AK-WISSENSCHAFTSPREIS 2015 Folgende Arbeiten wurden ausgezeichnet: Zivilgesellschaft und Migration (Esther Bossmann) 172 Integration, das sind die Anderen. Positionierungen im Integrationsdiskurs (Michael Hofer) 175 Die Novellierung des österreichischen Arbeitsverfassungsgesetzes 2006 und ihre Auswirkungen auf die betriebliche Mitbestimmung von Zuwanderern (Karola Neumüller) 181 Offene Grenzen – Geschlossene Gesellschaften? (Andrea Zierler) 187 Auszug aus WISO 4/2015 Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Volksgartenstraße 40 A-4020 Linz, Austria Tel.: +43 (0)732 66 92 73, Fax: +43 (0)732 66 92 73 - 2889 E-Mail: [email protected] Internet: www.isw-linz.at 171 AK-Wissenschaftspreis Esther Bossmann Zivilgesellschaft und Migration Die Notwendigkeit, sich mit dem Themenkomplex der Migration – insbesondere der aus Flucht begründeten Migration zu beschäftigten, ergibt sich meiner Meinung nach aus den gegenwärtigen weltpolitischen Entwicklungen. Die aktuelle Lage sowohl an den europäischen Außengrenzen als auch innerhalb der Staaten der europäischen Union verdeutlicht die Brisanz, sich auf sozialwissenschaftlicher Ebene mit dem Themenkomplex Flucht, Asyl, Migration und Zivilgesellschaft auseinanderzusetzen. (UVWPDOV VHLW (QGH GHV ]ZHLWHQ :HOWNULHJHV EH¿QGHQ VLFK laut Angaben der UNHCR im Jahr 2014, mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht. Diese Zahlen bedeuten auf der einen Seite persönliche Leidensgeschichten und dramatische Entwicklungen für die Personen auf der Flucht. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass es auf politischer Ebene nicht gelingt, .RQÀLNWHQDFKKDOWLJIULHGOLFK]XO|VHQYJO8QLWHG1DWLRQV+LJK Commissioner for Refugees Austria, 2014, o.S.). Gegenwärtig ist vonseiten der Regierenden sowohl auf europäischer als auch auf nationalstaatlicher Ebene eine zunehmende Exklusion von Flüchtlingen zu beobachten. Diese politische Haltung begünstigt ein Klima des Rassismus und der Xenophobie in den Ländern der EU. Flucht wird in diesem Diskurs nicht als Menschenrecht, sondern als Belastung oder teilweise als kriminelle Handlung dargestellt. Zeitgleich entwickelt sich in der Zivilgesellschaft eine Bewegung, die sich für diese benachteiligte Bevölkerungsgruppe einsetzt. Die Fülle des Engagements reicht hierbei von europäischen Initiativen bis hin zu kleinräumig regional agierenden Organisationen. Mit dem Begriff „Zivilgesellschaft“ beschreibt Antonio Gramsci (1891–1937) „jene Organisationen, Institutionen und gesellschaftlichen Räume, in denen das soziale, moralische und religiöse Denken und Handeln der Menschen vermittelt und angeeignet wird“ (Merkens, 2010, S. 197). Der Begriff der Zivilgesellschaft umfasst damit alle Bereiche, die die öffentliche Meinung direkt RGHULQGLUHNWEHHLQÀXVVHQRGHUEHHLQÀXVVHQN|QQHQ'LH%UHLWH 172 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis an Organisationen reicht von Bibliotheken über Schulen bis hin zu Vereinen und Netzwerken. Dabei kann Zivilgesellschaft einerseits als Terrain, auf dem sich Hegemonie konstruiert, und andererseits als Ort, an dem eben diese Hegemonie in Frage gestellt wird, betrachtet werden. Zudem verweist Gramsci darauf, dass die Sphären von Staat und Zivilgesellschaft ineinander greifen, die Grenzen zwischen den beiden Bereichen verschwimmen und die Verschränkungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft vielfältig sind. Die Zivilgesellschaft ist in Gramscis Verständnis eingebettet in die Gesamtgesellschaft, zivilgesellschaftliche Diskurse sind in diesem Sinn nicht frei von bestehenden Machtund Klassenverhältnissen (vgl. Merkens, 2010, S. 197–199). Die HQJHQ9HUÀHFKWXQJHQ]ZLVFKHQ|IIHQWOLFKHU0HLQXQJVWDDWOLFKHQ AkteurInnen und zivilgesellschaftlichem Engagement im Bereich Asyl lassen sich auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen nachzeichnen. Die vorliegende Arbeit thematisiert das vorgestellte Spannungsverhältnis im Bereich der Asylpolitik am Beispiel des südlichen Burgenlandes. 'HU$UEHLWOLHJWHLQPHKUVWX¿JHV)RUVFKXQJVGHVLJQ]XJUXQGH welches sich an der qualitativen Netzwerkanalyse orientiert. In drei Erhebungsschritten wurden handelnde AkteurInnen der südburgenländischen Asylpolitik, Flüchtlinge und Asylsuchende sowie externe ExpertInnen befragt. Um die Lebensbedingungen von Asylsuchenden und das Engagement für Flüchtlinge analytisch beschreiben zu können, wurde auf die Theorie der „organisierten Desintegration“ von Viki Täubling aus dem Jahr 2009 zurückgegriffen. Diese wurde um die auf die österreichische Lage bezogenen Erkenntnisse von Gerlinde Rosenberger (2012) erweitert (vgl. Rosenberger, 2012, S. 92). Die darin enthaltenen Lebens- und Ausgrenzungsbereiche dienten als Grundlage für GLH.ODVVL¿NDWLRQGHV(QJDJHPHQWVIU)OFKWOLQJHLPVGOLFKHQ Burgenland. Engagement für von Ausgrenzung betroffene Personengruppen ist vielfach negativ besetzt und kann auch für die Beteiligten zu Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen führen. Die empirische Arbeit thematisiert in diesem Spannungsfeld das Engagement von unterschiedlichen Personen für Flüchtlinge. Es konnte gezeigt werden, dass neben professionell engagierten Personen ein vielfältiges Netzwerk an ehrenamtlichen UnterstützerInnen besteht. Die Erhebung zeigt aber auch, dass die Aktivitäten innerhalb dieses Netzwerkes vielfach unkoordiWISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 173 AK-Wissenschaftspreis niert ablaufen und der Zugang für die Flüchtlinge als willkürlich und zufällig zu beschreiben ist. Die Zusammenarbeit zwischen professionellen und ehrenamtlichen AkteurInnen verläuft vielfach unstrukturiert und sporadisch. Gerade angesichts der aktuellen globalen Entwicklungen wird deutlich, dass ein koordiniertes und engagiertes Handeln im Feld der Asyl- und Flüchtlingspolitik auf allen Ebenen unumgänglich ist, um sowohl den Flüchtlingen als auch den AkteurInnen in diesem Bereich menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen ermöglichen zu können. Literatur Merkens, Andreas (2010): Hegemonie, Staat und Zivilgesellschaft als pädagogisches Verhältnis. Antonio Gramscis Politische Pädagogik, in: Lösch, Bettina & Timmel, Andreas (Hrsg.): Kritische politische Bildung. Ein Handbuch. Schwalbach/Ts (= Reihe Politik und Bildung, Bd. 54), S. 193–204 Rosenberger, Sieglinde (2012): Integration von AsylwerberInnen? Zur Paradoxie individueller Integrationsleistungen und staatlicher Desintegration, in: Dahlvik, Julia, Fassmann, Heinz & Sievers, Wiebke (Hrsg.): Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich. Jahrbuch 1/2011. Göttingen (Migrations- und Integrationsforschung Multidisziplinäre Perspektiven, Bd. 2), S. 91–106 United Nations High Commissioner for Refugees Austria (2014). Über 50 Millionen weltweit auf der Flucht. http://www.unhcr.at/home/artikel/d717beFHDGDHEHEHHDHXHEHUPLOOLRQHQZHOWZHLWDXIGHUÀXFKW html?L=0 [aufgerufen am 21.06.2014] Zur Autorin: Nach dem Bachelorstudium Pädagogik an der KarlFranzens-Universität absolvierte die Autorin das Masterstudium Soziale Arbeit an der FH-Joanneum in Graz (Abschluss 2013). Im Jahr 2014 konnte sie mit der vorliegenden Masterarbeit das Studium der Sozialpädagogik an der Karl-Franzens-Universität abschließen. Seit Juli 2014 ist sie als Beraterin in der Frauenund Mädchenberatung Hartberg-Fürstenfeld beschäftigt. 2015 folgte der Abschluss des Bachelorstudiums Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz. 174 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis Michael Hofer Integration, das sind die Anderen. Positionierungen im Integrationsdiskurs Die Masterarbeit „Integration, das sind die Anderen“ befasst sich mit der Frage, welche Positionierungsangebote und Möglichkeiten zur Subjektbildung in den Presseaussendungen (ab jetzt: PAen) des 2011 gegründeten Staatssekretariats für Integration enthalten sind. In der Arbeit wird analysiert, wie von einer Institution, deren zentrales Ziel es sein sollte, Integration zu befördern, als zu integrierend kategorisierte Personen in PAen anerkannt werden, wie diese Menschen darin adressiert und folglich in der Gesellschaft positioniert werden und ob diese Texte diskriminatorisches Potential enthalten oder möglicherweise sogar „integrationsfördernde“ Wirkung entfalten. „Menschen mit Migrationshintergrund“ sind hier folglich nicht Gegenstand der Untersuchung, sondern eine Analyse der Subjektivierungsprozesse – der Praxen, durch die Subjekte hervorgebracht werden bzw. durch die sie sich hervorbringen – wird angestrebt. Zudem schließt die Analyse unweigerlich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Terminus „Integration“ und der politischen Interpretation desselbigen mit ein. Migrationsforschung als Kritik 'LH(LQQDKPHHLQHUNULWLVFKHQXQGVHOEVWUHÀH[LYHQ3RVLWLRQELOGHW die Grundlage dieser Arbeit: Kritische Forschung hinterfragt das Selbstverständliche, das vermeintlich natürlich Gegebene und befragt gesellschaftliche Machtverhältnisse und Herrschaftsverhältnisse sowie die Möglichkeit für deren Verschiebung. Gleichzeitig weiß sich kritische Forschung selbst in die ungleichen Verhältnisse und, durch deren Thematisierung, zu gewissem Maße auch in deren Reproduktion eingebettet – Kritik ist immer abhängig von einem Gegenstand der Kritik und bezieht aus diesem ihre Existenz (vgl. Mecheril u.a. 2013). Im Sinne der kritischen Migrationsforschung wird von verkennenden Begriffen wie „Mensch mit Migrationshintergrund“ Abstand genommen und der Begriff „Migrationsandere“ (vgl. Castro Varela/ WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 175 AK-Wissenschaftspreis Mecheril 2010) verwendet, da er auf die hegemoniale Praxis der Herstellung „Anderer“ verweist sowie die Pauschalisierung und Homogenisierung durch die Essentialisierung von Migration DQ]HLJW(LQUHÀHNWLHUWHU8PJDQJPLW6SUDFKHLVW]HQWUDOIUGLHse Arbeit, schließlich ist Sprache nicht auf ihre Zeichenfunktion zu beschränken: Sprechen, eine Stimme zu haben ist nicht für jedes Subjekt gleichermaßen gegeben, sondern muss von ihm im Laufe seiner Subjektwerdung ausgehandelt werden – wer sprechen darf und wer in weiterer Folge gehört wird, unterliegt komplexen Konstruktionen von Macht und lässt Subjekte ihre Position in einer Gesellschaft erfahren. Sprache und Sprechen sind somit Ausdruck gesellschaftlicher Ordnungen. Unter dieser Perspektive kann das Staatssekretariat für Integration als ein machtvoller Sprecher im Diskurs um Integration und Migration betrachtet werden, als ein Sprecher, der als staatliche Institution ein hohes Maß an Autorität und Legitimität für sich beanspruchen kann und als Stimme der Mehrheitsgesellschaft DXIWULWW XQG *HK|U ¿QGHW 'LH YRQ LKP YHU|IIHQWOLFKWHQ 3$HQ können unter dieser Perspektive als Aussagen eines legitimen Sprechers im Integrationsdiskurs sowie als diskursive Ereignisse angesehen werden, die ein „Integrations-Wissen“ erzeugen, das die vorherrschende migrationsgesellschaftliche Ordnung stützt: Die PAen werden von den Medien aufgenommen und wiedergegeben, somit wird das Staatssekretariat in seiner Position bestärkt; das von ihm produzierte Wissen wird normativ oder auch kritisch reproduziert und dadurch diskursiv verankert. Integration Die politische und öffentliche Migrationsdebatte ist gegenwärtig nicht ohne den Begriff „Integration“ zu denken, im Gegenteil, sie wird mittlerweile von diesem und den damit einhergehenden Forderungen zentral bestimmt. „Integration“ leitet sich von dem lateinischen Substantiv „integratio“ ab und bedeutet so viel wie Erneuerung oder Wiederherstellung eines Ganzen – zu einer Wiederherstellung bedarf es entgegen der Ausrichtung der meisten integrationspolitischen Maßnahmen jedoch stets mindestens zweier oder mehrerer Seiten (vgl. Zips 2001). Die Gesellschaft wird durch Migration verändert und muss sich als solche neu GH¿QLHUHQ ,QWHJUDWLRQ DOV 5HDNWLRQ DXI GLHVH 9HUlQGHUXQJ LVW 176 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis dabei als ein wechselseitiger Prozess zu verstehen und einzufordern, somit keine alleinige Bringschuld von Migrationsanderen, sondern eine alle Bereiche der Gesellschaft und ihre Mitglieder umfassende Herausforderung: Die Mehrheitsgesellschaft muss auf Bedürfnisse der Migrationsanderen eingehen und umgekehrt. Das erfordert eine Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Selbstverständnis, mit sich selbst und den Anderen – wir erlernen uns schließlich über Andere. Integration kann nur durch Partizipation am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben erfolgen – solange Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder eines konstruierten Migrationshintergrunds von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden bzw. nur HLQJHVFKUlQNWHQ=XJDQJGD]XYRU¿QGHQN|QQHQVLHVLFKWURW] Integrationswillens nicht integrieren. Analyseperspektive Zur Analyse der PAen wird eine Perspektive aus drei theoretischen Ansätzen entwickelt: Subjektivierung, Othering und Verletzende Worte. Das Konzept der Subjektivierung verabschiedet sich vom autonomen, sich selbst begründenden Subjekt und versteht dieses stattdessen als in ein relationales Verhältnis von Selbstund Anderenbezug eingebunden. Erst durch die Anerkennung und Ansprache anderer wird das Individuum als Subjekt in die gesellschaftliche Ordnung gerufen und ihm eine Position im Sozialen zugewiesen, aus der es sich wiederum zu anderen in Verhältnis setzen kann. Durch Subjektivierung kommen die (Re-) Produktion migrationsgesellschaftlicher Ordnungen und Normalitätserwartungen sowie die Möglichkeit ihrer Verschiebung in den Blick (vgl. Butler 2013). Othering hingegen bezeichnet eine hegemoniale Praxis, die Andere als Grundlage zur Bildung eines davon abgegrenzten „Wir“ erzeugt. Die Anderen, das „NichtWir“, wird dabei als mit einem „Wir“ unvereinbar und von diesem abweichend hergestellt – dies zeigt sich in Gegenteilpaaren wie zivilisiert-barbarisch oder kultiviert-kulturfern, die das „Wir“ positiv hervorheben (vgl. Said 1978). Durch Othering wird ein machtvolles Wissen über Andere konstruiert und ihr Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen sowie ihre Handlungsfähigkeit reglementiert und eingeschränkt. Verletzende Worte wiederum verweisen auf die der Sprache inhärente Gewalt. Sprache ist nicht nur Handeln innerhalb eines grammatischen Systems, WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 177 AK-Wissenschaftspreis sondern ein Handeln, das außersprachliche Wirkung zeigt (vgl. Austin 2010). Wir können uns der Sprache nicht entziehen, sondern müssen uns ihr aussetzen, denn durch Ansprache erhalten wir Anerkennung und die Möglichkeit, uns im sozialen Raum zu positionieren. Wir sind somit sprachliche Wesen, die durch Sprache erschaffen werden, sich aber auch durch diese zerstören lassen. Aufgrund unserer Abhängigkeit von der Ansprache anderer setzen wir uns auch potenziell verletzendem Sprechen aus, da es für uns immer noch besser ist, erniedrigt als gar nicht angesprochen zu werden. Verletzende Worte sind eine soziale Praxis, deren Wirkung von dem Ort, der Autorität der Sprecherin/des Sprechers und dem Kontext abhängt, in dem diese Worte geäußert werden. Methode Methodisch wird in der Arbeit mit der Incidentanalyse vorgegangen, mit der vier für den Key Incidents (Integration durch Leistung, Integrationsbotschafter/innen, Rot-Weiß-Rot-Fibel, Migrationshintergrund als Potenzial) konstruiert wurden. Bei diesen Key Incidents handelt es sich um den PAen der Anfangszeit des Staatssekretariats (im Zeitraum von 2011 bis 2012) entnommene Begriffe und Phrasen, die mit konkreten Integrationsinitiativen YHUEXQGHQVLQGXQGGDEHVRQGHUVKlX¿JYHUZHQGHWDOVNHQQzeichnend und prägend für den Diskurs und dessen Wahrnehmung anzusehen sind. Ergebnis der Analyse Die Analyse der Key Incidents zeigt, dass sich in den PAen durchgehend übereinstimmende Positionierungsangebote und Positionszuweisungen, die an das integrationspolitische Leitmotiv „Integration durch Leistung“ anschließen, erkennen lassen. Darin werden Migrationsandere allerdings nicht direkt adressiert, sondern Möglichkeiten ihrer Einpassung in die Gesellschaft postuliert und Menschen, denen kein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, als unproblematisch bzw. nicht integrationsbedürftig gekennzeichnet. Das einseitige Sprechen über „Menschen mit Migrationshintergrund“ steht analog zum einseitig geäußerten Integrationsimperativ, der nur an Menschen, die über die Kategorie „Migrationshintergrund“ unterschieden werden, 178 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis gerichtet wird. Migrationsandere werden in den Key Incidents als GH¿]LWlUOHLVWXQJVXQZLOOLJXQGÄZHUWIHUQ³DQHUNDQQWLKQHQZLUG eine inferiore Position zugewiesen, aus der sie sich vorgeblich durch (Integrations-)Leistung erheben und Handlungsfähigkeit erreichen können. Die analysierten PAen weisen jedoch darauf hin, dass nicht handlungsfähige Migrationsandere, sondern ihre ökonomische Verwertbarkeit als Integrationsziel angesehen wird. Sie werden nicht als Subjekte adressiert, sondern – ausgehend vom Leistungsprinzip – als Elemente nach einer wirtschaftlichen Logik der Verwertbarkeit. Die vom Staatssekretariat angestrebte „Versachlichung der Integrationsdebatte“ drückt sich in der EntSubjektivierung der Migrationsanderen durch die Fokussierung ihrer Integration als Humankapital in das volkswirtschaftliche 6\VWHPDXV)UDOV]XLQWHJULHUHQG,GHQWL¿]LHUWHEHVWHKWGHPQDFK die Möglichkeit, durch Angleichung die Position als wirtschaftliche Ressource und die daraus resultierende Ent-Subjektivierung anzunehmen oder sich als leistungsunwilliges, inferiores und zu belehrendes, infantiles Subjekt durch Integration anerkennen zu lassen. Integration operiert dabei mit „Migrationshintergrund“ als Unterscheidungskategorie, die „Menschen ohne Migrationshintergrund“ in ihrer Identität bestärkt und die Machtasymmetrie der Gesellschaft zugunsten der Mehrheit stabilisiert. Durch das Narrativ „Integration durch Leistung“ werden zudem Ungleichheiten und Diskriminierung ausgeblendet und wird die mögliFKHUZHLVHGH¿]LWlUHJHVHOOVFKDIWOLFKH3RVLWLRQ0LJUDWLRQVDQGHUHU allein auf deren Wille, etwas zu leisten, zurückgeführt. Durch die Forderungen nach Leistung, nach Übernahme der Werte und Nutzen des Potenzials wird Wissen über Migrationsandere als OHLVWXQJVXQZLOOLJGH¿]LWlUXQGXQJHQXW]WHV3RWHQ]LDOJHVFKDIIHQ womit eine Hierarchisierung einhergeht, mit der der einseitige Integrationsimperativ gerechtfertigt wird. Integration wird so als Unterscheidungspraxis erkennbar, die Migrationsandere als Risiko für das Wertegefüge, für die nationale Wirtschaft behauptet. Fazit Das vorherrschende politische Konzept von Integration fördert nicht das „Entstehen eines neuen Ganzen“, sondern verstärkt als nach einer binären Logik operierende hegemoniale Unterscheidungspraxis die Trennlinien zwischen einem „Wir“ ohne Migrationshintergrund und einem „Nicht-Wir“ mit MigrationshinWISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 179 AK-Wissenschaftspreis tergrund, das eine gezielte Aufforderung zur Leistung benötigt. Migrationsandere werden in den PAen inferiorisiert und als nicht handlungsfähig erklärt, was zu pseudo-paternalistischen Integrationsmaßnahmen führt. Integrationserfolg wird demnach nicht an der Teilhabe der Migrationsanderen an der Gesellschaft, sondern umgekehrt an der Teilhabe der Gesellschaft an Migrationsanderen JHPHVVHQ'LHVSH]L¿VFKHQLQGLYLGXHOOHQ+HUDXVIRUGHUXQJHQ die in Migrations- wie Integrationsprozessen auftreten, werden ignoriert und das Bild eines homogenen „Menschen mit Migrationshintergrund“ wird konstruiert. Das politische Konzept von Integration fordert Assimilation, vollzieht Othering und schafft Ungleichheit, anstatt diese aufzulösen – unter diesen Umständen muss Integration scheitern. Literatur Austin, John L. (2010): Zur Theorie der Sprechakte. How to do things with words. Reclam: Stuttgart Butler, Judith (2013): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Suhrkamp: Frankfurt a. M. Castro Varela, Maria do Mar / Mecheril, Paul: Grenze und Bewegung. Migrationswissenschaftliche Klärungen, in: Mecheril, Paul (Hrsg.) u.a.: Migrationspädagogik. Weinheim/Basel: Beltz, 23-53 Mecheril, Paul u.a. (2013): Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten, in: Mecheril Paul (Hrsg.) u.a. (2013): Migrationsforschung als Kritik? Konturen einer Forschungsperspektive. Wiesbaden: Springer VS, 8-55 Said, Edward W. (1978): Orientalism. New York: Pantheon Zips, Werner (2001): „’Befremdliche Heimat’ –Einwände zur österreichischen ‚Integrations-politik’ als Etikettenschwindel für verschleierte Assimilation“, in: Kletzander, Helmut (Hg.) / Wernhart, Karl R.: „Minderheiten in Österreich – Kulturelle Identitäten und die politische Verantwortung der Ethnologie“. WUV: Wien, 77–90 180 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis Karola Neumüller Die Novellierung des österreichischen Arbeitsverfassungsgesetzes 2006 und ihre Auswirkungen auf die betriebliche Mitbestimmung von Zuwanderern. „Ich muss ehrlich sagen, irgendwie funktioniert eine Integrationspolitik oder Migrationspolitik nicht. Irgendwie funktioniert das nicht. Ich rede mit den Leuten, die hier geboren sind oder die bereits längere Zeit in Österreich sind, ob sie ein Angehörigkeitsgefühl, ein Zugehörigkeitsgefühl haben – leider nicht. Das ist nicht nur bei den türkischen Kollegen, sondern auch bei den slowakischen oder rumänischen Kollegen. Dieses Gefühl … es fehlt so groß bei uns.“ (Ido, Betriebsrat) Dieses Zitat ist einem im Forschungsprozess entstandenen Interview entnommen. Es drückt eine Grundstimmung aus, mit der auch ich mich immer wieder konfrontiert sehe und aus der KHUDXVGLH:DKODXIGLH7KHPDWLNGHU$UEHLW¿HO Seit 2006 ist die Übernahme eines BetriebsrätInnenmandats in Österreich von der Staatsbürgerschaft unabhängig. Mit der Verabschiedung der entsprechenden Gesetzesnovellierung kam der österreichische Nationalrat einem rechtlich bindenden Urteil des Europäischen Gerichtshofes nach; vorangegangen war dem ein insgesamt zwölf Jahre dauernder Rechtsstreit durch sämtliche inländische sowie europäische Instanzen. Welche Auswirkungen die Eliminierung des Kriteriums Staatszugehörigkeit bei Wahlen zur betrieblichen Interessensvertretung in Österreich auf Zuwanderer hat, klärt die Arbeit, indem sie folgenden Forschungsfragen nachgeht: 1. Was waren die Hintergründe für das Zustandekommen der Gesetzesnovellierung des Arbeitsverfassungsgesetzes (ArbVG) durch den österreichischen Nationalrat im Jahr 2006? 2. Inwieweit eröffnet die Novellierung des ArbVG 2006 neue Möglichkeiten betrieblicher Mitbestimmung für Zuwanderer in Österreich? 3. Welche Auswirkungen haben die neuen Möglichkeiten betrieblicher Mitbestimmung auf Zuwanderer in Österreich? WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 181 AK-Wissenschaftspreis Ausgehend vom „deutschen Modell“ liegt der Analyse außerdem die Arbeitsthese zugrunde, dass sich die Zulassung ausländischer Staatsangehöriger zum Betriebsratsmandat positiv auf deren (betriebliche Sozial-)Integration auswirkt. – In Deutschland ist die StaatsbürgerInnenschaft für die betriebliche Interessensvertretung seit 1972 irrelevant; ein positiver Zusammenhang zwischen Betriebsratstätigkeit und betrieblicher Sozialintegration konnte dort bereits nachgewiesen werden. Um der Beantwortung der Fragestellung im Rahmen der Untersuchung am ehesten gerecht zu werden, wurde ein offenes, exploratives, qualitatives Forschungsdesign gewählt. Einerseits ist die Zeitspanne, die seit den Neuerungen verstrichen ist, relativ kurz, andererseits gibt es kaum wissenschaftliche Arbeiten dazu, der Untersuchungsgegenstand macht nur einen geringen Teil der Grundgesamtheit aus und statistisches Datenmaterial dazu fehlt oder ist zumindest rar. Außerdem war die Zielsetzung der Arbeit weniger die Überprüfung von Hypothesen als vielmehr die Benennung von Strukturen und Entwicklungen. Geführt wurden zwei Gruppen von Leitfadeninterviews; zum einen mit ExpertInnen, um Informationen über die Hintergründe der Gesetzesnovellierung zusammenzutragen und die neuen Möglichkeiten betrieblicher Mitbestimmung sowie deren Auswirkungen auf Zuwanderer aus einer Metaperspektive zu erfassen. Zum anderen wurden durch Interviews mit zugewanderten BetriebsrätInnen Daten direkt an der Quelle, den „Betroffenen“, erhoben. Den theoretischen Rahmen der Auseinandersetzung bildeten Theorien zu Partizipation auf der einen sowie zu Integration auf der anderen Seite. Einen Zusammenhang zwischen den beiden Bereichen konstruieren Forschungsergebnisse des „deutschen Modells“. Relevanz besitzen Patrick Irelands Ansätze zu politischer Partizipation von MigrantInnen, besonders die institutionelle Kanalisierungstheorie. Sie geht davon aus, dass die Partizipationsformen von Zuwanderern stark geprägt sind von den institutionellen Rahmenbedingungen im Aufnahmeland, und bezeichnet institutionelle Strukturen (unter die auch das passive Wahlrecht fällt) als „Torwächter“. Da das Engagement innerhalb der betrieblichen ArbeitnehmerInnenvertretung nicht klar der Kategorie politischer 3DUWL]LSDWLRQ ]XJHRUGQHW ZLUG ¿QGHQ &ODXGLD 'LHKO XQG -XOLD 182 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis Urbahns Ansätze zu gesellschaftlicher Partizipation von MigrantInnen ebenso Eingang in die Arbeit. Die beiden differenzieren bei der Partizipationsbereitschaft zwischen politisch und sozial (unpolitisch) motiviert bzw. unterscheiden sie herkunfts- und aufnahmelandorientiertes Partizipationsinteresse. Die wesentlichsten theoretischen Grundlagen zur Thematik Integration kommen von David Lockwood. Er unterscheidet Systemund Sozialintegration, wobei Letztere für diese Arbeit Relevanz besitzt. Hartmut Esser hat das Konzept der Sozialintegration für Zuwanderer ausdifferenziert. Er benennt die vier aufeinander aufbauenden, sich gegenseitig verstärkenden Dimensionen der .XOWXUDWLRQ 3ODW]LHUXQJ ,QWHUDNWLRQ VRZLH ,GHQWL¿NDWLRQ 'LH VHOWHQVWHXQGRSWLPDOH)RUPGHU,GHQWL¿NDWLRQLVWGLH0HKUIDFKintegration, bei der Zuwanderer sowohl in der Aufnahme- als auch in der Herkunftsgesellschaft verortet sind.) Inhaltlich werden die Themen Partizipation und Integration durch Werner Schmidts Forschungsergebnisse zusammengeführt. Er LGHQWL¿]LHUW YLHU 0HFKDQLVPHQ GLH LQ GHXWVFKHQ %HWULHEHQ LP Zusammenhang mit BetriebsrätInnen positiv auf die betriebliche Sozialintegration von Zuwanderern wirken: Zwang zu Wohlverhalten und Kooperationsbereitschaft, pragmatische Zusammenarbeit, betrieblicher Universalismus und Mechanismus der herkunftsblinden Interessenskonstitution. Zentrale Forschungsergebnisse: Die Analyse der Hintergründe der Gesetzesnovellierung stellt der österreichischen Migrations- und Integrationspolitik insgesamt ein schlechtes Zeugnis aus. Auch dazu ein Zitat: „Ich glaube, wissenschaftlich fehlt etwas. Die Regierung oder der Staat schaut das nicht wissenschaftlich an, macht einfach Straßenpolitik.“ (Ido, Betriebsrat) Wie die Arbeit nachweist, bestand die österreichische Migrationspolitik aus politischen Einigungen und Erlässen, aus stückweise erfolgenden Legitimierungen und Institutionalisierungen durch entsprechende Maßnahmen und Gesetze sowie aus deren ständiger Rekalibrierung. Nicht nur geregelte Rahmenbedingungen, vor allem auch geklärte Zuständigkeiten WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 183 AK-Wissenschaftspreis für Zuwanderung fanden sich nur schleppend. Der Blick auf die Ereigniszusammenhänge lässt Regelungen und Gesetze innerhalb des Kontexts eher als dringend notwendige, weil nachträgliche Anpassungen an vorhandene Gegebenheiten erscheinen denn als reflektierte und langfristigen Zielen folgende Formulierungen. Erst jüngste Ereignisse, wie die Novellierung des Arbeitsverfassungsgesetzes oder die Einführung der RWRKarte, lassen auf veränderte Wertigkeiten und neue Zugänge zum Themenkomplex schließen. Die neuen Formen betrieblicher Mitbestimmung von und deren Auswirkungen auf Zuwanderer sind vielfältig. „Dass ich einfach so arbeite, dass ich eine Brücke sein kann zwischen inländischer und migrantischer Bevölkerung.“ (Neda, Betriebsrätin) MigrantInnen, die sich innerhalb der betrieblichen Interessensvertretung engagieren, übernehmen ausgeweitete Tätigkeitsbereiche. Zusätzlich zu den betriebsrätlichen Aufgaben der Aufklärung und Information sowie der Sicherung rechtlicher Rahmenbedingungen als Kontrollinstanz übernehmen zugewanderte BetriebsrätInnen eine „Brückenfunktion“. Damit ist gemeint, dass sie als Sprachrohr zwischen unterschiedlichen Sphären fungieren, dass sie VermittlerInnen zwischen verschiedenen Welten sind. Durch ihre Mehrsprachigkeit übernehmen sie Dolmetschaufgaben; darüber hinaus besitzen sie Wissen über österreichisches Recht, besonders das Arbeits- und Sozialrecht, über kulturelle Regeln usw. – kurz gesagt, über Systeme des Aufnahmelandes. Dieses Wissen geben sie weiter an andere Zuwanderer; entweder, weil sie sich für diese zuständig fühlen oder weil sie von diesen als Vertrauenspersonen betrachtet und angesprochen werden. =XJHZDQGHUWH %HWULHEVUlW,QQHQ ]HLFKQHQ VLFK KlX¿J GXUFK ihr außerordentliches Engagement aus, wodurch es zu einem „Multiplikatoreffekt“ kommt. „Also zuerst sind wir Betriebsräte 24 Stunden für unsere Mitarbeiter da. Ich treffe mich auch in meiner Freizeit. Wir diskutieren gewisse Probleme, eigene Probleme und sogar private Probleme. Wenn ich in Kroatien oder Bosnien oder irgendwo bin, muss ich 184 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis auch erreichbar sein. Seit ich Betriebsrat bin, habe ich ein Firmentelefon und seitdem bin ich wirklich die ganze Zeit erreichbar.“ (Almir, Betriebsrat) Die Übernahme des Betriebsratsmandates verbessert die eigene Position innerhalb der Aufnahmeland- und ganz besonders innerhalb der Herkunftslandgesellschaft. Zuwanderer, die einer migrantischen Community angehören, werden zu wichtigen Ansprechpersonen, wie dem obigen Zitat entnommen werden kann. Sie lösen arbeits- und sozialrechtliche Probleme der gesamten Community und fungieren darüber (und weit über ihren Betrieb) hinaus als SeelsorgerInnen, AnwältInnen, MediatorInnen u. v. m. Die doppelte Statusaufwertung kann Hartmut Essers vierter 'LPHQVLRQ GHU ,GHQWL¿NDWLRQ JHQDXHU JHVDJW GHU 0HKUIDFKintegration, zugeordnet werden, was wiederum den positiven Integrationseffekt des Betriebsratsmandates (über den Betrieb hinaus) bestätigt. 'LHYRQ:HUQHU6FKPLGWLGHQWL¿]LHUWHQMechanismen der herkunftsblinden Interessenskonstitution sowie des betrieblichen Universalismus treffen auch hierzulande zu. In den Interviews wird zwar von Diskriminierung berichtet, bei Nachfragen klärt sich allerdings, dass MigrantInnen nicht aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit aus bestimmten Prozessen ausgeschlossen werden, sondern aufgrund ihrer mangelnden Sprachkenntnisse. Was augenscheinlich als Diskriminierung am Arbeitsplatz wahrgenommen wird, folgt den oben genannten Mechanismen: Um möglichst UHLEXQJVORVHXQGHI¿]LHQWHEHWULHEOLFKH$EOlXIH]XJDUDQWLHUHQ werden MitarbeiterInnen, die keine gemeinsame Sprache sprechen, in keine gemeinsamen Arbeitsprozessen, eingeteilt und umgekehrt. Dies bedeutet, dass vor dem Betrieb alle Beschäftigten gleich behandelt und beurteilt werden, und zwar nicht nach ihrer ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit, sondern im Sinne eines P|JOLFKVWHI¿]LHQWHQ$EODXIVXQG2XWSXWV Die Zusicherung des passiven Wahlrechts für alle ArbeitnehmerInnen durch die Novellierung des ArbVG 2006 kann Patrick Irelands institutioneller Kanalisierungstheorie folgend als Öffnung eines institutionellen Tores verstanden werden – der „Torwächter“ gewährt Einlass, womit institutionelle Diskriminierung aufgehoben wird. WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 185 AK-Wissenschaftspreis „Da hat jemand kandidiert, der war um die 50, und der hat zum ersten Mal nicht nur kandidiert, sondern der ist zum ersten Mal zur Wahl gegangen.“ (Ismet, ÖGB-Funktionär) Dieses Zitat leitet über zu einem weiteren wichtigen Aspekt der Gesetzesnovellierung, nämlich einem „Demokratisierungseffekt“. In Österreich gibt es Sektoren, in denen zum Großteil Zuwanderer ohne heimische Staatsbürgerschaft tätig sind. Bisher konnten in diesen Bereichen keine Betriebsratskörperschaften installiert werden. Die Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen ermöglicht durch die Installation einer betrieblichen ArbeitnehmerInnenvertretung die demokratische Erschließung jener Sektoren. Damit garantiert die Gesetzesnovellierung über die rechtliche hinaus auch die tatsächliche, praktische Gleichstellung von Zuwanderern und macht ganz nebenbei mit unseren politischen Systemen vertraut. Schließlich ist die bedeutsame Rolle des ÖGB OÖ im Untersuchungszusammenhang festzuhalten. Im Gegensatz zur einstigen gewerkschaftlichen Ausrichtung etabliert der ÖGB seit einigen Jahren unterschiedliche Strategien zur Unterstützung von Zuwanderern. Die Einrichtung eines bundesweit einzigartigen „Kompetenzforums Migration“, die enge Zusammenarbeit mit migrantischen Vereinen (der Vorsitzende dieses Forums ist aktuell ein Vereinsvorstand; Vereinsmitglieder werden für gewerkschaftliche Ausbildungen angeworben etc.) oder die Beschäftigung zweier ÖGB-FunktionärInnen, die speziell für Betriebsratsgründungen in den oben genannten „AusländerInnen-Sektoren“ zuständig sind – dies sind Beispiele für die Aufmerksamkeit, die der ÖGB OÖ auf Zuwanderer wendet. Interessant erscheint in diesem Kontext das zeitliche Zusammenfallen der Novellierung des ArbVG (2006) mit dem BAWAG-Skandal (2006/7), als dessen Konsequenz sich die Gewerkschaften verstärkt für neue Mitglieder(gruppen) öffnen. Während die Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen also eine Grundvoraussetzung für das Engagement von Zuwanderern in der betrieblichen Interessensvertretung darstellt, treiben die gewerkschaftlichen Aktivitäten die tatsächliche Partizipation (in Oberösterreich) stark voran. 186 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis Andrea Zierler Offene Grenzen – Geschlossene Gesellschaften? Herausforderungen Sozialer Inklusion im Europa der Binnenfreizügigkeit: Eine soziologische Analyse von Meinungen und Erfahrungen aus Wohnungslosenhilfeangeboten.1 Abstract Die Arbeit widmet sich der Frage nach dem Zugang zu lokalen wohlfahrtsstaatlichen Hilfesystemen, insbesondere im Bereich der Wohnungslosenhilfe, für mobile EU-BürgerInnen, die in ihrem Zielland von Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit betroffen sind. Die Forschungsfragen werden in einer ländervergleichenden Perspektive bearbeitet, für den empirischen Teil wurde ExpertInnenwissen aus zwanzig EU- und Schengen-Mitgliedsstaaten analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass in den europäischen Wohlfahrtsstaaten der Zugang zu Angeboten der Wohnungslosenhilfe für mobile EU-BürgerInnen in den vergangenen Jahren zunehmend in Frage gestellt wurde. Es entwickeln sich komplexe Mechanismen der sozialen Exklusion, die das Recht auf Freizügigkeit des Personenverkehrs innerhalb des europäischen Binnenraums in Frage stellen. Einleitung Die Freizügigkeit des Personenverkehrs stellt eine der vier Grundfreiheiten der Europäischen Union dar. In den vergangenen Jahren, vor allem in Zusammenhang mit den beiden großen Schritten der EU-Osterweiterung 2004 und 2007, sorgte diese Freiheit immer wieder für Kontroversen. Im deutschsprachigen Raum wird die Debatte unter dem populistischen Titel der „ArPXWVPLJUDWLRQ³LPHQJOLVFKVSUDFKLJHQXQWHUGHP%HJULIIÄEHQH¿W tourism“ geführt (Benton 2013, S. 5). Beispiele für diesen Diskurs sind die Versuche des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, Gruppen von EU-Staatsbürgern, die der Volksgruppe der Roma angehörten, von französischem Staatsgebiet zu vertreiben (Willsher 2010), und die wiederholte Ankündigung des britischen Premierministers David Cameron, den Zugang zu WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 187 AK-Wissenschaftspreis Sozialleistungen für mobile EU-BürgerInnen in Großbritannien stark einzuschränken (Cameron 2013). In Österreich geriet das Thema durch die im Rahmen der Studierendenproteste und der Audimax-Besetzung an der Universität Wien im Herbst 2009 geforderten Öffnung von Notquartieren für Personen aus Osteuropa in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit (Winkler-Hermaden 2010). Hintergrund für diese Debatten bilden Diskrepanzen zwischen dem Prinzip der Freizügigkeit auf europäischer Ebene und der Bereitstellung sozialer Sicherheit, die nach wie vor in den Verantwortungsbereich nationalstaatlicher oder sogar lokaler Verwaltungen fällt. Die Arbeit stellt eine explorative Untersuchung zum Thema Wohnungslosigkeit unter EU-BinnenmigrantInnen dar. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie sich der Zugang zu Sozialleistungen, insbesondere Leistungen der Wohnungslosenhilfe, für mobile EU-BürgerInnen, die in ihren Zielländern von Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit betroffen sind, gestaltet. Den konzeptuellen Rahmen für die Arbeit bilden die drei Themenbereiche Europäische Binnenmobilität, Wohlfahrtsstaatsmodelle und das Konzept der sozialen Inklusion sowie ihre Überschneidungsbereiche und Widersprüche. Folgende Forschungsfragen werden aus einer ExpertInnenperspektive bearbeitet: - Welche Barrieren und Exklusionsmechanismen erfahren die Betroffenen in ihren Zielländern? - Wie reagieren öffentliche Verwaltungen und Sozialorganisationen auf das Phänomen? - Inwieweit variieren Handlungsstrategien und Maßnahmen zwischen unterschiedlichen Wohlfahrtsmodellen? Zunächst wird auf die Ausgangslage und den konzeptionellen Rahmen der Arbeit eingegangen. Anschließend wird das Forschungsdesign und die Methodik erläutert, bevor die wichtigsten Ergebnisse und Schlussfolgerungen vorgestellt werden. Hintergrund und konzeptueller Rahmen Die Freizügigkeit des Personenverkehrs stellt – neben dem freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – eine der vier Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarktes dar und steht somit in engem Zusammenhang mit dem europäischen 188 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis Integrationsprozess. Sie garantiert EU-BügerInnen das Recht, sich innerhalb des EU- und Schengenraumes frei zu bewegen und niederzulassen. Für Aufenthalte von über drei Monaten wurde hierbei die Bedingung formuliert, dass die betreffenden Personen entweder ökonomisch aktiv sein oder über ausreichend finanzielle Ressourcen verfügen müssen, um eine „unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ zu verhindern (European Parliament and the Council 2004). Im Kontext der EU-Binnenwanderung wurde in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion der Begriff „Migration“ inzwischen weitgehend vom Begriff der „Mobilität“ abgelöst. Insbesondere die EU-Kommission spricht nicht von ‚MigrantInnen‘, sondern von „mobilen EU-BürgerInnen“ (Benton 2013, S. 6). Die Zahl mobilen EU-BürgerInnen ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. 2012 lebten 13,4 Millionen EU-BürgerInnen seit mehr als einem Jahr in einem EU-Mitgliedsstaat, dessen Staatsbürgerschaft sie nicht besaßen (EY 2014, S. 11). Eine Studie im Auftrag der EU-Kommission zeigt, dass Mobilität innerhalb der EU hauptsächlich in Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt steht, wobei mobile EU-BürgerInnen überdurchschnittlich hohe Beiträge zum ökonomischen Wohlstand in den Zielländern leisten (EY 2014). Boswell and Geddes (2011, S. 178-190) beobachten in den vergangenen Jahren eine Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung von EU-Binnenmobilität. Wurde diese bis vor einigen Jahren noch vorwiegend als ökonomisch gewinnbringend betrachtet, wird sie zunehmend als Gefahr für die Aufnahmegesellschaften gesehen. Diese Veränderung führen die AutorInnen vor allem auf steigende Arbeitslosigkeit und die Angst vor der Verdrängung lokaler ArbeitnehmerInnen im Niedriglohnsektor durch mobile EU-BürgerInnen zurück. Ein Konzept, das in der Europäischen Union seit den 1990er Jahren in der Debatte um soziale Ungleichheit an Bedeutung gewonnen hat, ist jenes der sozialen Exklusion (Atkinson and Davoudi 2000; Kronauer 2010). Trotz variierender Definitionen besteht Einigkeit darüber, dass der Begriff über materielle Armut hinausgeht und soziale Rechte, den Zugang zum Arbeitsmarkt wie auch die Teilhabe an informellen sozialen WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 189 AK-Wissenschaftspreis Beziehungen beinhaltet (Kronauer 2010, S. 11-12). Die für die Möglichkeiten sozialer Inklusion zentralen Wechselbeziehungen zwischen Staat, sozialen Netzwerken und Arbeitsmarkt stehen in engem Zusammenhang mit den unterschiedlichen europäischen wohlfahrtsstaatlichen Modellen. Ein klassisches, in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung nach wievor gegenwärtiges 0RGHOOGHU.ODVVL¿NDWLRQVWHOOHQGLHÄ:RKOIDKUWVVWDDWVUHJLPH³YRQ Esping-Anderson (1989) dar. Er arbeitet drei Idealtypen von Wohlfahrtsstaaten heraus: In liberalen Wohlfahrtsstaten stellt der Markt den Hauptakteur im Bereich der sozialen Inklusion dar, der Staat bietet Sozialleistungen auf niedrigem Niveau und unter strengen Zugangsvoraussetzungen. Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten dagegen fördern die soziale Inklusion ihrer BürgerInen über die Bereitstellung von Sozialleistungen auf hohem Niveau und auf universeller Basis. In korporatistischen/ konservativen Wohlfahrtsstaaten dagegen spielt die Familie für die soziale Inklusion die zentrale Rolle, subsidiär stellt der Staat Sozialleistungen auf relativ hohem Niveau zur Verfügung. Das Modell von Esping-Andersen erhielt seit seiner Entwicklung zahlreiche Adaptierungen, entsprechend neuerer wissenschaftlicher Literatur (z.B. Stephens und Fitzpatrick 2007; Ganßmann 2010, S. 340; Muffels und Fouarge 2002; Mau und Verwiebe 2009, S. 59) wurde es für die vorliegende Arbeit um den Typus des südeuropäischen Wohlfahrtsstaates (zentrale Rolle der Familie, staatliche Sozialleistungen auf niedrigem Niveau) und den postsozialistischen Wohlfahrtsstaat ergänzt. Die entsprechende =XRUGQXQJIUGLHYRUOLHJHQGH$UEHLWLVWLQ*UD¿NGDUJHVWHOOW Personen, die vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, wechseln zwischen unterschiedlichen Wohlfahrtsstaaten. Dabei gehen einerseits Ansprüche auf Sozialleistungen verloren, andererseits stehen neue Unterstützungsangebote zur Verfügung und Anspruchsvoraussetzungen variieren zwischen den Staaten. Trotz Bemühungen auf EU-Ebene, die Übertragbarkeit von Ansprüchen auf Sozialleistungen zu erhöhen, bestehen nach wie vor zahlreiche Unklarheiten und Unsicherheiten, insbesondere betreffend die Frage, welche Leistungen als „Sozialleistungen“ gelten und was unter „unverhältnismäßiger Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ zu verstehen ist. Ebenso fragwürdig sind die rechtlichen Möglichkeiten einer Abschiebung von EUBürgerInnen (Benton 2013). 190 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis Methodik Der empirische Teil der Arbeit basiert auf der Erhebung und Analyse von ExpertInnenwissen, die Gruppe der relevanten ExpertInnen umfasst Personen mit professionellem Bezug zum Thema Wohnungslosigkeit. Der bei der Rekrutierung der ExpertInnen zugrunde gelegte ExpertInnenbegriff basiert auf Annahmen der Wissenssoziologie. Demnach ist ein Experte/eine Expertin mit besonders strukturiertem Fach- oder Sonderwissen ausgestattet, das, im Gegensatz zu Allgemeinwissen, direkt in Zusammenhang mit der Ausübung eines bestimmten Berufes steht (Bogner und Menz 2007a, S. 43). Besondere Bedeutung kommt der sozialen Relevanz dieses Wissens zu – es weist „die Chance auf, in der Praxis in einem bestimmten organisationalen Funktionskontext hegemonial zu werden, d.h., der Experte besitzt die Möglichkeit zur (zumindest partiellen) Durchsetzung seiner Orientierungen“ (Bogner und Menz 2007b, S. 46). Die Rekrutierung der ExpertInnen wurde als offener Prozess angelegt, in Anlehnung an Diekmann (2011, S. 399–400) wurde die für seltene Populationen vorgeschlagene Schneeballmethode angewandt bzw. auf MultiplikatorInnen zurückgegriffen. *UD¿N=XVDPPHQVHW]XQJGHU6WLFKSUREH Die Datenerhebung erfolgte online und in englischer Sprache, es wurden qualitative und quantitative Elemente kombiniert. Die erhobenen Daten wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse bzw. deskriptiver Statistik ausgewertet. Das erreichte Sample WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 191 AK-Wissenschaftspreis umfasst 66 ExpertInnen aus zwanzig EU- und Schengen-Mitgliedsstaaten. Die ExpertInnen sind in den Bereichen öffentliche Verwaltung, Nichtregierungsorganisationen, Forschung sowie in Selbstorganisationen wohnungsloser Menschen beschäftigt. Grafik 1 zeigt die Zusammensetzung der erreichten Stichprobe nach Herkunftsland. Ergebnisse Die Mehrheit der befragten ExpertInnen beobachtete in den vergangenen Jahren eine steigende Zahl von mobilen EUBürgerInnen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Diese Entwicklung assoziieren sie mit sich verschlechternden ökonomischen und sozialen Bedingungen in den wichtigsten Herkunftsländern sowie der ökonomischen Krise, einer Reduktion sozialer Sicherungssysteme und einem Mangel an leistbarem Wohnraum in den Zielländern. Obdachlosigkeit stellt sich in diesem Zusammenhang für die ExpertInnen als Problem dar, das nicht schon im Herkunftsland, sondern erst im Zielland, vor allem aufgrund mangelnden Zugangs zu sozialstaatlichen Unterstützungsleistungen, entsteht. Die betroffenen Personen werden als überwiegend alleinstehend, männlich und tendenziell jünger als ortsansässige wohnungslose Menschen wahrgenommen. Die wichtigsten Herkunftsländer sind die neueren EU-Mitgliedsstaaten in Osteuropa. Die Ergebnisse der Erhebung zeigen, dass in den europäischen Wohlfahrtsstaaten der Zugang zu Angeboten der Wohnungslosenhilfe für mobile EU-BürgerInnen in den vergangenen Jahren zunehmend in Frage gestellt wurde. Im vorliegenden Datenmaterial lässt sich eine Reihe von Praktiken erkennen, die das Ziel haben, den Zugang mobiler EU-BürgerInnen zu lokalen Wohnungslosenhilfesystemen einzuschränken. Diese Praktiken überschneiden einander teilweise oder treten in Kombination auf. 192 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis *UD¿N3UDNWLNHQ]XU(LQVFKUlQNXQJGHV=XJDQJV]X$QJHERWHQ der Wohnungslosenhilfe für mobile EU-BürgerInnen Praxis I: Nur jene Personen, die eine längerfristige Verbindung zum Aufenthaltsland oder zur Aufenhaltsregion nachweisen können, erhalten Zugang zu Angeboten der Wohnungslosenhilfe. Kriterien unterscheiden sich je nach Region bzw. Land stark, Beispiele sind formale Arbeitsverhältnisse, ökonomische Selbsterhaltungsfähigkeit oder Aufenthaltsdauer. Praxis II:'LHYRQGHQWHLOQHKPHQGHQ([SHUW,QQHQDPKlX¿JVWHQ genannte Praxis bedeutet, dass mobile EU-BürgerInnen nur während der kalten Jahreszeit Zugang zu Notversorgung, die primär dem Kälteschutz dient, erhalten. Praxis III: Mobile EU-BürgerInnen erhalten nur zu bestimmten Segmenten der Wohnungslosenhilfe Zugang. Diese (meist niederschwelligen) Angebote umfassen Notfallversorgung, Beratungsangebote, Notquartiere und Unterstützung bei der Rückkehr ins Herkunftsland. Praxis IV: Nur mobile EU-BürgerInnen, die von schwerwiegenden gesundheitlichen Problemlagen, insbesondere solchen mit Relevanz für die öffentliche Gesundheit, betroffen sind, erhalten Zugang zu Unterstützungsangeboten. Praxis V: Nur jene mobilen EU-BürgerInnen, die bereit sind, mit Hilfe sogenannter Programme zur unterstützten Rückkehr in ihr Herkunftsland zurückkzukehren, erhalten (kurzfristigen) Zugang zu Notunterbringung. Die oben beschriebenen Praktiken deuten auf die Entstehung von Zwei-Klassen-Systemen hin, die mobilen EU-BürgerInnen WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 193 AK-Wissenschaftspreis Unterstützungsangebote auf deutlich niedrigerem Niveau zur Verfügung stellen als einheimischen obdachlosen Personen. Eine besondere Rolle spielt die Vulnerabilität der betroffenen Personen am Arbeitsmarkt: Eine Teilnahme am formalen Arbeitsmarkt im Zielland gilt meist als Voraussetzung für den Zugang zu sozialen Unterstützungsleistungen. Fehlt dieser Zugang, führt dies zu besonderer Gefährdung in Bezug auf prekäre, informelle und ausbeuterische Arbeitsbeziehungen, die für die betroffenen Personen die einzige Möglichkeit zur Existenzsicherung darstellen. Weitere problematische Aspekte sind die Praxis von Abschiebungen mobiler EU-BürgerInnen sowie deren „unterstützte Rückkehr“ins Herkunftsland. Knapp die Hälfte der ExpertInnen berichtet über Abschiebungen von EU-BürgerInnen in den vergangenen fünf Jahren. Die rechtliche Grundlage für diese Abschiebungen wird vielfach als inkonsistent oder unklar betrachtet. Es stellt sich nicht zuletzt das Problem der Wiedereinreise der betreffenden Personen mangels Grenzkontrollen. Als Reaktion darauf haben einige Staaten Programme für eine unterstützte Rückkehr von mobilen EU-BürgerInnen ins Herkunftsland entwickelt, die die Nachhaltigkeit der Rückkehr zu erhöhen. Die Grenze zwischen (erzwungener) Abschiebung und (freiwilliger) 5FNNHKUZLUGMHGRFKYLHOIDFKDOVÀLHHQGEHVFKULHEHQZLHGLH folgenden Zitate zeigen: „[…] EU rules make it [expulsions] almost impossible, but also after an expulsion they can come back and they do. You play table tennis with them – expulsion and coming back.” (Niederlande/öffentliche Verwaltung) „Expulsion is a harsh term. There have been several attempts to guide people back to their home country.” (Niederlande/ NGO) „Attempts to do forced returns by police and ministry [had been] declared illegal but appear still to go on, possibly with engineered consent.” (Großbritannien/Andere Organisation) Die Freiwilligkeit der Teilnahme an Rückkehrprogrammen ist vor allem insofern zu hinterfragen, als sie vielfach als Voraussetzung für den (kurzfristigen) Zugang zu überlebenssichernden Hilfeangeboten herangezogen wird, was zusätzlich Druck auf die Betroffenen ausübt. 194 WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 AK-Wissenschaftspreis Obwohl lokale Hilfesysteme in den mittel- und nordeuropäischen EU- und Schengen-Mitgliedsstaaten in Bezug auf Obdachlosigkeit von mobilen EU-BürgerInnen mit ähnlichen Problemstellungen konfrontiert sind, so lassen sich, legt man dem Vergleich bestehende Wohlfahrtsstaatstypologien (z.B. Esping-Andersen 1989) zugrunde, doch unterschiedliche Handlungsstrategien und Schwerpunktsetzungen erkennen. Während Obdachlosigkeit von mobilen EU-BürgerInnen von den teilnehmenden ExpertInnen in den postsozialistischen und südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten nicht als schwerwiegendes Problem wahrgenommen wird, wird dem Phänomen in sozialdemokratischen, insbesondere aber in liberalen und konservativen Wohlfahrtsstaatsregimen hohe Dringlichkeit attestiert. Als Reaktion darauf haben liberale Wohlfahrtsstaaten strenge Zugangsvoraussetzungen zu Sozialleistungen für mobile EU-BürgerInnen installiert, zivilgesellschaftliche und religiöse Organisationen stellen oft die einzigen Hilfsangebote dar. ExpertInnen berichten von der Praxis der Abschiebung mobiler EU-BürgerInnen ebenso wie von Angeboten zur unterstützten Rückkehr. Konservative Wohlfahrtsstaaten bieten mobilen EU-BürgerInnen eingeschränkten Zugang zur Angeboten der Wohnungslosenhilfe, wobei sich ein Zweiklassensystem abzeichnet. Niederschwellige Nothilfe erfolgt sowohl durch den privaten als auch den öffentlichen Sektor. Die Maßnahmen in sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten stellen sich als inkonstistent dar. Einerseits lassen die Daten ebenfalls auf die Herausbildung eines Zweiklassensystems schließen, andererseits werden auch Maßnahmen zur sozialen Inklusion mobiler EU-BürgerInnen bereitgestellt. Einen Sonderfall stellen hier die Niederlande dar: Strenge Zugangsvoraussetzungen und die Praxis von Abschiebungen legen eine Zuordnung zum liberalen Wohlfahrtsstaatstypus nahe. Conclusio EU-BürgerInnen, die ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb des europäischen Binnenraumes ausüben, sind in ihren Zielländern mit einer Reihe von Barrieren konfrontiert, die sich negativ auf die Möglichkeiten sozialer Inklusion auswirken. Diese liegen vor allem im Bereich des Arbeitsmarktes und im eingeschränkten Zugang zum Sozialsystem. Betroffenen Personen, die keinen Zugang zum IRUPHOOHQ$UEHLWVPDUNW¿QGHQRGHUGLHVHQYHUOLHUHQEOHLEWKlX¿J WISO 38. Jg. (2015), Nr. 4 195 AK-Wissenschaftspreis auch der Zugang zu existenzsichernden Hilfeangeboten im Bereich der Wohnungslosenhilfe verwehrt, als einzige Ressource bleiben RIWQXU8QWHUVWW]XQJVDQJHERWHSULYDW¿QDQ]LHUWHURGHUNLUFKOLFKHU Organisationen wie Notschlafstellen oder Suppenküchen. Die Debatten um die Überlastung lokaler Hilfesysteme auf der eiQHQ6HLWHXQGDXIGHUDQGHUHQ6HLWHGLHKXPDQLWlUH9HUSÀLFKWXQJ überlebensnotwendige Hilfen zu gewährleisten, bedeutet zunehmenden öffentlichen Druck auf lokale Sozialverwaltungen. Als Ergebnis zeichnet sich die Herausbildung eines Zweiklassensystems in der Wohnungslosenhilfe ab, das mobilen EU-BürgerInnen nur eingeschränkt Zugang zu diesem Segment sozialstaatlicher Hilfe gewährt. Weiters lässt das vorliegende Datenmaterial auf Tendenzen zur Kriminalisierung von Personengruppen, die von extremen Formen sozialer Exklusion betroffen sind, schließen. Es entsteht eine paradoxe Situation: Die nationalstaatlichen Grenzen verlieren innerhalb der EU an Bedeutung, gleichzeitig entwickeln sich komplexe Mechanismen der sozialen Exklusion, die das Recht auf Personenfreizügigkeit in Frage stellen. Trotz Bestrebungen auf EU-Ebene, Sozialsysteme zu harmonisieren, gelingt von Wohnungslosigkeit betroffenen mobilen EU-BürgerInnen der Transfer zentraler Bürgerrechte und sozialer Rechte ]ZLVFKHQ(80LWJOLHGVVWDDWHQKlX¿JQLFKWVRGDVVGHU=XJDQJ zu grundlegenden Hilfen zur Existenzsicherung verwehrt bleibt. Anmerkung 1. Die Arbeit wurde in englischer Sprache verfasst und trägt im Original den Titel “Open Borders – Closed Societies? Challenges of Social Inclusion in Times of Free Movement: A Sociological Analysis of Views and Experiences from Local Homeless Services across Europe.” Literatur Atkinson, Rob und Simin Dovoudi. 2000. The Concept of Social Exclusion in the European Union: Context, Development and Possibilities. 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