musik & bildung Thema Auf der Suche nach dem Ohrwurm Die Magie der Melodie – eine Unterrichtsreihe in der Sekundarstufe II Günther Wiedemann Die meisten Menschen verbinden mit Musik in erster Linie Melodien, die sich dem Gedächtnis als „Ohrwürmer“ unauslöschlich einprägen. Doch welches Regelwerk macht eine Melodie zu einem Ohrwurm? Ein Phänomen, das immer wieder zu Nachfragen herausgefordert hat. Dies bis in die Gegenwart: Angeregt durch die unüberhörbare Gleichartigkeit melodischer Muster in populärer Musik diskutiert seit Juni 2004 eine überra- schend große Zahl von Interessierten auf Internet-Seiten der Illustrierten Stern über die Frage, ob es eine endliche Anzahl an Melodien geben könne (siehe einen Ausschnitt im Zusatzmaterial auf musikpaedagogik-online.de). In den Beiträgen spiegelt sich zunehmend die Erkenntnis, dass der Begriff „Melodie“ selbst zunächst definiert werden müsse, um auf dieser Grundlage eine erste Verständigung zu erzielen. Was ist eine Melodie? Als ich die SchülerInnen meines MusikKurses fragte, ob sie in ihre Zwölftonkompositionen auch Melodien einbezogen hätten, antworteten sie, dass dies nicht machbar wäre, da Melodien doch immer gesanglich, eben „melodiös“ und „schön“ wären. Die Situation verdeutlicht, dass sich das im 16. Jahrhundert entstandene und heute gebräuchliche 39 deutsche Wort „Melodie“ (griech.: mélos = Lied, Weise und odé = Gesang) auf eine seit Mattheson wirksame Ästhetik bezieht, die die eingängige Melodie als „das schönste und natürlichste in der Welt“ verherrlicht. Während z. B. Scheibe (1708-1779) die Melodie als eine Tonfolge charakterisierte, der eine sinnvolle Ordnung zugrunde liegt, war sie für Mattheson (1681-1764) und Hanslick (1825-1904) die Grundgestalt natürlicher Schönheit (siehe Texte auf musikpaedagogik-online.de). Noch Schumann, Wagner und Strawinsky stellten heraus, dass die Musik ohne Melodie nicht denkbar, sie deren Wesenskern sei, und Alban Berg verschrieb sich der „kantablen, gesanglichen Melodie“ in der Zwölftonmusik.1 Vom einzigen „Melodiegesetz“, der gleichsam „klassischen“ Regel abgesehen, die besagt, dass ein Sprung durch einen Schritt in entgegengesetzter Richtung „abgefangen“ werden soll, gab es zwar „immer Melodielehren, niemals aber, wie in der Kontrapunkt- und Harmonielehre, eine Kontinuität der Theorie und des pädagogischen Regelsystems.“2 Im Zentrum prägender Auffassungen standen daher sowohl die Vorstellung einer geschlossenen Folge von Tönen, der Rückgriff auf melodisch „typische“ Muster, wie sie in vielen Liedern z. B. als Spannung, Entwicklung und Entspannung zu finden sind, aber immer auch die Verbindlichkeit von stilistischen Mitteln der eigenen Epoche. Erfolgsgeheimnis des Ohrwurms Als Hermann Rauhe in einem Interview (Texte auf musikpaedagogik-online.de) die Anatomie des Ohrwurms vorwiegend anhand von Popularmusik beschrieb, stellte er als eines der Erfolgsgeheimnisse den Vertrautheits- und Überraschungseffekt heraus: Auf ein kurzes, mehrfach wiederholtes Motiv aus nicht mehr als drei Tönen folge ein überraschender Sprung, so dass diese Melodie im Verbund mit Interpretation und lebensgeschichtlichem Stellenwert beim Hörer alle Chancen habe, als Ohrwurm Karriere zu machen. Dieter de la Motte analysierte die Liste seiner zwölf „Ohrwürmer“ und kam zu 40 dem Ergebnis, dass sich weniger die schönen Melodien allein als vielmehr ein mehrfach wiederholtes Motiv bis hin zur „extremen Ereignis-Reduktion“ (Orff, Carmina Burana, „O Fortuna“) sowie insbesondere eine punktierte Rhythmik im Gedächtnis verankern (M 1 oben).3 Sogar in der Belletristik spielt die Suche nach einem Regelwerk für Melodien eine Rolle: In dem Roman Melodien von Helmut Krausser sucht der Protagonist Castiglio nach Vorgaben, die bestimmte Kombinationen von Intervallen zu Melodien zusammenführen, so dass beim Zuhörer planbare Wirkungen hervorgerufen werden können. Auch in diesem Jahr wurde mithilfe statistischer Verfahren der Schleier des „Ohrwurm-Geheimnisses“ weiter gelüftet: Der argentinische Physiker Damian Zanette ging in einer Studie der Frage nach, warum sich viele Melodien in tonalem Kontext eher einprägen als atonale Kompositionen.4 Grundlage ist das berühmte Gesetz des amerikanischen Linguisten George Kingsley Zipf, demzufolge zwischen der Verwendungshäufigkeit eines Worts und dem Rangplatz der Verwendungshäufigkeit eine konstante Beziehung besteht: Jeder Text schafft einen Kontext an Bedeutung, innerhalb dessen die Wahrscheinlichkeit mancher Wörter steigt, die anderer abnimmt. Es ist z. B. wahrscheinlicher, in diesem Text dem Wort „Melodie“ zu begegnen als dem Wort „Kartoffel“. Auf die Musik übertragen: In vier Klavierkompositionen von Bach, Mozart, Debussy und Schönberg maß Zanette die Häufigkeit wie auch die Länge und Höhe jedes Tons mit dem Ergebnis, dass sich in tonaler Musik ein nachvollziehbarer Kontext ergibt, den der Rezipient auch voraushören kann. Bei Schönberg werden hingegen ständig neue Informationen hinzugefügt und die bereits bekannten nur selten wiederholt, so dass für den Hörer die Bedeutung und der musikalische Kontext immer wieder wechseln (M 1 unten). Ohrwurmsuche im Unterricht Nie zuvor wurde so viel Musik gehört und/oder als Videoclip gesehen wie heute. Nicht nur für Kinder und Jugendliche ist Musik ein wesentlicher Bestandteil von Lebensgewohnheiten, die ihr die Funktion eines ständigen emotionalen „Stabilisators“ zuweisen, der dem Ausleben von Stimmungen dient und Gefühlen Ausdruck verleiht. Hierbei kommt den Melodien, die sich „wie eine Endlosschleife im Kopf“ einnisten,5 eine herausragende Bedeutung zu, so dass die musikpädagogische Frage nach dem Zusammenhang zwischen kompositorischer Struktur und (planbarer?) Wirkung unmittelbar aus bedeutsamen Lebenszusammenhängen der Jugendlichen erwächst. Baustein 1: Hinführung Zu Beginn der Unterrichtsreihe bringen die SchülerInnen höchstens zwei bis drei der Melodien, die ihnen gegenwärtig besonders gut gefallen und die sich ihnen immer wieder in ihr Bewusstsein drängen, auf einem Tonträger sowie notiert mit in den Unterricht (die Anzahl richtet sich nach der Größe des Kurses). In Kleingruppen stellen sie sich mithilfe portabler CD-Spieler „ihre“ Melodien gegenseitig vor und überprüfen, auch mit Hilfe- musik & bildung Thema werk kompositorischer Faktur und ihrer Wirkungen in allen Epochen der Musikgeschichte gestellt wurden. Anhand von Informationen über den Inhalt des Romans Melodien von Helmut Krausser und Aussagen von Jugendlichen im Internet (M 2, und erweiterte Fassungen auf musikpaedagogik-online.de) entwickeln sie leitende, die Unterrichtssequenz problemorientiert strukturierende Fragestellungen. stellungen des Lehrers, gemeinsam ihre Fixierungen als Notentext. In aller Regel beschränkt sich die Auswahl der SchülerInnen keinesfalls auf Titel der aktuellen Hitparade, vielmehr beinhaltet sie auch Pop-„Oldies“ sowie Melodien der so genannten E-Musik. Baustein 2: Portfolio-Arbeit Als ständiger und hilfreicher Begleiter der Schülerinnen und Schüler erweist sich in dieser Unterrichtssequenz ein Melodien-Portfolio, dessen Grundidee der bildenden Kunst entlehnt ist: In einer Mappe, deren Gütekriterien gemeinsam entwickelt werden, stellen die SchülerInnen eigenständig ausgewählte Melodien unter einem leitenden Aspekt zusammen. Der zweite Unterrichtsbaustein zielt auf das Ordnen der notierten Melodien nach unterschiedlichen wie gemeinsamen kompositorischen Merkmalen in Kleingruppen. Ein Vorgehen, welches durchgehend einen aufwändigen und vor allem sorgfältigen Umgang mit Musik voraussetzt. Anschließend präsentieren und diskutieren die KursteilnehmerInnen ihre Arbeiten im Plenum, um die unterrichtlich gesicherten Auswertungsergebnisse in ihre Portfolios endgültig zu übernehmen. Baustein 3: Fragen nach dem Regelwerk Anschließend erfahren die KursteilnehmerInnen, dass Fragen nach dem Regel- Baustein 4: Opernmelodik zwischen Sehnsucht und Leid Kaum eine andere Thematik bestimmt so nachhaltig das Jugendalter wie die von Liebe und Leid. Vor diesem Hintergrund lassen sich kompositorische Merkmale wie ästhetischer Gehalt ausgewählter Opernmelodien aus verschiedenen Jahrhunderten in ersten Ansätzen aufdecken und z. B. mit Melodien aus Operette, Musical und aus Bereichen der Popmusik gemeinsam wie eigenständig vergleichen. Auf dem Arbeitsblatt M 3 finden die SchülerInnen vier Opernmelodien aus der Musikgeschichte – für den Lehrer seien darüber hinaus folgende Hilfestellungen gegeben: Claudio Monteverdi: L’Orfeo (UA 1607) HB 30 Orpheus wird durch eine Nachricht der Botin, die ihm mitteilt, dass Euridice durch den Biss einer giftigen Schlange getötet worden sei, aus dem überströmenden Glücksgefühl seiner Liebe gerissen. Melodielinien, Rhythmik, Ambitus wie Betonungsschwerpunkte zeigen anschaulich, dass hier der Affektgehalt des Texts im Vordergrund steht. Die abwärts gerichtete Melodik, die vom e des Orfeo („Ohime! che odo?“) zum fis der Botin fällt („morta“), zielt auf den Wechsel des Affekts. In der Gesangsstimme findet sich zunächst eine Pause als rhetorisches Symbol des Tods. Dann „verletzt“ Monteverdi die Regel des Kontrapunkts, dass Dissonanzen schrittweise einzuführen seien: Nach dem H im Bass setzt in freier Vorhaltsdissonanz das a („Ohi“) der Melodie des Orpheus ein, die nach einem abwärts gerichteten kleinen Sekundschritt auf dem gis verklingt. Der Ausdruck des Schmerzes, der den Zuhörer unmittelbar ergreifen soll, bestimmt die satztechnische Grundlage. Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauberflöte (UA 1791) – HB 31 Zu den berühmten Tenorarien der Opernliteratur gehört sicherlich die „BildnisArie“ des Tamino aus Mozarts Zauberflöte. Im Auftrag der Königin der Nacht haben die drei Damen Tamino ein Bild von Tamina überbracht, in die er sich sofort verliebt. Zu Beginn der Arie bringt Mozart die Gefühle Taminos zunächst „in Form“. Die Singstimme beginnt mit einem Sextsprung aufwärts, dem eine abwärtsgerichtete Skala folgt („Dies Bildnis ist bezaubernd schön“). Die Takte 3 bis 4 (Dominante – Tonika) werden im fünften und sechsten Takt sequenziert und entsprechen somit an dieser Stelle den Vorstellungen des klassischen Korrespondenzprinzips. Doch schon in den folgenden Takten befreit sich die Melodie von normativen Vorgaben der Klassik, indem Mozart vorrangig und psychologisch einfühlsam das Erwachen der Liebesempfindungen Taminos nachzeichnet. Folgerichtig gliedern sich die Takte 7 bis 15, den seelischen Vorgängen gemäß, völlig frei in zwei Takte („Ich fühl es“, Vorhalte zu c' und b), einen Takt („Wie dies Götterbild“) und zwei Mal drei Takte („Mein Herz mit neuer Regung füllt“). Dennoch wird der Zuhörer den musikalischen Verlauf keinesfalls als Regelwidrigkeit wahrnehmen, da sich Taminos Melodie im Umfeld gleichmäßig kadenzierender Harmonik gut aufgehoben weiß (Tonika in Takt 15). Giuseppe Verdi: Il trovatore (UA 1853) – HB 32 Leonora vertraut im ersten Akt der Oper ihrer Gesellschafterin Ines an, dass sie sich bei einem Turnier in einen Ritter ver- 41 musik & bildung Thema liebt habe: „Ein unnennbares Sehnen durchbebet meine Seele“. Ihr Gesang beginnt mit einem abwärts gerichteten Sekundschritt, der zwei Mal wiederholt wird. Von der Begleitung akkordisch gestützt, schwingt sich die Melodie, ohne die Akzentsetzungen der Wörter zu berücksichtigen, in Sprüngen drei Mal hinauf bis zum es'' und erreicht mit dem b''' im siebten Takt den höchsten Ton der achttaktigen Periode. Verdi spürt hier dem Klang der Wörter in phonetischen, weniger in semantischen Zusammenhängen nach; an erster Stelle steht die Melodie, der sich der Text unterzuordnen hat. „Alle psychologischen Feinheiten werden nicht mithilfe eines symphonischen Orchestersatzes wie bei Wagner, sondern nur durch die hohe Qualität der Melodie ausgedrückt. Verdis Melodien begeisterten ganz Italien und Europa.“6 Richard Wagner: Der fliegende Holländer (UA 1843) – HB 33 Der Holländer ist dazu verdammt, in alle Ewigkeit auf dem Meer herumzuirren. Nur die Treue einer Frau kann ihn von diesem Fluch erlösen. Um sie zu suchen, darf er alle sieben Jahre an Land. Der zweite Abschnitt seines Monologs im ersten Aufzug gliedert sich während der ersten 16 Gesangstakte in zwei fast identische Teile zu je acht Takten, deren Form vom Text geprägt wird. Die Vielzahl von Sprüngen (Skalen fehlen durchgehend), der Ambitus (Spitzentöne z. B. bei „Mee- 42 res“, „hinab“), der Tonhöhenverlauf wie vor allem die Rhythmik mit dem markanten Gebrauch punktierter Notenwerte folgen den Betonungen der Sprache. Hierzu hat sich Wagner selbst geäußert: „Mir war es aber nun nicht mehr um Opernmelodien zu tun, sondern um den entsprechendsten Ausdruck für meinen darzustellenden Gegenstand; […] Hier war die Rede selbst, nach ihrem empfindungsvollsten Inhalte, auf eine Weise wiederzugeben, daß nicht der melodische Ausdruck an sich, sondern die ausgedrückte Empfindung die Teilnahme des Hörers anregte. Die Melodie mußte daher ganz von selbst aus der Rede entstehen.“7 Erst durch ein musikalisches Bezugssystem „leitender“ Motive, die Wagner hier noch „Reminiszenzen“, später „Grundthemen“ nannte, ergibt sich im Zusammenwirken von Stimme und Orchester musikalische Geschlossenheit. Der fliegende Holländer erzählt, dass er sich „voll Sehnsucht“ immer wieder in des „Meeres tiefsten Schlund“ hinabgestürzt, den Tod aber nicht gefunden habe. Zu diesen Worten erklingt im Orchester (Takte 5-8 und 13-16 der Gesangsstimme) ein Motiv der Senta, die ihn im Verlauf der Handlung von seinen Qualen erlösen wird. Das Holländer-Motiv, welches in abgewandelter Form die Melodiestimme durchgehend bestimmt, geht mit dem Erinnerungsmotiv der Senta eine geheimnisvolle Verbindung ein: eine sensible Zeichnung seelischen Empfindens, die sich auch in der Harmonik unmittelbar niederschlägt (Takte 5-8: Auflösung des Terzquartakkords c-es-fis-a nach gMoll, Takte 13-16: Der Akkord wird in einen verminderten Quintsextakkord c-esges-a umgedeutet und nach Ges-Dur weitergeführt). Alban Berg: Wozzeck (UA 1925) HB 34 „Rhythmisch deklamierend“ liest Marie, die zu Beginn des dritten Akts bei Kerzenschein am Tisch sitzt, in der Bibel die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin. Berg hat diese Form der Stimmbehandlung selbst kommentiert: „Dabei hat sich herausgestellt, daß […] diese melodramatische Art der Stimmbehandlung nicht nur eines der besten Verständigungsmittel darstellt – das muß die Sprache ja hin und wieder auch in der Oper sein –, sondern daß sie auch – vom tonlos geflüsterten Wort bis zum wahrhaftigen Bel-parlare ihrer weitgeschwungenen Sprechmelodien – die Opernmusik um ein vollwertiges und aus den reinsten Quellen der Musik geschöpftes Kunstmittel bereichert hat.“8 Dem rhythmisch freien Sprechen des Bibeltexts auf fixierten Tonhöhen in überwiegend tiefer Stimmlage (d'-e'') stellt Berg die gesungenen Aufschreie der Ma- musik & bildung Thema rie als Zeichen von Angst und innerem Aufruhr gegenüber. Drei Mal ruft sie in diesem Ausschnitt in abwärts gerichteten Sekundschritten verzweifelt nach Gott („Herr Gott“). In stetigem Wechsel von Sprechen und Singen gliedert der Klang der Stimme eine Szene, deren Dramatik sich ständig verdichtet. Doch die Stimme Maries erklingt in atonalem Umfeld, so dass sich das Problem musikalischer Einheitlichkeit und Geschlossenheit durch den Verzicht auf Tonalität verschärft. Mit einem siebentaktigen Thema, das zu Beginn der ersten Szene des dritten Akts erklingt und das im weiteren Szenenverlauf sieben Mal variiert wird, um abschließend in eine Doppelfuge mit zwei je siebentönigen Themen zu münden, formt Berg einen geschlossenen kompositorischen Zusammenhalt, dessen Gliederungsprinzipien vom Zuhörer in aller Regel vorrangig kaum wahrgenommen werden. Die ausgewählte Betrachtung weniger Melodien hat musikalische Signaturen der Sehnsucht und des Leidens aufgedeckt, wie sie Komponisten z. B. mit der fallenden Sekund und der aufwärts gerichteten Sexte seit Jahrhunderten zeichnen. Aufgespürt wurde die Abfolge von Intervallen und Tonhöhen sowie die Bedeutsamkeit der Pause, die von Monteverdi bis Berg in keiner der vorgestellten Kompositionen ihre Wirkung verfehlt. Melodien sind immer auch Ausdruck sich wandelnder Anschauungen und Denkweisen. Der Blick zurück legt das vielfältig verwobene Beziehungsgefüge zwischen Gestalt und Bedeutung, zwischen dem „wie es gemacht ist“, und dem, „was es ist“ (Schönberg), frei, erschließt in allen hier vorgestellten Kompositionen zuvor verborgene Strukturen und Sinnbezüge, modifiziert oder verändert somit zugleich aktuellen Sinn, denn „in der ästhetischen Präsenz vergangener Musik liegt die Chance, dass auch die historische Einsicht in Vergangenes als Teilmoment gegenwärtiger Musikkultur wirksam werden kann“.9 Baustein 5: Erarbeitung Im Mittelpunkt dieser Phase stehen immer wieder das gemeinsame Singen und das konzentrierte Hören von Melodien unterschiedlicher Epochen, das Erproben hilfreicher Analyse-Methoden sowie der übende Entwurf eigener Tonsequenzen (Anfänge, Schlüsse etc.). Gleichzeitig erhalten die SchülerInnen den Auftrag, für ihr Portfolio neben der Fixierung von Unterrichtsergebnissen ihnen zugängliche Melodien, z. B. mithilfe des Internets und der Bibliothek selbstständig zu sammeln, zu analysieren und begründet zu ordnen. Unter einer verbindlichen Überschrift (z. B. „sehnsuchtsvolle Liebesmelodie“) spiegeln sich sodann Erfahrungen wie Lernfortschritt im Entwurf eigener melodischer Konzeptionen, die gemeinsam gesungen und ausgewertet werden. Die wichtige Portfolio-Präsentation belegt an dieser Stelle unter Einbezug der abschließenden Problematisierungsphase anschaulich den Prozess gemeinsamen wie individuellen Vorgehens. Baustein 6: Problematisierung „Warum geben manche Tonfolgen Sinn, andere nicht? Warum klingen unter den sinnvollen einige groß, andere banal? Warum regen eigentlich gewisse Melodien das Herz inniger als andere?“ So fragt Castiglio in Kraussers Roman Melodien (s. M 2). Im Mittelpunkt des sechsten Bausteins stehen auf der Grundlage von Analysebefunden, Texten (siehe M 1 bis M 3) sowie Internet-Recherchen (z. B. die Sichtung der Zanette-Studie) kritische Fragen nach der kompositorischen Machbarkeit magisch-erfolgreicher „Ohrwürmer“. Die Ergebnisse zeigen, dass Melodien in unseren Ohren keinesfalls isoliert als Tonfolgen erklingen, sondern mit einer Vielzahl von Konnotationen intellektuell und/oder emotional verknüpft werden. Sie sind, selbst unsauber geträllert, immer „richtig“. Man hört, obwohl einstimmig gesungen, einen harmonischen Zusammenhang oder Sound sowie eine bestimmte Interpretation stets mit: Töne werden mit unseren Gefühlen und Vor- stellungsinhalten subjektiv gefüllt. Wird es im Kontext dieser Zusammenhänge überhaupt jemals gelingen, die Magie der Melodie aufzudecken? 1 vgl. hierzu: Artikel „Melodie“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Band 9, Friedrich Blume (Hg.), München/Kassel 1989, S. 19-55. 2 ebd., S. 33. 3 vgl. hierzu: Diether de la Motte: Melodie, München/Kassel 1993, S. 350-363. 4 Die Studie von Damian Zanette ist unter dem Titel „Zipf’s law and the creation of musical context“ am Preprint-Server „arXiv.org“ erschienen. (http://xxx.arxiv.org/abs/cs.CL/0406015). 5 Hermann Rauhe in: Spiegel Special, Heft 12/1995, S. 21/22. 6 Ulrich Michels, dtv-Atlas zur Musik. Tafeln und Texte, Band 2, Historischer Teil, München 1985, S. 441. 7 Julius Kapp (Hg.): Richard Wagners gesammelte Schriften, Leipzig o. J., Band I, S. 154 ff. 8 Alban Berg: Die Stimme in der Oper (1929). Zitiert nach: Attila Csampai/Dietmar Holland: Alban Berg: Wozzeck, Hamburg 1985, S. 159. 9 Carl Dahlhaus: „Was ist Musikgeschichte?“, in: Funkkolleg Musikgeschichte, (Studienbegleitbrief 0), Tübingen 1987, S. 15. Audio-Teil HB 30: Claudio Monteverdi: L’Orfeo HB 31: Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauberflöte HB 32: Giuseppe Verdi: Il trovatore HB 33: Richard Wagner: Der fliegende Holländer HB 34: Alban Berg: Wozzeck musikpaedagogik-online.de • „Gibt es eine endliche Anzahl an Melodien?“ – Diskussionsausschnitte in www.stern.de • Texte von Johann Mattheson und Eduard Hanslick • „Anatomie des Ohrwurms“ – Interview mit Hermann Rauhe • Textausschnitte aus Helmut Kraussers Roman Melodien • Ausschnitte aus dem Internetforum „Let’s talk about music“ • Literaturliste • Internetadressen zum Thema 43 musik & bildung M1 Was macht eine Melodie zum Ohrwurm? Berühmte Ohrwürmer nach Diether de la Motte Carl Orff: Carmina Burana, „O Fortuna“ Georges Bizet: Carmen Georg Friedrich Händel: Messias Richard Wagner: Lohengrin Kurt Weill: Dreigroschenoper Diether de la Motte: Melodie, München/Kassel 1993 Warum Mozart, aber nicht Schönberg zum Ohrwurm werden kann Bariloche (Argentinien) – Kluge Veranstalter klassischer Musikkonzerte platzieren Stücke von Arnold Schönberg oder Karlheinz Stockhausen genau in die Mitte eines Konzertabends. Davor kommt ein Werk von Bach, Mozart oder Beethoven und danach ebenso. Denn auch knapp 100 Jahre nach der Schaffung der ersten atonalen Musikwerke wollen diese dem Publikum nicht so recht ins Ohr gehen. Eine der wenigen Möglichkeiten, sie der Zuhörerschaft erfolgreich anzubieten, ist eine geschickte Programmplanung. Jetzt hat ein argentinischer Physiker gezeigt, dass Musik wie ein Text funktioniert: Je klarer der Zusammenhang, der von den einzelnen Bestandteilen – Wörtern oder Noten – hergestellt wird, ist, desto mehr spricht der Text oder die Musik die Hörer oder Leser an. Die Berechnungen für diese These, die auf dem so genannten Zipfschen Gesetz beruht, hat der Forscher in einer Internetveröffentlichung dargelegt. Demnach weisen Werke von Schönberg weniger zusammenhängende Struktur auf. Das in der Linguistik berühmte Zipfsche Gesetz (von George K. Zipf ) besagt, dass zwischen der Verwendungshäufigkeit eines Wortes und dem Rangplatz der Verwendungshäufigkeit eine konstante Beziehung besteht. Die häufigsten Wörter einer Sprache sind meist Wörter wie „und“ oder „aber“. Nach den tausend häufigsten Wörtern fällt die Kurve zunächst steil ab, danach wird sie schnell flacher. Das bedeutet, dass seltene Wörter immer gleich selten sind. Auf Texte bezogen heißt dies: Ein Text ist umso verständlicher, je mehr der Leser damit rechnen kann, dass bestimmte Wörter darin immer wieder vorkommen. In einem Artikel über Fußball rechnet man damit, dass Wörter wie „Spieler“, „Ball“, „Tor“ oder „Trainer“ vorkommen, nicht aber „Bratwurst“ oder „Modem“. Kommen solche Wörter dennoch vor, sorgt dies für Irritationen. Damian Zanette, Physiker am Balseiro Institut in Bariloche, hat vier Klavier-Kompositionen auf ihr Funktionieren nach dem Zipfschen Gesetz untersucht: Bachs Präludium Nr. 6 in d- Moll (BWV 851), Mozarts Sonate in C-Dur (KV 545), das Menuett aus der Suite bergamasque von Claude Debussy und das erste von Schönbergs drei Klavierstücken (op. 11) aus dem Jahr 1909. Zanette zählte die Häufigkeit verschiedener Noten in jedem Stück aus und stellte eine Rangliste auf. Die Stücke von Bach, Mozart und auch noch von Debussy zeigten nach der Auszählung einen Graphen an, der in etwa dem Zipfschen Gesetz entsprach. Nur in dem Stück von Schönberg, der als einer der ersten atonale Musik komponierte, wies der Graph eine stark unregelmäßige Struktur auf. Das heißt, es wurden immer wieder neue „Wörter“ eingeführt, während die bereits eingeführten kaum wiederholt wurden. Das Stück ähnelte damit einer Geschichte, in der immer die Figuren ständig wechseln, so der Forscher. Quelle: Leonardo-Newsletter, WDR 5, Juni 2004 Link: Centro Atomico Bariloche e Institute Balseiro Verhältnis der Anzahl verschiedener Noten, sozusagen der „Umfang des Lexikons“, (V) zur Gesamtzahl aller verwendeten Noten, der „Textlänge“ (T), bei: V T % J. S. Bach: WTK II, Präludium Nr. 6 in d, BWV 851 99 1082 9,15 % W. A. Mozart: Klaviersonate KV 545 in C-Dur, 1. Satz 127 1271 9,99 % C. Debussy: Suite Bergamasque, 2. Satz (Menuett) 244 2280 10,7 % A. Schönberg: Drei Klavierstücke, op. 11 Nr. 1254 678 37,46 % (nach Damian Zanette) 44 musik & bildung Thema M2 Das Regelwerk der Melodien Ausschnitte aus Helmut Kraussers Roman „Melodien“ Ich weiß, daß es Musik gibt, die magisch genannt werden darf! Ich glaube daran, daß jedes Intervall, je nach Dauer, Instrumentation und rhythmischem Beiwerk, eine Botschaft enthält, die in der Menschenseele Bestimmtes auslöst. Wie viele Worte zusammengesetzte Lautmalereien sind, sind Melodien kombinierte Intervalle, eine Reihe von Bedeutungen. Folglich ließe sich durch tiefe Untersuchung eine Art Alphabet erstellen, eine Gesetzestafel musikalischer Gefühlsweckung! […] Mit dem erlangten Wissen wäre es doch möglich, […] zielgerichtet Melodien zu erzeugen, die geradezu hypnotische Macht ausüben. Warum geben manche Tonfolgen Sinn, andre nicht? Und warum klingen unter den sinnvollen einige groß, andere banal? Interessant, fürwahr. Man müsste Zeit haben, sich damit eingehend zu befassen. Helmut Krausser: Melodien, Hamburg 2002, S. 184 Helmut Krausser: Melodien, Hamburg 2002, S. 185 Helmut Krausser: Melodien, Hamburg 2002, S. 154 Ich fragte mich, warum fünf Töne, in einer gewissen Reihenfolge gespielt, die Empfindung einer schönen Melodie hervorrufen, während, wenn man sie rückwärts spielt, nur der Eindruck von Beliebigkeit und Chaos entsteht – ganz als wären die Töne Buchstaben. […] Forum „Let’s talk about music“ – „Hey, wer von euch hört eigentlich klassische Musik?“ Datum: 24.Oct.2003 21:04 es kommt auf das gefühl beim hören an, nicht auf die richtung. es gibt „MTV-Musik“, die spricht mich an, wenn auch nicht viel, in meinem cd-regal findet ihr punk, jazz, britpop, techno, gothic, metal, hach sooo viel, aber auch klassik. ich habe lange zeit sog. klassische musik gemacht, wobei sich das eher auf ältere folklore, renaissance und barock bezog, in einem anderen kreis war es dann barock und klassik, privat war es atonal und häufig auch barock und bis heute aktuell: choral. ich habe es aber nicht nur gemacht, ich höre auch gerne „klassik“ (wobei ich das hier nicht auf die epoche beziehe). eva Datum: 18.Dec.2003 17:43 Ich hör gern Klassik, wenn ich mich entspannen möchte oder wenn ich lerne, das hilft voll beim Konzentrieren. Obwohl es auch da riesige Unterschiede gibt. Die Schicksalssinfonie empfehle ich niemandem zum Lernen. Ich hab früher auch nicht gerne zugegeben, dass ich Klassik höre, weil ich von vielen dafür schief angeguckt wurde. Aber je älter man wird, desto seltener wird das und desto selbstbewusster wird man, oder? Am schönsten find ich aber selber musizieren... Ich spiel seit 10 Jahren Geige und im Orchester zu spielen macht mich voll glücklich *smile* Was ich grausam finde, sind Techno-Cover von KlassikHits ... Was sagt ihr dazu? Lara Internetforum „Gibt es eine endliche Anzahl von Melodien?“ Um diese Frage beantworten zu können, bedarf es einer eindeutigen Definition des Begriffes „Melodie“: Darf sie eine bestimmte Länge nicht überschreiten? Kann eine Melodie auch Töne enthalten, die nicht von Instrumenten produziert werden können, also auch solche, die das menschliche Ohr nicht mehr wahrnimmt? Unter der Bedingung, dass eine Melodie unendlich lang sein kann, gibt es – rein stochastisch gesehen – auch eine unendliche Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten der verschiedensten (hörbaren und nicht hörbaren) Töne! Daniel, Leverkusen Einerseits: ja. Es gibt eine begrenzte Anzahl von singbzw. spielbaren Melodien in unserem diatonischen System, die als harmonisch und damit schön empfunden werden. Andererseits: nein. Allein die zwölf Töne unserer abendländischen Tonleiter können auf unendlich vielfältige Weise variiert werden (ob man das schön findet, ist natürlich eine andere Frage). Alex, Augsburg 45 musik & bildung M3 Opernmelodien durch die Jahrhunderte Claudio Monteverdi: L’Orfeo (UA 1607) Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauberflöte (UA 1791) Richard Wagner: Der fliegende Holländer (UA 1843) 46 musik & bildung Thema Giuseppe Verdi: Il trovatore (UA 1853) Alban Berg: Wozzeck (UA 1925) Marie 47