysten zerstört.
Besitzt dieser winzige Zellhaufen die
volle Menschenwürde, mit allen Konsequenzen? In anderen Worten: Ist die
Blastozyste ein Mensch?
Der Harvard-Philosoph Michael Sandel
hat dazu ein Gedankenexperiment entwickelt. Stellen Sie sich vor, in einem
brennenden Labor befinden sich ein
Kind sowie ein Reagenzglasständer mit
hundert Blastozysten. Wen retten Sie
zuerst? Jeder vernünftige Mensch würde
natürlich dem Kind helfen. Die Alternative, einen vollwertigen Menschen für
die Zellen in Nährlösung zu opfern, erscheint uns absurd und grausam. Wir
würden auch einen Bewusstlosen zuerst
retten, obwohl er keine Schmerzen empfindet, oder einen Schwerkranken, der
ohnehin bald sterben muss. Das Gedankenexperiment kommt bei Menschen
unterschiedlichster Nationalitäten, Kulturkreise und Religionen zum selben Er-
gebnis.
Auch im realen Leben werden bedenkenlos Blastozysten geopfert darunter
sogar solche, aus denen sich ohne weiteres Zutun ein Mensch entwickeln würde: Die zur Schwangerschaftsverhütung
millionenfach eingesetzte Spirale tötet
den frühen Embryo bei der Einnistung
in die Gebärmutter, also im Alter von 7
bis 14 Tagen. Auch im Zusammenhang
mit der IVF werden weltweit Hunderttausende "überzählige" Embryonen vernichtet, die nicht in die Gebärmutter
eingepflanzt werden konnten.
Ist der moderne Mensch also ein gottloser Barbar, der millionenfach seinesgleichen mordet?
Nach meiner, freilich nicht katholischen
Überzeugung: nein. Der zivilisierte
Mensch hat sehr wohl ein differenziertes und tiefes Verständnis für die Würde
seines Nächsten. Dieses gründet sich jedoch nicht auf eine kirchlich vorgegebene Doktrin, sondern auf die unmittelbare Erfahrung des anderen als Person, also als vernunftbegabtes Subjekt derselben Art. Wir erkennen die Menschenwürde auch in Alzheimerpatienten im
Spätstadium, ungeborenen Kindern und
von Geburt an schwer Geschädigten,
weil sie eine Person waren, sein werden
oder bestimmungsgemäß sein sollten.
Basis der Menschenwürde ist letztlich
die Zugehörigkeit zur Familie der Menschen, die Schicksalsgemeinschaft der
biologischen Art: Jeder von uns könnte
auch der andere sein. Wir helfen dem
Nächsten, weil er einer von uns ist.
Für eine Blastozyste im Labor empfindet der Mensch dagegen keine Empathie
und keine Nächstenliebe, weil sie nicht
dem Archetyp entspricht, den wir vom
anderen als Spiegelbild des Selbst in
uns tragen. Sie ist ein im Labor hergestelltes Kunstwesen ohne Zukunft, das
außerhalb des menschlichen Kreislaufs
von Geburt und Sterben steht. Daran ändert auch die von Lehmann betonte Tatsache nichts, dass die Blastozyste das
Genom eines Menschen enthält: Die
Zellen im Reagenzglas sind zwar
menschliches Leben (human life), aber
keine Person (human being). Wir sollten
ihnen trotzdem eine Art von "Würde"
zubilligen etwa so wie einem Menschen
entnommenen Organen, wie Leichen
oder auch höheren Tieren. Die einzigartige und unantastbare Menschenwürde
besitzen Blastozysten jedoch nicht.
Überdies ist Lehmanns Votum "Im
Zweifel für das Leben" in der Praxis fatal: Der Blastozyste den moralischen
Status eines Menschen zu geben erreicht
das Gegenteil des Intendierten. Unter
dem Einfluss der katholischen Kirche
schützen Deutschland und andere Staaten Blastozysten genauso wie Föten im
dritten bis zehnten Monat der Schwangerschaft. Das hat tödliche Auswirkungen: Weil nach der IVF jede befruchtete
Eizelle in die Gebärmutter übertragen
werden muss, werden bei den resultierenden
Mehrlingsschwangerschaften
Zehntausende Föten abgetrieben. Die
Alternative, einen einzelnen Embryo
länger im Labor zu kultivieren und dann
einzusetzen, ist verboten, zum Schutz
des "Menschenrechts" der Blastozyste.
Auch die Feststellung schwerer Erbkrankheiten im Rahmen der IVF ist verboten, um die Blastozyste zu schützen
stattdessen werden Föten mit Erbschäden bis kurz vor der Geburt abgetrieben.
Der historisch hart erkämpfte Begriff
der Menschenwürde darf nicht zur Unkenntlichkeit verwässert werden. Sonst
verliert er seine Wirkung für diejenigen,
die eigentlich geschützt werden sollen:
Das sind, daran darf kein Zweifel bestehen, nicht Zellen im Labor, sondern die
Menschen im wirklichen Leben.
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Alexander S.Kekulé ist Virologe und
Direktor des Instituts für Medizinische
Mikrobiologie in Halle (Saale)
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