2014 / 4 - Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin eV

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SCHMERZMEDIZIN
Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.
30. Jahrgang 2014
4 I 2014
Editorial
Allein dem Patienten verpflichtet? _ _______2
Geriatrie/Traumatologie
Gelenkersatz bei älteren Menschen _ ______4
Praxisdokumentation/Versorgungsforschung
Das Warten hat ein Ende! ________________7
Impressum ���������������������������8
Pharmakotherapie
Medikamentöse Schmerztherapie
bei Arthrose __________________________9
Psychosomatik
Somatoforme Störungen _ _____________11
Palliativmedizin: Der besondere Fall
Die Amyotrophe Lateralsklerose _________14
DGS-Veranstaltungen �����������������15
Weltkongress/Schmerzkongress �������16
Internet
User Stalking – werde ich im Netz
beobachtet? _________________________18
Praxismanagement
Finanzbuchhaltung: Souverän und selbst___19
Die Deutsche Schmerzliga
Auf dem Rücken anderer! _ _____________20
Medizin und Recht
Leitlinien kein Ersatz für Sachverständigengutachten _ _________________________22
Psychopharmakotherapie
Im Fokus: Trizyklische Antidepressiva _ _____24
© C. Schiller / fotolia.com
Interview
Exazerbierte Tumorschmerzen: Effektive
Opioidtitration mit Hydromorphon _ _____26
Kasuistik
Postherpetische Neuralgie ������������27
Dem Schmerzpatienten
verpflichtet?
ISSN 2194-2536
www.dgschmerzmedizin.de
Editorial
Allein dem Patienten
verpflichtet?
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Hippokrates von Kos (460 bis ca. 370 v. Chr.) gilt als Stifter des für alle Ärzte gültigen ethischen Kodex. Der „Hippokratische Eid“ formuliert die ausschließliche
Verpflichtung gegenüber dem Patienten als Quintessenz medizinischer Ethik
und Vorgabe ärztlichen Handelns.
Diesem Gedanken folgt auch das nach den (auch ärztlichen)
Gräueltaten des Dritten Reiches entstandene „Genfer Gelöbnis“, das formuliert:„ … Die Erhaltung und Wiederherstellung
meiner Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein
…“ Und gleichermaßen in der Berufsordnung für Ärzte in:
●●
§ 1 (1) Aufgaben des Arztes: „Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes...“
●●
§ 2: „Der Arzt übt seinen Beruf nach seinem Gewissen,
den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus. Er darf keine Grundsätze anerkennen und keine
Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit seiner
Aufgabe nicht vereinbar sind…“
Alle drei Dokumente konstatieren: „Der Arzt ist allein den Patienten verpflichtet.“ Was, werden Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, fragen, hat all das mit Schmerzmedizin zu tun?
Oder, lassen sich aus diesen ethischen Leitgedanken irgendwelche Konsequenzen für die Schmerzmedizin ableiten?
Zunächst stellt sich die Frage, ob diese ethischen Grundsätze nur für den Arzt als Individuum gültig sind, oder ob sie
in gleicher Weise für ärztlich geleitete Fachgesellschaften und
Körperschaften Gültigkeit besitzen. Wenn Ärzte als Individuen – gleichgültig in welcher Funktion – diesen ethischen
Grundsätzen unterliegen, müssen sie ihren Grundsätzen als
unteilbare Individuen auch als Funktionsträger – gleichgültig
in welcher Position – folgen. Das bedeutet, dass sie auch als
Funktionsträger in einer Fachgesellschaft, in einem Berufsverband oder einer staatlichen Institution unabdingbar dem
ethischen Grundsatz unterliegen, allein dem Patienten verpflichtet zu sein. Ethische Grundsätze, kondensiert im„Eid des
Hippokrates“, stellen damit eine Messlatte dar für individuelle ärztliche Entscheidungen, aber auch für Positionen und
Aktivitäten ärztlicher Verbände und Fachgesellschaften.
Unteilbare Verpflichtung
Folgerichtig verstoßen Ärzte, die im direkten Arzt-PatientenKontakt dem Wohl ihres Patienten verpflichtet sind, als Verbandsfunktionäre aber Eigeninteressen von Institutionen
oder Berufsgruppen höher einschätzen als das Wohl des Patienten, eklatant gegen diesen ethischen Fixstern ärztlichen
Handelns. Genau an diesem Konflikt scheitert in Deutschland
die Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen.
2
Gerhard H. H. MüllerSchwefe, Göppingen
Schmerzmedizin ein Fachgebiet?
Unstrittig wird heute die chronische Schmerzerkrankung als
eine die Grenzen einzelner Fachgebiete überschreitende
chronische Erkrankung verstanden, deren Diagnostik und
Therapie an den Grenzen einzelner Fachgebiete scheitern
muss, sofern sie auf diese beschränkt bleibt. Das biopsychosoziale Krankheitsverständnis erfordert einen komplexen
diagnostischen und therapeutischen Zugang, der neurologische, funktionell-orthopädische, anästhesiologische, psychiatrische, psychologische Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzt und zur Zeit mit hohem personellen Aufwand und hohem Kommunikationsbedarf nicht nur bei der Diagnostik,
sondern auch als Begleitung der Therapie nur für ganz einzelne Patienten im Rahmen der „multimodalen Therapie“ zur
Verfügung steht.
Für die 23 Millionen Deutschen mit chronischen Schmerzen, davon 2,2 Millionen mit schwersten beeinträchtigenden
chronischen Schmerzen (Häuser et al. 2014) sind diese mit
hohem Aufwand betriebenen Insellösungen ein Tropfen auf
dem heißen Stein und stellen keinesfalls ein Modell für eine
flächendeckende Versorgung dar.
Woran scheitert schmerzmedizinische Versorgung?
Seit die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (damals STK) 1994 unter der Federführung von Dietrich Jungck
die erste „Schmerztherapievereinbarung“ mit Ersatzkassen
abgeschlossen hat, ist an der schmerztherapeutischen Versorgung in den letzten 20 Jahren weitgehender Stillstand zu
konstatieren. Übereinstimmend hatten noch 2012 alle
schmerzrelevanten Fachgesellschaften in Deutschland im
Rahmen einer abgestuften Versorgung einen „Facharzt für
Schmerzmedizin“ als Querschnittsfach gefordert und sich
daran gemacht, die Kompetenzen dieses Facharztes zu definieren. Dieser gemeinsame Aufbruch, mit dem Ziel einer
besseren schmerzmedizinischen Versorgung, hatte in zahlreichen Arbeitsgruppen und gemeinsamen Vorstandssitzungen bis zum Frühjahr 2014 schließlich an der Ausgestaltung
eines Facharztes für Schmerzmedizin gearbeitet, mit dem
Ziel, eine flächendeckende Versorgung zu ermöglichen.
Mehrfach habe ich bereits früher an dieser Stelle auf die Notwendigkeit eines „Facharztes für Schmerzmedizin“ hingewiesen, da die ambulante Versorgung mit Bedarfsplanung
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Editorial
und Sicherstellung sich ausschließlich an Fachgebietsgrenzen orientiert und damit die Sicherstellung schmerzmedizinischer Versorgung an das Fachgebiet Schmerzmedizin gekoppelt ist.
Für Zusatzbezeichnungen wie die „Spezielle Schmerztherapie“ gibt es keinerlei Bedarfsplanung, die Verfügbarkeit
schmerzmedizinischer Versorgung ist damit eher zufällig und
vom Interesse einzelner Ärzte abhängig. Gleichzeitig erfordert die Komplexität der chronischen Schmerzerkrankungen
einen Facharzt, der in seiner Ausbildung Kenntnisse und Fähigkeiten, die für die Diagnostik und Versorgung dieser Patienten notwendig sind, erworben hat, den Facharzt für
Schmerzmedizin.
Fachgebietsegoismen verhindern Schmerzmedizin
Diese gemeinsame Arbeit für eine bessere schmerzmedizinische Versorgung in der Zukunft hat im Oktober 2014 ein abruptes Ende gefunden. Die Deutsche Schmerzgesellschaft
(DGSS), ein wichtiger Partner in diesen gemeinsamen Anstrengungen, hat im Oktober 2014 eine abrupte Kehrtwende
vollzogen. Diese – ursprünglich der Erforschung akuter und
chronischer Schmerzen gewidmete Fachgesellschaft (Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes) hat mit der
Aufnahme der DIVS (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung
für Schmerztherapie, dem Zusammenschluss der einzelnen
medizinischen Fachgesellschaften wie beispielsweise Chirurgie, Innere Medizin, Anästhesiologie etc.) ihre eigenständige,
nur den Individualmitgliedern verpflichtete Ausrichtung aufgegeben und beugt sich fortan dem Diktat der einzelnen
Fachgesellschaften.
Welche Bedeutung dies für die Entwicklung der Schmerzmedizin hat, wird an dem rechts oben stehenden Auszug
eines Schreibens der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin verständlich.
Das Rad wird zurückgedreht
In der letzten gemeinsamen Kommissionssitzung der Vorstände der Fachgesellschaften wurde deshalb zunächst auf
Wunsch der Deutschen Schmerzgesellschaft in den Verlaufsprotokollen der beiden zurückliegenden Sitzungen in jedem
Wortbeitrag von Mitgliedern der Deutschen Schmerzgesellschaft das Wort „Facharzt für Schmerzmedizin“ entfernt, ein
Vorgehen, das durchaus historische Vorbilder hat. In den nachfolgenden Diskussionen wurde deutlich, dass die Deutsche
Schmerzgesellschaft nicht mehr an einem gemeinsamen
Facharzt für Schmerzmedizin festhält, sondern glaubt, durch
„Einflussnahme“ auf Kassenärztliche Bundesvereinigung und
Bundesärztekammer im Rahmen der einzelnen Fachgebiete
schmerzmedizinische Versorgung zu verbessern.
Allen Argumenten, dass ambulante vertragsärztliche Versorgung klaren Regeln folgt, in denen die Sicherstellung der
Versorgung von einer Bedarfsplanung auf der Grundlage von
Fachgebietsbezeichnungen erfolgt, prallten an den Vertretern der Deutschen Schmerzgesellschaft ab.
Mir persönlich erscheint es unerträglich, dass angestellte
Klinikärzte oder Hochschullehrer – mit nur rudimentären
Kenntnissen ambulanter Versorgungsstrukturen – aus ihrer
gesicherten Position heraus mit dieser Haltung flächendeckende ambulante schmerzmedizinische Versorgungsstrukturen verhindern.
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Nur dem Wohl des Patienten verpflichtet?
Oder stehen hier vermeintliche Pfründe von Fachgebieten
oder Ambulanzeinrichtungen über der höchsten ärztlichethischen Maxime?
Ihre Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V., liebe
Kolleginnen und Kollegen, wird sich weiterhin vehement gemeinsam mit der Deutschen Schmerzliga e. V. und dem Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland e. V.
(BVSD) für eine gesicherte flächendeckende schmerzmedizinische Versorgung einsetzen. Dafür brauchen wir und vor
allem die Patienten Sie mit all Ihren Kenntnissen und Fähigkeiten. Werden Sie Mitglied, beteiligen Sie sich an der gemeinsamen Gestaltung für eine bessere Versorgung von Patienten mit chronischen Schmerzen in Deutschland.
Mit um diese Ziele zu erreichen, hat die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin das weltweit größte PatientenVersorgungsregister mit Dokumentation und Ärztekommunikationsmöglichkeiten gestartet. Über all diese Aktivitäten
und viele weitere schmerzmedizinische spannende Inhalte
informiert Sie dieses Heft SCHMERZMEDIZIN.
SCHMERZMEDIZIN in neuem Gewande
Mit diesem Heft SCHMERZMEDIZIN halten Sie zum letzten
Mal eine Ausgabe in Händen, die in dieser Form erscheint. Ab
2015 wird SCHMERZMEDIZIN sechsmal jährlich in weit größerem Umfang erscheinen. Freuen Sie sich mit mir auf eine
noch größere Themenvielfalt in der SCHMERZMEDIZIN im
Jahr 2015. Sollten Sie durch den Wechsel der Redaktion Ihr
Heft SCHMERZMEDIZIN nicht wie gewohnt erhalten, fordern
Sie es bitte über die Geschäftsstelle der DGS an:
info@dgschmerzmedizin. de.
Ihnen allen, liebe Leserinnen und Leser, danke ich für Ihre
langjährige Verbundenheit und Ihr Interesse und wünsche Ihnen, dass der Zauber der Weihnachtszeit Sie berühren kann und
Sie mit Freude und Zuversicht in ein gutes Jahr 2015 starten.
Herzlichst Ihr
Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe
Präsident Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V.
3
Geriatrie/Traumatologie
Gelenkersatz bei älteren Menschen
Immer mehr ältere Menschen erhalten aufgrund degenerativer Gelenkveränderungen
künstliche Gelenke und erhoffen sich dadurch die Wiederherstellung der vollen Mobilität. Über die operativen Erfahrungen bei diesen multimorbiden, internistischen und
osteoporotischen Problempatienten berichtet Dr. Jürgen Nothwang, Klinik für Unfallchirurgie, Orthopädie und Wirbelsäulenchirurgie, Rems-Murr-Klinik Schorndorf.
Jürgen Nothwang,
Schorndorf
D
ie Arthrose eines Gelenkes stellt die häufigste Indikation für die Implantation
einer Prothese dar. Sieht man von frühzeitigem
Gelenkverschleiß in Folge einer den Gelenkknorpel zerstörenden Gelenkfraktur mit der
Entwicklung einer sogenannten posttraumatischen Arthrose oder aber entzündungsbedingter Gelenkknorpelzerstörungen ab, so
steigt mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit, einen Gelenkverschleiß zu entwickeln. Auf Grund von statistischen Erkenntnissen von Querschnittsuntersuchungen unserer Bevölkerung, die eine Arthrosewahrscheinlichkeit von bis zu 90 % ab dem 65. Lebensjahr
offenlegten wurde die Arthrose lange Zeit als
typische „Alterskrankheit“ bezeichnet.
Volksleiden Arthrose
Typischerweise sind die während des Alltags
statisch belasteten Extremitäten bevorzugt von
Arthrose betroffen. So verwundert es nicht,
dass unter den großen Gelenken der Extremitäten (Hüfte, Knie, Sprunggelenk, Schulter, Ellenbogen) das biomechanisch und anatomisch
komplexe Kniegelenk mit seinen zwei Gelenkpartitionen am häufigsten vom Gelenkverschleiß betroffen ist (bis zu 92 %), gefolgt vom
Hüftgelenk (36 %). Erst an dritter Stelle rangiert
das vorrangig muskelgeführte Schultergelenk
(27 %), noch vor Sprung- (11 %) und Ellengelenk (8 %). Bei den kleinen Gelenken der Extremitäten dominiert die Polyarthrose der Finger.
Unser Verständnis von der Arthrose hat
sich während der letzten 20 Jahre grundlegend verändert, und gewiss ist der „Lernprozess“ über diese komplexe Erkrankung noch
lange nicht abgeschlossen. Betrachtete man
die Arthrose früher als degenerative Erkrankung, die das konsequente Resultat des Älterwerdens darstellte (sogenannte „Wear and
Tear Theorie“), wird heutzutage bei der Arthroseentstehung von einem metabolischen,
dynamisch aktiven Prozess ausgegangen, der
gegenläufige – nämlich destruktive wie auch
reparative – Prozesse beinhaltet. So darf die
Arthrose als ein Ergebnis konkurrierender
Prozesse verstanden werden, das durch verschiedene, biochemische und physikalische
Faktoren beeinflusst wird und, wenn einmal
© Rems-Murr-Klinik, Schorndorf
Abb. 1: 86-jährige Patientin mit zentraler Acetabulumluxationsfraktur: Versorgung mit einer Pfannenbodenplastik, einem sogenannten Burch-Schneider-Ring und zementierter Prothese: präoperative
Computertomografie-Rekonstruktion (a), postoperatives Röntgenbild (b)
in Gang gesetzt, eine Anpassungsreaktion
des Gelenkes auf diese Faktoren darstellt.
Schwere und Chronizität der Gelenkschädigung auf der einen Seite sowie Wirksamkeit
der Reparaturprozesse auf der anderen Seite
definieren und erklären den unterschiedlichen Verlauf der Erkrankung. Während diverse Pathologien wie Trauma, Entzündung, Instabilität, Achsenfehlstellungen oder neuromuskuläre Störungen in der Pathophysiologie der Arthroseentstehung bekannt sind,
liegt ein gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt auf genetischen Ursachen der Chondrozytenfunktionssteuerung. Hierüber ließen
sich familiäre Häufungen klinisch relevanter
Gelenkabnützungen erklären.
Symptomatologie und
Prothesenindikation
Leitsymptom der Arthrose ist der belastungsoder bewegungsabhängige Schmerz, häufig
assoziiert mit einer initialen Gelenksteife. Typischerweise handelt es sich um einen gelenkassoziierten, brennenden Schmerz, der beispielsweise im Falle des Hüftgelenks häufig
am Oberschenkel entlang nach distal zum
Kniegelenk hin ausstrahlt.
Während an den statisch belasteten Gelenken der unteren Extremitäten die schmerzbedingten Mobilitäts- und Aktivitätseinschränkungen im Vordergrund stehen, sind arthrosebedingte Schmerzen der oberen Extremitäten
vorrangig durch eine schmerzhafte Bewegungs- und Gebrauchseinschränkung charakterisiert. Zwar lässt sich der Erkrankungsbeginn häufig nicht eindeutig bestimmen, doch
werden Patienten mit Schultergelenksarthrosen deutlich früher symptomatisch (durchschnittlich mit bereits 60 Jahren) als Patienten
mit Hüft- und Kniegelenksarthrosen. Die insgesamt seltene Indikation zur Implantation
einer Ellengelenksprothese stellt sich bei ausgedehnten Destruktionen des Humeroulnargelenks, wobei therapieresistente Schmerzen
mit Funktionseinschränkungen, Gelenkeinsteifungen bis hin zur Ankylose als auch Instabilitäten, die einen Einsatz des betroffenen
Armes unterbinden, therapie- und verfahrensbestimmend (gekoppelter, teilgekoppelter
oder ungekoppelter Prothesentyp) sind. Da
die Belastungsfähigkeit einer Ellengelenksprothese auf 4–5 kg begrenzt ist, bleibt sie dem
älteren Menschen mit limitiertem Funktionsanspruch vorbehalten.
Diagnostik bei Arthrosen
a
4
b
Diagnosebestimmend sind:
55patientenbezogene Befunde (Schmerzlokalisation und -ausstrahlung, Gelenksteife
und Gehstreckeneinschränkungen)
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Geriatrie/Traumatologie
(Schmerzdruckpunkte, Gelenkbeweglichkeit und -stabilität)
55apparative Befunde (Röntgen-, Sonographie-, Magnetresonanztomografie [MRT]-,
Computertomografie [CT-] und Laborbefunde).
Bei älteren Patienten liefern Lebensalter, Allgemeinzustand, Begleiterkrankungen und
Einschränkungen sowohl der Lebensqualität
als auch des Aktivitätsgrades zusätzliche Entscheidungskomponenten, die Einfluss auf das
klinische, postoperative Ergebnis, aber auch
auf die soziale Reintegrationsfähigkeit des Patienten nehmen.
Da evidenzbasierte Richtlinien für die Indikationsstellung zur Prothesenindikation fehlen, geben internationale Konsensuspapiere
und Leitlinien eine Orientierungshilfe. Allgemein besteht eine Indikation zur Prothesenindikation dann, wenn
1. erhebliche, trotz suffizienter konservativer
Therapie persistierende Beschwerden,
2. klinisch nachweisbare funktionelle Einschränkungen und
3. radiologisch deutliche Gelenkveränderungen nachweisbar sind.
Tools für die quantitative und qualitative Einschätzung des Gelenkzustandes und der Aktivität sind sogenannte Arthrose-Scores wie
bspw. der Harris-Hip-, der Western-Ontarioand-McMaster-Universities-Arthritis-Index
(WOMAC)- oder der Kellgren-Laurence-Score.
(Hemi-)Alloarthroplastik bei Frakturen
Einfacher gestaltet sich der OP-Entscheid bei
der zweiten großen Indikationsgruppe, den
gelenkbeteiligenden Knochenbrüchen bei älteren Menschen: Bei allen verschobenen Brüchen des Hüftgelenkes oder des Schenkelhalses ist die (Hemi-)Alloarthroplastik Therapie
der Wahl. Dabei kann bei Acetabulumfrakturen der Wiederaufbau der Gelenkkontur mit
Pfannenbodenplastik und Pfannenabstützschale erforderlich werden (Abb. 1).
Die unmittelbar belastungsfähige untere
Extremität definiert das Therapiecredo und
dient der Vermeidung typischer Sekundärkomplikationen wie Thrombose und Pneumonie. In sehr seltenen Einzelfällen kann sich
hieraus auch die Notwendigkeit einer primären, gekoppelten Knieendoprothese bei komplexen Tibiakopffrakturen plus/minus ligamentärer Begleitverletzungen ergeben. Ansonsten steht unterhalb des Hüftgelenkes altersunabhängig stets die Rekonstruktion des
Knochens und der Gelenkkonturen vor dem
Gelenkersatz.
An den oberen Extremitäten wird die Indikation für den prothetischen Gelenkersatz des
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Abb. 2: 83-jähriger Patient mit fortgeschrittener Arthrose des linken Hüftgelenk und Femurkopfnekrose nach vorausgegangener, unter Fehlstellung verheilter Oberschenkelfraktur: präoperatives Bild, laterale Projektion (a), Hybridversorgung mit Kurzschaftprothese und zementierter Hüftpfanne (b)
a
Schulter- oder Ellengelenkes wesentlich vom
Ausmaß der traumatischen Gelenkzerstörung
bestimmt. So gilt eine Destruktion der Gelenkfläche von >40 % oder aber die Zertrümmerung der Humeruskopfkalotte als absolute Indikation für einen Gelenkersatz. Entsprechendes gilt für die distale, intraartikuläre Humerusmehrfragmentfraktur, die durch eine sogenannte distale, humerale Hemi-Ellengelenksprothese versorgt werden kann.
Die Wahl des Prothesentyps wird dabei wesentlich von zusätzlichen Gelenkpathologien
bestimmt. So sind die Erfolgsaussichten und
Ergebnisse einer (Hemi-) Alloarthroplastik am
Schultergelenk bei größeren Rotatorenmanschettendefekten und insbesondere Defekten
des Musculus subcsapularis und infraspinatus
als schlecht zu bezeichnen. In diesen besonderen Konstellationen empfiehlt sich eine sogenannte inverse Schulterprothese trotz der bekannten Standzeitlimitierung dieses Prothesentyps.
Differenzialdiagnosen
Nicht immer aber ist ein Gelenkschmerz
zwangsläufig gleichzusetzen mit einem Arthroseschmerz. So stellt die Gelenkhaut mit
ihren Typ-A- und Typ-B-Synovialozyten eine
hochsensible und biochemisch aktive „Fabrik“
dar, die bei systemischen und infektiösen Erkrankungen mitreagieren kann (Begleitsynovialitiden).
Daher müssen vor Diagnosestellung einer
symptomatischen Arthrose alle möglichen Differenzialdiagnosen ausgeschlossen werden.
Abhängig von den anamnestischen Angaben
des Patienten können spezielle Laboruntersuchungen wie die Bestimmung der Rheumafaktoren, der Entzündungswerte, des Transferrin,
© Rems-Murr-Klinik, Schorndorf
55untersuchungsabhängige Befunde
b
der antizyklisch zitrullierten Antikörper oder
des Borrelientiters erforderlich werden.
Beim Schultergelenk sind vor allem Läsionen der Rotatorenmanschette, beim Hüftgelenk – mit seiner engen anatomischen Nachbarschaft zum Kreuz-Darmbeingelenk und der
Lendenwirbelsäule – alle von dort herrührenden Einflussfaktoren zu beachten. Dabei gilt es,
den Blick nicht nur auf skelettale Ursachen zu
lenken, sondern auch auf muskuläre. So fokussieren sich Beckenstatikstörungen, das Piriformissyndrom, Pathologien des Iliosakralgelenkes, aber auch der Wirbelsäulenbewegungsabschnitt L4/5 funktionell auf das Hüftgelenk.
Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, weshalb
ein Teil der mit einer Hüfttotalendoprothese
versorgten Patienten auch postoperativ noch
seine Beschwerden behält. Auch viszeralchirurgische Ursachen sollten insbesondere bei
einer Coxarthrose in Betracht gezogen werden, allen voran Leisten- und Femoralhernien.
Zu beachten sind zudem Schmerzprojektionen: So führen Arthrosen der Hüftgelenke
typischerweise zu Kniegelenksschmerzen.
Dies muss bei jeder Arthropathie des Kniegelenkes mitberücksichtigt werden. Schulterschmerzen können nicht nur vom Schultergelenk, sondern auch vom Akromioklavikular
(AC)-Gelenk oder fortgeleitet von der Halswirbelsäule verursacht werden.
Behandlungsziele und -strategie
Abhängig von der Lokalisation der Arthrose –
sei es nun an den oberen oder den unteren
Extremitäten – gibt es unterschiedliche Zielsetzungen für die Behandlung. Die Behebung des
arthrosebedingten Schmerzes hat oberste
Priorität und gelingt mit der Implantation eines
künstlichen Gelenkes regelmäßig. Zu berück-
5
Geriatrie/Traumatologie
sichtigen ist, dass die postoperative Funktion
beispielsweise einer Schulterprothese ganz
wesentlich von einer funktionstüchtigen Muskulatur abhängt. So gilt es, einen Patienten mit
völligem Verlust seiner Rotatorenmanschette
und insbesondere des Musculus infraspinatus
und des Musculus subscapularis darauf hinzuweisen, dass auch postoperativ die Funktion
des Schultergelenks limitiert sein wird.
Anders ist die Zielsetzung an der unteren
Extremität, an der nicht nur die Schmerzfreiheit, sondern die Funktion, die gerade beim
älteren Patienten Mobilität und damit Lebensqualität definiert, im Vordergrund steht. Für
die Implantation spielen daher die Verankerungsform mit der Möglichkeit der uneingeschränkten Vollbelastung, der korrekte Sitz der
Prothese sowie die ohne wesentliche Beinverlängerung erreichbare Muskelvorspannung
eine besondere Rolle. Am Hüftgelenk sind zudem die Rekonstruktion des Pfannenzentrums
und ein korrektes Offset wichtige Zielgrößen
für eine gute Prothesenfunktion.
Ähnliche Bedeutung erlangt am Kniegelenk
die Rekonstruktion der Kniebasislinie (Soft Tissue Balancing) sowie die korrekte Rotation der
femoralen und tibialen Komponente. Diese
haben unmittelbaren Einfluss auf die Funktion
der Kniescheibe und dienen der Vermeidung
eines sog. postprothetischen, peripatellaren
Schmerzsyndroms. Weitere Ursachen für diesen in ca. 10 % der Fälle vorhandenen Beschwerdekomplex sind Instabilitäten im femoropatellaren Gelenk oder auch Veränderungen
der muskulären Hebelarme. Ein Patellarückflächenersatz rettet in solchen Fällen über die
eigentlich ursächliche Pathologie nicht hinweg, sondern ist vielmehr durch eine frühzeitige Lockerung gefährdet.
Im Gegensatz zum jungen Patienten spielen bei der Knieprothetik des älteren Menschen partielle prothetische Gelenksubstitutionen wie die Schlittenprothese oder gar der
Trochleaersatz keine besondere Rolle, da Folgeoperationen gerade in dieser höheren Altersgruppe vermieden werden müssen. Andererseits stellt der Oberflächenersatz bei intaktem Seitenbandapparat beim älteren Menschen – sofern es die Achsverhältnisse zulassen – ein probates Mittel dar, um dem Patienten die Mobilität zurückzugeben. Erst wenn
auch der Bandapparat – zumeist fehlstellungsbedingt – insuffizient wird, bedarf es gekoppelter Kniegelenkssysteme.
Wahl der Prothesenverankerung
Da die Reduktion der Knochendichte mit dem
Alter zu-, hierdurch aber die zementfreie Verankerungsfähigkeit der Prothese abnimmt, hat
sich beim älteren Patienten die zementierte
6
Prothesenimplantation durchgesetzt. Durch
neue Zementiertechniken sind die ZehnjahresStandzeiten der Prothesen mit 95–99 % beruhigend. Ein weiterer Vorteil von Zementiertechniken gerade an der unteren Extremität ist
die unmittelbare Bewegungs- und Vollbelastungsfähigkeit, die eine sofortige und uneingeschränkte Mobilisation – zunächst unter
Zuhilfenahme eines Gehwagens, später zweier
Gehstützen oder eines Rollators – ermöglicht.
Überraschenderweise kommt eine aktuelle
Studie zu dem Ergebnis, dass eine Hüft-Totalendoprothese (TEP) bei älteren Arthrosepatienten das Risiko für Herzversagen, Depression und Diabetes sogar senken könnte.
Frühfunktionelle Nachbehandlung
Eine besondere Bedeutung erlangt die frühfunktionelle Nachbehandlung und Mobilisation bei älteren Patienten mit Schenkelhalsfraktur und Implantation einer zementierten
(Hemi-)Alloarthroplastik. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2011 ergab sich bei mit
einer Hüftprothese versorgten Patienten eine
Einjahresmortalität von 27 %, wobei die Mortalitätsrate der Männer über der der Frauen
lag. Insgesamt erhöhte sich die Mortalitätsquote in Relation zur einer nicht operierten
Vergleichspopulation über den gesamten Beobachtungszeitraum um das Dreifache. Hieraus lässt sich folgern, dass die untersuchten
Patienten zu einer Hochrisikogruppe gehören
und einer besonders eng geführten, auf Mobilität ausgerichteten Behandlung bedürfen.
Versorgungsstrategien
am Beispiel der Hüftprothese
Vorreiter einer differenzierten, an Alter, Risikofaktoren und definierten Therapiezielen angepasste Versorgungsstrategie ist die Endoprothetik am Hüftgelenk. Dabei beeinflussen
auch skelettale Befunde die Wahl des operativen Verfahrens wesentlich. So können beispielsweise vorausgegangene und in Fehlstellung verheilte Frakturen, die Implantation
einer „Langschaftprothese“ unterbinden und
bei entsprechender Knochenqualität die Indikation für eine zementfreie Kurzschaftprothese definieren (Abb. 2). Zwar definiert eine kalendarisch ausgerichtete Versorgungsstrategie
das angemessene Operationsverfahren, entbindet aber nicht davon, individuell die Wahl
des Verfahrens (zementiert, Hybrid oder zementfrei) der Knochenqualität und dem biologischen Alter des Patienten anzupassen.
Eine Auswertung von eigenen Patientendaten unterstreicht die unmittelbare Kohärenz
zwischen Verankerungstechnik und Alter und
Geschlecht. So wurde bei über 80-Jährigen nur
bei 13 % eine zementfreie Totalendoprothese
implantiert. 89 % dieser Patienten waren Männer. In allen Fällen handelte es sich um eine
Prothesenversorgung wegen Coxarthrose. Zementierte Femurschäfte erhielten 85 % der
Überachtzigjährigen, sei es im Rahmen einer
Hybridversorgung mit zementfreier Pfanne
(14 %) oder als komplett zementierte Prothese
mit zementierter Schaft- und Pfannenkomponente (71 %).
Lag eine Schenkelhalsfraktur vor, die bei
hohem Aktivitätsgrad des Patienten mit einer
TEP versorgt wurde, war in 82 % der Fälle eine
zementierte Prothese notwendig, lediglich bei
18 % konnte die Prothese zementfrei eingesetzt werden. Bei den Patienten mit zementfreien Fraktur-TEPs handelte es sich – mit einer
Ausnahme – um Patienten, die jünger als
76 Jahre waren.
Häufiger als eine TEP wurde bei medialer
Schenkelhalsfraktur älterer Patienten eine zementierte Duokopfprothese eingesetzt. Nur in
Einzelfällen erfolgte die Implantation dieses
Prothesentyps zementfrei. Dabei handelte es
sich immer um Hochrisikopatienten, bei
denen zementapplikationsanhängige Herzkreislaufbelastungen unbedingt vermieden
werden mussten. Die bei den früheren Monoblockprothesen feststellbaren, prothesenkopfbedingten Pfannenprotrusionen sind bei
Duokopfprothesen eine Seltenheit, sodass
diese Prothesenversorgung bei älteren Patienten mit Schenkelhalsfraktur ohne Coxarthrose,
aber mit limitiertem Bewegungsradius eine
patientengerechte und erfolgreiche Versorgungsalternative darstellt.
Fazit
Durch innovative Prothesen und Prothesendesigns erfährt die Endoprothetik ständigen Zuwachs an neuen Implantaten für die Versorgung von Arthrosen und Frakturen der Gelenke
der oberen und unteren Extremitäten. Auch für
den älteren Patienten steht ein umfangreiches
Prothesenportfolio zur Auswahl, das aber einer
an skelettale wie patientenorientierte Vorgaben ausgerichteten Anpassung bedarf. Das Anforderungsprofil des Patienten sowie Lebenserwartung, Komorbiditäten, Knochenqualität
und Bewegungsanspruch müssen in den Therapieentscheid und die Verfahrenswahl einfließen. Funktion und Mobilitätserhalt sind wesentliche Kernelemente für die Lebensqualität
älterer Mitmenschen. Sie zu bewahren, ist Aufgabe aber auch Verpflichtung einer angemessenen operativen Behandlung von Gelenkarthrosen und -verletzungen des älteren Menschen. ■
Jürgen Nothwang, Schorndorf
Literatur beim Verfasser
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Praxisdokumentation/Versorgungsforschung
Das Warten hat ein Ende!
Endlich möchte man rufen – endlich ist es soweit. Mit dem offiziellen Launch des
DGS-PraxisRegister Schmerz am 17.11.2014 gab die Deutsche Gesellschaft für
Schmerzmedizin (DGS) e.V. den Startschuss für das weltweit größte Versorgungsforschungsprojekt für die Indikation Schmerz. Grundlage des PraxisRegisters ist
die Vernetzung ambulanter Schmerzzentren über eine einheitliche Dokumentationsplattform (iDocLive®), informiert Priv.-Doz. Dr. med. Michael A. Überall, Vizepräsident der DGS, Präsident der Deutschen Schmerzliga (DSL),Nürnberg.
iele des PraxisRegisters sind es, nicht nur
versorgungsrelevante epidemiologische
Fragestellungen beantworten zu können, sondern insbesondere auch Untersuchungen des
Versorgungsbedarfs (Input), der verfügbaren
bzw. benötigten Versorgungsstrukturen bzw.
-prozesse (Throughput), der erbrachten Versorgungsleistungen (Output) und des Zugewinns an Gesundheits- bzw. Lebensqualität
Betroffener (Outcome) durchzuführen.
Im Fokus Versorgungsbedarf
und Lebensqualität
Die seit Jahren von den Gesundheitssystemen
der westlichen Welt unter dem Einfluss von
Kostendruck, Industrialisierung und Qualitätsprüfung vollzogene Entwicklung hin zu einem
ausschließlich auf externe Evidenzkriterien
(d. h. randomisierte Placebo-kontrollierte klinische Studien) fokussierten Gesundheitssystem wird den komplexen Konstellationen
chronischer Krankheiten, insbesondere denen
chronisch schmerzkranker Menschen, nicht
gerecht, sondern allenfalls den ökonomischen
Interessen Dritter.
Trotz umfangreichster Anstrengungen haben Leitlinien und sog. evidenzbasierte Entscheidungsfindungsprozesse – die seit geraumer Zeit das deutsche Gesundheitssystem zu
dominieren suchen – weder die Versorgung
chronisch schmerzkranker Menschen in
Deutschland verbessert, noch das Chronifizierungsrisiko wahrnehmbar gesenkt. Immer
mehr und immer stärker betroffene chronische Schmerzpatienten werden von dem auf
externe Evidenz und Kosteneffizienz getrimmten deutschen Gesundheitssystem immer
häufiger im Stich gelassen – u. a. weil belastbare empirische Zahlen und hochwertige wissenschaftliche Analysen des Versorgungsbereichs fehlen.
geringere und immer geringer wertgeschätzte
Zahl verwertbarer epidemiologischer und versorgungsbasierter empirischer Untersuchungen gegenüber. Gleichzeitig wächst die Kluft
zwischen der patientenfernen universitären
Forschung und der patientennahen Versorgungsrealität immer stärker und scheint insbesondere auf Seiten von Forschern, Krankenkassen und Gesundheitspolitikern das Verständnis um die Nöte und Bedürfnisse von
Ärzten im Versorgungsalltag – unter anderem
begründet mit dem gebetsmühlenartig vorgetragenen Argument fehlender und vor allem belastbarer Versorgungsdaten – immer
geringer zu werden.
Dieser Entwicklung hat sich die Deutsche
Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e. V.
lange genug im Bestreben einer einvernehmlichen Lösung entgegengestemmt – musste
jedoch letztlich einsehen, dass auf Seiten ihrer
Gesprächspartner (insbesondere der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, DGSS
e. V.) mangels dortiger Erfahrung und Einfühlungsvermögen nicht nur jegliches Verständnis für die Bedürfnisse und Nöte einer flächendeckenden schmerzmedizinischen Versorgung durch freiberuflich tätige engagierte
Ärzte fehlt, sondern auch jegliche Bereitschaft
für gemeinsame Problemlösungsansätze. Damit war der Schritt hin zu eigenen Versorgungsforschungsprojekten, insbesondere hin
zu einem flächendeckenden PraxisRegister
Schmerz vorgegeben und es letztlich nur noch
eine Frage der Zeit, bis die für ein solches umfangreiches Versorgungsforschungsprojekt
notwendigen logistischen, technischen und
verwaltungsrechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden konnten.
PraxisRegister Schmerz
Mit dem DGS-PraxisRegister hat die Deutsche
Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e. V.
nun endlich einen nicht nur wissenschaftlich
richtigen, sondern für die konkrete Patientenversorgung auch eminent wichtigen Schritt
getan, um sich vom Forschungsdiktat einer zunehmend versorgungsfernen Schmerzforschung an Hochschulen und Universitätskliniken zu lösen. Die Versorgung chronisch
schmerzkranker Menschen, wie auch die Vorbeugung drohender Chronifizierungsprozesse
und die optimale Behandlung akuter Schmerzen bedarf dringend einer engen Kooperation
von Forschern und Versorgern, um der zunehmenden Probleme Herr werden zu können.
Freundschaftliche Kooperation
Diese Kooperation sollte einvernehmlich,
freundschaftlich, zielführend und vor allem
unter Achtung der jeweiligen spezifischen
DGS-PraxisRegister Schmerz – voll elektronisch, online, papierlos, kostenlos, schnell
und intelligent
© Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.
Z
Michael A. Überall,
Nürnberg
Patientenferne Forschung
Dem zunehmenden Übergewicht kontrollierter randomisierter Studien steht eine immer
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
7
Praxisdokumentation/Versorgungsforschung · Impressum
© VRD - Fotolia
Einladung an alle an der Versorgung von
Schmerzpatienten beteiligten Ärzte
mitzumachen!
Kompetenzen aller Beteiligten realisiert werden und darf sich – im Interesse Betroffener –
nicht dem Diktat Einzelner oder den durch
ökonomische Zwänge bedingten gesundheitspolitischen Trends unterwerfen. Die konkrete Versorgung betroffener Schmerzpatienten bedarf endlich konkreter Antworten auf all
die Fragen, die für den Versorgungsalltag
wichtig sind und nicht noch mehr Antworten
auf Fragen, die keiner stellt und allenfalls der
Befriedigung wissenschaftlicher Sekundärinteressen (wie z. B. der Publikationsliste oder
dem wissenschaftlichen Renommee) dienen.
Aus diesem Grund muss die Versorgungsforschung auch von denen realisiert werden,
die ein primäres Interesse an einer Verbesserung der Patientenversorgung haben und
nicht von Gruppen oder Gesellschaften, denen
primär der Science Citation Index am Herzen
liegt. Dass dieser Eingriff in die Wissenschaftshoheit von Forschung und Lehre gerade für
den Bereich Schmerzmedizin dringend notwendig ist, liegt angesichts der zunehmenden
Zahl chronischer Schmerzpatienten und der
zunehmend geringer werdenden finanziellen
Ressourcen auf der Hand. Dass er den etablierten Wissenschaftlern nur bedingt gefallen
wird, auch!
Gemeinsame Aktivität
mit Netzsoftware
Somit es ist es also an der Zeit, dass nicht nur
die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin
(DGS) e. V. als Interessenvertretung aller an
einer konkreten Verbesserung der Versorgungsbedingungen interessierten Ärzten
Deutschlands Flagge zeigt und sich der gesundheitspolitischen Fehlentwicklung und
zunehmend irrationalen Ökonomisierung wiedersetzt, sondern auch jedes einzelne ihrer
Mitglieder.
Es ist an der Zeit, endlich gemeinsam aktiv
zu werden, wenn sich etwas ändern soll. Mit
dem PraxisRegister Schmerz hat die DGS einen
8
großen Schritt gemacht, sich als eigenständig
aktive und für die Interessen freiberuflich bzw.
in verantwortlicher Position tätiger angestellter
Schmerztherapeuten jedweder Fachrichtung
einzusetzen. Mit dem DGS-PraxisRegister
Schmerz und der ihm zugrunde liegenden
Netzsoftware iDocLive® besteht die einmalige
Möglichkeit, gemeinsam aktiv zu werden, ohne
selbst besonders viel dafür tun zu müssen.
Voll elektronisch, online, papierlos, kostenlos, schnell und intelligent – das sind nur einige wenige Kriterien, die der Entwicklung dieses Versorgungsforschungsprojekte zugrunde
lagen. Und objektiv spricht nur wenig dagegen, an diesem Gesellschaftsprojekt teilzunehmen – allenfalls die eigene Trägheit oder
die Illusion, es werde sich auch ohne eigenes
Engagement alles zum Besseren wenden.
Aufruf an alle!
Mit dem PraxisRegister Schmerz lädt die Deutsche Gesellschaft (DGS) e.V. alle konkret an der
Versorgung von Schmerzpatienten beteiligten
Ärzte Deutschlands ein mitzumachen. Egal ob
Einzelkämpfer mit oder ohne Zusatzbezeichnung. Egal ob Allgemeinarzt, Orthopäde, Anästhesist, Neurologe oder Kinderarzt. Egal ob
wenige oder viele Schmerzpatienten Ihren
Versorgungsalltag bestimmen. Egal, wer oder
was Sie sind. Sobald Sie auch nur einen
Schmerzpatienten pro Woche behandeln, besitzen Sie Wissen und Erfahrung, die dringend
benötigt werden, um die Versorgung von Patienten mit akuten, subakuten oder chronischen Schmerzen jedweder Ätiologie und Pathogenese zu verbessern. Nur gemeinsam
wird es gelingen, diesen Wissens- und Erfahrungsschatz zu bergen und zu analysieren. Die
Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin
(DGS) ist bereit, alle interessierten Ärzte
Deutschlands dabei zu unterstützen und ihnen im Gegenzug über die für die Vernetzung
notwendige und allen DGS-Mitgliedern kostenlos bereit gestellte Software auch kontinuierlich und in Echtzeit Daten und Auswertungen zu Verfügung zu stellen, die Beteiligten
helfen Ihren eigenen Versorgungsalltag konkret zu optimieren.
Kollektives Wissen und kollektive Erfahrung in Echtzeit analysiert zum Wohle aller:
nicht nur der teilnehmenden Patienten oder
der teilnehmenden Ärzte, sondern auch unserer Gesellschaft und dem deutschen Gesundheitssystem. Das ist Versorgungsforschung „at
its best“ – das ist das PraxisRegister Schmerz
mit iDocLive® und das ist die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e. V. – patientennah und versorgungsorientiert! ■
Michael A. Überall, Nürnberg
Impressum
Organ der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin
Herausgeber
Gerhard H. H. Müller-Schwefe
Schillerplatz 8/1, D-73033 Göppingen
Tel. 07161/976476, Fax 07161/976477
E-Mail: [email protected]
Schriftleitung
Oliver Emrich, Ludwigs­hafen; Johannes Horlemann, Kevelaer;
Klaus Längler, Erkelenz; Silvia Maurer, Bad-Bergzabern;
Michael A. Überall, Nürnberg; Stephanie Kraus (verantw.),
Stephans­kirchen, Tel.: 08036/1031
Beirat
Christoph Baerwald, Leipzig; Wolfgang Bartel, Halberstadt;
Heinz-Dieter ­Basler, Marburg; Günter Baust, Halle/Saale; Klaus Borchert,
Greifswald; Burkhard Bromm, Hamburg; Ingunde Fischer, Halle/Saale;
Gideon Franck, Fulda; Gerd Geiss­linger, Frankfurt; Hartmut Göbel, Kiel;
Olaf Günther, Magdeburg; Winfried Hoerster, Gießen; Stein Husebø,
Bergen; Uwe Junker, Remscheid; Uwe Kern, Wiesbaden; Edwin Klaus,
Würzburg; Eberhard Klaschik, Bonn; Lothar Klimpel, Speyer;
Bruno Kniesel, Hamburg; Marianne Koch, Tutzing; Bernd Koßmann,
Wangen; Michael Küster, Bonn-Bad Godesberg; Klaus Längler, Erkelenz;
Peter Lotz, Bad Lippspringe; Eberhard A. Lux, Lünen; Christoph
Müller-Busch, Berlin; Joachim Nadstawek, Bonn; Thomas Nolte,
Wiesbaden; Robert R­ eining, Passau; Robert F. Schmidt, Würzburg;
Günter ­Schütze, Iserlohn; Harald Schweim, Bonn; Hanne ­Seemann,
­Heidelberg; Ralph Spintge, Lüdenscheid; Birgit Steinhauer, Limburg;
­Roland Wörz, Bad Schönborn; Walter Zieglgänsberger, München;
Manfred Zimmermann, Heidelberg
In Zusammenarbeit mit: Deutsche Gesellschaft für Algesiologie –
Deutsche Gesellschaft für Schmerzforschung und Schmerztherapie;
Deutsche Akademie für Algesiologie – Institut für schmerztherapeutische Fort- und Weiterbildung; Deutsche Gesellschaft für
interdisziplinäre Palliativversorgung e. V.; Deutsche Schmerzliga
e.V. (DSL); Gesellschaft für algesiologische Fortbildung mbH (gaf
mbH); Gesamtdeutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin e.V.
(GGMM); Institut für Qualitätssicherung in Schmerztherapie und
Palliativmedizin (IQUISP); Berufsverband der Schmerztherapeuten
in Deutschland e.V. (BVSD); Deutsche Gesellschaft für Akupunktur
und Neuraltherapie (DGfAN)
Mit der Annahme eines Beitrags zur Veröffent­lichung erwirbt der
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DGS schließt den Bezugspreis der Zeitschrift mit ein. Die Zeitschrift
erscheint im 30. Jahrgang.
Verlag: Springer Medizin © Urban & Vogel GmbH, München,
Dezember 2014
Leitung Corporate Publishing: Ulrike Hafner (verantw.)
Redaktion: Dr. Michael Brysch, Teresa Windelen
Druck: Stürtz GmbH, Würzburg
Titelbild: © C. Schiller / fotolia.com
Inhaber- und Beteiligungsverhältnisse
Die Urban & Vogel GmbH ist 100%ige Tochter­gesellschaft der Springer Medizin Verlag GmbH, Heidelberg. Die alleinige Gesellschafterin
der Springer Medizin Verlag GmbH ist die Springer-Verlag GmbH
mit einer Beteiligung von 100%. Die Springer-Verlag GmbH ist eine
100%ige Tochtergesellschaft der Springer Science + Business Media
Deutschland GmbH. Die ­alleinige Gesellschafterin der Springer
Science + Business Media Deutschland GmbH ist die Springer
Science + Business Media Netherlands B.V., die 100% der Anteile
hält. Die Springer Science + Business Media Netherlands B.V. ist eine
100%ige Tochtergesellschaft der Springer Science + Business Media
Finance S.àR.L. Die Springer Science+Business Media Finance S.àR.L.
ist eine 100%ige Tochter der Springer Science+Business Media S.A.
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Pharmakotherapie
Medikamentöse Schmerztherapie bei Arthrose
Die Arthrose ist eine metabolische aktive, nicht entzündliche degenerative Erkrankung des Gelenkknorpels, die langsam progredient verläuft. Neben einer
eingeschränkten Funktionalität der Gelenke, sind Muskelatrophie und -kontrakturen sowie Gelenkdeformitäten und -instabilitäten typische Symptome.
Schmerzen treten relativ frühzeitig auf und nehmen mit Fortschreiten der Erkrankung an Intensität zu. Eine rechtzeitige und gezielte Therapie der Schmerzen stellt neben der Verbesserung der Funktionalität, der Behandlung sekundärer Entzündungen und der Verzögerung der Progression ein wichtiges Therapieziel dar. Die wichtigsten Bestandteile der medikamentösen Arthrosetherapie
schildert Dr. med. Jürgen Eiche, HCM, Facharzt für Anästhesiologie,
Palliativmedizin, Notfallmedizin, Algesiologe der DGS e.V., Eisenach.
D
urch eine suffiziente Schmerztherapie
ist der Patient oft erst in der Lage, an
notwendigen physiotherapeutischen Maßnahmen aktiv teilzunehmen. Eine Chronifizierung des Schmerzes kann verhindert werden.
unter der Berücksichtigung ursächlicher
Schmerzmechanismen. Wir sprechen heute
von einer Mechanismen orientierten Schmerztherapie.
Unzureichend behandelter akuter Schmerz
kann zu chronischen Schmerzzuständen führen. Hierbei kommt es zu peripheren und zentralen Sensibilisierungsvorgängen im
schmerzleitenden System mit einer anhaltenden Freisetzung von vielen Entzündungsmediatoren. Die Folge sind Spontanaktivitäten
von Schmerzfasern, ein Fortschreiten der
neurogenen Entzündung bis hin zu nachweisbaren morphologischen Veränderungen im
peripheren und zentralen Nervensystem. Weitere Folge ist der damit verbundene Funktionsverlust des körpereigenen schmerzhemmenden Systems. Idealerweise sollte vor jeder
Schmerztherapie eine ausführliche Anamnese
und eine gezielte klinische Untersuchung mit
dem Ziel durchgeführt werden, Symptome zu
erkennen, die auf den Mechanismus der
Schmerzentstehung schließen lassen, der
dann differenziert therapiert werden kann.
Leider ist das Erkennen des ursächlichen Mechanismus schwierig, weil die Symptome nicht
immer dem Mechanismus entsprechen. Danach erfolgt die bildgebende Diagnostik, de-
Schmerztherapie oft nicht ausreichend
Leider wird die Schmerztherapie dieser hohen
Anforderung nicht immer gerecht. Bei einer
Telefonbefragung in Europa mit über 45.000
Befragten, einschließlich Patienten mit Arthrose, die an chronischen Schmerzen litten, wurden 5.000 Patienten eingehend befragt. Viele
dieser Patienten gaben an, dass ihr Schmerz
nicht gut kontrolliert wird. Mehr als 30 % der
Befragten fanden ihren Schmerz unerträglich,
mehr als 60 % fanden ihre verordnete
Schmerzmedikation hinsichtlich der Analgesie
unzulänglich. Betrachtet man die Schmerzkarriere vieler Patienten, so dauert es vom ersten
Schmerzempfinden bis zur ersten hausärztlichen Beratung durchschnittlich drei Jahre.
Eine Überweisung an einen Schmerztherapeuten, die in 47 % der Fälle auf Bitten des
Patienten erfolgt, findet im Durchschnitt erst
nach 12 Jahren statt. Diese Situation ist durchaus verbesserungswürdig. Eine multimodale
interdisziplinäre Schmerztherapie ist hier unbedingt erforderlich.
Abb. 1: WHO-Stufenschema
Mechanismen Chronischer Schmerzen
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
starke Opioide
Morphin, Fentanyl, Oxycodon
© Jürgen Eiche, Eisenach
Die medikamentöse Schmerztherapie orientierte sich bisher an dem WHO Stufenschema,
das 1986 für Tumorpatienten konzipiert worden ist (Abb. 1). Dieses Schema ist bei chronisch gutartigen Schmerzen ein überholtes
Therapieprinzip, da es weder neue pathophysiologische noch neue pharmakologische Erkenntnisse berücksichtigt. Die heutige moderne medikamentöse Schmerztherapie erfolgt
schwache Opioide
Tramadol, Tilidin
Nichtopioide
NSAR, Coxibe, Paracetamol, Metamizol
Jürgen Eiche,
Eisenach
ren Ergebnisse oft nicht mit der Schmerzstärke
korrelieren. Grundsätzlich unterscheidet man
den nozizeptiven vom neuropathischen
Schmerz. Bei bestimmten Krankheitsbildern
kommen beide Formen nebeneinander vor,
wir sprechen hier von einem Mixed Pain.
Medikamentöse Schmerztherapie
Bei der Arthrose kann man davon ausgehen,
dass im frühen Stadium ein rein nozizeptiver
Schmerz vorliegt. Kommt es im Stadium der
klinisch manifesten, dekompensierten Arthrose oder nach einer operativen Intervention zu
Dauerschmerzen, ist dies ein Zeichen dafür,
dass es zu einer Schädigung oder Dysfunktion
zentraler oder peripherer Nervenstrukturen
gekommen ist, die mit speziellen Schmerzmitteln gezielt behandelt werden müssen. Eine
mögliche Strategie der medikamentösen
Schmerztherapie bei Patienten mit Arthrose ist
in Abbildung 2 dargestellt. Ist die Arthrose
nicht entzündlich, kann die medikamentöse
Schmerztherapie mit Paracetamol oder Metamizol erfolgen, wobei Metamizol das potentere Schmerzmittel darstellt. Hinsichtlich der
Nebenwirkungen ist bei einer Daueranwendung höherer Dosen von Paracetamol (> 6g/d)
mit eine Lebertoxizität zu rechnen. Bei Metamizol werden selten allergische Reaktionen
beobachtet. In sehr seltenen Fällen kommt es
zu einer Agranulozytose. Kommt es unter dieser Therapie zu einer ausreichenden Schmerzreduktion, können nichtmedikamentöse Maßnahmen begonnen werden. Reicht die
Schmerzreduktion unter Paracetamol/Metamizol nicht aus oder handelt es sich um eine
aktivierte, entzündliche Arthrose, sind Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) oder selektive Cyclooxygenase-2-Hemmer (Coxibe) Mittel
der ersten Wahl. Die Wirksamkeit dieser entzündungshemmenden Analgetika ist in mehreren Studien belegt. Unterschiede in der Wirksamkeit zwischen den einzelnen Substanzen
sind marginal. Zu berücksichtigen ist allerdings
das erhebliche Potential an unerwünschten
9
Pharmakotherapie
dikamentöse Maßnahmen begonnen werden.
Reicht die Schmerzreduktion unter NSAR/Coxiben nicht aus, die Patienten haben Kontraindikationen für diese Medikamente oder es treten
Nebenwirkungen auf, stellt der niedrig dosierte Einsatz von Opioiden oder Tapentadol eine
gute Alternative dar (Tab. 1). Da weder für
Opioide noch für Tapentadol eine Organtoxizität bekannt ist, sind beide Substanzen für eine
Langzeittherapie geeignet. Als Nebenwirkungen für die Opioide sind Obstipation, Übelkeit/
Erbrechen, Müdigkeit, Juckreiz und Halluzinationen bekannt. Während Übelkeit und Erbrechen sowie die Müdigkeit nach einer Initialtherapie oft verschwinden, stellt die Obstipation
ein großes Problem dar. Chronische Schmerzpatienten brechen die Behandlung mit Opioiden häufiger wegen unerwünschter Nebenwirkungen ab, als wegen unzureichender
schmerzreduzierender Wirkung. Ein Ansatz ist
die Kombination eines Opioid-Rezeptor-Agonisten mit einem Opioid-Rezeptor-Antagonisten, worunter es zu einer geringeren Obstipation kommt. Tapentadol bietet eine dem Oxycodon vergleichbare starke schmerzreduzierende Wirkung bei gleichzeitigem niedrigerem
Nebenwirkungspotential. Eine Dosisanpassung bei eingeschränkter Nierenfunktion ist
nicht und nur bei einer hochgradigen Leberfunktionsstörung notwendig. Tapentadol bietet wegen seiner doppelten Wirkung (Blockade der μ-Opioid-Rezeptoren und Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin) Vorteile
beim Mixed Pain. Kommt es unter Opioiden
oder Tapentadol zu einer ausreichenden
Schmerzreduktion, können auch hier nichtmedikamentöse Maßnahmen begonnen werden.
Reicht die Schmerzreduktion unter Opioiden/
Tapentadol nicht aus, oder besteht der Verdacht auf eine neuropathische Schmerzkomponente, ist eine Kombination mit Koanalgetika indiziert. Der Verdacht auf eine neuropathische Komponente besteht immer dann, wenn
Abb. 2: Medikamentöse Schmerztherapie
bei Arthrose
1. Anamnese; 2. klinische Untersuchung; 3. bildgebende Diagnostik
schmerzhaft
nicht entzündlich
aktiviert
entzündlich
Arthrose
Paracetamol
Metamizol
ausreichende
Wirkung?
nein
Coxibe/NSAR
(KI beachten)
ja
ja
nein
© Jürgen Eiche, Eisenach
Nebenwirkung
Kontraindikation
Coxibe/NSAR
Weitergabe/Aufnahme
nichtmedikamentöser
Maßnahmen
Verdacht auf
neuropathische
Komponente
ausreichende
Wirkung?
Opioide
Tapentadol
ja
ausreichende
Wirkung?
nein
Co-Analgetika
Antidepressiva
Antiepileptika
Nebenwirkungen und Medikamenteninteraktionen der NSAR, die die Koenzyme 1 und 2 der
Cyclooxygenase unselektiv hemmen. Genannt
seien hier gastrointestinale (Erosionen, Ulzerationen, Blutungen, Perforationen), renale
(interstitielle Nephritis, Nierenversagen) sowie
kardio- und zerebrovaskuläre (Herzinfarkt,
Hirninfarkt) Effekte, die auch zu lebensbedrohlichen Situationen führen können. Ein besonders hohes Risiko unter der Therapie mit NSAR
haben Patienten im hohen Lebensalter und
bekannten gastrointestinalen Ereignissen in
der Anamnese. Weitere Risikofaktoren sind die
gleichzeitige Einnahme von Medikamenten
(Kortikoide, Acetylsalicylsäure, Antikoagulanzien), H. pylori-Infektion, schwere systemische
Grunderkrankungen, Stress und chronischer
Alkoholabusus sowie hohe NSAR-Dosierungen
und lange Therapiedauer. Die Entwicklung selektiver Cyclooxygenase-2-Hemmer ließ zunächst hoffen, dass durch den Einsatz dieser
analgetisch wirksamen Substanzen die gastrointestinale Toxizität deutlich gesenkt werden
könne. Diese Erwartungen wurden nur zum
Teil erfüllt. Heute gelten für Patienten mit erhöhtem gastrointestinalem Risiko ähnliche
Warnhinweise für Coxibe wie für NSAR. Das
kardiovaskuläre Risiko limitiert den Einsatz sowohl von Coxiben als auch von nichtselektiven
NSARs. Die renale Toxizität scheint für beide
Substanzgruppen gleich. Kommt es unter
NSAR und Coxiben zu einer ausreichenden
Schmerzreduktion, können auch hier nichtme-
10
Tab. 1: Opioide und Tapentadol
© Jürgen Eiche, Eisenach
Weitergabe/Aufnahme
nichtmedikamentöser
Maßnahmen
Substanz
Applikation
Dosierung
Tramadol
oral
2x100–200 mg/d
Tilidin
oral
2x50–200 mg/d
Morphin
oral
2x10–100 mg/d
Oxycodon
oral
2x5–40 mg/d
Hydromorphon
oral
1x4–64 mg/d
Tapentadol
oral
2x50–250 mg/d
Fentanyl
transdermal
12–50 µg/h
Buprenorphin transdermal
5–20 µg/h
die Schmerzen einen brennenden, einschießenden Charakter haben und neurologische
Begleitsymptome (Hypo-Hyperästhesie, Parästhesie, Hyperalgesie, Allodynie) vorliegen.
Auch autonome Begleitsymptome (starke
Schweißbildung) sind in einigen Fällen nachweisbar. Koanalgetika sind hauptsächlich den
Stoffgruppen der Antidepressiva und Antiepileptika zuzuordnen. Ihre Wirkung entfalten sie
über die Blockade von bestimmten Ionenkanälen oder Hemmung der Wiederaufnahme von
Neurotransmittern wie Noradrenalin und Serotonin. Hierdurch kommt es zu einer Hemmung
der primären Schmerzleitung sowie zu einer
Verstärkung des körpereigenen schmerzhemmenden Systems. Als Nebenwirkungen sind
Müdigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit und
Miktionsstörungen zu nennen. Deshalb sollte
die Therapie, hauptsächlich in Kombination
mit Opioiden, langsam eingeschlichen und
eine möglichst niedrige Dosis gewählt werden.
Probleme der Schmerztherapie
bei älteren Patienten
Patienten mit Arthrose gehören häufig höheren Altersgruppen an. Mit zunehmendem Alter kommt es zu einer Reihe von physiologischen Veränderungen verschiedener Organe,
woraus eine eingeschränkte Organreserve
und eine abnehmende Organfunktion resultieren. Für die Schmerztherapie sind Nierenund Leberfunktion von großer Bedeutung.
Eine Anpassung der Dosis von Schmerzmedikamenten ist oft notwendig, damit Überdosierungen vermieden werden können. Ältere
Menschen sind zudem häufig multimorbid
und müssen deshalb viele Medikamente einnehmen. Bei der Gabe von Analgetika kommt
es mit diesen Medikamenten zu einer Reihe
von Interaktionen, die die Pharmakodynamik
aller Medikamente beeinflussen kann. Dadurch kann es zu einer Reduktion der Wirkung
jedes einzelnen Medikamentes oder zu einer
Wirkverstärkung und Überdosierung kommen. Deshalb sollte jede Schmerztherapie individuell für jeden Patienten maßgeschneidert, an Mechanismen orientiert und zielgerichtet durchgeführt und überwacht werden.
Die Therapie sollte in der Regel mit einer geringen Dosis begonnen werden, die Steigerung
der Dosis muss langsam erfolgen. Die Komplexität ist mittlerweile so groß, dass nur eine interdisziplinäre Therapie zum Erfolg führt. Die
Reduktion der Schmerzen und eine möglichst
lange Erhaltung der Mobilität bedeuten für
den Patienten Lebensqualität. ■
Jürgen Eiche, Eisenach
Literatur beim Verfasser
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Psychosomatik
Somatoforme Störungen
Somatoforme Störungen (ICD-10: F45) sind häufige Störungen in der täglichen
Praxis, die anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) tritt– naturgemäß – besonders häufig bei schmerztherapeutisch tätigen Kollegen auf. Über dieses
Krankheitsbild informiert Prof. Dr. med. Hans-Peter Volz, Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, Schloss Werneck.
as Konzept dieser Störungsgruppe, geht
auf Briquet (1859) zurück, der von ihm
verwendete Begriff war Hysterie. Er stellte eine
Liste somatischer und psychologischer Symptome zusammen, die er als typisch für diese
Form der Erkrankung (heute als Syndrom oder
Symptomencluster bezeichnet) ansah:
55Hypästhesie
55Anästhesie
55Verminderte sensorische Wahrnehmung
55Krämpfe
55Anfälle
55Hysterische Lähmung
Dieses Konzept wurde in der Folgezeit von
Freud und Beuer (1893, 1895) deutlich beeinflusst. Hier stand nicht die möglichst genaue
Beschreibung des klinischen Bildes im Vordergrund, vielmehr die tiefenpsychologische Erklärung der auftretenden Symptome.
Erst im späten 20. Jahrhundert – v. a. durch
die Einführung der modernen Diagnosemanuale – erfolgte die Aufspaltung dieses Syndroms in somatoforme und dissoziative (Konversions-) Störungen.
Diagnostische Einteilung nach der
ICD-10: Somatoforme Störungen
Unter der Obergruppe der somatoformen Störungen sind in der ICD-10 einzelnen Störungen zusammengefasst (Tabelle 1).
Definition
In der ICD-10 sind somatoforme Störungen
wie folgt definiert:„Charakteristikum ist die
wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen
trotz wiederholter negativer Ergebnisse und
Versicherung der Ärzte, dass die Symptome
nicht körperlich begründbar sind. Wenn somatische Störungen vorhanden sind, erklären sie
nicht die Art und das Ausmaß der Symptome,
das Leiden und die innerliche Beteiligung des
Patienten“ (angemerkt sei schon an dieser
Stelle, dass die vorgenannten Kriterien für die
Anwendung der Schlüsselnummer F45.41
[Chronische Schmerzstörung mit somatischen
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
und psychischen Faktoren] nicht anzuwenden
sind; für diese Störung gelten die dort genannten speziellen Kriterien).
Die diagnostischen Leitlinien für die Kerngruppe der somatoformen Störungen, für die
Somatisierungsstörung, sind wie folgt:
1. Mindestens zwei Jahre anhaltende multiple und unterschiedliche körperliche
Symptome, für die keine ausreichende somatische Erklärung gefunden wurde;
2. hartnäckige Weigerung, den Rat oder die
Versicherung mehrerer Ärzte anzunehmen, dass für die Symptome keine körperliche Erklärung zu finden ist;
3. eine gewisse Beeinträchtigung familiärer
und sozialer Funktionen durch die Art der
Symptome und das daraus resultierende
Verhalten.
Bei der somatoformen autonomen Funktionsstörung wird je nach dem hauptsächlich betroffenen Organsystem eine Unterteilung eingeführt.
Während bei der Somatisierungsstörung,
der undifferenzierten Somatisierungsstörung,
der somatoformen autonomen Funktionsstörung sowie der anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung das Empfinden körperlicher
Symptome im Vordergrund steht, ist dies bei
der hypochondrischen Störung etwas anders:
Hier steht entweder die Beschäftigung mit
dem Gedanken, an einer schweren körperlichen Erkrankung zu leiden, im Zentrum oder
empfundenen Symptomen wird eine überstarke Bedeutung beigemessen, diese Symptome werden als „abnorm“ oder „belastend“
erlebt.
Schmerz, der „durch einen physiologischen
Prozess oder eine körperliche Störung nicht
hinreichend erklärt werden kann“ charakterisiert ist, also dem 'Grundprinzip' der somatoformen Störungen folgt, dass keine oder keine hinreichend erklärende organische Ursache
vorhanden sein darf, handelt es sich bei der
zweiten Störung um eine „chronische
Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“. Hier nehmen die Schmerzen
ihren Ausgangspunkt in einem „physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung“, „psychischen Faktoren wird eine wichtige Rolle für Schwergrad, Exazerbation oder
Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen, jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren Beginn“.
Mit dieser Definition stellt sich die „chronische Schmerzstörung mit somatischen und
psychischen Faktoren“ in gewisser Weise
außerhalb der Kerndefinition der somatofor-
Tabelle 1: ICD-10-Einteilung
Anhaltende somatoforme
Schmerzstörung
Eine interessante Modifikation ergibt sich bereits im ICD-10 in der Unterteilung der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD10: F45.4) in 'anhaltende somatoforme
Schmerzstörung' (ICD-10: F45.40) und 'chronische Schmerzstörung mit somatischen und
psychischen Faktoren' (ICD-10: F45.41, s. o.).
Während die erstere Störung durch einen
modifiziert nach Dilling H et al., 2005
D
Hans-Peter Volz,
Werneck
F45: somatoforme Störung
F45.0 Somatisierungsstörung
F45.1 Undifferenzierte Somatisierungs störung
F45.2 Hypochondrische Störung
F45.3 somatoforme autonome Funktions störung
F45.30 kardiovaskuläres System
F45.31 oberer Gastrointestinaltrakt
F45.32 unterer Gastrointestinaltrakt
F45.33 respiratorisches System
F45.34 urogenitales System
F45.38 andere Organsysteme
F45.4 anhaltende somatoforme Schmerz störung
F45.40 anhaltende somatoforme
Schmerzstörung
F45.41 Chronische Schmerzstörung
mit somatischen und
psychischen Faktoren
F45.8 sonstige somatoforme Störungen
11
Psychosomatik
men Störungen, nämlich dass kein oder kein
ausreichend erklärendes Korrelat den Beschwerden zu Grunde liegen darf. Mit dieser
Unterform der Somatoformen Schmerzstörung wird konzeptionell der im DSM-5 dann
breit erfolgende Perspektivwechsel vorweggenommen.
Modifikation in der DSM-5
Das Diagnostic and Statistical Manual in seiner
fünften Revision der American Psychiatric Association ist letztes Jahr erschienen (DSM-5).
Dieses Manual hat, weit über die Grenzen der
USA hinaus, seit vielen Jahrzehnten eine große
Bedeutung, da es von vielen Psychiatern als
Kasuistik: Somatoforme Störungen
Frau L., 58 Jahre alt, kommt zur stationär-psychiatrischen Aufnahme, eingewiesen von
ihrem Hausarzt. Eindeutig liegt – basierend auf einer langjährigen Partnerproblematik
– eine mittelschwere bis schwere depressive Episode vor (ICD-10: F32.1/.2).
Anamnese und Befunde
Neben eindeutig diesem depressiven Syndrom zuordenbaren Beschwerden berichtet
die Patientin über multiple Körperbeschwerden:
55Immer wieder habe sie Kopfschmerzen, wobei einerseits eindeutig eine Migräne vorliegt,
daneben aber andererseits immer wieder bifrontale drückende Kopfschmerzen auftreten.
Eine breite diagnostische Abklärung (einschließlich kranielles MRT mit KM) sei durchgeführt worden, ohne dass ein Befund erhoben habe werde können. Es sei dann die Diagnose „Spannungskopfschmerz“ erfolgt.
55Daneben hätten sich wechselnde Rückenschmerzen seit ca. fünf Jahre eingestellt. Hier
habe die diagnostische Abklärung mehrere Bandscheibenprotrusionen, v. a. LWK1/2, LWK
3/4, ohne die Notwendigkeit einer operativen Intervention.
55Seit Jahren nehme die Patienten Omeprazol, zwischen 20 und 40 mg/Tag, da sie häufig
Aufstoßen und Sodbrennen habe. Gastrologische Untersuchungen hätten keinen pathologischen Befund erbracht.
55Daneben berichtet die Probandin über Darmprobleme. Sie habe häufig Darmgeräusche,
der Darm ziehe sich zusammen, sie habe dann dranghaften Stuhldrang und häufig
Durchfall. Sie könne dies überhaupt nicht kontrollieren.
Die genaue anamnestische Abklärung ergab, dass diese wechselhaften körperlichen
Beschwerden – wenngleich nicht so heftig – vor dem Beginn der Depression für mehrere Jahre bestanden habe. Trotz zahlreicher körperlicher Untersuchungen mit im wesentlichen negativen Resultaten blieben die Beschwerden hartnäckig bestehen. Hier
wurde die zusätzliche Diagnose einer Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.0) gestellt.
Therapie und Verlauf
Zunächst konzentrierten sich die behandelnden Ärzte auf die Therapie der Depression,
wobei ein multimodaler Behandlungsansatz mit im Vordergrund stehender psychodynamisch-orientierter Einzeltherapie und die Gabe des dualen Antidepressivums Duloxetin,
zunächst 60 mg/d, dann 90 mg/d, im Vordergrund stand. Daneben nahm die Patientin an
Themen-zentrierten Gruppentherapien, an der Ergo- und Sporttherapie teil. Zusätzlich
erhielt sie intensiv verschiedene physiotherapeutische Anwendungen.
Die depressiven Beschwerden besserten sich, insbesondere als auch zunehmend die
problematische Beziehung in das Zentrum der therapeutischen Bemühungen rückte.
Die multiplen Körperbeschwerden persistierten jedoch deutlich. Nunmehr wurde der
psychotherapeutische Ansatz in Richtung kognitiver Verhaltenstherapie mit dem Ziel,
einen besseren Umgang mit den somatoformen Beschwerden zu erwerben. Daneben
wurde die Duloxetin-Therapie durch Opipramol, das bis 200 mg, als Einzeldosis zur
Nacht gegeben, ergänzt. Hierunter kam es zu einer weiteren zögerlichen Besserung
der Beschwerden. Zwischenzeitlich wurde die Patientin, nach siebenwöchiger stationärer Therapie entlassen, ambulant jedoch in der Klinik weiterbehandelt. Nach nunmehr weiteren acht Wochen zeigte sich eine gute Besserung auch der somatoformen
Beschwerden.
Hans-Peter Volz, Werneck
12
richtungsweisend für diagnostische Manuale
gilt und wegen seiner häufig stringenteren
Operationalisierungsregeln klarere Diagnosen
erlaubt. Häufig lehnte sich in den vergangenen Jahren die international verbindliche ICDKlassifikation bei den psychiatrischen Störungen dann an die von der DSM-Klassifikation
vorgegebene Richtung an. Insofern sind, gerade für den Schmerztherapeuten, die dort nun
vorgenommenen Änderungen wichtig. Das
Konzept der Somatoformen Störungen erfuhr
durch die Einführung des DSM-5 eine deutliche konzeptionelle Änderung. Noch in der
DSM-IV(-R) und in der ICD-10 (Dilling et al.,
2005) war das wesentliche Charakteristikum,
dass der Betroffene – neben körperlichen Beschwerden – an keiner körperlichen Erkrankung, die diese Beschwerden erklären kann,
leiden durfte. Obwohl es schon immer Unterschiede zwischen dem DSM- und dem ICD-10System gab, war der Grundsatz, dass die Beschwerden kein (ausreichend erklärendes) organisches Korrelat haben dürfen, im Wesentlichen gleich.
Mit Einführung des DSM-5 ist hier eine gravierende Modifikation eingetreten. Nun ist es
nicht mehr notwendig, dass eine 'negative'
Feststellung getroffen werden muss, nämlich
dass„kein“ organisches Korrelat vorhanden ist,
vielmehr werden die Beschwerden unabhängig von einem eventuell zu Grunde liegenden
organischen Korrelat gewertet, es kommt nun
lediglich darauf an, wie die Beschwerden affektiv vom Patienten bewertet werden.
Wie Dimsdale und Levenson 2013 ausführen, sei nunmehr die Diagnose der 'Somatic
Symptom Disorder' basiert auf Kriterien, die
vorhanden seien, nicht auf das Fehlen eines
organischen Korrelats. Sie fahren fort, dass die
Tatsache, dass der Focus der Diagnose nun
nicht mehr auf unerklärten somatischen Symptomen liege, es möglich mache, dass das
Leiden des Patienten in den Mittelpunkt rücke,
ohne dass dessen Legitimation in Frage gestellt werde.
Allerdings ist es so, dass die abnorme Bewertung der verspürten Symptome das charakteristische Symptom ist, was aber auch bedeutet, dass die ehemals als Somatisierungsstörung diagnostizierten Patienten („medically unexplained symptoms“) und jene, die ein
organisches Korrelat aufweisen („medically
explained symptoms“) in einer diagnostischen
Kategorie zusammengefasst werden. Es geht
mehr um eine unangemessene, schlecht angepasste Reaktion auf körperliche Symptome
unabhängig von deren (pathophysiologischer) Erklärbarkeit.
Weiterhin hat sich auch die Sichtweise zur
vormals als hypochondrische Störung bezeich-
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Psychosomatik · DGS-Nachrichten
neten Erkrankung geändert. Während vormals
hierunter eine Störung verstanden wurde, bei
der eine übermäßige Beschäftigung mit der
Angst oder der Überzeugung, eine ernsthafte
Krankheit zu haben, verstanden wurde, wird
dieser Begriff in der DSM-5durch„Illness Anxiety Disorder“ (unter derselben Diagnosenummer 300.7 geführt) ersetzt; das A-Kriterium
lautet nun: „preoccupation with having or acquiring a serious illness“, im weiteren wird
dann darauf eingegangen, dass körperliche
Symptome entweder nicht vorhanden sein
oder nur gering ausgeprägt sein dürfen. Besonders wird nun der Aspekt Angst betont,
und zwar Angst weniger in Zusammenhang
mit empfundenen körperlichen Beschwerden,
als vielmehr in Zusammenhang mit der Bedeutung, Wichtigkeit und Ursache der Beschwerden stehend. Laut Mayou (2014) sei es ein
Fehler, diese Entität nicht gleich im DSM-System unter den Angststörungen zu führen.
ter und selektiver Kontrolle in einem Ausmaß
gestört ist, das von Tag zu Tag oder sogar von
Stunde zu Stunde wechselt. Es lässt sich nur
schwer feststellen, ob und in welchem Umfang dieser Funktionsverlust willkürlich kontrolliert werden kann.“
Hieraus lässt sich schon ableiten, dass das
von dieser Störung betroffene Patientenklientel eher selten in der Praxis von Schmerztherapeuten vorkommen wird. Die diagnostische
Entität ist wesentlich näher als die Somatoformen Störungen am Konzept der Hysterie im
Sinn v. a. von Freud und Breuer (s. o.). Die einzelnen Unterformen der dissoziativen Störungen (ICD-10: F44) sind:
55F44.0: dissoziative Amnesie
55F44.1: dissoziative Fugue
55F44.2: dissoziativer Stupor
55F44.2: Trance und Besessenheitszustände
55F44.4 – F44.7: dissoziative Störungen der
Bewegung und der Sinnesempfindung
55F44.8: sonstige dissoziative Störungen
(z. B. Ganser Syndrom, multiple Persönlichkeit[sstörung])
55F44.9: nicht näher bezeichnete dissoziative Störung
Dissoziative Störungen
In der ICD-10 wird folgende Charakterisierung
für diese Störungsgruppe gegeben: „Das allgemeine Kennzeichen der dissoziativen oder
Konversionsstörungen ist der teilweise oder
völlige Verlust der normalen Integration von
Erinnerungen an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der unmittelbaren Empfindungen, sowie der Kontrolle von Körperbewegungen. Normalerweise besteht ein hoher
Grad bewusster Kontrolle darüber, welche Erinnerungen und Empfindungen ausgeführt
werden. Von den dissoziativen Störungen wird
angenommen, dass die Fähigkeit zu bewuss-
Pharmakotherapie
Bei der Pharmakotherapie gibt es nur eine zugelassene Option für somatoforme Störungen,
Opipramol, das auch in einer doppelblinden
Studie im Vergleich zu Placebo untersucht
wurde (Volz et al., 2000). Daneben liegen auch
positive Placebo-kontrollierte Studien für Johanniskrautextrakte vor. Allerdings gibt es keine ausreichende Evidenz, um derzeit ein Medi-
kament für die Behandlung der anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung empfehlen zu
können. Ein Placebo-kontrollierter Nachweis,
welche Medikation bei dieser Störung empfehlenswert sein könnte, steht noch aus.
Aus der Erfahrung mit der Behandlung von
Schmerzpatienten (, die nicht der strikten diagnostischen Zuordnung, wie sie in der ICD-10
vorgenommen wird, genügt) kann abgeleitet
werden, dass sogenannte duale Antidepressiva, v. a. Duloxetin und Venlafaxin, gefolgt von
trizyklischen Antidepressiva, hier ist in erster
Linie Amitryptylin zu nennen, zu empfehlen
sind.
Angesichts der Häufigkeit von Somatoformen Störungen, insbesondere auch von anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen,
ist es erstaunlich und therapeutisch äußerst
unbefriedigend, dass für die letztgenannte
Störungsgruppe kein anerkannter pharmakotherapeutischer Standard existiert.
Fazit
Das Konzept der somatoformen Störungen
ist vergleichsweise einfach, wie auch unbefriedigend: somatische Beschwerden ohne
organisches Korrelat. Zukünftig wird wahrscheinlich `ohne organisches Korrelat´ an Bedeutung verlieren. Während für die Somatisierungsstörung pharmakologische Behandlungsoptionen existieren, ist dies für die anhaltende somatoforme Schmerzstörung
nicht der Fall. ■
Hans-Peter Volz, Werneck
Literatur beim Verfasser
In Würdigung und Anerkennung seines
Engagements für Patienten mit chronischem Schmerz verlieh die Deutsche
Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. PD
Dr. med. Roland Wörz, Bad Schönborn,
den Baden Württembergischen PALLIATIV- und SCHMERZPREIS 2014. Der Preis
wurde im Rahmen des Innovationsforums der Gesellschaft am 15. November
2014 in Berlin überreicht.
»Dr. Wörz hat durch seine umfangreichen
wissenschaftlichen Arbeiten wesentlich zur
Entwicklung des heutigen Verständnisses
von Chronifizierungsprozessen und chronischen Schmerzen beigetragen«, würdigt
Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe,
Präsident der Deutschen Gesellschaft für
Schmerzmedizin den Preisträger. Dr. Wörz
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
© Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V.
PD Dr. Roland Wörz erhält Baden-Württembergischen Palliativ und Schmerzpreis 2014
v.l.n.r.: Dr. Gerhard H.H. Müller-Schwefe, Erika Wörz, Dr. Roland Wörz, Dr. Christine Tober, TEVA GmbH
habe die vielfältigen Beeinträchtigungen
von Patienten und deren Folgen mit dem
von ihm geprägten und definierten Terminus „algogenes Psychosyndrom“ belegt und
sich für eine adäquate Begutachtung und
Würdigung der betroffenen Patienten ein-
gesetzt. «Bis heute kümmert sich Dr. Wörz
mit seinem umfangreichen Wissen, seinen
vielfältigen Fähigkeiten und seiner Empathie um die betroffenen Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen.«, so
Dr. Müller-Schwefe.
R/DGS
13
Palliativmedizin: Der besondere Fall
Die Amyotrophe Lateralsklerose
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine degenerative Erkrankung des
motorischen Nervensystems. Patienten leiden im Endstadium an Dyspnoe, Dysphagie, Sprachstörungen und inkontinenz. Eine palliativmedizinische Betreuung
ermöglicht ein menschenwürdiges Begleiten, schildert Norbert Schürmann,
Departmentleiter der Abteilung für Schmerztherapie und Palliativmedizin,
Moers, anhand eines Fallbeispiels aus seiner Klinik.
chen und Möglichkeiten der Therapien sowie
deren Verläufe diskutiert.
Diagnose, Symptome, Behandlung
55Dysphagie: Als Mahlzeiten wurden JoNorbert Schürmann,
Duisburg
A
LS ist nicht heilbar und hat eine Inzidenz
von 3 bis 8 pro 100.000 Einwohner. Dabei
sind Männer im Verhältnis (1,5:1) häufiger betroffen als Frauen. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 56. und 58. Lebensjahr. Die Ätiologie ist unklar, genetische Faktoren werden bei
den meisten ALS Patienten festgestellt.
Der Fall aus der Schmerzklinik
Herr B. ist 52 Jahre alt, seit seiner Diagnose vor
sechs Jahren hat er viel über die Erkrankung
nachgedacht, Betreuungs- und Patientenverfügung wurden frühzeitig von ihm auf den
Weg gebracht. Er hat darüber entschieden,
welche medizinischen Maßnahmen beim Fortschreiten der Erkrankung für akzeptabel und
gewünscht sind, aber auch von ihm abgelehnt
werden.
Stationäre Aufnahme
Herr B. wünscht die stationäre Aufnahme auf
Grund von zunehmender Dyspnoe und Dysphagie, die es ihm immer schwieriger machen,
bei fortgeschrittener muskulärer Schwäche der
Schluck- und Atemmuskulatur, Sekret zu mobilisieren. Der zunehmende Speichelfluss quält
den Patienten: Zum einen kommt es durch den
erhöhten Bronchial-Sekretfluss zu Infekten der
Bronchialwege und bei zunehmendem Verlust
der Körperkraft zu einer verstärkten Dyspnoe.
Zum anderen ist das Herauslaufen des Sekretes
bei offenem Mund für den Patienten sehr unangenehm. In ausführlichen Gesprächen mit
ihm und in Gegenwart seiner Ehefrau wurden
Wünsche, Sorgen und Erwartungen bespro-
14
ghurts und Puddings angeboten, die der
Patient gut schlucken konnte. Auf feste
oder „krümelige Ernährung“ wurde verzichtet.
55Neuroprotektion: Zur neuroprotektiven
Therapie war der Patient bereits mit Riluzol, einem Glutamat-Antagonist neurologisch eingestellt. Laut Studien führt die
Applikation zu einer Lebensverlängerung
im Mittel um drei Monate.
55Dyspnoe: Um die zähe Verschleimung des
Bronchialtraktes zu vermindern, wurde
dem Patienten 1.000 ml Ringer Lösung intravenös täglich appliziert. Auf Acetylcysteingaben wurde auf Grund mangelnder
Effizienz verzichtet. Um die Sekretproduktion zu vermindern, wurde Buscopan s. c.
bei Bedarf verordnet. Geringe Dosen von
Morphin (5 mg s. c.) führten zu einer suffizienteren Atmung. Auf Sauerstoffgaben
wurde verzichtet, weil diese den Atemantrieb reduzieren und den Patienten
schneller in eine Hyperkapnie führen.
55Zunehmende Sprachstörungen: Eine Dysarthrie kann zum vollständigen Verlust
der Kommunikationsfähigkeit führen. Zu
Beginn kann eine logopädische Therapie
sehr hilfreich sein.
55Unspezifische Rückenschmerzen: Herr B.
gab bei Aufnahme noch leichte Schmerzen im HWS und LWS Bereich an. Diese
standen aber nicht im Vordergrund der
Behandlung. Die analgetische Behandlung mit einem 25 µg Fentanyl-Pflaster
(Wechsel alle 3 Tage) wurde fortgeführt.
55Allgemeiner Kraftverlust: Regelmäßige
Krankengymnastik, um sekundäre Immobilisationsschäden zu vermeiden.
55Harn und Stuhlinkontinenz: Häufige und
intensive Pflege und frühzeitige Anlage
eines suprapubischen Dauerkatheters.
Depressionen und Angstzustände
Unruhe und Angstzustände wurden mit geringen Morphindosen (5 mg s. c.) und Lorazepam
(Tavor expidet®) erfolgreich kupiert. Die Atmung wurde suffizienter und der Patient ruhiger und entspannter. Der Nachtschlaf konnte
deutlich verbessert werden.
Therapie und Verlauf
Durch Gespräche mit den Ärzten, der Psychoonkologie und der Seelsorge konnte ein gemeinsames, individuelles palliatives Konzept
erarbeitet werden. Die Angst, dass er und seine
Frau mit Fortschreiten der Erkrankung nicht
mehr in Lage seien, dieses physisch und psychisch zu kompensieren, konnte im Gespräch
erörtert werden und auch über die Angst vor
dem Ersticken, dass dies bei vollem Bewusstsein des Patienten geschieht. Eine palliative
Sedierung wurde angeboten. Herr B. hatte in
seiner Patientenverfügung jede Form von lebensverlängernden Maßnahmen abgelehnt.
Hierzu gehörten auch die künstliche Beatmung und die Versorgung durch parenterale
Ernährung.
Die palliative Sedierung
Eine palliative Sedierung sollte nach Absprache
mit Herrn B. erst eingesetzt werden, wenn die
Symptomlast der Dyspnoe soweit überwiegt,
dass der Patient im Finalstadium eine medikamentöse Unterstützung zur Sedierung benötigt. Zunächst besserte sich der Zustand des
Patienten. Nach einer Woche jedoch verschlechterte sich der Zustand zusehends, die
Muskelkraft ließ nach und das Atmen und Abhusten des Sekretes fielen dem Patienten deutlich schwerer.
Ein Morphin®-/Dormicum®-Perfusor mit
30 mg Morphin + 5 mg Dormicum wurde i. v.
angelegt und das Fentanylpflaster entfernt.
Der Perfusor war so eingestellt, dass 2 ml/h
kontinuierlich über die Vene zugeführt wurden. Bei einer weiteren Verschlechterung der
Symptomatik konnte ein Bolus von 2,5 ml i.v.
abgerufen werden. Herr B. starb in der achten
Nacht auf unserer Palliativstation. Die Ehefrau
war zu diesem Zeitpunkt zugegen. Zum Zeitpunkt des Todes war unser Patient ausreichend
sediert, so wie er sich das gewünscht hatte.
Epilog
Suizide sind bei Patienten mit ALS selten. In der
aktuellen Diskussion über aktive Sterbehilfe
und assistierter Suizid zeigt dieses Fallbeispiel,
welche Möglichkeiten die palliative Versorgung hat, um ein menschenwürdiges Begleiten bis hin zum Tod zu bieten. ■
Norbert Schürmann, Duisburg
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
DGS-Veranstaltungen
März 2015
DGS-Veranstaltungen
Weitere Informationen zu den Seminaren erhalten Sie über die Geschäftsstelle
der DGS Oberursel, Tel.: 06171/286060, Fax: 06171/286069, E-Mail:
[email protected]. Die aktuellsten Informationen zu den
Veranstaltungen und den Details finden Sie im Internet unter
www.dgschmerzmedizin.de mit der Möglichkeit zur Online-Anmeldung.
Curriculum Spezielle Schmerztherapie, Block B
02.03.–03.03.2015 in Frankfurt am Main;
Geschäftsstelle DGS
Kein Kopfzerbrechen – Pragmatische Diagnose
und Therapie von Kopfschmerzen in der Praxis
04.03.2015 in Celle;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Celle
Fußschmerz – konservativ orthopädische
Behandlungsmöglichkeiten
04.03.2015 in Osnabrück;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Osnabrück
Der Deutsche Schmerz- und Palliativtag 2015 –
PRAKTISCHE SCHMERZTHERAPIE und
PALLIATIVVERSORGUNG: Im Fokus:
Schmerzmedizin – dem Leben Zukunft geben
04.03.–07.03.2015 in Frankfurt am Main;
Geschäftsstelle DGS
Curriculum Algesiologische Fachassistenz –
Kursteil 1 Einführungsveranstaltung
07.03.2015 in Frankfurt am Main;
Geschäftsstelle DGS
Update Migräne
11.03.2015 in Bielefeld;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Bielefeld
Alternative Methoden in der Schmerztherapie
11.03.2015 in Haan;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Haan
Dezember 2014
CME-Update Schmerz: Arzneimittelinteraktionen:
Neues aus der pharmakologischen
Schmerz-Forschung
01.12.2014 in Ludwigshafen;
Regionales Schmerzzentrum DGS - Ludwigshafen
Journal report
18.12.2014 in Bad Säckingen;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen
Januar 2015
Funktionelle Schmerztherapie I
15.01.2015 in Bad Säckingen;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen
Lübecker Schmerztherapie – Praxisseminar –
Schmerzupdate 2015
17.01.2015 in Lübeck;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Neustadt/
Holstein
Update Kopfschmerzbehandlung
21.01.2015 in Bad Mergentheim;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Mergentheim
Palliativbasiskurs
26.01.–31.01.2015 in Moers;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Duisburg
Tumor bedingte Fatigue
27.01.2015 in Solingen;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Solingen
Der Notfall in der Praxis – Reanimationsmaßnahmen, praktische Übungen am Dummy – Für Ärzte
und medizinisches Personal
28.01.2015 in Halle;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Februar 2015
CME-Update Schmerz:
Mitochondriale Schmerztherapie
02.02.2015 in Ludwigshafen;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Ludwigshafen
Aktuelle Erkenntnisse zur Leberverträglichkeit /
Toxizität von Analgetika
11.02.2015 in Chemnitz;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Chemnitz
FMS-News: Fibromyalgie – Was gibt es Neues?
14.03.2015 in Stade;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Stade
Schmerzen bei peripheren Durchblutungsstörungen
18.03.2015 in Bad Lippspringe;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Lippspringe
Update Schmerztherapie und Palliativmedizin
19.03.2015 in Olpe;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Olpe
Ambulante multimodale Schmerztherapie
11.02.2015 in Fürth;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Fürth
Hypnose / Hypnotherapie I
19.03.2015 in Bad Säckingen;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen
Psychosoziale Aspekte bei chronischen Schmerzen
11.02.2015 in Stade;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Stade
Curriculum Spezielle Schmerztherapie, Block C
21.03.–22.03.2015 in Frankfurt am Main;
Geschäftsstelle DGS
Funktionelle Schmerztherapie II
19.02.2015 in Bad Säckingen;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Säckingen
Schmerztherapie bei Palliativpatienten
25.03.2015 in Bad Salzungen;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Bad Salzungen
Curriculum Biofeedback-Therapeut DGS /
Biofeedback-Trainer DGS –
Grundlagenseminar 1
21.02.–22.02.2015 in Frankfurt am Main;
Geschäftsstelle DGS
Viszeraler Schmerz Teil I: Abdominal
25.03.2015 in Gießen;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Gießen
Praktische und praxisrelevante Aspekte aus dem
Blickwinkel eines ärztlichen Psychotherapeuten
25.02.2015 in Halle;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Halle Saale
Curriculum Spezielle Schmerztherapie, Block A
28.02.–01.03.2015 in Frankfurt am Main;
Geschäftsstelle DGS
Schmerz und Sport
28.02.2015 in Lüdenscheid;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Lüdenscheid
Interventionelle Therapie nach Umstellung
des EBM – erste Erfahrungen
25.03.2015 in Herford;
Regionales Schmerzzentrum DGS – Herford
Update Rückenschmerzen – Update Chronische
Kopfschmerzen
25.03.2015 in Kassel;
Regionales Schmerzzentrum DGS - Kassel
Curriculum Biofeedback-Therapeut DGS /
Biofeedback-Trainer DGS – Grundlagenseminar 2
28.03.–29.03.2015 in Frankfurt am Main;
Geschäftsstelle DGS
15
Kongresse
Retardiertes Oxycodon und Naloxon
lindert chronische Rückenschmerzen
Bei chronischen Rückenschmerzen ist die Fixkombination aus retardiertem Oxycodon und Naloxon stärker analgetisch wirksam als Oxycodon und Morphin
und zudem besser verträglich. Zu diesem überraschenden Ergebnis kam eine
nicht-interventionelle Studie im PROBE-Design der Deutschen Gesellschaft für
Schmerzmedizin (DGS), die beim Weltkongress in Buenos Aires als Poster und im
Rahmen des Deutschen Schmerzkongresses in Hamburg erstmals der Presse vorgestellt wurde. Zudem besserten sich unter der Fixkombination die Lebensqualität und die Alltagsaktivitäten deutlich.
A
Hocheffektive Analgesie
Nach Einstellung auf retardiertes Oxycodon/
Naloxon (Targin®) sank die Schmerzintensität
während der dreimonatigen Erhebung deutlich von 45,5 auf 17,8 auf der visuellen Analogskala (VAS) (0=keine Schmerzen,
100=stärkste vorstellbare Schmerzen). Das
entspricht einer signifikanten Verbesserung
von 60,9 % (p<0,001). Das individuelle ge-
16
Vom 6. bis 11. Oktober 2014 fand in Buenos
Aires der 15th World Congress on Pain statt
© http://iasp.files.cms-plus.com/images/buenos-aires.jpg
uch die überarbeitete Version der Leitlinie zum Langzeiteinsatz von Opioiden
bei nichttumorbedingten Schmerzen LONTS-2
behauptet, dass Opioide kaum wirksam und
nur geringfügig die Funktionalität und Lebensqualität verbessern. Opioide besäßen
demnach zu viele Nebenwirkungen und daher
würde die Therapie meist vorzeitig abgebrochen. Alle Opioide werden in der neuen S3Leitlinie, kritisierte Dr. Michael Überall, DGSVizepräsident, Nürnberg, „über einen Kamm“
geschert. Mit einer neuen prospektiven, randomisierten, offenen Studie mit verblindeten
Endpunkten (PROBE-Design, open-label, blinded endpoint, ein 1992 entwickeltes Design
für Alltagsdaten) wurden diese Thesen in
einem praxisnahen Design überprüft. 901 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen
wurden aufgenommen, deren vorherige Therapie mit Nicht-Opioiden oder Opioiden der
WHO Stufe 2 nicht ausreichend war. Die Ärzte
konnten die Randomisierung durchbrechen
und dem Patienten ein anderes Opioid zuordnen. Dies erfolgte in 49,7 % der Fälle. In jedem
Therapiearm waren 300 Patienten. Das Durchschnittsalter der Patienten lag bei 46 Jahren,
Frauen waren etwas häufiger betroffen und
überwiegend handelte es sich um Rückenpatienten, die länger als vier Monate daran litten
und zu 70 % mit WHO-Stufe 2 Opioden vorbehandelt waren.
höher, das heißt die Darmfunktion war stark
eingeschränkt. Dies deckt sich mit älteren Studien, die die überlegene Verträglichkeit der
Fixkombination – auch im Hinblick auf Übelkeit, Bauchschmerzen und Schwindel – verglichen mit Tramadol, Tilidin/Naloxon, Fentanyl,
Morphin und Oxycodon gezeigt hatten.
Höhere Lebensqualität
Eine adäquate Analgesie verbunden mit einer
guten Verträglichkeit erhöht die Lebensqualität. Diese steigerte sich unter Einsatz der Fixkombination signifikant (p<0,001). Zu Studienbeginn lag die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch den Schmerz bei den drei
Opioidgruppen auf einem ähnlichen Niveau
von etwa 17. Innerhalb von zwölf Wochen
stieg diese unter Oxycodon/Naloxon um
78,9 % auf 30,6, unter Oxycodon um 60,8 % auf
27,5 und unter Morphin um 53,5 % auf 26,4.
Ähnlich verhielt es sich mit der Fähigkeit, alltägliche Aktivitäten durchzuführen. Hier sank
die schmerzbedingte Einschränkung bei den
mit der Fixkombination behandelten Patienten um 56,6 % von 42,4 auf 18,4. Unter Morphin und Oxycodon verringerten sich die Werte um etwa 45,0 % (von 41,7 auf 23,3 bzw. von
42,3 auf 22,8).
Weniger Therapieabbrüche
wünschte Behandlungsziel war 21 und wurde nur mit der Fixkombination erreicht. Unter
Oxycodon sanken die Schmerzen um 47,5 %
(von 45,7 auf 24,0) und unter Morphin um
46,1 % (von 46,0 auf 24,8). Stark wirksame
Opioide und insbesondere die Fixkombination aus Oxycodon/Naloxon sind somit hoch
wirksame Analgetika beim chronischen Rückenschmerz, so Überall. Bei mehr als der
Hälfte der Patienten kam es darunter zur starken analgetischen Wirkung mit über 50 %
Schmerzlinderung.
Sehr gut verträglich
Genauso relevant für den Therapieerfolg wie
die Analgesie ist die Verträglichkeit. Nebenwirkungen können die Compliance der Patienten
stark beeinträchtigen und zum vorzeitigen
Therapieabbruch führen. Die mit dem Bowel
Function Index (BFI) gemessene Darmfunktion
lag zu Studienende bei der Behandlung mit
Oxycodon/Naloxon bei 30,1 und somit im
Normbereich. Unter Morphin und Oxycodon
waren die Werte mit 53,6 und 48,3 deutlich
Die Vorteile von Oxycodon/Naloxon spiegeln
sich auch in der Dauer der Studienteilnahme
wider. Mit durchschnittlich 10,2 Wochen war
die Therapietreue unter der Kombination
deutlich länger als in der Morphin- und Oxycodon-Gruppe mit 9,0 bzw. 9,3 Wochen. Zudem war die Anzahl der Patienten, die die
Behandlung vorzeitig abgebrochen hatten,
bei Gabe der Fixkombination signifikant
niedriger: Während unter Morphin 129 und
unter Oxycodon 115 Patienten die Therapie
beendeten, waren es unter der Fixkombination nur 76 (p<0,001). In der Daueranwendung ist die opioidinduzierte Obstipation das
größte Problem. Die Fixkombination führt
wesentlich seltener dazu und daher brechen
auch die Patienten deutlich seltener diese
Therapie wegen Verträglichkeitsproblemen
ab. Den beiden anderen Opioidanalgetika
war die Fixkombination in seiner Wirkung auf
Schmerz, Funktion und Lebensqualität klinisch relevant überlegen. Den analgetischen
Wirkunterschied zugunsten der Fixkombination erklären laut Überall zum einen eine verbesserte Resorption des Wirkstoffes Oxycodon
aufgrund der geringeren Obstipation und die
zusätzlichen analgetischen zentralen Effekte
des ultraniedrig dosierten Naloxons.
■
Stephanie Kraus, Stephanskirchen
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Kongresse
Schmerztherapie befreit?
Abhängigkeit zeigen 50 % eine psychiatrische
Komorbidität. An einem Beispiel seiner Praxis
illustrierte Poehlke, wie ein Opioidentzug in der
Schmerzambulanz gelingt: Eine 53-jährige Angestellte erhielt seit Jahren wegen chronischer
Schulterschmerzen Tilidin/Tramadol, Tilidin bis
zu 800 mg/d mit zunehmenden Nebenwirkungen und zur Besserung der Stimmung Dosiserhöhung bis 1.200 mg Tramadol. Am Arbeitsplatz kam es durch Minderung der Konzentration und Müdigkeit zu Abmahnungen, sie
wirkte vor dem Entzug passiv und antriebsgemindert, klagte über Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Sie wurde auf 8 mg der Kombination eingestellt, ihre Beschwerden weiter
diagnostisch abgeklärt (Schlafapnoe-Syndrom
und Testosteronmangel) und die Therapie
konnte schrittweise in der Dosis wieder reduziert werden. Um die Vorteile der Substanz nutzen zu können, muss allerdings einer im
schmerztherapeutischen Team die Qualifikation für Suchtmedizin haben. Ein erfolgreicher
Entzug erfordert zusätzlich Information/Schulung, klare Zielvereinbarungen und begleitende Alternativen (Physiotherapie, Ergotherapie,
Edukation, multimodale Programme). Buprenorphin hat aufgrund seines partiellen Agonismus ein niedrigeres Suchtpotenzial und keine
euphorisierende Wirkung im Vergleich zu den
schnell anflutenden Vollagonisten, daher eignet es sich besonders für den Entzug opioidabhängiger chronischer Schmerzpatienten. StK
Unter dem Motto „Schmerztherapie befreit – befreit Schmerztherapie“ trafen
sich im Hamburger Congress Center vom 22. bis 25.10.2014 über 2.500 Schmerzexperten, Forscher, Wissenschaftler, Ärzte, Psychologen, Pflegende und Physiotherapeuten. Intensiv wurden die Beschränkungen und Tabus erörtert, die die
Behandlung von Schmerzerkrankungen erschweren. Auch die Gefahren von
Medikamentenmissbrauch wurden thematisiert.
I
mmer mehr Patienten erhalten weltweit
Opioide und es werden auch immer mehr
Patienten von dieser Medikation psychisch abhängig oder missbrauchen sie unter anderer
Indikation.
Was tun bei Opioidfehlgebrauch?
Ein Verdacht auf Fehlgebrauch der Opioide
sollte, laut Dr. Dirk Risack*, Nürnberg, immer
dann vermutet werden, wenn Arzttermine
versäumt werden, Dosierungen eigenmächtig
erhöht werden, ein Rezepthopping besteht,
die Patienten suchtkrank sind oder Abhängigkeitsprobleme in ihrer Familie bestehen. Risikofaktoren sind auch funktionelle Schmerzsyndrome mit ihrer hohen Prävalenz von affektiven Störungen, wenn eine maladaptive
Krankheitsverarbeitung besteht, die Kranken
hilflos oder depressiv sind, eine hohe psychische Komorbidität und eine Stressvulnerabilität besteht. Die Opioide werden dann oft wegen innerer Unruhe, zur Schlafinduktion und
vor allem wegen ihrer psychischen Effekte ein-
genommen. Die Schmerzlinderung ist bei
Fehlgebrauch weniger bedeutsam wie die Euphorie, die Energiesteigerung, Beruhigung
und die Schlafverbesserung. Aufgrund der
Missbrauchsgefahr sollte eine Substitution bei
gefährdeten Patienten laut Risack auf keinen
Fall aus Gefälligkeit oder Hilflosigkeit heraus
fortgeführt werden. Die Warnsignale sollten
früh beachtet werden und die Therapie entweder stationär oder ambulant interdisziplinär
beendet werden.
Die Kombination aus dem partiellen Opioidagonisten Buprenorphin und dem Opioidantagonisten Naloxon (Suboxone®), hat sich in
der Suchtmedizin zum Opioidentzug bestens
bewährt, so Dr. Thomas Poehlke, Münster. Die
Substanz liegt in zwei Dosierungen
2 mg/0,5 mg oder 8 mg/2 mg als Sublingualtablette vor. Sie erlaubt die Therapie der OpioidEntzugssymptome, vermeidet das Craving,
verbessert die Behandlungscompliance und
vermeidet Euphorisierung bei hoher Vigilanz.
Nach seinen Erfahrungen an 360 Patienten mit
* nach Vorträgen beim Lunchsymposium Reckitt Benchiser Pharmaceuticals, Schmerzkongress 2014
Im Rahmen des Deutschen Schmerzkongresses in Hamburg erhielt die
Gesundheits- und Krankenpflegerin
Regina Frommherz-Sonntag, Freiburg,
die Auszeichnung„Pain Nurse des Jahres
2014“. Sie wurde aufgrund ihres langjährigen Engagements im Schmerzmanagement und zahlreichen von ihr initiierten
Projekten geehrt. Die an der Klinik für
Tumorbiologie in Freiburg tätige Pain
Nurse konnte den wissenschaftlichen Beirat durch eine Vielzahl von Projekten im
Bereich Schmerzmanagement überzeugen. Die Auszeichnung wurde 2014 zum
dritten Mal – gesponsert von Mundipharma – vergeben. Aufgerufen zur Teilnahme
war Pflegefachpersonal, das heißt Pain
Nurses, algesiologisches Fachassistenzpersonal sowie Pain Care Assistants.
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Aus eigener Erfahrung weiß die Preisträgerin Frommherz-Sonntag, dass Pflegende
maßgeblich zum Therapieerfolg beitragen
können. Zu ihren herausragenden Leistungen zählt der Aufbau und die Weiterentwicklung der interdisziplinären Abteilung
Schmerz- und Palliativmedizin in der Klinik
für Tumorbiologie. Zudem ist sie für die
Inhalte und die Durchführung einer Fortbildungsreihe für Pflegefachkräfte verantwortlich. Sie hat die Anwendung von komplementären Methoden, wie zum Beispiel
Wickel und Auflagen, Aromatherapie, und
Heilpflanzenanwendungen, etabliert. Auch
das Pflegekonzept der Klinik für Tumorbiologie wurde von ihr mitentwickelt und die
Integration von Expertenstandards umgesetzt. Regina Frommherz-Sonntag initiiert
Schmerzkonferenzen innerhalb der Klinik
© Mundipharma
Schmerzkongress 2014: „Pain Nurse des Jahres 2014“
Regina Frommherz-Sonntag aus Freiburg ist
„Pain Nurse des Jahres 2014“
und nimmt an Qualitätszirkeln teil. Zudem
setzte sie sich sehr für die Etablierung eines
Palliative Care Konzepts ein.
StK
17
Internet
User Stalking – werde ich im Netz
beobachtet?
Wer sich derzeit im Netz beobachtet fühlt, den trügt sein Gefühl nicht sonderlich! Nicht nur die ständigen Nachrichten von staatlichen Einrichtungen, die
im Netz über uns lesen, oder der Personalchef, der bei einer Bewerbung den
Facebookaccount des Bewerbers durchschaut. Auch die Werbeindustrie scannt
uns permanent, um noch effektiver Werbung an uns heranzutragen. Schon das
Besuchen einer Homepage verrät ziemlich genau, wer wir sind und was wir in
der letzten Zeit im Netz so getrieben haben. Über die Risiken des Internets informiert Hans-Jörg Andonovic-Wagner, der Webmaster DGS, AOS-Design, Eislingen.
präsentieren. Schauen Sie sich z. B. ein Hotel
bei Holidaycheck an, dann wird eine Werbeanzeige dieses oder eines ähnlichen Hotels immer wieder auf den unterschiedlichsten Webseiten eingeblendet werden, die Sie besuchen.
Das funktioniert nicht nur mit Reisen sondern
mit so gut wie allen Artikeln, die es bei den
populären Onlineshops zu kaufen gibt. Suchen Sie z. B. bei Amazon nach einem bestimmten Fernseher, dann erscheint nicht Ihr
Hotel sondern der Fernseher auf den dynamischen Werbeplakaten.
Hans-Jörg
Andonovic-Wagner,
Eislingen
B
eginnen wir mit dem Begriff „Fingerprinting“. Wie der Name schon sagt, wird ein
digitaler Fingerabdruck von Ihrem System erstellt. Dieser besteht aus verschiedenen Eckdaten, die der Browser bei jedem Klick auf
einer Homepage mitliefert. Kombiniert mit
der IP-Adresse eines Computers kann ein wiederkehrender Besucher recht gut identifiziert
werden.
Zielgruppenmarketing vom Feinsten!
Der Echoeffekt bei der Produktsuche ist ein
nützliches Tool, um den Besuchern wiederholt
Ihre Produkte vor Augen zu führen. Dies geschieht bei Amazon z. B. per Email nach ein bis
zwei Wochen oder mit dynamischen Werbebannern auf verschiedenen anderen Homepages. Der Effekt ständiger Wiederholungen
ist in der Werbebranche unumstritten – irgendwann greift der Verbraucher dann bewusst oder unbewusst zu. Des Weiteren ent-
Was gebe ich beim Anklicken
einer Webseite von mir Preis?
18
Durch seinen digitalen Fingerabdruck
kann ein Nutzer gut identifiziert werden
© luther2k - Fotolia
In Google Analytics kann praktisch in Echtzeit
verfolgt werden, welche Schritte von wem auf
der Homepage unternommen werden. Es gibt
auch Programme, die da noch um einiges weitergehen – bis über den Rand der datenschutzrechtlichen Legalität hinaus.
Cookies werden benutzt, um z. B. Suchanfragen zwischenzuspeichern, um Ihnen beim
nächsten Besuch des Onlineshops oder der
Website die richtigen Artikel vorzuschlagen.
Dazu wird auf Ihrem Rechner eine kleine Datei
abgelegt, die entsprechende Informationen
enthält. Beim nächsten Besuch wird die Datei
ausgelesen und so ergibt sich ein Bild über das
Verhalten der Besucher auf der Webseite.
Übergreifende Verfahren wie z. B. Google
Adsense benutzen diese Aufzeichnungen über
Ihr Suchverhalten, um bestmögliche Werbeanzeigen – auf Sie persönlich zugeschnitten – zu
steht der Eindruck, dass ein Produkt massiv
beworben wird und es gerade „der Renner“
sein muss. Hier spielt noch der„MeeToo“ Effekt
ordentlich mit.
Social Marketing: Höchste Trefferquote
Im Gegensatz zu den Echosystemen, wo ich
den Inhalt praktisch durch meine Aufrufe selber bestimme, lösen die Sozialen Netzwerke
wie z. B. Facebook die Anzeigen nach verschiedenen demographischen Merkmalen, Interessensgebieten und nach Regionalität. Des
Weiteren wird nicht der Computer als Werbemedium benutzt (benutzen mehrere Personen mit verschiedenen Interessen denselben
Computer, dann verwässern die Echosysteme), sondern jeder wird in seinem persönlichen Profil bewertet. Gehe ich z. B. verstärkt
auf Seiten mit Pferden, bekomme ich den passenden Sattel oder Reitstunden angeboten.
Ab einem bestimmten Alter bekomme ich den
Treppenlift zu Gesicht, im Moment werden bei
mir persönlich verstärkt Auto- und Kontaktanzeigen geschaltet. Ein Mann meines Alters
muss nach den Facebook Gesichtspunkten
also Single und autoverliebt sein. Setze ich
meinen Status auf „In einer Beziehung“, verschwinden die Kontaktanzeigen weitestgehend und Werbeanzeigen für z. B. romantische
Lokale werden eingeblendet. Facebook ist
werbetechnisch also in der Lage auf meine
Vorlieben zu reagieren und mir für jede Lebenssituation die richtige Werbung zu präsentieren.
Gibt es den „Alleswisser“?
Es gibt verschiedene große Konzerne, die jeweils in ihrem Bereich recht gut über die User
Bescheid wissen. Microsoft weiß recht genau,
was Sie auf Ihrem Rechner installieren und wie
der Rechner von Ihnen benutzt wird. Apple hat
Daten aller Iphonebesitzer – welche Apps
habe ich installiert, welche Musik höre ich mir
an etc. Google hat in meinen Augen das größte Wissen über die Onlinenutzer, da die Suchmaschine von nahezu jedem benutzt wird und
unsere Suchanfragen über das Fingerprinting
recht gut zugeordnet werden können. Facebook ist in der Lage unsere sozialen Beziehungen einzusehen – wer kann mit wem etc. aber einen wirklichen Generalisten gibt es
bisher noch nicht. Das Wissen verteilt sich in
die verschiedenen „Web-Kontinente“.
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Internet · Praxismanagement
Vergisst das Internet irgendwann?
Eigentlich nicht! Warum auch? Immer leistungsfähigere Server und Speichermedien
kommen mit der Datenflut ganz gut zurecht.
Die Frage ist eher – bringt es etwas, die Daten
ewig zu speichern. Irgendwann habe ich so
viel Informationen, dass ich nicht mehr überblicken kann, was zählt und was nicht. In
Deutschland müssen z. B. Serverlogfiles nach
80 Tagen gelöscht werden. Ich darf aber eine
Auswertung der Daten bereitstellen, was diesen Mechanismus datenschutztechnisch wei-
testgehend aushebelt. In anderen Ländern ist
der Datenschutz um einiges lockerer. Hier wird
munter über die gesamte Zeit hinweg gesammelt und gespeichert.
Gibt es einen effektiven/dauerhaften
Schutz?
Derzeit sind verschiedene Programme auf
dem Markt, mit denen man die eigene Identität relativ gut verdunkeln kann. Neben einem
guten Virenscanner gehört schon eine Firewall
zum guten Ton bei aktiv genutzten Rechnern
und eine Software, die den Austausch von
Daten verhindert oder uns zumindest fragt, ob
wir dem Anbieter der Homepage Daten übermitteln sollen. Die Marktführer der Antivirensoftwares haben auf diesen Trend schon lange
reagiert und bieten umfassende Schutzpakete
an. Wer professionellen Schutz will, der sollte
nicht auf die Gratisanbieter zurückgreifen. Deren Erfolgszahlen sind oft dürftig bzw. die
Schutzfunktion ist umstritten! ■
Hans-Jörg Andonovic-Wagner, Eislingen
Finanzbuchhaltung:
Souverän und selbst
Die Parallele zwischen Schriftkundigen im Mittelalter und Steuerberatern des
21. Jahrhunderts heißt „Outsourcing.“ Wer vor der Alphabetisierung etwas
schriftlich mitzuteilen hatte, musste zum Spezialisten. Der Weg zum Steuerberater wird allerdings zunehmend zur Option. Lohnbuchhaltung und/oder Finanzbuchhaltung outsourcen oder selber machen? Argumente für das Do-it-yourself
schildert Dr. med. Silvia Maurer, DGS-Leiterin Bad Bergzabern.
D
ie vergangenen Jahrzehnte brachten
uns einen dramatischen Do-it-yourselfTrend. Nolens volens holen wir unser Bargeld
aus dem Bankomat, buchen Flüge online und
tanken selber, um nur drei von zahlreichen Beispielen zu nennen. Diese Tendenz erreicht
Arztpraxen und Privatkliniken, wie überall mit
dem üblichen Für und Wider. Lohnbuchhaltung und/oder Finanzbuchhaltung outsourcen oder selber machen? Ein scharfer Blick auf
die konkreten, eigenen Bedingungen lohnt
sich. Der Zeitaufwand für eine sorgfältige Prüfung ist gut investiert, um eine qualifizierte
Entscheidung zu treffen. Worauf ist zu achten?
Zahl der Angestellten
Ab vier medizinischen Mitarbeitern, neigt sich
das betriebswirtschaftliche Pendel in Richtung
selber machen. Steuerberater berechnen hierfür bis zu € 15 pro Monat und Mitarbeiter. Im
Vergleich hierzu sinken die Kosten mit einer
soliden Software um Faktoren. Gab es früher
das Argument des Meldeaufwandes, so werden heute von fortschrittlichen Herstellern
automatisierte Meldungen zur Verfügung gestellt. Ein Kriterium, auf das allerdings bei der
Auswahl kompromisslos zu achten ist. Hinzu
kommt, dass Steuerberater bei An- und Ab-
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
meldungen verständlicherweise Gebühren
verlangen. Gleiches gilt bei allen Änderungen
der Personalakte. Auch diese eher unauffälligen Gebühren summieren sich im Laufe der
Zeit und entfallen mit einer eigenen Software.
Neben den direkten Ersparnissen lernt der
Arzt mit einer eigenen Lohnbuchhaltung
schnell weitere Annehmlichkeiten schätzen,
wenn beispielsweise eine Personalzeiterfassung integriert ist, oder Meldefristen wie
selbstverständlich eingehalten werden.
Aufwand für die Einarbeitung
Etwas schwieriger wird die Beurteilung beim
Aufwand für die Einarbeitung. Der reale Aufwand steht in deutlichem Kontrast zum vorab
befürchteten Aufwand. Moderne Lohnbuchhaltung und Finanzbuchhaltung werden heute intuitiv und menügesteuert angewandt,
erfordert also weder technisches Geschick
noch vertiefte Buchhaltungskenntnisse. Selbst
Softwarephobiker unter Ärzten könnten also
schon nach einer zwei- bis dreistündigen Einweisung mit ihrer Lohnbuchhaltung beginnen. Bei der Auswahl ist demnach darauf zu
achten, dass Software und Service vor Ort angeboten werden, Online-Tutorials zur Verfügung stehen und auf die Hotline Verlass ist.
Silvia Maurer,
Bad Bergzabern
Finanzbuchhaltung problemlos?
Auch Finanzbuchhaltung lässt sich in einer
überschaubaren Einarbeitung problemlos bewältigen. Wichtig bei der Auswahl einer FibuSoftware ist die Integration von Funktionen,
die den Arzt deutlich entlasten. Dazu gehören
Mahnwesen, Überwachung offener Rechnungen, Lieferantenbuchhaltung, Kassenbuch
und Onlinebanking. Vor allem ist darauf zu
achten, dass die Software dem Arzt komfortable, flexible und übersichtliche Auswertungen bietet. Mit ein paar Klicks ad hoc den betriebswirtschaftlichen Status aufzurufen, erspart nicht nur unnötige Bedenken, sondern
erleichtert auch das Gespräch mit Banken bei
Investitionen.
Topsysteme und Schnittstellen
Topsysteme verfügen heute über eine beachtliche Intelligenz, die dem gesamten Praxismanagement zu Gute kommt, aber vor allem den
Arzt zeitlich entlastet. Sie zeigt sich z. B. in der
Lernfähigkeit der Software, die wiederkehrende Vorgänge erkennt und automatisch kontiert oder im automatischen Einlesen von
Bankauszügen.
Bietet die Software für Lohn & Gehalt und
die Finanzbuchhaltung noch Schnittstellen
zu den gängigen Arztprogrammen, gewinnt
der Arzt mit einer überschaubaren Investition
von € 500 bis € 1.000 einen unverzichtbaren
Helfer. ■
Silvia Maurer, Bad Bergzabern
19
Die Deutsche Schmerzliga
Auf dem Rücken anderer!
Die Diskussion um den Facharzt für Schmerzmedizin zwischen den verschiedenen
Fachverbänden ist fast schon bizarr und wird auf dem Rücken der chronisch Schmerzkranken ausgetragen, kritisieren Priv.-Doz. Dr. med. Michael A. Überall, Präsident der
Deutschen Schmerzliga (DSL), Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), und Harry Kletzko, Vizepräsident der DSL.
Michael A. Überall,
Nürnberg
Harry Kletzko,
Oberursel
W
er kennt es nicht das alte Sprichwort „etwas auf dem Rücken anderer austragen“. Gemeint ist damit umgangssprachlich
„einen Konflikt auf Kosten anderer austragen“
oder „mehr Arbeit für andere verursachen“
oder „etwas tun, worunter andere leiden müssen“ bzw. „etwas zum Nachteil anderer tun“.
Aktuell kommen einem bei diesem Sprichwort
vor allem Piloten und Lokführer in den Sinn, die
ihre mehr oder weniger berechtigten Interessen bzgl. einer Änderungen von Arbeitszeiten,
Gehalt oder Einfluss im Arbeitskampf mit ihren
jeweiligen Arbeitgebern (Lufthansa und Bahn)
„auf dem Rücken“ der jeweiligen Kunden, d. h.
eigentlich unbeteiligten Flug- und Bahnreisenden „austragen“.
(IGOST) e. V. und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Schmerztherapie (DIVS)
e. V. auf der anderen Seite (contra) im wahrsten
Sinne des Wortes auf dem Rücken leidgeplagter Betroffener geführt wird.
Pro und Contra Facharzt
Ein politisches Ränkespiel, welches auf
dem Rücken der betroffenen Schmerzpatienten ausgetragen wird
20
Begonnen hatte das Ganze eigentlich noch
ganz harmonisch. Die Mitglieder der DGS beauftragten bereits vor geraumer Zeit den Vorstand ihrer Gesellschaft, sich für die Schaffung
eines Facharztes für Schmerzmedizin einzusetzen und die entsprechenden Gespräche mit
BVSD und DGSS zu führen Diese wurden beim
BVSD unmittelbar positiv aufgenommen, so
Politisches Ränkespiel
Doch was die an den, mittlerweile seit Jahren
stattfindenden, Vorstandsgesprächen zwischen DGS, BVSD, DGSS und IGOST teilnehmenden Vertreter der Deutschen Schmerzliga
dort erleben müssen, ist ein wider besseren
Wissens auf dem Rücken betroffener Schmerzpatienten ausgetragenes politisches Ränkespiel erster Güte, bei dem es vor allem um eines
geht: die Wahrung der Interessen Dritter, die
bei den Verhandlungen um den Facharzt für
Schmerzmedizin offiziell gar nicht mit am Tisch
sitzen.
Die großen Fachgesellschaften der Anästhesisten (Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin, DGAI) und der Orthopäden (Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, DGOU) sind es, die im
Hintergrund offensichtlich an den Fäden ziehen und ihre Marionetten in DGSS und IGOST
nach ihrem Willen tanzen lassen.
Angst vor Einbußen
© jokapix / fotolia.com
So bedeutsam diese Auseinandersetzungen
für die beteiligten Parteien auch sein mögen
und egal, wie publikumswirksam sie jeweils zur
Unzeit umgesetzt werden, für die Schmerzmedizin sind derartige Ereignisse trotz ihres
durchaus beträchtlichen volkswirtschaftlichen
Schadens nicht relevant. Ganz anders hingegen die schon fast bizarr anmutende Diskussion um den Facharzt für Schmerzmedizin, die
seit geraumer Zeit zwischen der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e. V. und
dem Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und
Palliativmedizin in Deutschland (BVSD) e. V. auf
der einen Seite (pro) und der Deutschen
Schmerzgesellschaft (DGSS) e. V., der Interdisziplinären Gesellschaft für orthopädisch/unfallchirurgische und allgemeine Schmerztherapie
Harmonischer Start
dass die weitere Einbindung der DGSS seitens
der Beteiligten von DGS und BVSD eigentlich
nur noch als eine reine Formsache betrachtet
wurde – insbesondere angesichts der Selbstverpflichtung der DGSS in Abschnitt 10 (Handlungsbedarf) ihrer eigenen Ethik-Charta: „Aus
systematischen Gründen ist die Einrichtung
eines Facharztes für Schmerztherapie erforderlich. Nur so kann eine qualitative Grundlage an
den Universitäten gelegt werden.“ (Ethik-Charta der DGSS. Deutscher Schmerzverlag, Köln,
ISBN 978-3-9806595-4-3; http://www.dgss.
org/fileadmin/pdf/Ethik-Charta.lang_01.pdf).
Eigentlich also alles kein Problem. Alle fachübergreifend aktiven, primär schmerzmedizinisch interessierten Organisationen sehen den
Bedarf. Alle sehen die Notwendigkeit entsprechend aktiv zu werden. Alle haben sich zum
Ziel gesetzt, die schmerzmedizinische Versorgung chronisch schmerzkranker Menschen in
Deutschland zu verbessern. Eigentlich alles
beste Voraussetzungen für ein einheitliches,
abgestimmtes und zielführendes Vorgehen.
Eigentlich!
Wesentliche Triebkraft dieser Aktivitäten ist offensichtlich Angst. Die Angst nämlich, dass mit
der Einführung eines neuen Facharztes für
Schmerzmedizin nicht nur die Zuständigkeiten
und Kompetenzen dieser bereits etablierten
Fachgesellschaften schwinden, sondern auch
deren Anteil am Vergütungstopf. Bei all dem
geht es seitens der Verhandlungspartner von
DGSS und IGOST also primär um Macht, um
Einfluss, um die Wahrung des Status quo bestehender Besitzstände und zu guter Letzt natürlich insbesondere auch um Geld.
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Die Deutsche Schmerzliga
Wann kommt der „Facharzt für Schmerzmedizin“?
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INFO-Telegramm
Gar nicht geht es um die Sorgen und Nöte Betroffener oder um eine Verbesserung der Versorgungssituation oder um die Entwicklung
geeigneter Strukturen zu Prävention und Behandlung chronischer Schmerzpatienten – die
eigentlichen Interessen von DGS und BVSD.
Nun könnte es uns als Patientenvertretern
ja eigentlich grundsätzlich egal sein, mit welchen politischen Ränkespielen und Possentheatern die für die Versorgung chronischer
Schmerzpatienten zuständigen ärztlichen Gesellschaften und Verbände sich ihre Zeit vertreiben – wenn denn dadurch die schmerzmedizinische Versorgung besser werden würde.
Tut sie aber nicht! Ganz im Gegenteil, wird offensichtlich, dass die für die aktuelle Fehl- bzw.
Unterversorgung von Schmerzpatienten primär zuständigen Fachgesellschaften offensichtlich ein eminentes Interesse an der Wahrung des Status quo haben. Einer Optimierung
der Versorgung chronisch schmerzkranker
Menschen in Deutschland ist dieses Vorgehen
naturgemäß eher abträglich, denn wäre die
durch die blockierenden Fachgesellschaften
geschützte Versorgung so gut, dass man sie unverändert beibehalten könnte, dann sollte entweder a) die Zahl der chronisch Schmerzkranken deutlich niedriger liegen als zuletzt durch
Häuser et al. veröffentlicht, oder b) im Laufe der
Zeit zumindest ein Rückgang der Gesamtzahl
Betroffener verzeichnet werden.
Einigung utopisch?
Bedauerlich ist, dass wir angesichts dieser Entwicklungen von der für eine Umsetzung des
Facharztes Schmerz dringend erforderlichen
Einigkeit von Fachgesellschaften und Berufsverbänden weit entfernt sind – u. U. weiter als
jemals zuvor. Bei neutralen Beobachtern in
Bundesärztekammer und Bundesgesundheitsministerium lösen derartige Entwicklungen
kaum mehr als Verwunderung aus. Bei ersteren
aber eben auch eine gewisse Erleichterung,
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
würde die sachlich berechtigte Forderung nach
einem Facharzt für Schmerzmedizin doch die
Kammerbemühungen um eine Reduktion der
Zahl bestehender Fachgebiete konterkarieren.
Und zu allem Überfluss scheinen wir aktuell
noch nicht einmal das Ende dieses traurigen
Possenspiels erreicht zu haben – wenn man
sich den hektischen Aktionismus betrachtet,
mit dem die DGSS derzeit hinter den Kulissen
versucht, all ihre früheren Aktivitäten zur Einführung eines Facharztes für Schmerzmedizin
aus den Aufzeichnungen und Sitzungsprotokollen zu eliminieren. Somit scheint es nur
noch eine Frage der Zeit, bis wir mit einer Überarbeitung der DGSS Ethik-Charta rechnen dürfen, bzw. der „Facharzt für Schmerzmedizin“
zum gesellschaftspolitischen Unwort des Jahres gewählt wird.
Lösung nicht in Sicht
Dass die von DGAI und DGOU betriebenen Aktivitäten innerhalb der DGSS Wirkung zeigen,
belegt die Verabschiedung eines auf Betreiben
von DGS und BVSD im Rahmen der DGSS-Mitgliederversammlung am 22.10.2014 gestellten
Antrags„über den Facharzt für Schmerzmedizin
zu diskutieren“. Was für ein wirklich bemerkenswerter Erfolg: Die Mitglieder der Deutschen
Schmerzgesellschaft diskutieren und studieren
mal wieder ein wirklich eminentes schmerzmedizinisches Problem, das dringend einer Lösung und keiner neuerlichen Diskussion bedarf.
Angesichts dieser Strategie ist es wohl auch nur
noch eine Frage der Zeit, bis es zu einer neuerlichen Namensänderung kommt und sich die
DGSS wieder in „Deutsche Gesellschaft zum
Studium des Schmerzes“ rückbenennt. Dann
passen nicht nur Akronym und Name wieder
zusammen, sondern auch Name und Programm: Probleme studieren – statt lösen. ■
Michael A. Überall, Nürnberg, und
Harry Kletzko, Oberursel
Falscher Einsatz von NSAR
bei älteren Patienten
Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) werden bei älteren Patienten über 70 Jahren in
8,7 % der Fälle als Langzeitmedikation mit
einer mittleren Behandlungsdauer von
4,9 Jahren eingesetzt – und nur in 2,9 % als
Bedarfsmedikation. Dies ergab eine australische Untersuchung mit 1.696 über 70-Jährigen. Nur jeder Vierte der Langzeitbehandelten bekam zusätzlich Protonenpumpenhemmer verordnet. Aufgrund dieser Daten folgern
die Autoren, dass die Leitlinien zur Therapie
bei älteren Patienten nur unzureichend umgesetzt werden. Zwar erhielten die Patienten
unter einer NSAR-Langzeittherapie häufig zusätzlich Opioide verordnet. Dennoch entspricht eine solche Medikation nicht der von
den Leitlinien empfohlenen und sollte weiter
untersucht werden (Gnjidic D et al., Pain 2014,
doi: 10.1016/j.pain.2014.06.009, Epub ahead
of print). StK
Welche Antikonvulsiva bei Neuropathien?
Bei der diabetischen Neuropathie und auch
bei postherpetischen Neuralgien lassen sich
die Schmerzen unter Pregabalin und Gabapentin im Vergleich zu Placebo reduzieren. Bei
neuropathischen Schmerzen im Rahmen
einer Fibromyalgie führt dagegen nur das Antikonvulsivum Pregabalin verglichen mit Placebo zu einer relevanten Schmerzreduktion
(Moore A et al., JAMA 2014, 312:182–183). StK
Stabile Proteinbindung
Eine prospektive Studie mit 50 Erwachsenen Patienten zwischen 40 und 81 Jahren ergab, dass
die Proteinbindung von am ersten postoperativen Tag mittels PCA (Patient Controlled Analgesia) appliziertem Hydromorphon nach Herzoperationen nahezu konstant war, während die
Proteinbindung von intraoperativ appliziertem
Sufetanil bei diesen Patienten stark schwankte.
Die Proteinbindung wurde jeweils während der
ersten 24 Stunden nach dem Eingriff analysiert
(Saari TI et al., Br J Anaesth 2014, doi: 10.1093/
bja/aeu160, Epub ahead of print).
StK
Frühe palliative Begleitung wertvoll
Eine Studie an 24 onkologischen Zentren ergab,
dass Krebskranke im fortgeschrittenen Stadium
mit einer Lebenserwartung von sechs bis 24
Monaten von einer frühzeitigen palliativen Begleitung profitieren: Die gesamte Lebensqualität, die Lebensqualität am Lebensende, die
Symptomschwere und die Zufriedenheit mit
der Betreuung waren bei der palliativen Begleitung besser (Zimmermann C et al., Lancet 2014,
383:1721–1730). StK
21
Medizin und Recht
Leitlinien kein Ersatz für
Sachverständigengutachten
träge auf die Erteilung einer Erlaubnis nach § 3
Abs. 2 BfArM für den Eigenanbau von Cannabis entschieden hatte. In allen fünf Verfahren
war den jeweiligen Schmerzpatienten vom
BfArM bereits die Erlaubnis gemäß § 3 Abs. 2
Betäubungsmittelgesetz (BtMG) zum Erwerb
vom Medizinal-Cannabisblüten erteilt worden. Die jeweiligen Krankenkassen der
Schmerzpatienten hatten die Übernahme der
Therapiekosten für Medizinal-Cannabis abgelehnt. Aus diesem Grund beantragten die Kläger die Erlaubnis zum Eigenanbau, da dieser
im Vergleich zu den Kosten des Erwerbs von
Medizinal-Cannabis erheblich kostengünstiger und damit die Therapie für sie in ihrer jeweiligen beengten finanziellen Situation überhaupt erst erschwinglich wurde.
Arno Zurstraßen,
Köln
H
andlungsanweisungen in Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände dürfen nicht unbesehen mit dem medizinischen
Standard gleichgesetzt werden. Dies gilt in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach
der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind. Diese ersetzen im Streitfall kein Sachverständigengutachten. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben; sie können aber
auch Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten (Urteil des
Bundesgerichtshofs [BGH] vom 15.04.2014,
Az. VI ZR 382/12).
Eigenanbau erschwinglich
In zwei Fällen hat das VG Köln die Klage der
Schmerzpatienten abgewiesen, zum einen
mit dem Argument, dass die Wohnsituation
des Klägers einen sicheren Anbau nicht zuließe, da in dessen Zweizimmerwohnung ein
separater abschließbarer Raum nicht zur Verfügung stehe, zum anderen aus dem Grunde,
dass der Kläger ebenfalls zur Verfügung ste-
Cannabis-Eigenanbau zu therapeutischen Zwecken im Einzelfall zulässig
22
Das Verwaltungsgericht Köln hat in fünf
Verfahren zum Eigenanbau von Cannabis
für den Eigenkonsum aus therapeutischen Gründen Urteile erlassen
© Matthew Benoit
Am 22.07.2014 hat das Verwaltungsgericht
(VG) Köln in fünf Verfahren zwischen den klagenden Schmerzpatienten und dem beklagten Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zum Eigenanbau von
Cannabis für den Eigenkonsum aus therapeutischen Gründen Urteile erlassen: In drei von
fünf Fällen wurde das BfArM zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung
des VG Köln zur Sicherung der Räume, in
denen der Eigenanbau stattfinden soll, verurteilt und unterlag.
Alle Fälle waren aufgrund einer Untätigkeitsklage der jeweiligen Schmerzpatienten
anhängig gemacht worden, da das BfArM
nicht in entsprechender Zeit über deren An-
© VIPDesign / fotolia.com
Auch Leitlinien können veralten und sind somit kein Ersatz für das Gutachten
eines Sachverständigen. Urteile aus der aktuellen Rechtsprechung zum immer
noch umstrittenen Anbau von Cannabis erläutert Arno Zurstraßen M.A., Rechtsanwalt und Mediator im Gesundheitswesen, Fachanwalt für Medizinrecht und
Fachanwalt für Sozialrecht, Köln.
hende alternative Medikamente nachweislich
nicht ausprobiert habe.
Bei den drei stattgebenden Urteilen wies
das VG Köln auf die ständige Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) hin,
demzufolge die Behandlung eines einzelnen
schwerkranken Patienten mit Cannabis im öffentlichen Interesse liegen kann, wenn hierdurch die Heilung oder Linderung von bestimmten Beschwerden möglich ist und dem
Betroffenen kein gleichwirksames zugelassenes und für ihn erschwingliches Medikament
zur Verfügung steht (BVerwG, Urteil vom
19.05.2005 – 3 C 17.04-juris).
Dem ist das BfArM zwar teilweise nachgekommen, indem es den jeweiligen Schmerzpatienten zumindest die Erlaubnis zum Erwerb von Medizinal-Cannabis erteilte. Jedoch
ging das VG Köln in den drei Fällen mit stattgegebenem Urteil davon aus, dass der Bescheid der BfArM die Ablehnung der Erlaubniserteilung zum Anbau von Cannabis betreffend rechtswidrig war und die Kläger in ihren
Rechten verletzt hat, weil nicht berücksichtigt
wurde, dass ihnen die Bezahlung des teuren
Medizinal-Cannabis aufgrund ihrer finanziellen Situation unmöglich war.
Separater verschlossener Raum
ein Muss
Die vom BfArM angeführten Versagungsgründe, insbesondere der Hinweis auf die fehlende
Möglichkeit, den Anbauort sowie die Ernte vor
dem Zugriff Dritter zu sichern (§ 5 Abs. 1 Nr. 4
BtMG), stehen nach Ansicht des Gerichtes
einer Erlaubniserteilung nicht entgegen bzw.
können durch eine entsprechende Nebenbestimmung zur Erlaubnis beseitigt werden. Dabei machte das VG Köln deutlich, dass es einen
separaten, stets verschlossen zu haltenden
Raum, der nicht auch zu Wohnzwecken genutzt wird und nur den Klägern zugänglich ist
(wie bspw. eine Abstellkammer oder Gästetoilette) für eine grundsätzlich ausreichende
Sicherung hält. Die vom BfArM erlassenen
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Medizin und Recht
Argumente für ein Verbot
Das BfArM trug weiter vor, der Erlaubnis für
den Anbau stünden zwingende Versagungsgründe entgegen, da die erforderlichen räumlichen Sicherungsmaßnahmen nicht getroffen
wurden (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 BtMG). Auch spreche
der schwankende Wirkstoffgehalt gegen den
Eigenanbau (§ 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG). Darüber
hinaus verbiete das Internationale Suchtstoffübereinkommen von 1961 den Anbau zum
Zwecke der Eigentherapie.
Individuelle Prüfung
Das VG Köln entschied, dass die Voraussetzungen für die Zulassung des Eigenanbaus in
jedem Fall eingehend und individuell zu prüfen sind. Die vom BfArM getroffene Ermessensentscheidung weist nach Auffassung des
Gerichtes einen offensichtlichen und schwerwiegenden Mangel auf. Die Beklagte habe im
Endeffekt die persönlichen Interessen der
Kläger am Zugang zu dem einzigen Betäubungsmittel, das ihnen zu einer Linderung
ihrer Schmerzen verhilft, gar nicht in die Ermessensentscheidung einbezogen. Die Beklagte sei demnach unzutreffend davon ausgegangen, dass die Interessen dadurch gewahrt würden, dass den Klägern eine Erwerbserlaubnis für Medizinal-Hanf aus Holland erteilt worden sei. Sie habe hierbei jedoch nicht zur Kenntnis genommen, dass
diese Therapiealternative den Klägern tatsächlich nicht zur Verfügung stehe, weil sie
sich die hohen Therapiekosten bei ihren geringen Einkommen nicht leisten könnten und
ihre Krankenkassen die Erstattung nach der-
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Als Versagungsgrund angeführt wurde der Hinweis auf die fehlende Möglichkeit, den
Anbauort sowie die Ernte vor dem Zugriff Dritter zu sichern
© lassedesignen / fotolia.com
Richtlinien zur Sicherung von Betäubungsmittelvorräten seien nicht für die Fälle des ausnahmsweisen Eigenanbaus in geringem Umfang konzipiert und hier nicht maßgeblich
(vgl. auch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts [OVG] Nordrhein-Westfalen [NRW] vom
11.06.2014 – 13 A 414/11).
Das vom BfArM angeführte Argument, der
Schmerzpatient möge bei seiner Krankenkasse erneut die Erstattung von Dronabinol beantragen, wies das VG Köln zurück, da dieser
Antrag nach der ständigen Rechtsprechung
der Sozialgerichte keine Aussicht auf Erfolg
verspricht. Die Voraussetzung für eine Übernahme der Kosten im Rahmen eines Off-labelUse wie bei „Systemversagen“ bzw. „Seltenheitsfällen“ liegt nach Auffassung des Gerichts
nicht vor. Die Kostenerstattung sei nur bei lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlich verlaufenden oder wertungsmäßig vergleichbaren
Erkrankungen geboten – und somit nicht in
den vorliegenden Fällen eines chronischen
Schmerzsyndroms.
zeit geltendem Recht zu Recht abgelehnt
hätten.
Bei sachgerechter Berücksichtigung der
Interessen der Kläger habe sich das Ermessen
in den drei vorliegenden Fällen zugunsten
einer Erteilung einer Erlaubnis so verdichtet,
dass eine Versagung nicht mehr in Betracht
komme. Nach Auffassung des VG Köln haben
die Interessen der Kläger an einer Behandlung
ihrer Dauerschmerzen ein ganz überragendes
Gewicht, während die öffentlichen Interessen
an einer Versagung der Erlaubnis eine so geringe Bedeutung haben, dass sie zwingend
zurücktreten müssen.
Das Internationale Suchtstoffübereinkommen von 1961 sei auf die Fälle des ausnahmsweisen Eigenanbaus nicht anwendbar und hat
de facto keinen Verfassungsrang. Das Risiko
des schwankenden Wirkstoffgehalts treffe lediglich die Kläger, die dies in Kauf nähmen. Der
medizinische Hanf aus Holland sei für die Kläger nicht finanzierbar, teilweise nicht lieferbar
und ein Zuwarten auf die künftige Zulassung
eines Fertigarzneimittels für die Schmerztherapie nicht zumutbar. Nach Auskunft des
BfArM ist derzeit auch kein Zulassungsantrag
anhängig.
Legaler Zugang?
Unter Berufung auf das BVerwG rechtfertigen
die verbleibenden abstrakten Gefahren des
Cannabiskonsums für die Gesamtbevölkerung
nicht, den schwerkranken Klägern den legalen
Zugang zu Cannabis zu verweigern.
Das VG Köln sieht zwar, dass deutlich bessere Lösungsansätze für die Versorgung von
einzelnen Patienten mit Cannabis erkennbar
sind, die auch die Überwachung der in Verkehr befindlichen Drogenmengen effektiver
gewährleisten könnten, allem voran die Erstattung der Kosten von Medizinal-Cannabisblü-
ten durch die Krankenkassen oder die Zulassung eines inländischen gewerblichen Anbaus
zu medizinischen Zwecken unter der Kontrolle
einer staatlichen Stelle. Solange jedoch die
gesetzlichen Grundlagen nicht geschaffen
sind, muss nach Auffassung des Gerichtes im
Einzelfall den betroffenen Schmerzpatienten
der Anbau von Cannabis nach § 3 Abs. 2 BtMG
gestattet werden, damit ihre Grundrechte aus
Artikel 1 Abs. 1 und Artikel 2 Abs. 2 Grundgesetz gewahrt werden. Da die Anordnung von
Richtlinien zu den Sicherungsvorkehrungen
durch die dem BfArM angegliederte Bundesopiumstelle noch aussteht, liegen derzeit noch
nicht alle Voraussetzungen für die Erlaubniserteilung vor. Aus dem Grunde der Notwendigkeit einer Nebenbestimmung konnte dem
Hauptantrag auf Verpflichtung der Beklagten
zur Erteilung der Erlaubnis mangels Spruchreife nicht stattgegeben werden, hingegen verpflichtete das VG Köln das BfArM zur Neubescheidung vorbehaltlich einer noch zu treffenden Ermessensentscheidung – unter Beachtung der Rechtsauffassung des VG Köln – über
die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen in
Form einer Nebenbestimmung.
In vier der Verfahren hat das VG Köln die
Berufung gegen die Urteile wegen ihrer
grundsätzlichen Bedeutung zugelassen. In
einem Verfahren, in dem der klagende
Schmerzpatient wegen der Nichtausschöpfung der Behandlungsalternativen unterlag,
kann dieser innerhalb eines Monats einen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das
Urteil beim OVG Münster stellen (Sozialgesetzbuch [SGB] II § 34; Bürgerliches Gesetzbuch
[BGB] § 839; Grundgesetz [GG] Art. 34).
■
Arno Zurstraßen, Köln
Literatur beim Verfasser
23
Psychopharmakotherapie
Im Fokus: Trizyklische Antidepressiva
Die medikamentöse Entscheidungsrationale in der Schmerztherapie beschränkt
sich keineswegs auf ausgewiesene Analgetika und Antiphlogistika. Wichtige
Koanalgetika sind psychoaktive Substanzen. Anwendungshinweise und Empfehlungen formuliert SanRat Dr. med. Oliver Emrich, Vizepräsident der DGS und
Leiter des Regionalen Schmerzzentrum DGS Ludwigshafen.
gen, minor oder major Depression bis hin zu
bipolaren Störungen und Manien finden sich
gehäuft auch bei Schmerzpatienten. Vor allem
die Koinzidenz von Angststörungen hat eine
enorme Bedeutung. Diese (Ko-)Morbiditäten
im psychischen Bereich sind klare weitere Therapieadressen neben dem Symptom Schmerz
und bilden eine der wichtigsten Merkmale
einer „Schmerzkrankheit)“. Affektive Störungen finden sich schon in einer Normalpopulation bei über 10 % der Patienten und extrem
viel höher im Zusammenhang mit chronischen Schmerzen. 84 % aller Depressionen
sind sekundär (Leitlinie Depression der DGN
2013), d. h. reaktiv bezogen auf die Grundkrankheit z. B. chronischer Schmerz.
Oliver Emrich,
Ludwigshafen
A
nalgetika und Psychopharmaka werden
im Gesamtkonzept einer medikamentösen Schmerzbehandlung sehr häufig eingesetzt und nicht nur, aber da besonders, kombiniert, wenn psychische Miterkrankungen/
Diagnosen neben Schmerzen vorliegen bzw.
„chronische Schmerzen mit somatischen und
psychischen Faktoren“ (ICD 45.41). Die Leitlinie
neuropathischer Schmerz der DGN (Deutsche
Gesellschaft für Neurologie) weist (trizyklische) Antidepressiva und bestimmte Antiepileptika bei Vorliegen von neuropathischen
Schmerzkomponenten (z. B. bes. bei primär
neuropathischen Schmerzen, Postzoster-Neuropathie, CRPS etc.) sogar als „First Line Drugs“
noch vor den originären Analgetika aus.
Depressionen häufig
Die Symptome einer (konkomitanten) Depression sind genauso in der gültigen ICD 10, in der
aktuellen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft
für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und dem DSM-5 (auch
DSM-V) ist die fünfte Auflage des von der
American Psychiatric Association (APA) herausgegebenen Klassifikationssystems Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
von 2013 eindeutig beschrieben. Übereinstimmend sind dies
55erkennbar gedrückte Stimmung
Komorbidität und Neurobiologie
24
Trizyklische Antidepressiva gelten als
„first line drugs“ zur Behandlung
neuropathischer Schmerzen
ken bis hin zu stattgehabten Suizidversuchen
Letztere sind ohnehin zwingend akut-interventionspflichtige Hinweise auf eine bedrohliche Entwicklung und müssen damit unbedingt nicht nur in Fragebogeninventaren eruiert und beachtet und im Behandlungssetting
sehr ernst genommen werden. Die medikamentöse Therapie der vorgenannten Störungen ist etabliert und an der Schnittstelle affektiver Störungen und Schmerz ganz besonders
bedeutsam.
Neuralgien
Bei chronischen (neuropathischen) Schmerzsyndromen, aber auch bei akuten neuropathischen Schmerzen (z. B. Perizosterische Neuralgie) werden häufig psychoaktive Substanzen und Analgetika kombiniert. Da viele dieser
Patienten, vorzugsweise die älteren unter ihnen, daneben auch noch eine Vielzahl anderer
Medikamente einnehmen, werden mögliche
Wechselwirkungen unter den Pharmaka wichtige Faktoren. Einen hervorragenden uns aktuellen Überblick über klinisch relevante Interaktionen zwischen Analgetika und Psychopharmaka wurde von D. Strobach 2012 in der
„Arzneimtteltherapie“ (AMT, Heft 3, 2012, S. 83
ff) veröffentlicht.
Die trizyklischen Antidepressiva (TCA) gelten nach wie vor als „first line drugs“ zur Behandlung neuropathischer Schmerzen (aktuelle Leitlinie der DGN), denn sie entfalten
neben der antidepressiven auch eine dezidierte analgetische Wirkung. Sie sind als nicht selektive Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmer
(Leitsubstanz Amitriptylin) zweifellos die analgetisch bedeutsamsten Substanzen unter
allen bekannten Antidepressiva. Ihre Wirkung
ist sowohl bei der schmerzhaften diabetischen
Polyneuropathie, der postzosterischen Neuralgie, bei partiellen Nervenläsionen als auch
bei zentralen Schmerzsyndromen nachgewiesen. Die in der Schmerzmedizin gebräuchlichsten TCAs sind neben dem Hauptvertreter
Amitryptilin, Trimipramin und Doxepin.
Trizyklika
© eyetronic / fotolia.com
Zwei Faktoren sind in diesem Zusammenhang
wichtig, die einen Einbezug von psychoaktiven Substanzen in ein Schmerztherapiekonzept frühzeitig sinnvoll oder gar zwingend erscheinen lassen:
1. Die hohe Komorbidität von affektiven Störungen und Schmerz, d. h. wenn sich anamnestisch oder in Fragebogeninventaren
Hinweise auf depressive Symptome oder
Erkrankungen zeigen und
2. die ähnliche Neurobiologie von Depression und chronischem Schmerz suggeriert, dass auch bei subklinischen, anzunehmenden Neurotransmissionsstörungen der Einsatz von Neurotransmitter-modulierenden Substanzen erwogen werden
kann.
Affektive Störungen mit dem gesamten Spektrum von anhaltenden affektiven Störungen
(Dysthymie, Zyklothymie), Anpassungsstörun-
55Antriebsstörungen
55Hoffnungslosigkeit und Freudlosigkeit
55Müdigkeit und Schlafstörungen
55Appetitstörungen oder gar Suizidgedan-
Amitryptilin wirkt in niedrigen Dosierungen
schmerzlindernd auf (neuropathische)
Schmerzen und ist auch in kleinsten Dosisbereichen ab 5 mg am Abend schon wirksam
Schlaf anstoßend. TCAs wirken erst in höheren
Dosisbereichen antidepressiv und auch nicht
sofort, sondern mit einer Wirklatenz von bis zu
14 Tagen. Amitryptilin hat eine blockierende
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Psychopharmakotherapie
Allgemeine Hinweise zu TCA
Wegen der Hemmung auf die Ionenkanäle ist die potenzielle Kardiotoxizität eines der
zentralen Probleme, die Kautelen erfordert: Vor der Behandlung sollte bei allen Patienten
ein EKG abgeleitet werden. QT-Zeit über 450 (Männer) oder 460 ns (Frauen) gelten als long
QT-Syndrom und Kontraindikation für Medikamente die mit einer Verlängerung der QT-Zeit
über die Bindung an Kaliumkanäle assoziiert sind (Endstrecke im EKG). Die Folge könnten
fatale Rhythmusstörungen (Torsades des Pointes) sein. Wenn die eingesetzten Dosen über
75 mg/d liegen oder bei entsprechenden Komorbiditäten, empfehlen sich, insbesondere
bei älteren Patienten, regelmäßige EKG-Kontrollen. Vor und während der Therapie sollten
auch regelmäßige Laborkontrollen der Leber- und Nierenwerte, der Elektrolyte und des
Blutbildes durchgeführt werden. Wichtige Arzneimittel-Interaktionen ergeben sich über
die serotonerge Wirkung, die Natrium-Kanal-Blockade und über Wechselwirkungen mit
CYP-abhängigen Enzymen. Bei Amitriptylin sollte aus schmerzmedizinischer Sicht unter
anderem keine Kombination mit Tramadol (potenzierte serotonerge Effekte) und Carbamazepin (Natriumkanalblockade-Potenzierung) erfolgen. Vorsicht ist auch bei CYP2D6- oder
CYP1A2-Inhibitoren (z. B. Metoprolol, Propanolol, Duloxetin) und CYP3A4-Induktoren (z. B.
Carbamazepin), die die Wirksamkeit stark verändern können. Fehlt Cyp2D6, wie bei bis zu
10 % der Bevölkerung (poor metabolizer) oder ist Cyp2 D6 medikamentös blockiert (Fluoxetin, Paroxetin) ist dies nicht nur für die mögliche abgeschwächte Wirkung von analgetischen
Pro-Drugs (Tilidin, Codein, Tramadol) verantwortlich, sondern auch für den verzögerten Abbau von TCAs und damit möglichen Wirkungs- und Nebenwirkungsverstärkungen. Duloxetin konkurriert um den Cyp2D6 Abbau. Serotonismus und Wirkverstärkungen sind mögliche
Folgen. All diese Wechselwirkungen sind besonders für hohe Dosisbereiche klinisch relevant, oder im Alter und bei neurologischen Vorschädigungen, wenn schon geringe monoaminerge Wirkungen klinisch eher bedeutsam werden. Allgemein gilt seit Paracelsus: „Alle
Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.“
Wirkung auf Natriumkanäle und auf Kaliumkanäle und wirkt somit nicht nur Neurotransmitter (5HT und NA) modulierend. All dies erklärt die komplexe Wirkung auf die neuronale
Schmerzleitung und Perzeption, sowie auf das
absteigende Schmerzhemmsystem. Die Natriumkanal und Kaliumkanal blockierende
Eigenschaft erklärt aber auch einen Gutteil der
gegenüber anderen Antidepressiva besonderen Risiken und Nebenwirkungen dieser Substanz. Die lokalanästhetische Wirkung von
Amitryptilin zeigte sich in Studien sogar der
von Bupivacain überlegen. Das Betropfen der
Zunge mit Amitryptilin bewirkt ein taubes Gefühl. Die generelle Wirkung auf Ionenkanäle
erklärt dies genauso wie die potenzielle Kardiotoxizität. Neben den möglichen Nebenwirkungen am Reizleitungssystem des Herzens
sind über die Neuro-Rezeptormodulation
muskarinerg-anticholinerge, unerwünschte
serotonerge und Wirkungen am Alpha1 Adrenorezptor und dem Histaminrezeptor typisch.
Trockener Mund, Harnverhalt, Akkomodationsstörungen, Obstipation, Augeninnendruckerhöhung, Orthostase, Sedierung, Vigilanzstörungen u. a. sind mögliche Folgen und
durchaus häufig berichtete unangenehme
Folgen der Einnahme, wenn man nicht streng
niedrig eindosiert. In der Langzeitanwendung
berichten darüber besonders Frauen häufig
über Gewichtszunahme. Wahrscheinlich reduziert Amitryptilin, über die Natriumkanalblo-
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
ckade den Grundumsatz und steigert via Besserung der Depression und Lebensfreude direkt den Appetit. Beides befeuert den ungeliebten Effekt einer möglichen Gewichtszunahme. Deshalb liegen die zur Analgesie relevanten Dosierungen z. T. erheblich weit
unterhalb den für eine Antidepressivität benötigten. Die Einstiegsdosierungen für TCAs
werden von Baron et al. (Therapietabellen
2008) bei Amitryptilin zur Schmerztherapie
mit 10 mg angegeben. (Der Autor beginnt sogar mit nur 5 mg). Die Empfehlungen für eine
antidepressive Wirkung beginnen bei 25 mg
und reichen in Dosisbereiche von 50–150 mg
ambulant und bis 300 mg stationär. Die Halbwertszeit der Ursubstanz und der wirksamen
Metabolite (Nortryptilin) beträgt bis zu 50
Stunden. Dies erklärt die Vigilanz beeinträchtigenden Overhang Effekte höherer Dosierungen in den Tag.
Doxepin ist das zweite heute in der
Schmerzmedizin breit gebräuchliche TCA, es
kommt in offiziellen schmerzmedizinischen
Therapieempfehlungen im Gegensatz zu
Amitryptilin aber kaum explizit vor. Doxepin
ist von der Rezeptorspezifität und den Wirkungen auf Ionenkanäle dem Amitryptilin ausgesprochen wesensverwandt. Der einzige klinisch wichtige Unterschied dürfte in der noch
stärker sedierenden Wirkung bestehen. Deshalb eignet sich Doxepin besonders für die
begleitende Behandlung bei Medikamenten-
entzügen oder agitierten affektiven Störungen, bei denen die Schlafstörung absolut im
Vordergrund steht. Auch Doxepin hat dem
Amitryptilin vergleichbare Natriumkanal blockierende Eigenschaften und Wirkungen auf
die Kinetik der Kaliumkanäle. Auch bezüglich
der nicht selektiven Wirkung auf Serotoninund Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung ist das Doxepin von Amitryptilin kaum
zu unterscheiden. Die durchschnittliche Halbwertszeit beträgt bis 24 Stunden, die Halbwertszeit des Hauptmetaboliten Desmethyldoxepin beträgt 51 (33–80) Stunden. Bei Einnahme von 75 mg täglich werden die Steadystate-Spiegel am neunten Tag erreicht.
Trimipramin, das dritte gebräuchliche TCA,
wirkt aber anders als Amitryptilin und Doxepin
Serotoninrezeptor blockierend und NA wiederaufnahmehemmend. Die Wirkung bezüglich Erhöhung der Wirkung über 5HT und NA
ist im Vergleich zu Amitryptilin schwächer. Es
wirkt aber, wie Amitryptilin ebenfalls an Alpha
1 und Histamin-Rezeptoren. Trimipramin ist
nicht explizit zur Anwendung in einem
schmerzmedizinischen Konzept zugelassen,
wird aber hier doch breit verwendet. Eine Natriumkanal blockierende Eigenschaft ist nicht
beschreiben, allerdings wirkt Trimipramin
ebenfalls QT Zeit verlängernd, wegen Wirkungen auf den Kaliumkanal. Das generelle
Nebenwirkungsspektrum verglichen mit
Amitryptilin ist jedoch schwächer und es wirkt
genauso antidepressiv. Wegen der vergleichsweise geringeren kardiovaskulären Implikationen wird es in der Geriatrie dem Amitryptilin
vorgezogen. Ansonsten sind die Schlaf anstoßenden Wirkungen und die anticholinergen
Nebenwirkungen vergleichbar, weswegen Trimipramin bis heute im „off label use“, wie
Amitryptilin als nicht-benzodiazepine schlaffördernde und auch angstlösende Substanz in
Gebrauch und u. a. deswegen auch unter
schmerzmedizinischen Aspekten eine wichtige Substanz ist. Die Einleitung der Therapie ist
durch schrittweise Dosissteigerung beginnend mit 10-25-50 mg Trimipramin/Tag vorzunehmen. Falls erforderlich, kann die Dosis anschließend langsam gesteigert werden. Bei
mittelgradigen depressiven Zuständen beträgt die gebräuchliche Dosis 100–150 mg
Trimipramin/Tag, in schweren Fällen 300–
400 mg. Die Einnahme kann sowohl über den
Tag verteilt (morgens, mittags, abends) als
auch als Einmaldosis am Abend erfolgen. Insbesondere bei Schlafstörungen ist die Einnahme am Abend als Einmaldosis geeignet. ■
Oliver Emrich, Ludwigshafen
Literatur beim Verfasser
25
Interview
Exazerbierte Tumorschmerzen:
Effektive Opioidtitration mit Hydromorphon
In einer am St. Josef Krankenhaus Moers durchgeführten Untersuchung konnte gezeigt werden,
dass die intravenöse (i. v.) Opioidtitration mit Hydromorphon eine schnelle, einfache
und effiziente Methode zur Behandlung von Patienten mit exazerbierten Tumorschmerzen ist.
Norbert Schürmann erläutert Vorgehensweise und Vorteile dieses Verfahrens, das er
seit mehreren Jahren erfolgreich bei seinen Patienten anwendet.
? Worauf kommt es bei
der Therapie exazerbierter Tumorschmerzen an?
Schürmann: Entscheidend ist es, den Schmerz
schnell und effizient zu
reduzieren, um die Lebensqualität des PatienNorbert Schürmann, ten zu erhöhen, ihm die
Moers
Ängste vor den Schmerzen zu nehmen und ihn
auf die nachfolgende Behandlung einzustellen. Schmerz ist ein subjektives Empfinden,
dessen Ausmaß sich über die von 0 (keine
Schmerzen) bis 10 (stärkste vorstellbare
Schmerzen) reichende numerische Analogskala (NRS) messen lässt. Bereits bei einer
Schmerzreduktion auf 3 bis 4 Skalenpunkte
durch i. v.-Applikation eines Opioids wie Hydromorphon (Palladon injekt®) wird eine wesentlich bessere Lebensqualität erreicht.
Schmerzsyndromen durchgeführt. Wie stark
wurden die Schmerzen durch die i. v.-Applikation von Hydromorphon gelindert?
Schürmann: Durch die Hydromorphontitration wurde der NRS-Mittelwert von 7,4 auf 2,6
gesenkt, was einer signifikanten Schmerzreduktion um 60 % entspricht (p<0,0001). Bei
94 % der Patienten konnte mit einer Menge
von maximal 2 mg Hydromorphon eine ausreichende bis gute Analgesie erzielt werden.
Bei 98 % der Studienteilnehmer verbesserte
sich die Schmerzsymptomatik innerhalb von
nur 20 Minuten so deutlich, dass eine weitere Behandlung möglich wurde (Schürmann
N, Hampf A, Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2014, Frankfurt/Main, Poster).
? Wie gehen Sie bei diesem Verfahren vor?
gleich zu anderen Opioiden?
Schürmann: Wir unterscheiden zwischen
wasserlöslichen Opioiden wie Morphin oder
Hydromorphon und fettlöslichen Opioiden
wie Fentanyl. Fentanyl diffundiert in das
Fettgewebe und es besteht das Risiko
eines Reboundphänomens. Auch wirksame
Metabolite von Morphin können kumulieren. Bei Hydromorphon besteht diese Gefahr
nicht. Zudem zeigt sich im Gegensatz zu Morphin keine Suppression des Immunsystems.
Aus diesen Gründen ist Hydromorphon gerade bei älteren Patienten und bei Patienten
mit Nieren- und/oder Leberfunktionsstörungen dem Morphin vorzuziehen.
Schürmann: Zu Beginn wird das Ausmaß des
Schmerzes über die NRS gemessen und ein
sicherer Zugang gelegt. Dann erhält der Patient eine Emesisprophylaxe mit 10 mg
Metoclopramid (MCP) oder 4 mg Dexamethason i. v. als Kurzinfusion. Anschließend
erfolgt die i. v.-Applikation von 0,2 mg/Minute Hydromorphon, bis der Schmerz nach
Patientenaussage einen NRS-Wert von 3 bis
5 erreicht hat. Ein leichter Restschmerz ist ein
guter Atemstimulus und senkt somit die Gefahr einer Atemdepression. Das Verfahren ist
einfach, effektiv wie auch rasch durchführbar und hat den Vorteil, dass es überall anwendbar ist – im Altenheim ebenso wie zu
Hause. Ich setze mich während der Titration
neben den Patienten, halte vielleicht noch
die Hand dabei, spreche mit ihm. Das schafft
eine starke Bindung zwischen Arzt und Patient.
? Sie haben eine Untersuchung zur Opioidtit-
? Wie sieht die weitere schmerztherapeuti-
? Welche Vorteile hat Hydromorphon im Ver-
ration bei Tumorpatienten mit exazerbierten
sche Behandlung aus?
Schürmann: Bei der Umstellung von der i. v.auf die orale Hydromorphon-Gabe wird
unter Einbeziehung eines Sicherheitsfaktors
mit zwei und bei einer Wirkdauer von etwa
vier Stunden nochmals mit sechs multipliziert; so ergeben z. B. 1,8 mg i v.-Hydromorphon alle vier Stunden mal zwei mal sechs
21,6 mg orales Hydromorphon pro Tag. Allerdings verordnen wir nur etwa 75 % der errechneten oralen Tagesdosis, also z. B. 16 mg
verteilt auf zweimal täglich 8 mg. Trotz dieser titrationsangepassten Opioidneueinstellung können körperliche Aktivitäten – unter
Umständen schon das Aufstehen – zu starken Schmerzen führen. Der Patient benötigt
daher zusätzlich zu der Basismedikation eine
Bedarfsmedikation, die ca. ein Sechstel der
gesamten Tagesopioiddosis betragen sollte.
? Inwieweit kann ein solches ambulantes Vor-
gehen auch durch eine patientenkontrollierte Schmerztherapie (PCA) mittels
Pumpe funktionieren?
Schürmann: Die Schmerzreduktion durch
Hydromorphontitration ist eigentlich nicht
zu übertreffen, sie ist kurz und exakt: Der Patient vermag genau zu sagen, wann er weniger Schmerzen verspürt und die Titration
beendet werden kann. Die PCA-Pumpe hingegen läuft erst einmal weiter und ich als
Arzt kenne das Ausmaß der Schmerzreduktion nicht. Das kann dazu führen, dass die
Opioiddosis zu gering oder zu hoch gewählt
wird. Die Hydromorphontitration kann ich
zudem überall und jederzeit durchführen,
bei der PCA-Pumpe ist das wesentlich umständlicher. Sinnvoll ist eine PCA-Pumpe meiner Ansicht nach bei Patienten, die nach der
Opioidtitration nicht oral eingestellt werden
können.
Impressum Interview • Medizin Report aktuell Nr. 407911 in: Angewandte Schmerztherapie und Palliativmedizin, Band 7, Heft 4, Dezember 2014 und in Schmerzmedizin, Band 30, Heft 4,
Dezember 2014 • Berichterstattung: Gudrun Girrbach, Hilden • Redaktion: Dr. Michael Brysch • Leitung Corporate Publishing: Ulrike Hafner (verantwortlich) • Springer Medizin, Springer-Verlag
GmbH, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg • © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 • Mit freundlicher Unterstützung der Mundipharma Deutschland GmbH & Co. KG, Limburg
Die Herausgeber der Zeitschrift übernehmen keine Verantwortung für diese Rubrik.
26
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
Kasuistik
Postherpetische Neuralgie: Oxycodon/Naloxon
besser wirksam als Oxycodon alleine?
Postherpetische Neuralgien sind in der Schmerzmedizin häufig eine gravierende Herausforderung. Trotz einer Vielzahl
von topischen und systemischen Therapien gestaltet sich bei vielen Patienten der Verlauf der Erkrankung schwierig, da
zahlreiche wirksame Therapien aufgrund ihrer Nebenwirkungen abgebrochen werden müssen oder keine ausreichenden
Dosierungen erzielt werden können. Die analgetische Überlegenheit von Oxycodon/Naloxon gegenüber Oxycodon alleine
beschreibt der Göppinger Schmerzmediziner Dr. med. Gerhard H. H. Müller-Schwefe anhand eines Krankheitsverlaufs.
Der Praxisfall
Die 56-jährige Patientin stellt sich mit brennenden und prickelnden Schmerzen im Bereich
des vierten bis sechsten Thorakalsegmentes
rechts vor. Ein Jahr zuvor war eine akute Herpes
Zoster Infektion mit massiven Hauteffloreszenzen und Ulzerationen vorausgegangen. Die
Patientin schildert trotz des ausgedehnten
Hautbefundes initial keine Schmerzen, so dass
ausschließlich mit Aciclovir behandelt wurde.
Etwa 4 Wochen nach Abklingen der Hautaffektion und zunehmender Narbenbildung
begannen prickelnde und brennende Schmerzen sowie eine ausgeprägte Berührungsüberempfindlichkeit im betroffenen Segment. Die
jetzt durchgeführte Therapie mit zunächst Metamizol, dann Gabapentin bis zu 2.400 mg/täglich und bei Unwirksamkeit zusätzlich Pregabalin bis zu 2x300 mg hatte keine ausreichende
Schmerzlinderung zur Folge, die Patientin
schildert jedoch massive kognitive Einschränkungen und imperativen Schlafzwang. Weitere
Therapieversuche mit Amitriptylin führten bereits in niedrigen Dosen von abends 10 mg zu
einer anhaltenden Sedierung, die auch 3 Wochen nach Therapiebeginn unverändert bestand, deshalb Wechsel zu einer Therapie mit
Opioiden, zunächst transdermalem Fentanyl,
das bis zu einer Dosis von 50 µg/Stunde gesteigert wurde, ohne dass eine ausreichende
Schmerzlinderung erzielt wurde. Insbesondere
unter der ausgeprägte Allodynie litt die Patientin weiterhin, der Nachtschlaf war schmerzbedingt gestört. Die Schmerzintensität wurde
von der Patientin zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung mit VAS 90 beschrieben, Individuelles
Behandlungsziel 15. Bei unzureichender Wirksamkeit von Fentanyl wurde umgestellt auf
Oxycodon 2x40 mg/täglich. Unter dieser Dosierung stellt sich die Patientin auch im Schmerzzentrum vor.
Befund
Im Segment thorakal 4 bis 6 rechts ausgeprägte Narben nach Herpes Zoster mit deutlichen
Indurationen und Verfärbungen, in diesem Be-
SCHMERZMEDIZIN 4/2014 (30. Jg.)
reich massive dynamische Allodynie (Berührungsempfindlichkeit), statische Allodynie
(Druckschmerzhaftigkeit) und spontan elektrisierend einschießende Schmerzen. Nach
einem Jahr Krankheitsgeschichte fand sich im
Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS)
eine massive depressive Störung wie auch auffällige Werte für Angst.
Therapie und Verlauf
Aufgrund der massiven gastrointestinalen
Nebenwirkungen der Opiattherapie, die im Wesentlichen aus ausgeprägter Obstipation bestand mit einer Stuhlfrequenz von 1/Woche
trotz aller Laxantienmaßnahmen mit osmotischen Laxantien sowie Natriumpicosulfat und
Einläufen, wurde zunächst Oxycodon/Naloxon
(Targin®) in einer äquianalgetischen Dosis von
40 mg zweimal täglich umgestellt bei Beibehaltung der Laxantientherapie. 10 Tage nach Umstellung kam es aufgrund der Wirkung des Naloxons im Darm (Besetzung der Opioidrezeptoren) zu einer Stuhlnormalisierung mit Stuhlgängen alle zwei Tage, so dass die Laxantientherapie reduziert wurde. Gleichzeitig stellte
sich ein deutlich besserer analgetischer Effekt
ein, die zuvor bei VAS 90 angegebene Schmerzintensität ging schrittweise zurück, in der ersten Woche auf VAS 55, in der zweiten Woche auf
VAS 25 (Individuelles Behandlungsziel 15).
Unter der Annahme, dass die Kombination
mit Naloxon eine deutlich bessere analgetische
Wirkung erzielt als Oxycodon alleine, wurde
versucht, nun die Opiatdosis schrittweise zu
reduzieren. In 14-tägigen Abständen erfolgte
eine Reduktion von Oxycodon/Naloxon von
jeweils 5 mg morgens und abends.
Bei gleich wirksamer Analgesie trotz reduzierter Opiatdosis konnte schließlich mit 10 mg
Oxycodon/Naloxon zweimal pro Tag ein gleicher Therapieeffekt erzielt werden wie mit anfangs zweimal täglich 40 mg Oxycodon.
Nicht nur verbesserte sich die Lebensqualität aufgrund der verbesserten gastrointestinalen Situation der Patientin, sondern die niedrigere Opiatdosis resultierte in einer besseren
Vigilanz, Wiederaufnahme von sozialen Aktivitäten und Zunahme der Lebensfreude. Mit
einer Erhaltungsdosis von Oxycodon/Naloxon
10/5 zweimal täglich konnte schließlich über
den Beobachtungszeitraum von über einem
Jahr hinweg eine konstante Analgesie erzielt
werden mit einer Schmerzintensität von VAS
15, das entspricht dem Individuellen Behandlungsziel.
Diskussion
Die Therapie der Postzoster Neuralgie kann
außerordentlich schwierig sein, da die verfügbaren medikamentösen Strategien, insbesondere aus der Substanzgruppe der Antikonvulsiva und Antidepressiva oft von massiven
Nebenwirkungen begleitet sind, die eine Fortführung der Therapie unmöglich machen. Die
prinzipielle Wirksamkeit von Opioiden wurde
in mehreren Studien nachgewiesen, wobei
Oxycodon gegenüber Morphin einen deutlichen Wirksamkeitsvorteil zu haben scheint.
Die anhaltend gute analgetische Wirkung
bei deutlich niederen Dosen von Oxycodon/
Naloxon gegenüber Oxycodon alleine lassen
sich allerdings nicht nur durch den Wirkmechanismus von Oxycodon erklären. Vielmehr
scheint hier die Naloxonbeigabe von entscheidender Bedeutung zu sein. Entsprechende Hinweise finden sich auch in anderen Daten, die
nahelegen, dass die geringen, auch im Zentralnervensystem zur Verfügung stehenden Naloxondosen entweder selbst einen analgetischen
Effekt erzielen oder die Ansprechbarkeit von
Opiatrezeptoren beeinflussen. Damit stellt
niedrig dosiertes Oxycodon/Naloxon nicht nur
prinzipiell eine gute Therapieoption bei neuropathischen Schmerzen dar, sondern die Kombination von Oxycodon mit Naloxon scheint
gegenüber einem reinen Opioid deutliche therapeutische Vorteile und eine höhere analgetische Potenz zu bieten.
■
Gerhard H. H. Müller-Schwefe, Göppingen
Literatur beim Verfasser
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