Wiedemann: Auf der Suche nach dem Ohrwurm

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Thema
Auf der
Suche
nach dem Ohrwurm
Die Magie der Melodie – eine Unterrichtsreihe in der Sekundarstufe II
Günther Wiedemann
Die meisten Menschen verbinden mit
Musik in erster Linie Melodien, die sich
dem Gedächtnis als „Ohrwürmer“ unauslöschlich einprägen. Doch welches Regelwerk macht eine Melodie zu einem
Ohrwurm? Ein Phänomen, das immer
wieder zu Nachfragen herausgefordert
hat. Dies bis in die Gegenwart: Angeregt
durch die unüberhörbare Gleichartigkeit
melodischer Muster in populärer Musik
diskutiert seit Juni 2004 eine überra-
schend große Zahl von Interessierten auf
Internet-Seiten der Illustrierten Stern
über die Frage, ob es eine endliche Anzahl an Melodien geben könne (siehe einen Ausschnitt im Zusatzmaterial auf
musikpaedagogik-online.de). In den Beiträgen spiegelt sich zunehmend die Erkenntnis, dass der Begriff „Melodie“
selbst zunächst definiert werden müsse,
um auf dieser Grundlage eine erste Verständigung zu erzielen.
Was ist eine Melodie?
Als ich die SchülerInnen meines MusikKurses fragte, ob sie in ihre Zwölftonkompositionen auch Melodien einbezogen hätten, antworteten sie, dass dies
nicht machbar wäre, da Melodien doch
immer gesanglich, eben „melodiös“ und
„schön“ wären. Die Situation verdeutlicht, dass sich das im 16. Jahrhundert
entstandene und heute gebräuchliche
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deutsche Wort „Melodie“
(griech.: mélos = Lied, Weise und odé
= Gesang) auf eine seit Mattheson wirksame Ästhetik bezieht, die die eingängige Melodie als „das schönste und natürlichste in der Welt“ verherrlicht. Während
z. B. Scheibe (1708-1779) die Melodie als
eine Tonfolge charakterisierte, der eine
sinnvolle Ordnung zugrunde liegt, war
sie für Mattheson (1681-1764) und Hanslick (1825-1904) die Grundgestalt natürlicher Schönheit (siehe Texte auf musikpaedagogik-online.de). Noch Schumann,
Wagner und Strawinsky stellten heraus,
dass die Musik ohne Melodie nicht denkbar, sie deren Wesenskern sei, und Alban
Berg verschrieb sich der „kantablen, gesanglichen Melodie“ in der Zwölftonmusik.1
Vom einzigen „Melodiegesetz“, der
gleichsam „klassischen“ Regel abgesehen, die besagt, dass ein Sprung durch
einen Schritt in entgegengesetzter Richtung „abgefangen“ werden soll, gab es
zwar „immer Melodielehren, niemals
aber, wie in der Kontrapunkt- und Harmonielehre, eine Kontinuität der Theorie
und des pädagogischen Regelsystems.“2
Im Zentrum prägender Auffassungen
standen daher sowohl die Vorstellung einer geschlossenen Folge von Tönen, der
Rückgriff auf melodisch „typische“ Muster, wie sie in vielen Liedern z. B. als
Spannung, Entwicklung und Entspannung zu finden sind, aber immer auch
die Verbindlichkeit von stilistischen Mitteln der eigenen Epoche.
Erfolgsgeheimnis des Ohrwurms
Als Hermann Rauhe in einem Interview
(Texte auf musikpaedagogik-online.de)
die Anatomie des Ohrwurms vorwiegend
anhand von Popularmusik beschrieb,
stellte er als eines der Erfolgsgeheimnisse den Vertrautheits- und Überraschungseffekt heraus: Auf ein kurzes,
mehrfach wiederholtes Motiv aus nicht
mehr als drei Tönen folge ein überraschender Sprung, so dass diese Melodie
im Verbund mit Interpretation und lebensgeschichtlichem Stellenwert beim
Hörer alle Chancen habe, als Ohrwurm
Karriere zu machen.
Dieter de la Motte analysierte die Liste
seiner zwölf „Ohrwürmer“ und kam zu
40
dem Ergebnis, dass
sich weniger die
schönen Melodien
allein als vielmehr
ein mehrfach wiederholtes Motiv
bis hin zur „extremen Ereignis-Reduktion“ (Orff,
Carmina
Burana,
„O Fortuna“)
sowie insbesondere eine punktierte Rhythmik im Gedächtnis verankern
(M 1 oben).3
Sogar in der Belletristik spielt die Suche
nach einem Regelwerk für Melodien eine
Rolle: In dem Roman Melodien von Helmut Krausser sucht der Protagonist Castiglio nach Vorgaben, die bestimmte
Kombinationen von Intervallen zu Melodien zusammenführen, so dass beim Zuhörer planbare Wirkungen hervorgerufen
werden können.
Auch in diesem Jahr wurde mithilfe
statistischer Verfahren der Schleier des
„Ohrwurm-Geheimnisses“ weiter gelüftet: Der argentinische Physiker Damian
Zanette ging in einer Studie der Frage
nach, warum sich viele Melodien in tonalem Kontext eher einprägen als atonale
Kompositionen.4 Grundlage ist das berühmte Gesetz des amerikanischen Linguisten George Kingsley Zipf, demzufolge zwischen der Verwendungshäufigkeit eines Worts und dem Rangplatz der
Verwendungshäufigkeit eine konstante
Beziehung besteht: Jeder Text schafft einen Kontext an Bedeutung, innerhalb
dessen die Wahrscheinlichkeit mancher
Wörter steigt, die anderer abnimmt. Es
ist z. B. wahrscheinlicher, in diesem Text
dem Wort „Melodie“ zu begegnen als
dem Wort „Kartoffel“. Auf die Musik
übertragen: In vier Klavierkompositionen
von Bach, Mozart, Debussy und Schönberg maß Zanette die Häufigkeit wie
auch die Länge und Höhe jedes Tons mit
dem Ergebnis, dass sich in tonaler Musik
ein nachvollziehbarer Kontext ergibt, den
der Rezipient auch voraushören kann.
Bei Schönberg werden hingegen ständig
neue Informationen hinzugefügt und die
bereits bekannten
nur selten wiederholt, so
dass für den Hörer die Bedeutung und
der musikalische Kontext immer wieder
wechseln (M 1 unten).
Ohrwurmsuche im Unterricht
Nie zuvor wurde so viel Musik gehört
und/oder als Videoclip gesehen wie heute. Nicht nur für Kinder und Jugendliche
ist Musik ein wesentlicher Bestandteil
von Lebensgewohnheiten, die ihr die
Funktion eines ständigen emotionalen
„Stabilisators“ zuweisen, der dem Ausleben von Stimmungen dient und Gefühlen
Ausdruck verleiht. Hierbei kommt den
Melodien, die sich „wie eine Endlosschleife im Kopf“ einnisten,5 eine herausragende Bedeutung zu, so dass die
musikpädagogische Frage nach dem Zusammenhang zwischen kompositorischer Struktur und (planbarer?) Wirkung
unmittelbar aus bedeutsamen Lebenszusammenhängen der Jugendlichen erwächst.
Baustein 1: Hinführung
Zu Beginn der Unterrichtsreihe bringen
die SchülerInnen höchstens zwei bis drei
der Melodien, die ihnen gegenwärtig besonders gut gefallen und die sich ihnen
immer wieder in ihr Bewusstsein drängen, auf einem Tonträger sowie notiert
mit in den Unterricht (die Anzahl richtet
sich nach der Größe des Kurses). In
Kleingruppen stellen sie sich mithilfe portabler CD-Spieler „ihre“ Melodien gegenseitig vor und überprüfen, auch mit Hilfe-
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werk kompositorischer Faktur und ihrer Wirkungen in allen Epochen der Musikgeschichte gestellt
wurden. Anhand von
Informationen über
den Inhalt des Romans
Melodien von Helmut
Krausser und Aussagen
von Jugendlichen im
Internet (M 2, und erweiterte Fassungen auf
musikpaedagogik-online.de) entwickeln sie leitende, die Unterrichtssequenz problemorientiert
strukturierende Fragestellungen.
stellungen
des Lehrers, gemeinsam ihre Fixierungen
als Notentext. In aller Regel beschränkt
sich die Auswahl der SchülerInnen keinesfalls auf Titel der aktuellen Hitparade,
vielmehr beinhaltet sie auch Pop-„Oldies“ sowie Melodien der so genannten
E-Musik.
Baustein 2: Portfolio-Arbeit
Als ständiger und hilfreicher Begleiter
der Schülerinnen und Schüler erweist
sich in dieser Unterrichtssequenz ein
Melodien-Portfolio, dessen Grundidee
der bildenden Kunst entlehnt ist: In einer
Mappe, deren Gütekriterien gemeinsam
entwickelt werden, stellen die SchülerInnen eigenständig ausgewählte Melodien
unter einem leitenden Aspekt zusammen. Der zweite Unterrichtsbaustein zielt
auf das Ordnen der notierten Melodien
nach unterschiedlichen wie gemeinsamen kompositorischen Merkmalen in
Kleingruppen. Ein Vorgehen, welches
durchgehend einen aufwändigen und vor
allem sorgfältigen Umgang mit Musik
voraussetzt.
Anschließend präsentieren und diskutieren die KursteilnehmerInnen ihre Arbeiten im Plenum, um die unterrichtlich gesicherten Auswertungsergebnisse in ihre
Portfolios endgültig zu übernehmen.
Baustein 3: Fragen nach dem Regelwerk
Anschließend erfahren die KursteilnehmerInnen, dass Fragen nach dem Regel-
Baustein 4: Opernmelodik zwischen Sehnsucht und Leid
Kaum eine andere Thematik bestimmt so
nachhaltig das Jugendalter wie die von
Liebe und Leid. Vor diesem Hintergrund
lassen sich kompositorische Merkmale
wie ästhetischer Gehalt ausgewählter
Opernmelodien aus verschiedenen Jahrhunderten in ersten Ansätzen aufdecken
und z. B. mit Melodien aus Operette, Musical und aus Bereichen der Popmusik
gemeinsam wie eigenständig vergleichen.
Auf dem Arbeitsblatt M 3 finden die
SchülerInnen vier Opernmelodien aus
der Musikgeschichte – für den Lehrer
seien darüber hinaus folgende Hilfestellungen gegeben:
Claudio Monteverdi: L’Orfeo (UA 1607)
HB 30
Orpheus wird durch eine Nachricht der
Botin, die ihm mitteilt, dass Euridice
durch den Biss einer giftigen Schlange
getötet worden sei, aus dem überströmenden Glücksgefühl seiner Liebe gerissen. Melodielinien, Rhythmik, Ambitus
wie Betonungsschwerpunkte zeigen anschaulich, dass hier der Affektgehalt des
Texts im Vordergrund steht.
Die abwärts gerichtete Melodik, die vom
e des Orfeo („Ohime! che odo?“) zum fis
der Botin fällt („morta“), zielt auf den
Wechsel des Affekts. In der Gesangsstimme findet sich zunächst eine Pause
als rhetorisches Symbol des Tods. Dann
„verletzt“ Monteverdi die Regel des
Kontrapunkts, dass Dissonanzen schrittweise einzuführen seien: Nach dem H im
Bass setzt in freier Vorhaltsdissonanz
das a („Ohi“) der Melodie des Orpheus
ein, die nach einem abwärts gerichteten
kleinen Sekundschritt auf dem gis verklingt. Der Ausdruck des Schmerzes, der
den Zuhörer unmittelbar ergreifen soll,
bestimmt die satztechnische Grundlage.
Wolfgang Amadeus Mozart:
Die Zauberflöte (UA 1791) – HB 31
Zu den berühmten Tenorarien der Opernliteratur gehört sicherlich die „BildnisArie“ des Tamino aus Mozarts Zauberflöte. Im Auftrag der Königin der Nacht haben die drei Damen Tamino ein Bild von
Tamina überbracht, in die er sich sofort
verliebt. Zu Beginn der Arie bringt Mozart die Gefühle Taminos zunächst „in
Form“.
Die Singstimme beginnt mit einem Sextsprung aufwärts, dem eine abwärtsgerichtete Skala folgt („Dies Bildnis ist bezaubernd schön“). Die Takte 3 bis 4 (Dominante – Tonika) werden im fünften und
sechsten Takt sequenziert und entsprechen somit an dieser Stelle den Vorstellungen des klassischen Korrespondenzprinzips. Doch schon in den folgenden
Takten befreit sich die Melodie von normativen Vorgaben der Klassik, indem
Mozart vorrangig und psychologisch einfühlsam das Erwachen der Liebesempfindungen Taminos nachzeichnet. Folgerichtig gliedern sich die Takte 7 bis 15, den
seelischen Vorgängen gemäß, völlig frei
in zwei Takte („Ich fühl es“, Vorhalte zu c'
und b), einen Takt („Wie dies Götterbild“) und zwei Mal drei Takte („Mein
Herz mit neuer Regung füllt“). Dennoch
wird der Zuhörer den musikalischen Verlauf keinesfalls als Regelwidrigkeit wahrnehmen, da sich Taminos Melodie im
Umfeld gleichmäßig kadenzierender Harmonik gut aufgehoben weiß (Tonika in
Takt 15).
Giuseppe Verdi: Il trovatore
(UA 1853) – HB 32
Leonora vertraut im ersten Akt der Oper
ihrer Gesellschafterin Ines an, dass sie
sich bei einem Turnier in einen Ritter ver-
41
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Thema
liebt habe:
„Ein unnennbares Sehnen durchbebet
meine Seele“. Ihr Gesang beginnt mit einem abwärts gerichteten Sekundschritt,
der zwei Mal wiederholt wird. Von der
Begleitung akkordisch gestützt, schwingt
sich die Melodie, ohne die Akzentsetzungen der Wörter zu berücksichtigen, in
Sprüngen drei Mal hinauf bis zum es''
und erreicht mit dem b''' im siebten Takt
den höchsten Ton der achttaktigen Periode. Verdi spürt hier dem Klang der Wörter in phonetischen, weniger in semantischen Zusammenhängen nach; an erster
Stelle steht die Melodie, der sich der Text
unterzuordnen hat. „Alle psychologischen Feinheiten werden nicht mithilfe
eines symphonischen Orchestersatzes
wie bei Wagner, sondern nur durch die
hohe Qualität der Melodie ausgedrückt.
Verdis Melodien begeisterten ganz Italien und Europa.“6
Richard Wagner: Der fliegende Holländer
(UA 1843) – HB 33
Der Holländer ist dazu verdammt, in alle
Ewigkeit auf dem Meer herumzuirren.
Nur die Treue einer Frau kann ihn von
diesem Fluch erlösen. Um sie zu suchen,
darf er alle sieben Jahre an Land.
Der zweite Abschnitt seines Monologs im
ersten Aufzug gliedert sich während der
ersten 16 Gesangstakte in zwei fast identische Teile zu je acht Takten, deren Form
vom Text geprägt wird. Die Vielzahl von
Sprüngen (Skalen fehlen durchgehend),
der Ambitus (Spitzentöne z. B. bei „Mee-
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res“, „hinab“),
der Tonhöhenverlauf wie vor allem die
Rhythmik mit dem markanten Gebrauch
punktierter Notenwerte folgen den Betonungen der Sprache. Hierzu hat sich
Wagner selbst geäußert: „Mir war es
aber nun nicht mehr um Opernmelodien
zu tun, sondern um den entsprechendsten Ausdruck für meinen darzustellenden Gegenstand; […] Hier war die Rede
selbst, nach ihrem empfindungsvollsten
Inhalte, auf eine Weise wiederzugeben,
daß nicht der melodische Ausdruck an
sich, sondern die ausgedrückte Empfindung die Teilnahme des Hörers anregte.
Die Melodie mußte daher ganz von
selbst aus der Rede entstehen.“7
Erst durch ein musikalisches Bezugssystem „leitender“ Motive, die Wagner hier
noch „Reminiszenzen“, später „Grundthemen“ nannte, ergibt sich im Zusammenwirken von Stimme und Orchester musikalische Geschlossenheit. Der
fliegende Holländer erzählt, dass er sich
„voll Sehnsucht“ immer wieder in des
„Meeres tiefsten Schlund“ hinabgestürzt, den Tod aber nicht gefunden habe. Zu diesen Worten erklingt im Orchester (Takte 5-8 und 13-16 der Gesangsstimme) ein Motiv der Senta, die ihn im
Verlauf der Handlung von seinen Qualen
erlösen wird. Das Holländer-Motiv, welches in abgewandelter Form die Melodiestimme durchgehend bestimmt, geht mit
dem Erinnerungsmotiv der Senta eine
geheimnisvolle Verbindung ein: eine sensible Zeichnung seelischen Empfindens,
die sich auch in der Harmonik unmittelbar niederschlägt (Takte 5-8: Auflösung
des Terzquartakkords c-es-fis-a nach gMoll, Takte 13-16: Der Akkord wird in einen verminderten Quintsextakkord c-esges-a umgedeutet und nach Ges-Dur
weitergeführt).
Alban Berg: Wozzeck (UA 1925)
HB 34
„Rhythmisch deklamierend“ liest Marie,
die zu Beginn des dritten Akts bei Kerzenschein am Tisch sitzt, in der Bibel die
Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin. Berg hat diese Form der Stimmbehandlung selbst kommentiert: „Dabei
hat sich herausgestellt, daß […] diese
melodramatische Art der Stimmbehandlung nicht nur eines der besten Verständigungsmittel darstellt – das muß die
Sprache ja hin und wieder auch in der
Oper sein –, sondern daß sie auch – vom
tonlos geflüsterten Wort bis zum wahrhaftigen Bel-parlare ihrer weitgeschwungenen Sprechmelodien – die Opernmusik
um ein vollwertiges und aus den reinsten
Quellen der Musik geschöpftes Kunstmittel bereichert hat.“8
Dem rhythmisch freien Sprechen des Bibeltexts auf fixierten Tonhöhen in überwiegend tiefer Stimmlage (d'-e'') stellt
Berg die gesungenen Aufschreie der Ma-
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rie als Zeichen von Angst und innerem
Aufruhr gegenüber. Drei Mal ruft sie in
diesem Ausschnitt in abwärts gerichteten Sekundschritten verzweifelt nach
Gott („Herr Gott“). In stetigem Wechsel
von Sprechen und Singen gliedert der
Klang der Stimme eine Szene, deren Dramatik sich ständig verdichtet. Doch die
Stimme Maries erklingt in atonalem Umfeld, so dass sich das Problem musikalischer Einheitlichkeit und Geschlossenheit durch den Verzicht auf Tonalität verschärft. Mit einem siebentaktigen Thema, das zu Beginn der ersten Szene des
dritten Akts erklingt und das im weiteren
Szenenverlauf sieben Mal variiert wird,
um abschließend in eine Doppelfuge mit
zwei je siebentönigen Themen zu münden, formt Berg einen geschlossenen
kompositorischen Zusammenhalt, dessen Gliederungsprinzipien vom Zuhörer
in aller Regel vorrangig kaum wahrgenommen werden.
Die ausgewählte Betrachtung weniger
Melodien hat musikalische Signaturen
der Sehnsucht und des Leidens aufgedeckt, wie sie Komponisten z. B. mit der
fallenden Sekund und der aufwärts gerichteten Sexte seit Jahrhunderten zeichnen. Aufgespürt wurde die Abfolge von
Intervallen und Tonhöhen sowie die Bedeutsamkeit der Pause, die von Monteverdi bis Berg in keiner der vorgestellten
Kompositionen ihre Wirkung verfehlt.
Melodien sind immer auch Ausdruck sich
wandelnder Anschauungen und Denkweisen. Der Blick zurück legt das vielfältig verwobene Beziehungsgefüge zwischen Gestalt und Bedeutung, zwischen
dem „wie es gemacht ist“, und dem,
„was es ist“ (Schönberg), frei, erschließt
in allen hier vorgestellten Kompositionen
zuvor verborgene Strukturen und Sinnbezüge, modifiziert oder verändert somit
zugleich aktuellen Sinn, denn „in der ästhetischen Präsenz vergangener Musik
liegt die Chance, dass auch die historische Einsicht in Vergangenes als Teilmoment gegenwärtiger Musikkultur wirksam werden kann“.9
Baustein 5: Erarbeitung
Im Mittelpunkt dieser Phase stehen immer wieder das gemeinsame Singen und
das
konzentrierte
Hören von Melodien
unterschiedlicher Epochen, das Erproben
hilfreicher Analyse-Methoden sowie der
übende Entwurf eigener Tonsequenzen
(Anfänge, Schlüsse etc.).
Gleichzeitig erhalten die SchülerInnen
den Auftrag, für ihr Portfolio neben der
Fixierung von Unterrichtsergebnissen ihnen zugängliche Melodien, z. B. mithilfe
des Internets und der Bibliothek selbstständig zu sammeln, zu analysieren und
begründet zu ordnen. Unter einer verbindlichen Überschrift (z. B. „sehnsuchtsvolle Liebesmelodie“) spiegeln
sich sodann Erfahrungen wie Lernfortschritt im Entwurf eigener melodischer
Konzeptionen, die gemeinsam gesungen
und ausgewertet werden. Die wichtige
Portfolio-Präsentation belegt an dieser
Stelle unter Einbezug der abschließenden Problematisierungsphase anschaulich den Prozess gemeinsamen wie individuellen Vorgehens.
Baustein 6: Problematisierung
„Warum geben manche Tonfolgen Sinn,
andere nicht? Warum klingen unter den
sinnvollen einige groß, andere banal?
Warum regen eigentlich gewisse Melodien das Herz inniger als andere?“ So
fragt Castiglio in Kraussers Roman Melodien (s. M 2). Im Mittelpunkt des sechsten Bausteins stehen auf der Grundlage
von Analysebefunden, Texten (siehe M 1
bis M 3) sowie Internet-Recherchen (z. B.
die Sichtung der Zanette-Studie) kritische Fragen nach der kompositorischen
Machbarkeit magisch-erfolgreicher „Ohrwürmer“.
Die Ergebnisse zeigen, dass Melodien in
unseren Ohren keinesfalls isoliert als
Tonfolgen erklingen, sondern mit einer
Vielzahl von Konnotationen intellektuell
und/oder emotional verknüpft werden.
Sie sind, selbst unsauber geträllert, immer „richtig“. Man hört, obwohl einstimmig gesungen, einen harmonischen Zusammenhang oder Sound sowie eine bestimmte Interpretation stets mit: Töne
werden mit unseren Gefühlen und Vor-
stellungsinhalten subjektiv gefüllt. Wird es im Kontext dieser Zusammenhänge überhaupt jemals gelingen, die Magie der Melodie aufzudecken?
1 vgl. hierzu: Artikel „Melodie“, in: Die Musik in
Geschichte und Gegenwart, Band 9, Friedrich
Blume (Hg.), München/Kassel 1989, S. 19-55.
2 ebd., S. 33.
3 vgl. hierzu: Diether de la Motte: Melodie,
München/Kassel 1993, S. 350-363.
4 Die Studie von Damian Zanette ist unter dem Titel
„Zipf’s law and the creation of musical context“ am
Preprint-Server „arXiv.org“ erschienen.
(http://xxx.arxiv.org/abs/cs.CL/0406015).
5 Hermann Rauhe in: Spiegel Special, Heft 12/1995,
S. 21/22.
6 Ulrich Michels, dtv-Atlas zur Musik. Tafeln und
Texte, Band 2, Historischer Teil, München 1985,
S. 441.
7 Julius Kapp (Hg.): Richard Wagners gesammelte
Schriften, Leipzig o. J., Band I, S. 154 ff.
8 Alban Berg: Die Stimme in der Oper (1929). Zitiert
nach: Attila Csampai/Dietmar Holland: Alban Berg:
Wozzeck, Hamburg 1985, S. 159.
9 Carl Dahlhaus: „Was ist Musikgeschichte?“, in:
Funkkolleg Musikgeschichte, (Studienbegleitbrief 0), Tübingen 1987, S. 15.
Audio-Teil
HB 30: Claudio Monteverdi: L’Orfeo
HB 31: Wolfgang Amadeus Mozart:
Die Zauberflöte
HB 32: Giuseppe Verdi: Il trovatore
HB 33: Richard Wagner: Der fliegende Holländer
HB 34: Alban Berg: Wozzeck
musikpaedagogik-online.de
• „Gibt es eine endliche Anzahl an
Melodien?“ – Diskussionsausschnitte in www.stern.de
• Texte von Johann Mattheson und
Eduard Hanslick
• „Anatomie des Ohrwurms“ – Interview mit Hermann Rauhe
• Textausschnitte aus Helmut Kraussers Roman Melodien
• Ausschnitte aus dem Internetforum
„Let’s talk about music“
• Literaturliste
• Internetadressen zum Thema
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musik & bildung
M1
Was macht eine Melodie zum Ohrwurm?
Berühmte Ohrwürmer nach Diether de la Motte
Carl Orff: Carmina Burana, „O Fortuna“
Georges Bizet: Carmen
Georg Friedrich Händel: Messias
Richard Wagner: Lohengrin
Kurt Weill: Dreigroschenoper
Diether de la Motte: Melodie, München/Kassel 1993
Warum Mozart, aber nicht Schönberg zum Ohrwurm werden kann
Bariloche (Argentinien) – Kluge Veranstalter klassischer
Musikkonzerte platzieren Stücke von Arnold Schönberg
oder Karlheinz Stockhausen genau in die Mitte eines
Konzertabends. Davor kommt ein Werk von Bach, Mozart oder Beethoven und danach ebenso. Denn auch
knapp 100 Jahre nach der Schaffung der ersten atonalen Musikwerke wollen diese dem Publikum nicht so
recht ins Ohr gehen. Eine der wenigen Möglichkeiten,
sie der Zuhörerschaft erfolgreich anzubieten, ist eine
geschickte Programmplanung.
Jetzt hat ein argentinischer Physiker gezeigt, dass Musik wie ein Text funktioniert: Je klarer der Zusammenhang, der von den einzelnen Bestandteilen – Wörtern
oder Noten – hergestellt wird, ist, desto mehr spricht
der Text oder die Musik die Hörer oder Leser an. Die Berechnungen für diese These, die auf dem so genannten
Zipfschen Gesetz beruht, hat der Forscher in einer Internetveröffentlichung dargelegt. Demnach weisen Werke
von Schönberg weniger zusammenhängende Struktur
auf.
Das in der Linguistik berühmte Zipfsche Gesetz (von
George K. Zipf ) besagt, dass zwischen der Verwendungshäufigkeit eines Wortes und dem Rangplatz der
Verwendungshäufigkeit eine konstante Beziehung besteht. Die häufigsten Wörter einer Sprache sind meist
Wörter wie „und“ oder „aber“. Nach den tausend häufigsten Wörtern fällt die Kurve zunächst steil ab, danach
wird sie schnell flacher. Das bedeutet, dass seltene
Wörter immer gleich selten sind. Auf Texte bezogen
heißt dies: Ein Text ist umso verständlicher, je mehr der
Leser damit rechnen kann, dass bestimmte Wörter darin
immer wieder vorkommen. In einem Artikel über Fußball rechnet man damit, dass Wörter wie „Spieler“,
„Ball“, „Tor“ oder „Trainer“ vorkommen, nicht aber
„Bratwurst“ oder „Modem“. Kommen solche Wörter
dennoch vor, sorgt dies für Irritationen.
Damian Zanette, Physiker am Balseiro Institut in Bariloche, hat vier Klavier-Kompositionen auf ihr Funktionieren nach dem Zipfschen Gesetz untersucht: Bachs
Präludium Nr. 6 in d- Moll (BWV 851), Mozarts Sonate in
C-Dur (KV 545), das Menuett aus der Suite bergamasque von Claude Debussy und das erste von Schönbergs
drei Klavierstücken (op. 11) aus dem Jahr 1909. Zanette
zählte die Häufigkeit verschiedener Noten in jedem
Stück aus und stellte eine Rangliste auf. Die Stücke von
Bach, Mozart und auch noch von Debussy zeigten nach
der Auszählung einen Graphen an, der in etwa dem
Zipfschen Gesetz entsprach. Nur in dem Stück von
Schönberg, der als einer der ersten atonale Musik komponierte, wies der Graph eine stark unregelmäßige
Struktur auf. Das heißt, es wurden immer wieder neue
„Wörter“ eingeführt, während die bereits eingeführten
kaum wiederholt wurden. Das Stück ähnelte damit einer Geschichte, in der immer die Figuren ständig wechseln, so der Forscher.
Quelle: Leonardo-Newsletter, WDR 5, Juni 2004
Link: Centro Atomico Bariloche e Institute Balseiro
Verhältnis der Anzahl verschiedener Noten, sozusagen der
„Umfang des Lexikons“, (V) zur Gesamtzahl aller verwendeten Noten, der „Textlänge“ (T), bei:
V
T
%
J. S. Bach: WTK II, Präludium Nr. 6 in d, BWV 851
99
1082
9,15 %
W. A. Mozart: Klaviersonate KV 545 in C-Dur, 1. Satz 127
1271
9,99 %
C. Debussy: Suite Bergamasque, 2. Satz (Menuett) 244
2280
10,7 %
A. Schönberg: Drei Klavierstücke, op. 11 Nr. 1254
678
37,46 %
(nach Damian Zanette)
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musik & bildung
Thema
M2
Das Regelwerk der Melodien
Ausschnitte aus Helmut Kraussers Roman „Melodien“
Ich weiß, daß es Musik gibt, die magisch
genannt werden darf! Ich glaube daran,
daß jedes Intervall, je nach Dauer, Instrumentation und rhythmischem Beiwerk, eine Botschaft enthält, die in der Menschenseele Bestimmtes auslöst. Wie viele Worte zusammengesetzte Lautmalereien sind, sind Melodien kombinierte Intervalle, eine Reihe von Bedeutungen. Folglich
ließe sich durch tiefe Untersuchung eine Art Alphabet
erstellen, eine Gesetzestafel musikalischer Gefühlsweckung! […] Mit dem erlangten Wissen wäre es doch
möglich, […] zielgerichtet Melodien zu erzeugen, die
geradezu hypnotische Macht ausüben.
Warum geben manche Tonfolgen Sinn, andre nicht? Und
warum klingen unter den sinnvollen einige groß, andere
banal? Interessant, fürwahr. Man müsste Zeit haben,
sich damit eingehend zu befassen.
Helmut Krausser: Melodien, Hamburg 2002, S. 184
Helmut Krausser: Melodien, Hamburg 2002, S. 185
Helmut Krausser: Melodien, Hamburg 2002, S. 154
Ich fragte mich, warum fünf Töne, in einer gewissen Reihenfolge gespielt, die Empfindung einer schönen Melodie hervorrufen, während, wenn man sie rückwärts
spielt, nur der Eindruck von Beliebigkeit und Chaos entsteht – ganz als wären die Töne Buchstaben. […]
Forum „Let’s talk about music“ – „Hey, wer von euch hört eigentlich klassische Musik?“
Datum: 24.Oct.2003 21:04
es kommt auf das gefühl beim hören an,
nicht auf die richtung. es gibt „MTV-Musik“, die spricht mich an, wenn auch nicht
viel, in meinem cd-regal findet ihr punk,
jazz, britpop, techno, gothic, metal, hach sooo viel,
aber auch klassik. ich habe lange zeit sog. klassische
musik gemacht, wobei sich das eher auf ältere folklore,
renaissance und barock bezog, in einem anderen kreis
war es dann barock und klassik, privat war es atonal
und häufig auch barock und bis heute aktuell: choral.
ich habe es aber nicht nur gemacht, ich höre auch gerne
„klassik“ (wobei ich das hier nicht auf die epoche beziehe).
eva
Datum: 18.Dec.2003 17:43
Ich hör gern Klassik, wenn ich mich entspannen möchte
oder wenn ich lerne, das hilft voll beim Konzentrieren.
Obwohl es auch da riesige Unterschiede gibt. Die
Schicksalssinfonie empfehle ich niemandem zum
Lernen.
Ich hab früher auch nicht gerne zugegeben, dass ich
Klassik höre, weil ich von vielen dafür schief angeguckt
wurde. Aber je älter man wird, desto seltener wird das
und desto selbstbewusster wird man, oder?
Am schönsten find ich aber selber musizieren... Ich
spiel seit 10 Jahren Geige und im Orchester zu spielen
macht mich voll glücklich *smile*
Was ich grausam finde, sind Techno-Cover von KlassikHits ... Was sagt ihr dazu?
Lara
Internetforum „Gibt es eine endliche Anzahl von Melodien?“
Um diese Frage beantworten zu können,
bedarf es einer eindeutigen Definition des
Begriffes „Melodie“: Darf sie eine bestimmte Länge nicht überschreiten? Kann
eine Melodie auch Töne enthalten, die
nicht von Instrumenten produziert werden können, also
auch solche, die das menschliche Ohr nicht mehr wahrnimmt? Unter der Bedingung, dass eine Melodie unendlich lang sein kann, gibt es – rein stochastisch gesehen
– auch eine unendliche Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten der verschiedensten (hörbaren und nicht hörbaren) Töne!
Daniel, Leverkusen
Einerseits: ja. Es gibt eine begrenzte Anzahl von singbzw. spielbaren Melodien in unserem diatonischen System, die als harmonisch und damit schön empfunden
werden. Andererseits: nein. Allein die zwölf Töne unserer abendländischen Tonleiter können auf unendlich
vielfältige Weise variiert werden (ob man das schön findet, ist natürlich eine andere Frage).
Alex, Augsburg
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musik & bildung
M3
Opernmelodien durch die Jahrhunderte
Claudio Monteverdi: L’Orfeo (UA 1607)
Wolfgang Amadeus Mozart: Die Zauberflöte (UA 1791)
Richard Wagner: Der fliegende Holländer (UA 1843)
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musik & bildung
Thema
Giuseppe Verdi: Il trovatore (UA 1853)
Alban Berg: Wozzeck (UA 1925)
Marie
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