Ausbildung zur Lerntherapeutin IFLW www.iflw.de ADHS bei Kindern Abschlussarbeit vorgelegt von Claudia Bartels [email protected] 1 Einleitung ADHS ist eine der am häufigsten diagnostizierten Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter. Trotz wachsender Aufklärung durch die Medien, Diskussion in der Öffentlichkeit, einer Fülle von Fachliteratur und Ratgebern wird diese Störung oft nicht erkannt oder als Modekrankheit abgetan. Die Folge ist, dass ADHS oft gar nicht oder zu vorschnell diagnostiziert wird. Dabei ist ADHS eine Störung, die die Entwicklung und den Lebenslauf des betroffenen Kindes nachhaltig und gravierend beeinflussen kann. Für Eltern und Lehrer ist das Zusammenleben und der Umgang mit diesen Kindern eine große Herausforderung, die über die Maßen belastend sein kann. Sie bedarf besonderer Unterstützung und Begleitung durch Experten und spezieller Handlungs- und Verhaltensstrategien von Seiten der Bezugspersonen. Obwohl es mittlerweile eine Vielzahl von erprobten Therapiemethoden gibt, werden gegenwärtig bevorzugt Psychopharmaka in der Therapie von ADHS eingesetzt. Aus meiner Sicht bedarf es aber mehr als nur Medikamente. Neben einer psychologischtherapeutischen Behandlung und Begleitung dieser Kinder und ihrer Familien ist ebenso professionelles Wissen über die Hintergründe und den Umgang mit der Störung in Schule und Kindergarten wichtig. Besonders in der Schule stoßen Kinder mit ADHS immer noch auf Strukturen, die für sie keine adäquaten Fördermaßnahmen vorsehen, sondern sie eher etikettieren und ausgrenzen. Kinder mit ADHS machen überwiegend Sozialerfahrungen, die geprägt sind von Ablehnung und schulischem Misserfolg, welche sie trotz immer wiederkehrenden Bemühungen nicht allein verändern können. Dies führt zu einem negativen Selbstbild, zu Motivationslosigkeit, fehlendem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und Resignation. In meiner Abschlussarbeit, die ich als theoretische Grundlage zur anschließenden Falldokumentation sehe, stelle ich den gegenwärtigen Kenntnisstand über die Übersachen, Auftreten und Erscheinungsformen von ADHS dar, sowie deren Einfluss auf Familie, Schule und Lernen. In dem Kapitel Therapie bei ADHS habe ich mich in der Darstellung der Interventionen auf jene Verfahren beschränkt, für die eine Wirksamkeit nachgewiesen wurde und von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und psychotherapie empfohlen werden. Mir war dies besonders wichtig, da es auf dem Therapiemarkt viele sogenannte Alternativmethoden gibt, die nicht nur sehr teuer sein können und bestenfalls nicht wirken, sondern sogar schädlich sein können. 2 1 Begriffsbestimmung und Geschichte der ADHS-Forschung ........................................ 5 2 Symptome von ADHS ................................................................................................... 6 2.1 Aufmerksamkeitsstörungen ................................................................................... 6 2.2 Impulsivität............................................................................................................ 7 2.3 Hyperaktivität ........................................................................................................ 7 3 Prävalenz ....................................................................................................................... 8 3.1 Geschlecht und Lebensalter................................................................................... 8 3.2 Altersvariable Ausprägung .................................................................................... 8 3.2.1 Säuglingsalter ................................................................................................ 9 3.2.2 Kleinkindalter ................................................................................................ 9 3.2.3 Schulalter ....................................................................................................... 9 3.2.4 Jugendalter und Pubertät ............................................................................... 9 3.2.5 Erwachsenenalter......................................................................................... 10 4 Positive Seiten und Stärken bei ADHS ....................................................................... 11 5 Ursachen von ADHS ................................................................................................... 12 5.1 Neurobiologische Faktoren.................................................................................. 12 5.2 Genetische Faktoren ............................................................................................ 13 5.3 Weitere Ursachen ................................................................................................ 13 5.4 Soziale Faktoren .................................................................................................. 14 5.5 Integrative Modelle der Verursachung und Aufrechterhaltung von ADHS........ 14 5.6 Das Auftreten komorbider Störungen.................................................................. 15 6 ADHS und familiäre Beziehungen .............................................................................. 16 6.1 Belastung der Eltern ............................................................................................ 16 6.2 Geschwister ......................................................................................................... 17 6.3 Konfliktbereiche .................................................................................................. 17 6.4 Erziehungsverhalten der Eltern ........................................................................... 18 7 ADHS und Lernen ....................................................................................................... 18 7.1 Lernvoraussetzungen bei ADHS ......................................................................... 21 7.2 Charakteristika von ADHS in der Schule............................................................ 22 7.3 Soziale Integration in die Klasse ......................................................................... 23 7.4 Lehrer-Schüler-Beziehung................................................................................... 24 8 Diagnostik bei ADHS.................................................................................................. 24 8.1 Diagnostische Kriterien ....................................................................................... 25 8.1.1 Verhaltenssymptome ................................................................................... 25 8.1.2 Unterschiede zwischen ICD 10 und DSM IV ............................................. 27 8.2 Medizinische Diagnostik ..................................................................................... 28 8.3 Psychologische Diagnostik.................................................................................. 28 9 Therapie von ADHS .................................................................................................... 30 9.1 Aufklärung, Beratung und Instruktion der wichtigsten Bezugspersonen............ 31 9.2 Kindzentrierte Therapieverfahren........................................................................ 31 9.3 Familienzentrierte Interventionen........................................................................ 34 9.3.1 Familienzentrierte Verfahren im THOP ...................................................... 35 9.3.2 Elterntraining als Begleitung zum Training für aufmerksamkeitsgestörte Kinder nach Lauth / Schlottke ..................................................................................... 36 3 10 Schulische Interventionen............................................................................................ 37 10.1 Allgemeine Prinzipien ......................................................................................... 37 10.2 Verhaltensmodifikation im Unterricht ................................................................ 39 11 Medikamentöse Therapie ............................................................................................ 41 11.1 Stimulanzien erster Wahl..................................................................................... 41 11.2 Weitere Medikamente.......................................................................................... 42 11.3 Indikationen und Kontraindikationen, Nebenwirkungen .................................... 42 12 Weitere Therapie-Maßnahmen .................................................................................... 43 Schlussbemerkungen und eigene Erfahrungen.................................................................... 44 Literatur ............................................................................................................................... 46 4 1 Begriffsbestimmung und Geschichte der ADHS-Forschung Unter der Bezeichnung ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) wird eine Gruppe von auffälligen Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen zusammengefasst, die nach dem Diagnoseschlüssel DSM IV (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen, Saß, Wittchen, Zandig, 2000) unter Aufmerksamkeitsstörungen, auffälliger Unruhe oder hyperaktivem Verhalten und mangelnder Impulskontrolle leiden. Die in der Kindheit beginnende Verhaltens- und Lernstörung wurde vermutlich erstmals 1844 von dem Frankfurter Psychiater H. Hoffman in seinem Buch „Der Struwelpeter“ als der „Zappelphilipp“ geschildert, bei dem es sich um ein unruhiges, impulsives Kind handelt, das nie stillsitzen konnte. Zum ersten Mal wissenschaftlich ausgearbeitet wurde dieses Phänomen dann vom englischen Kinderarzt Still im Jahre 1902. Er war der Ansicht, dass hyperaktives Verhalten von Kindern nicht auf die schlechte Erziehung des Kindes oder ungünstige Umweltbedingungen zurückgeführt werden können, sondern es sich um eine angeborene Veranlagung handelt. Diese führe zu einer Unfähigkeit des Kindes, das eigene Verhalten zu steuern (Skrodzki, 2000). In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckte der Psychiater C. Bradley dann zufällig, dass ein Stimulanzienpräparat paradoxerweise Kinder mit Verhaltensstörungen beruhigte. In den 50er Jahren erschienen in den USA erste Veröffentlichungen zur „minimal brain disorder“, der in den 60er Jahren als Begriff für die ADHS Störung in Deutschland übernommen wurde. Erst in den 70er Jahren richteten amerikanische Forscher ihr Augenmerk verstärkt nicht mehr nur auf das auffällige hyperaktive Verhalten, sondern untersuchten auch darüber hinaus gehende Probleme der Ablenkbarkeit und Impulsivität. Mit Erfolg wurden Medikamente eingesetzt, die die Produktion und den Verbrauch von Neurotransmitterstoffen, wie Dopamin und Serotonin, im Gehirn, positiv beeinflussten. In den 80er Jahren entdeckte man, dass ADHS möglicherweise mit Dysfunktionen im Vorderhirn der betroffenen Personen zu tun haben könnte. 1987 erhält die Störung durch den amerikanischen Psychiaterverband ihre heute noch gültige Bezeichnung ADHD (attention-deficit-hyperactivity-disorder). Die Defizite der Aufmerksamkeit und impulsiven Motorik wurden dabei zu einer Diagnosekategorie zusammengefasst. Wichtige Erkenntnisse, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die wirklichen Ursachen von ADHS verweisen, wurden jedoch erst durch neurowissenschaftliche Forschungen in den 90er Jahren gemacht. Nach diesen Forschungen liegt mit großer Wahrscheinlichkeit der Störung 5 ein Ungleichgewicht der Transmitterstoffe im Gehirn zugrunde, wodurch die Informationsweiterleitung zwischen den Nervenzellen nicht hinreichend gewährleistet ist. Diese neurobiologische Sicht der Ätiologie von ADHS wird auch gegenwärtig noch als Hauptursache angesehen (Brandau, 2004). Neben der Bezeichnung ADHS existieren weitere Begriffe, die zum Teil auch heute noch verwendet werden: • Hyperkinetisches Syndrom (HKS) • Psychoorganisches Syndrom (POS) Dieser Begriff wird häufig noch in der Schweiz verwendet. • Aufmerksamkeitsstörung mit und ohne Hyperaktivität International sind die Bezeichnungen „Attention Deficit Disorder“ (ADD) bzw. „Attention Deficit / Hyperactivity / Disorder (ADHD) üblich. Da das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit und ohne Hyperaktivität auftreten kann, wird es im Deutschen entsprechend als ADS oder ADHS bezeichnet 2 Symptome von ADHS Charakteristisch für AHDS sind Beeinträchtigungen in der Aufmerksamkeitsfokussierung und Konzentration, der Impulskontrolle und der Aktivität der Betroffenen. 2.1 Aufmerksamkeitsstörungen Beeinträchtigungen in der Aufmerksamkeit beschreiben Lauth / Schlottke (2002) als einen Mangel in der Aufmerksamkeitsorientierung und der Zielgerichtetheit im Verhalten des Betroffenen. In der Schule, zu Hause, beim Spielen und bei den Hausaufgaben fallen ADHS-Kinder durch eine hohe Ablenkbarkeit und Sprunghaftigkeit im Denken und Handeln auf. Es fällt ihnen schwer, sich über einen längeren Zeitraum mit bestimmten Aufgaben zu beschäftigen und diese zu Ende zu bringen. Stattdessen verlieren sie schnell das Interesse an der Arbeit und wenden sich anderen Dingen zu, die ihnen interessanter erscheinen. Da sich ADHS-Kinder nur für sehr kurze Zeit konzentrieren können, behalten sie Gelerntes nur unvollständig, was in der Schule zu Wissenslücken und schlechten Zensuren 6 führt. Es gibt jedoch auch Situationen, in denen die Aufmerksamkeit nur gering oder gar nicht beeinträchtigt ist. Dies sind Momente, in denen die Kinder mit neuen oder für sie interessanten anregenden Inhalten konfrontiert werden. Darüber hinaus fällt es den Kindern schwer, Aufgaben und Aktivitäten selbständig zu strukturieren und zu organisieren. Oft sind sie auf äußere Hilfe durch einen Erwachsenen, Eltern oder Lehrer, angewiesen, der ihnen mehrfach sagen muss, was sie zu tun haben, worauf sie achten müssen, da sie vieles vergessen, verlieren oder übersehen. Die Kinder wirken deshalb auf andere Menschen chaotisch und zerstreut. 2.2 Impulsivität ADHS zeigt sich auch in einem überdurchschnittlich impulsiven Verhalten des Kindes. Das Kind hat eine mangelnde Fähigkeit, die eigenen Impulse zurückzuhalten und zu steuern. Es gelingt ihm nicht, seine erste spontane Reaktion in verschiedenen Situationen zu unterdrücken und zunächst nachzudenken, bevor es handelt. Impulsivität zeigt sich in verschiedenen Verhaltensweisen, z. B.: (Lauth / Schlottke, 2002) • nicht abwarten können, bis man an der Reihe ist • im Unterricht unaufgefordert dazwischenrufen • Dinge in die Tat umsetzen, die gerade einfallen, ohne auf den Kontext der Situation zu achten, in der man sich gerade befindet und das Verhalten situationsgerecht anzupassen • selbstgefährdendes und unbedachtes Verhalten, welches häufig Unfälle und Verletzungen nach sich zieht 2.3 Hyperaktivität Hyperaktivität zeigt sich darin, dass das Kind sehr unruhig ist. Es bewegt die Hände oder Füße permanent, kann nicht stillsitzen und sich ruhig beschäftigen. Diese zum Teil sehr starke motorische Unruhe der Kinder und ihr übermäßiger Bewegungsdrang sind die auffälligsten und stärksten Symptome von ADHS (Lauth / Schlottke, 2002). Die Kinder laufen hin und her und wirken auf andere getrieben, rastlos und wie „unter Strom“. Dieses Verhalten wirkt sich ebenso wie die anderen Verhaltensweisen eines ADHS-Kindes negativ 7 auf das soziale Umfeld aus, denn die ständige Unruhe, die das Kind verbreitet, kann sehr störend sein. Zusammen mit diesen Kernsymptomen können auch noch andere Auffälligkeiten auftreten, z. B.: Stimmungslabilität, Erschöpfung, Lustlosigkeit und Selbstzweifel (Neuy-Bartmann, 2006). Aufmerksamkeitsstörungen zeigen sich nicht bei jedem Kind in gleicher Art und Ausprägung. Bei manchen Betroffenen stehen die Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität im Vordergrund. Bei anderen Kindern beobachtet man eine ausgeprägte Unaufmerksamkeit, während impulsives und hyperaktives Verhalten selten auftreten. Ebenso gibt es Kinder, die hauptsächlich impulsiv und hyperaktiv reagieren, während Aufmerksamkeitsprobleme im Hintergrund stehen (s. Kapitel Diagnostik). 3 Prävalenz 3.1 Geschlecht und Lebensalter ADHS / ADS tritt abhängig von Geschlecht und Lebensalter auf. Je nach zugrunde liegenden Diagnosekriterien (DSM IV / ICD 10), Alter, den Erhebungsmethoden und den befragten Bezugspersonen sind 7 - 17 % der Jungen betroffen, 3 - 6 % der Mädchen (Döpfner, 2000, S. 5). Internationale Daten, die in der allgemeinen Bevölkerung erhoben wurden, ergaben eine Häufigkeit von 9,2 % (5,8 - 13,6 %) für Jungen und 2,9 % (1,9 - 4,5 %) für Mädchen (Leitlinie der AG ADHS der Kinder- und Jugendärzte). Neuere deutsche Erhebungen zeigen, dass bei 6 % der 6 - 10 Jahre alten Kinder Symptome von ADHS (Leitlinien Sozialpädiatrie) auftreten. Nach früheren deutschen Untersuchungen sind Jungen 5-mal häufiger von hyperaktiv-impulsiven Störungen betroffen als Mädchen. Die Mädchen hingegen zeigen doppelt so oft vorherrschend unaufmerksame Symptome als die Jungen (Baumgaertl et al, 1995; Leitlinien AG / ADHS). 3.2 Altersvariable Ausprägung Im Gegensatz zu anderen Verhaltensstörungen im Kindesalter, die als vorüber gehende Probleme auftreten (z.B. Daumenlutschen) und zeitlich begrenzt sind, handelt es sich bei 8 ADHS um eine länger andauernde und verschiedene Altersphasen überdauernde Störung, die altersvariabel auftritt. 3.2.1 Säuglingsalter Kinder mit AHDS fallen in dieser Phase durch lang anhaltendes Schreien auf. Sie sind unruhig, neigen zu Koliken und lassen sich nur mit Schwierigkeiten füttern. Auch reagieren sie sehr empfindlich und reizbar auf ihre Umwelt. In dieser Phase können Schlafstörungen auftreten und der Körperkontakt mit den Eltern wird abgelehnt (Neuy-Bartmann, 2006). 3.2.2 Kleinkindalter ADHS-Kinder im Kleinkindalter sind geprägt von einem starken Bewegungsdrang und motorischer Unruhe. Da die Kinder Frustrationen kaum ertragen, kommt es zu heftigen Wutanfällen und übermäßigem Trotzverhalten. Im Kindergarten und in der Vorschule fallen sie durch destruktives Spielverhalten auf. Sie integrieren sich nur mit Schwierigkeiten und zeigen bei Einzel- und Gruppenspielen wenig Ausdauer (Barkley, 2005). 3.2.3 Schulalter Wenn das Kind in die Schule kommt, zeigt sich das Ausmaß der Probleme mit ADHS. Die Kinder können nicht ruhig sitzen, laufen im Unterricht im Klassenraum umher und können sich nicht auf den Unterricht und die Aufgaben konzentrieren. Sie stören durch Zwischenrufe. Auch kann man bei ihnen ein chaotisches unstrukturiertes Arbeitsverhalten und Wissensdefizite feststellen (Neuy-Bartmann, 2006). 3.2.4 Jugendalter und Pubertät Auch in der Jugend und in der Pubertät bestehen weiterhin Probleme. Bei 70 - 80 % der Jugendlichen bleiben die Kernsymptome von ADHS weiterhin bestehen (Barkley, 2005, S. 153). Die Zeit der Pubertät ist für Jugendliche mit ADHS besonders schwierig. Sie haben nicht nur mit den Problemen zu kämpfen, die durch die Störung auftreten, sondern müssen sich zusätzlich mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen, welche diese neue Entwicklungsphase mit sich bringt (Knölker, 2005): • körperliche Veränderungen 9 • Identitätsfindung • die Rolle in der Peergroup • Selbstverantwortung • Frustrationstoleranz • Konfliktbewältigung Schon für „normale“ gleichaltrige Jugendliche ist diese Entwicklungsphase eine Herausforderung und mit Konflikten verbunden. Im Gegensatz zu ihren Altersgenossen verläuft die Entwicklung von Jugendlichen mit ADHS ungünstiger. Wie eine Untersuchung von Secnik et al (i. Knölker, 2005, S. 32) zeigt, haben die Jugendlichen • einen geringeren formalen Bildungsgrad • mehr Probleme am Arbeitsplatz • höhere Risiken bei der Teilnahme am Straßenverkehr • ein vermehrtes Risikoverhalten im Umgang mit der Sexualität • häufigere Konflikte mit dem Gesetz . 3.2.5 Erwachsenenalter Während die motorische Unruhe in fortschreitendem Alter zurückgeht, bleiben Probleme wie Ablenkbarkeit, Beeinträchtigungen in der Verhaltenskontrolle, im Leistungsvermögen und der Organisation des alltäglichen Lebens im Erwachsenenalter weiterhin bestehen. Im Unterschied zur Kinder- und Jugendzeit sind die Auswirkungen der Symptome in dieser Altersstufe gravierender und weit reichender. Die Aufgaben dieser Lebensspanne gestalten sich komplexer und anspruchsvoller. Überdurchschnittlich häufig treten Schwierigkeiten im Beruf, in der Beziehung mit dem Partner und im Freundeskreis auf, denn das Leben des von ADHS Betroffenen ist entscheidend geprägt von Hektik, Chaos, Gefühlsausbrüchen, Stimmungsschwankungen und Unzuverlässigkeit. Termine werden vergessen sowie Verabredungen und Aufträge (Neuy-Bartmann, 2006). Was wichtige Entscheidungen in der Lebensplanung betrifft, fehlt häufig das antizipatorische Handeln und eine strukturierte Verhaltensorganisation. 10 Zusammenfassend kann festgestellt werden: (Döpfner, 2000, S. 19) „Insgesamt ist also die hyperkinetische Störung als ein chronisches, von der frühkindlichen Entwicklung bis in das Erwachsenenalter hinreichend persistierendes Störungsbild zu betrachten. Entsprechend besteht die Notwendigkeit bereits früh erkennbare Risikofaktoren zu identifizieren, die mit einem erhöhten Risiko zu einer Chronifizierung der Störung einhergehen.“ ADHS ist somit als eine seelische Erkrankung zu betrachten, die die Betroffenen während der gesamten Lebensspanne begleitet und eine positive Entwicklung in Familie, Schule, Ausbildung, Beruf und Freundeskreis verhindert. Sie zieht weitere Probleme und Folgesymptome nach sich, insbesondere dann, wenn sie unbehandelt bleibt. 4 Positive Seiten und Stärken bei ADHS Kinder und Jugendliche mit ADHS bestehen nicht nur aus „Defekten“ und „Defiziten“, sie haben auch viele positive Seiten, die im alltäglichen Umgang mit ihnen in der Schule und der Therapie zum Vorteil ihrer Person eingesetzt werden sollten. Beispiele für positive Eigenschaften findet man u. a. bei Neuhaus (2002): • Hilfsbereitschaft und fürsorgliches Verhalten gegenüber Schwächeren und Hilfsbedürftigen, • ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, auch gegenüber anderen • Liebe zu Natur und Tieren • Empathie und Gutmütigkeit • nicht nachtragend, vergibt Fehler • phantasievoll und kreativ • intuitiv im Handeln • schnell im Denken und der Erfassung von Situationen • großes Energiepotential • Zähigkeit, „Stehaufmännchen“, versucht nicht aufzugeben • Begeisterungsfähigkeit • hohe Konzentrationsfähigkeit (Hyperfokussieren), insbesondere bei Dingen, die interessant sind und Spaß machen • anhänglich, wenn erst einmal Vertrauen zu einer Person gefasst wird 11 • auffallend gutes Gedächtnis für „Kleinigkeiten“, die andere nicht wahrnehmen. Gelingt es den Betroffenen, Struktur und Durchhaltevermögen zu entwickeln, so können auch sie ihre positiven und kreativen Potentiale nutzen. 5 Ursachen von ADHS Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass es verschiedene Faktoren gibt, die das Auftreten von ADHS begünstigen. Es sind zum einen biologische Voraussetzungen, die die Störung verursachen, jedoch können auch Bedingungen in der Familie, im Kindergarten, in der Schule den Verlauf und die Ausprägung von ADHS mit beeinflussen. 5.1 Neurobiologische Faktoren Man nimmt an, dass die Verhaltensstörungen der betroffenen Kinder durch eine neurobiologische Funktionsstörung im Gehirn, speziell im Frontalhirn, verursacht wird. In Gehirnarealen, die für Konzentration, Wahrnehmung und Impulskontrolle zuständig sind, ist das notwendige Gleichgewicht wichtiger Neurotransmitter, wie Dopamin, Noradrenalin und Serotonin, gestört. Insbesondere dem dopaminergen Stoffwechsel kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Es wird angenommen, dass der Transmitterstoff Dopamin nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung steht und es dadurch zu einer gestörten Weiterleitung von Informationen zwischen den Nervenzellen kommt. Von außen kommende Reize werden deshalb nur unzureichend und unkontrolliert gefiltert und weitergegeben. Die Folgen des verminderten Hirnstoffwechsels führen nach Barkley (2005) zu Störungen in der Verhaltenshemmung, der Impulskontrolle, der Reizwahrnehmung und -verarbeitung, der Selbststeuerung und der emotionalen Regulation. Seiner Ansicht nach liegen bei der ADHS Beeinträchtigungen im Bereich der exekutiven Funktionen vor. Damit sind grundlegende, mentale Prozesse höherer Ordnung gemeint, die u. a. für die Regulation und Aktivierung von Aufmerksamkeit, das Planen von Handlungen, das Zeitgefühl, das Initiieren und die Hemmung von Impulsen und Handlungen, die Handlungskontrolle, die Informationsanalyse und -verarbeitung, das Problemlösen, Wachheit sowie anderer kognitiver Funktionen verantwortlich sind (Döpfner, 2000). 12 5.2 Genetische Faktoren Die oben beschriebenen neurochemischen Veränderungen im Gehirn der Betroffenen sind, wie man aus Untersuchungen weiß, sehr wahrscheinlich genetisch bedingt. „Genauer gesagt, handelt es sich um eine Erbkrankheit, bei der fehlerhafte Funktionsabläufe des Gehirns weitervererbt werden.“ (Wender, 2002, S. 37). Grund zu dieser Annahme war die Beobachtung, dass in manchen Familien ADHS gehäuft auftritt, laut Döpfner bei 10 - 30 % der von ADHS Betroffenen (2000, S. 11). Es fiel in Untersuchungen weiterhin auf, dass Geschwister von Kindern mit ADHS häufiger die gleichen Symptome aufwiesen als Geschwister von gesunden Kindern. Väter und Verwandte berichteten, die gleichen Symptome in ihrer Kindheit gehabt zu haben wie ihre Kinder (Wender, 2002, S. 37). Ergänzende Studien wurden außerdem an eineiigen und zweieiigen Zwillingen und mit Adoptivkindern durchgeführt. Danach zeigte sich bei eineiigen Zwillingen ein häufigeres Auftreten als bei zweieiigen Zwillingen. Döpfner berichtet von einer Konkordanzrate von 81 % bei eineiigen Zwillingen und 29 % bei zweieiigen Zwillingen (Döpfner, 2000, S. 11). Die Befunde der Zwillingsforschung konnten untermauert werden durch Adoptivstudien und Untersuchungen an Kindern, die in einer Pflegefamilie aufwuchsen. Diese Art der Untersuchungen erlauben es, den Einfluss von Genen und Umwelt zu differenzieren (Wender, 2002, S. 37). Die Ergebnisse zeigten: • leibliche Geschwister von Kindern mit ADHS erkrankten doppelt so oft wie Halbgeschwister • die leiblichen Eltern der adoptierten Kinder mit ADHS waren häufiger selbst betroffen als die leiblichen Eltern adoptierter Kinder ohne ADHS Auch wenn diese Untersuchungen zeigen, dass es genetische Risikofaktoren in einer Familie gibt, so führen diese nicht zwangsläufig zum Auftreten von ADHS bei den Kindern. 5.3 Weitere Ursachen Zu weiteren Risikofaktoren, die zu ADHS führen können, werden Schädigungen während der Schwangerschaft, insbesondere Nikotin- und Alkoholmissbrauch, ein geringes Geburtsgewicht und neurologische Schädigungen gezählt. Eine Verursachung von ADHS durch Nahrungsbestandteile wie Zucker oder Lebensmittelzusätze konnten nicht nachgewiesen werden (Barkley, 2005). 13 5.4 Soziale Faktoren Nach dem gegenwärtigen Wissensstand sind psychosoziale Faktoren keine primäre Ursache von ADHS, sie tragen aber entscheidend zum Verlauf und der Ausprägung der Störung bei. So können bei gleicher genetischer Ausstattung unterschiedliche Umweltbedingungen dazu beitragen, dass es zu unterschiedlichen Ausprägungen der Symptome und des Verhaltens kommt (Steinhausen, 2000). Ungünstige Bedingungen, wie Lärm und Hektik, fehlende oder nicht durchschaubare Strukturen, restriktives oder inkonsequentes Erziehungsverhalten, ein von ADHS selbst betroffener Elternteil und beengte Wohnverhältnisse können den Ausbruch und ungünstigen Verlauf der Störung beeinflussen. Ebenso können schulische Gegebenheiten, wie hoher Leistungsdruck und große Klassen, Einflussfaktoren sein. Auch ungünstige soziale Bedingungen in der Freizeit, wie übermäßiges Fernsehen, häufiges Computer- oder Gameboy-Spielen und wenig Bewegung, können die Probleme von Kindern mit ADHS verstärken. In vielen Fällen bewirken die hyperkinetischen Symptome eine Zunahme an negativen Interaktionen in der Familie, mit den Bezugspersonen, in der Schule und mit Gleichaltrigen (Barkley, 2005). 5.5 Integrative Modelle der Verursachung und Aufrechterhaltung von ADHS Integrative Modelle zur Ätiologie von ADHS berücksichtigen den Einfluss mehrerer unterschiedlicher Faktoren auf die Störung (Döpfner, Lauth & Schlottke, Knölker). Im Folgenden soll das biopsychosoziale Modell der Entstehung und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeitsstörungen von Döpfner dargestellt werden. Es berücksichtigt alle weitgehend gesicherten Befunde zu den ätiologischen Faktoren von ADHS (Döpfner, 2000). Nach diesem Modell liegen die primären Ursachen von ADHS in genetischen Dispositionen, die eine Beeinträchtigung des Neurotransmitterstoffwechsels, insbesondere des Dopaminstoffwechsels, bewirken. Dies führt zur Einschränkung der Selbstregulationsfähigkeiten des Kindes, da die Hemmung von Impulsen nur noch mangelhaft gelingt. Die Beeinträchtigung der Selbstregulation betrifft das Arbeitsgedächtnis und die Regulation der Affekte, der Motivation und der Aufmerksamkeit. Diese Beeinträchtigungen manifestieren sich auf der Symptomebene in Form der klassischen Symptome Aufmerksamkeitsschwäche, Impulsivität und Hyperaktivität. Die Symptome bewirken wiederum eine Zunahme an negativer Interaktion des Kindes mit seinen Bezugspersonen in der Familie, Schule, mit 14 Gleichaltrigen, Lehrern und Erziehern. In Verbindung mit ungünstigen Bedingungen in der Familie, in der Schule und im Freizeitbereich kann es zur Entwicklung weiterer Symptome wie aggressivem und oppositionellem Verhalten, emotionalen Störungen und Leistungsdefiziten kommen. Im weiteren Verlauf ist es möglich, dass sich die Symptome weiter verschärfen, wenn der Teufelskreis, in dem sich das Kind dann mittlerweile befindet, nicht durch entsprechende medizinische, psychologische oder pädagogische Interventionen unterbrochen wird. 5.6 Das Auftreten komorbider Störungen Unter komorbiden Störungen werden alle weiteren psychischen Erkrankungen gezählt, die zusätzlich zu einer Primärerkrankung, in diesem Fall ADHS, auftreten können. Dabei ist bisher noch nicht eindeutig geklärt, ob die Begleiterkrankungen unmittelbar aus ADHS heraus zusätzlich entstehen oder ob sie daraus resultieren, dass die Betroffenen aufgrund ihres Verhaltens, das zu Ablehnung und Misserfolg führt, weitere Symptome ausbilden (Neuy-Bartmann, 2006). Von komorbiden Störungen sind bis zu zwei Drittel aller Kinder mit ADHS betroffen. Sie stellen ein zusätzliches Risiko für die weitere Entwicklung der Kinder dar. In einer Zusammenfassung verschiedener klinischer Studien stellt Döpfner (2000, S. 7) die Höhe verschiedener Komorbiditätsraten bei Kindern mit hyperkinetischem Verhalten vor. Danach tritt zusätzlich auf: • bei 50 % oppositionelle Störung des Sozialverhaltens • bei 30 - 50 % Störung des Sozialverhaltens (ohne oppositionelle Verhaltensstörung) • bei 10 - 40 % eine affektive, vor allem depressive Störung • bei 20 % Angststörungen • bei 10 - 25 % Lernstörungen, Teilleistungsschwächen • bei 30 % Tic-Störungen oder Tourette-Syndrom Weitere mögliche Begleiterkrankungen von ADHS können Entwicklungsstörungen mit einer psychomotorischen und sprachlichen Entwicklungsverzögerung, Lern- und Teilleistungsstörungen (LRS, Dyskalkulie) sein, aber auch Sucht und zwanghaftes Verhalten. Ebenso kann eine hohe Unfallrate bei ADHS-Kindern beobachtet werden, die Folge der Unaufmerksamkeit und Impulsivität dieser Kinder ist. 15 Komorbide Störungen müssen in der Diagnostik von ADHS differenzialdiagnostisch abgegrenzt und in der Therapie gesondert behandelt werden. 6 ADHS und familiäre Beziehungen Kinder mit ADHS leben in verschiedenen sozialen Bezugssystemen, die ihr Verhalten beeinflussen und in denen ihre Schwierigkeiten auftreten können. Für das Verständnis der Störung, ihre Ausprägung, Weiterentwicklung und die therapeutischen Interventionen ist es wichtig, diese Bezugssysteme mit einzubeziehen. Der wohl wichtigste Bezugsrahmen für das Kind mit ADHS ist die Familie. Probleme, die hier aufgrund der Störung auftreten, betreffen das Erziehungsverhalten der Eltern und die emotionalen Beziehungen aller Familienmitglieder. 6.1 Belastung der Eltern Die Eltern von Kindern mit ADHS sind deutlich belasteter und müssen wesentlich mehr Bemühungen aufbringen als Eltern mit Kindern ohne ADHS. Ihr Kind benötigt wesentlich mehr Anleitung, Unterstützung und Beaufsichtigung. Studien, die sich mit der Belastung durch ADHS befassen, kamen zu dem Ergebnis, dass vor allem die Mütter aufgrund des Verhaltens des ADHS-Kindes gefordert und belastet sind. Es zeigte sich, dass die Beziehung zwischen den Müttern und Kindern mit ADHS durch eine hohe Intensität in den Interaktionen geprägt ist. Im Kontakt mit ihren Müttern forderten diese Kinder mehr Aufmerksamkeit, verbale Kommunikation und Hilfen. Die Mütter selbst nahmen mehr Einfluss auf die Selbststeuerung des Kindes und kontrollierten deren Verhalten stärker (Campell, 1975, i. Barkley, 2005, S. 174). Die Kinder wiederum reagierten viel weniger auf die Anweisungen der Mütter, sie waren weniger ausdauernd in der Beschäftigung mit einer Aufgabe. Die Mütter verhielten sich daraufhin den Kindern gegenüber negativ und gaben ihnen mehr Befehle (Barkley, 2005, S. 174). Im Gegensatz dazu steht die Beziehung zwischen Vater und Kind. Hier zeigte sich, dass der Kontakt weniger negativ verlief und störendes Verhalten der Kinder weniger häufig auftrat. Die Väter nahmen das Problemverhalten der Kinder scheinbar auch weniger wahr (Barkley, 2005, S. 174). Der Grund für diese unterschiedlichen Interaktionsmuster liegt wahrscheinlich darin, dass die Mütter auch heute noch den Hauptteil der Erziehung und 16 Versorgung des Kindes übernehmen müssen und permanent mit schwierigen Erziehungsaufgaben konfrontiert sind, die ADHS mit sich bringt und dadurch im Laufe der Zeit negativer auf das Kind reagieren. Durch die häufigere Abwesenheit der Väter ist ihr Verhältnis zum Kind wahrscheinlich nicht so stark belastet wie das zwischen Mutter und Kind (Lauth / Schlottke, 2002). Die hohe Belastung durch ein Kind mit ADHS kann sowohl die Beziehung der Eltern über die Maßen strapazieren als auch gesundheitliche Probleme nach sich ziehen. Es ist daher wichtig, dass die Mütter in der Erziehung durch die Väter entlastet werden und Erholungspausen einlegen können. 6.2 Geschwister Geschwister von Kindern mit ADHS leiden ebenfalls unter dem impulsiven und unaufmerksamen Verhalten des Kindes. Es ist für sie anstrengend, mit einem „Störenfried“ zusammenzuleben, auf den sie Rücksicht nehmen müssen, der, obwohl er für viele Probleme sorgt, mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung von den Eltern erhält (z. B. bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben). 6.3 Konfliktbereiche Kindern mit ADHS fällt es schwer, Aufgaben, die man ihnen überträgt, auszuführen und zu Ende zu bringen (z.B. ihr Zimmer aufräumen, Hausaufgaben erledigen). Sie gehen mit den Anweisungen und Verboten ihrer Eltern sturer um und ignorieren Regeln, die von ihnen in bestimmten Situationen erwartet werden. Innerhalb der Familie gibt es typische Problemsituationen, die zu Konflikten führen: z. B. bei den Hausaufgaben, beim Zubettgehen, wenn Besuch kommt, Aufträge erledigt werden sollen, Verhalten bei den Mahlzeiten, in der Öffentlichkeit usw. Es sind Situationen, die so strukturiert sind, dass feste Handlungsabläufe und Regeln eingehalten werden müssen. Gerade dieses aber fällt dem Kind mit ADHS schwer. Die Eltern empfinden das auffällige Verhalten des Kindes in diesen Situationen als besonders belastend (Lauth / Schlottke, 2002). 17 6.4 Erziehungsverhalten der Eltern Kinder mit ADHS stellen durch ihr unstrukturiertes, impulsives und unruhiges Verhalten große Anforderungen an das Erziehungsverhalten ihrer Eltern, da sie nicht wie verhaltensunauffällige Kinder durch Hinweise und Ermahnungen zu steuern sind. Eltern reagieren darauf zunächst mit wiederholten Ermahnungen und Anweisungen, verändern aber ihr Verhalten im Laufe der Zeit zu Ungunsten eines zunehmend restriktiveren Erziehungsstils. Durch Androhung von Strafe oder durch negative Rückmeldungen versuchen sie, ihre Anweisungen durchzusetzen. Im Gegenzug versucht das Kind nun seinerseits, die eigenen Ziele durchzusetzen (z. B. etwas anderes lieber tun), worauf die Eltern wiederum mit aversiverem Verhalten reagieren usw. Durch dieses Erziehungsverhalten werden aufmerksamkeitsgestörte Kinder eher bestraft als belohnt, da positive Verhaltensansätze kaum noch wahrgenommen, belohnt und unterstützt werden. Die Verhaltensauffälligkeiten verfestigen sich so. „Bei einem eher aversiv-kontrollierenden und verhärtenden Erziehungsverhalten besteht das Risiko, dass sich die Erziehungsprobleme mit dem Kind ausweiten und auch außerhalb der Familie auftreten“ (Lauth / Schlottke, 2002, S. 56). Grundvoraussetzung für eine gute Erziehung ist, dass die Eltern in einem emotional stabilen Zustand sind und ihrem Kind liebevoll und konsequent gegenüberstehen unter Beibehaltung von Autorität und der Einhaltung von Grenzen. In Elterntrainings können Eltern lernen, durch förderliches Verhalten auf die Störungen ihrer Kinder Einfluss zu nehmen. 7 ADHS und Lernen Effektives und störungsfreies Lernen setzt ein funktionierendes Gehirn voraus, das Informationen aufnimmt, sie strukturiert verarbeitet, einordnet und dauerhaft abspeichert. Lernen wird aber auch noch von anderen Faktoren bestimmt (Stark-Städele, 2005): • der Sinneswahrnehmung • der Aufmerksamkeit und Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu fokussieren, d. h. die Konzentration über einen längeren Zeitraum auf eine bestimmte Aufgabe zu richten • der individuellen Motivation, den Emotionen und bisherigen Erfahrungen mit dem Lernen • den Lernbedingungen im sozialen Umfeld 18 Kinder mit ADHS bringen, wie noch dargestellt werden wird, andere Lernvoraussetzungen mit, die das Lernen erschweren. Zunächst sollen einige grundlegende Prozesse des Lernens vorgestellt werden, wie sie im „Normalfall“ ablaufen. Die Fähigkeit zu lernen ist schon im frühen Kindesalter vorhanden. Durch Sinneseindrücke, Sinnesreize und Empfindungen lernt das Gehirn des Kleinkindes. Es ist in der Lage, alle Reize genau wahrzunehmen, wenn diese „geordnet“ und „organisiert“ ins Gehirn gelangen und nicht durch Wahrnehmungsprobleme, wie sie bei ADHS bestehen können, verändert oder reduziert aufgenommen werden. Durch sich wiederholende Erfahrung und Wahrnehmung der gleichen Eindrücke werden dabei Lernprozesse ausgelöst und Verhaltensweisen ausgebildet (Stark-Städele, 2005). Was nun passiert beim Lernen genau im Gehirn? Zur Erklärung der Arbeitsweise des Gehirns kann dazu das 3-Speichermodell herangezogen (Born / Oehler, 2004) werden. Es unterscheidet drei verschiedene Systeme der Informationsaufnahme und Verarbeitung: • den sensorischen Speicher (das Ultrakurzzeitgedächtnis, UKZG) • den Kurzzeitspeicher (das Arbeitsgedächtnis, KZG) • den Langzeitspeicher (das Langzeitgedächtnis, LZG) Alle drei Speichersysteme arbeiten in gegenseitiger Wechselwirkung miteinander. Über die Sinneskanäle (taktil, visuell, auditiv, olfaktorisch, gustatorisch) gelangen ununterbrochen große Mengen von Informationen in das menschliche Gehirn. Diese erreichen zuerst den sensorischen Speicher. Reize, die für die Person von Bedeutung sind oder denen sie sich bewusst zuwendet, haben die Chance, den ersten Filter zwischen UKZG und KZG zu überwinden. Wenn jedoch für diese Reize „keine Aufmerksamkeit vorhanden ist oder wenn sie sich nicht an bereits bekannten Gedankenverbindungen aufhängen lassen, dann gehen diese Wahrnehmungen an uns vorbei wie Straßengeräusche oder wie die Laute einer frem19 den Sprache“ (Vester, 2006, S. 62). Im Kurzzeitspeicher bleiben die Informationen ca. 20 Minuten. Es kann ca. 7 ± 2 Elemente speichern, jedoch, abhängig vom Vorwissen der Person und ihren Integrationsmöglichkeiten, auch mehr. Das KZG spielt beim Lernen eine wichtige Rolle. „Es ist eine Funktion, die einige wenige Inhalte unmittelbar aktiviert hält und es erlaubt, mit diesen Inhalten im Geist zu hantieren“ (Spitzer, 2007, S. 5). Es verknüpft und ordnet neue aktuelle Informationen mit dem Wissen und den Erfahrungen, die im LZG bereits gespeichert sind. Informationen und Inhalte, die das Langzeitgedächtnis erreichen und die abgespeichert werden sollen, müssen „Spuren“ im Gedächtnis hinterlassen, sie müssen wiederholt werden, damit sie behalten werden. Abspeicher- und Behaltensprozesse sind von der modernen Gehirnforschung umfangreich untersucht worden. Danach vollzieht sich Lernen über den Aufbau von Neuronenverbindungen zu umfangreichen neuronalen Netzwerken (Born / Oehler, 2004). Dabei werden zunächst einzelne Verbindungen gestärkt (z. B. durch Wiederholung des Stoffes beim Lernen). Je länger und intensiver man sich aber mit bestimmten Inhalten beschäftigt, desto eher hinterlassen sie Spuren im Gedächtnis. „Ein bestimmter Inhalt wird [jedoch] nicht von einem Kasten zum nächsten weitergereicht, sondern im Kopf bearbeitet, von verschiedenen Arealen des Gehirns zugleich und interaktiv begleitet, es wird mit ihm geistig hantiert. Je mehr, je öfter, je tiefer, desto besser für das Behalten“ (Spitzer, 2007, S. 6). Lern- und Behaltensprozesse vollziehen sich leichter, wenn sie durch Interesse motiviert sind und mit positiven Gefühlen einhergehen. So gelingt der Zugang zum Lernstoff leichter und das Gelernte wird besser behalten. Wird unter Angst und Furcht gelernt, so kann dies zwar kurzfristig das Einspeichern neuer Inhalte fördern, führt jedoch langfristig zu negativen Effekten wie Denkblockaden, mangelnder Fähigkeit Probleme zu lösen oder Erschöpfung (Spitzer, 2007). Das Lernen wird von unserem Körper durch ein gehirneigenes Belohnungssystem unterstützt, das unmittelbar mit den Lernprozessen verbunden ist und bei Aktivitäten, die Spaß machen, Dopamin aktiviert. Dopamin wiederum verursacht die Freisetzung von körpereigenen Stoffen, die positive Gefühle auslösen. Wird dieses System aktiviert, so klappt die Übertragung ins Gedächtnis gut und entsprechende Informationen werden besonders gut abgespeichert und sind besser abrufbar (Stark-Städele, 2005). Lernen mit positiven Gefühlen und Spaß setzt positive Sozialkontakte voraus und ein Umfeld, in dem das Kind angstfrei lernen kann, es ausreichend Unterstützung und Anerkennung erhält. 20 7.1 Lernvoraussetzungen bei ADHS Aufgrund von spezifischen neurobiologischen und neuropsychologischen Gegebenheiten haben Kinder mit ADHS andere Lernvoraussetzungen als gleichaltrige Kinder ohne ADHS. Durch Abweichungen im Gehirnstoffwechsel sind Gedächtnisleistung und Lernprozesse beeinträchtigt und funktionieren nicht reibungslos. Im Einzelnen betroffen ist die Wahrnehmungsweise, die Wahrnehmungsselektion, Aufmerksamkeitsspanne und die Abspeicherung im Langzeitgedächtnis (Stark-Städele, 2005). Aufgrund vorhandener Wahrnehmungsstörungen werden Reize und Informationen nur lückenhaft und zum Teil auch falsch aufgenommen. Ebenso ist es dem Kind mit ADHS nur schwer möglich, seine Aufmerksamkeit länger und gezielt auf bestimmte Reize zu fokussieren und dabei unwichtige Reize auszublenden. Bedingt durch eine Filterschwäche in der Wahrnehmung gelangen zu viele Reize, bedeutsame und unbedeutsame, gleichzeitig ins Kurzzeitgedächtnis. Da die Kapazität dieses Speichersystems bei ADHS geringer ist als bei anderen Menschen (5 Einheiten), wird dieses noch zusätzlich mit weniger relevanten Reizen überlastet. Ein weiteres Handicap bei der Informationsverarbeitung im Gehirn besteht in der Verweildauer aufgenommener Reize im Kurzzeitgedächtnis. Sie ist bei Kindern mit ADHS kürzer als bei nicht betroffenen Kindern. Die Arbeitsvorgänge im Kurzzeitgedächtnis setzen jedoch eine gewisse Zeit voraus, damit Informationen wach gehalten, vorgeordnet und wiederholt werden können. So wird z. B. neuer Lernstoff bei ADHS während des Einprägeprozesses schon wieder vergessen oder nur bruchstückhaft aufgenommen (Born / Oehler, 2004). Das Kind mit ADHS hat ebenso beim Zuordnen und Speichern von Informationen ins Langzeitgedächtnis Probleme. Es kann im Gegensatz zu anderen Kindern nicht auf ein beständiges und strukturiertes Raster im Langzeitgedächtnis zurückgreifen, mit dem es vorhandenes Wissen und Erfahrungen mit neuen Informationen abgleichen und einordnen kann. Strukturiertes Abspeichern setzt jedoch von Anfang an eine funktionierende selektive Aufmerksamkeit und gut angelegte „Schubladen“ im Langzeitgedächtnis voraus. Die dauerhafte Abspeicherung und Automatisierung von Lernstoff gelingt nur durch gründliches, systematisches Lernen mit vielen Wiederholungen und ausreichend Zeit. Hier gibt es bei Kindern mit ADHS Motivationsprobleme. Aufgrund von vielen Misserfolgen, die diese Kinder beim Lernen erlebt haben, sind die Anstrengungsbereitschaft und das Durchhaltevermögen gering. Außerdem funktioniert das gehirneigene Belohnungssystem nicht so wie 21 bei unauffälligen Kindern. Kinder mit AHDS benötigen stärkere Reize, damit Dopamin ausgeschüttet und ein positives Gefühl bewirkt wird. Trotz des großen Zeitaufwandes beim Lernen behalten die Kinder nur wenig (Knölker, 2005, Born / Oehler, 2004). Hinzu kommt, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen „keine Zeit“ zum Lernen haben. Alles muss schnell gehen und sollte möglichst immer wieder spannend und neu sein, da sonst das Interesse nachlässt. Will man diesen Kindern mit ihren besonderen Voraussetzungen das Lernen erleichtern, so sollte man eine reizarme Umgebung mit möglichst wenigen Ablenkungsmöglichkeiten schaffen, sie durch positiv-verstärkende und strukturierte Begleitung zum Lernen motivieren, das Lernen in kleinen Portionen durchführen und durch regelmäßige Wiederholungen sichern (Neuhaus, 2002). 7.2 Charakteristika von ADHS in der Schule Aufmerksamkeitsstörungen zeigen sich in der Schule in ihrer ganzen Tragweite. Hier wird von dem Kind ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, Konzentration und Selbstkontrolle erwartet. Eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, Fehlen von Selbststrukturierung, Selbstorientierung und -steuerung erschwert den von ADHS betroffenen Kindern das Lernen in der Schule erheblich. Im Vergleich zu ihren Mitschülern erbringen diese Kinder schlechtere Leistungen und werden auch deutlich schlechter benotet. Sie erreichen zumeist auch einen schlechteren Schul- und Ausbildungsabschluss (Lauth / Schlottke, 2002). Eine amerikanische Untersuchung (Born / Oehler, 2004, S. 12) ergab: • 56 % der Schüler mit ADHS benötigen zusätzlich Nachhilfeunterricht • etwa 30 % müssen eine Klasse wiederholen • 30 - 40 % nehmen an speziellen Förderungen oder Erziehungsprogrammen teil • 46 % der ADHS-Kinder wurden schon mindestens einmal vom Unterricht suspendiert • 10 - 35 % können keinen High-School-Abschluss machen Die Auswirkungen der Kernsymptome von ADHS zeigen sich im Unterricht sehr deutlich: 22 Unaufmerksamkeit Es fällt dem Kind schwer, sich länger mit einer Aufgabe zu beschäftigen. Es ist leicht ablenkbar und verliert nach kurzer Zeit den Faden. Es hat ebenso Probleme, den Anweisungen und Ausführungen des Lehrers aufmerksam über einen längeren Zeitraum zu folgen, wodurch es wichtigen Unterrichtsstoff nicht mitbekommt und Aufgaben nicht richtig ausführt. In seinem Arbeitsverhalten zeigt das Kind, bedingt durch den beeinträchtigten Gehirnstoffwechsel, Schwankungen. Es verliert ganz plötzlich die Lust oder liefert Arbeitsergebnisse, die manchmal gut, manchmal schlecht ausfallen. Impulsives Verhalten Im Unterricht zeigt sich impulsives Verhalten in Form von mangelhafter Verhaltenskontrolle und -steuerung. Das Kind beginnt mit der Aufgabe, bevor der Lehrer sie zu Ende erklärt und es diese verstanden hat. Es geht in der Bearbeitung schnell und unüberlegt vor, so dass es viele Flüchtigkeitsfehler macht oder keine richtigen Ergebnisse zustande kommen. Insbesondere bei komplexen Aufgaben, die eine strategische Planung und Zeit benötigen, sind die Kinder schnell ungeduldig, demotiviert und entmutigt. Im Unterricht fallen sie auch dadurch auf, dass sie Antworten oder Fragen unaufgefordert in die Klasse rufen (Imhof, 2003). Hyperaktivität Das Kind zappelt, bleibt nicht auf seinem Stuhl sitzen, läuft in der Klasse umher und stört damit den Unterricht. Besonders in stark unstrukturierten Situationen haben Schüler mit ADHS Probleme, ihr Verhalten und ihre Aufmerksamkeit zu steuern. Dies kann im Unterricht sein, beim Arbeiten in einer offenen Unterrichtsform (Einzel-, Frei- und Gruppenarbeit), aber auch in Situationen außerhalb des Unterrichts wie in der Pause, auf dem Nachhauseweg, bei Schulausflügen (Imhof, 2003). 7.3 Soziale Integration in die Klasse Zunächst ist das hyperaktive Kind noch in die Klassengemeinschaft integriert. Es wird von seinen Mitschülern bewundert, weil es kontaktfreudig und mutig ist. Im Laufe der Zeit jedoch ziehen sich seine Mitschüler von ihm zurück und entwickeln eine ablehnende Haltung. Die Zurückweisung durch die Gleichaltrigen ist eher Folge als Ursache, denn das Kind mit ADHS verhält sich zunehmend egoistisch, möchte immer der Chef sein und hält 23 sich nicht an Regeln (z. B. beim Spielen). Weiterhin kann es in seinen Stimmungen sehr schwankend sein, so dass es die anderen Kinder nicht einschätzen können (Imhof, 2003). 7.4 Lehrer-Schüler-Beziehung Lehrer wissen oft nur wenig über die Hintergründe von ADHS und glauben, die Kinder wollen sie mit ihrem Verhalten provozieren und verhalten sich bewusst impulsiv, hypermotorisch oder unaufmerksam. Sie lösen bei Lehrern Stress aus und veranlassen die Lehrkraft zu negativen Reaktionen, wie verbaler Aggression, Strafen, Notendruck und Ignorieren positiver Verhaltensweisen (Krowatschek, 1996, S. 6). Zunehmender Druck auf das Kind kann wiederum weitere auffällige Verhaltensweisen auslösen, so dass es immer stärker in die Außenseiterrolle gerät, zunehmend leistungsschwächer und entmutigter sein kann. 8 Diagnostik bei ADHS Die Diagnose von Aufmerksamkeitsstörungen muss sehr sorgfältig durchgeführt werden und verschiedene Faktoren mit einbeziehen. Neben einer fundierten Erhebung der Vorgeschichte, die aus der Anamnese des Kindes, seiner Familie und des sozialen Umfeldes besteht, ist eine körperlich-neurologische und internistische Untersuchung angezeigt, um eventuelle somatische Faktoren, die für das Verhalten des Kindes ursächlich sein könnten, auszuschließen. In einer testpsychologischen Untersuchung wird die Intelligenz, der Entwicklungsstand des Kindes, die schulische Leistungsfähigkeit, Aufmerksamkeitsleistung etc. festgestellt und durch Verhaltensbeobachtungen ergänzt. Ebenso wird differenzialdiagnostisch abgeklärt, ob eine andere Störung vorliegt, die zu ähnlichen Symptomen wie ADHS führt und ob komorbide Störungen bestehen. Es empfiehlt sich, die Diagnostik von Kinder- und Jugendpsychiatern oder spezialisierten Kinder- und Jugendpsychologen durchführen zu lassen, wobei die Kriterien der Aufmerksamkeitsstörung wie sie in ICD 10 oder DSM IV zu finden sind, mit den Ergebnissen der o. g. Untersuchungen überprüft werden. 24 8.1 Diagnostische Kriterien 8.1.1 Verhaltenssymptome Zur Überprüfung der geschilderten und beobachteten Auffälligkeiten stehen zwei Kriterienkataloge zur Verfügung: • ICD 10 - Internationales Klassifikationssystem für psychische Störungen der WHO • DSM IV - das Diagnoseschema der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie Beide Klassifikationssysteme haben sowohl gemeinsame als auch unterschiedliche Kriterien, die zur Diagnose ADHS führen. Weitgehend übereinstimmend legen ICD 10 und DSM IV fest (Knölker, 2005, S. 16): • die Symptome einer Aufmerksamkeitsstörung müssen seit mindestens sechs Monaten konstant bestehen und in einem für den Entwicklungsstand des Betroffenen untypischen Ausmaß auftreten • die gesamte Störung oder Symptome der Störung müssen vor dem Alter von sieben Jahren bestanden haben und in zwei oder mehreren verschiedenen Lebensbereichen (z. B. zu Hause und in der Schule) auftreten und sich auswirken • die Symptome müssen zu deutlichen und klinisch relevanten Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen führen. • die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, einer Schizophrenie oder anderer psychotischer Erkrankungen auf und können nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden. Weiterhin werden für die formelle Diagnose auch weitgehend gemeinsame Symptome zugrunde gelegt, wie sie in DSM IV beschrieben sind (Döpfner, 2000, S. 2) Sie beinhalten verschiedene Verhaltensmerkmale, die sich auf den Bereich der Unaufmerksamkeit, der Hyperaktivität und der Impulsivität beziehen. Aus jedem Bereich müssen mindestens sechs oder mehr Symptome vorhanden sein, die von Eltern und Lehrern bestätigt werden sollen. Verhaltenssymptome zu Unaufmerksamkeit: 25 Das Kind 1. beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder anderen Tätigkeiten 2. hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielaktivitäten aufrechtzuerhalten 3. scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen 4. führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig aus und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund von oppositionellen Verhaltens oder Verständnisschwierigkeiten) 5. hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben oder Aktivitäten zu organisieren 6. vermeidet Aktivitäten häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern (Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben) 7. verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z. B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug) 8. lässt sich öfter durch äußere Reize leicht ablenken 9. ist bei Alltagsaktivitäten häufig vergesslich Zu dieser Symptomgruppe müssen die Eltern und Lehrer mindestens sechs Symptome bestätigen. Verhaltenssymptome zur Hyperaktivität: Das Kind 1. zappelt häufig mit den Händen und Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum 2. steht in der Klasse oder anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, (häufig) auf 3. rennt umher oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben) 4. hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten in Ruhe zu beschäftigen 5. ist häufig auf Achse oder handelt oftmals, als wäre er/sie getrieben 6. redet häufig und überdurchschnittlich viel 26 Verhaltenssymptome zur Impulsivität: Das Kind 1. platzt häufig mit Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist 2. kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist 3. unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder Spiele anderer hinein) 8.1.2 Unterschiede zwischen ICD 10 und DSM IV Der Hauptunterschied zwischen beiden Klassifikationssystemen liegt in der Anzahl und Kombination der Kriterien zu Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, die für die Diagnose ADHS Voraussetzung sind. Nach ICD 10 müssen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität situationsübergreifend vorliegen, um als einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F.90.0) diagnostiziert zu werden. Kommt zu diesen Symptomen eine Störung des Sozialverhaltens hinzu, so liegt eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens vor (F.90.1). Im DSM IV hingegen werden drei Subtypen von Aufmerksamkeitsstörungen unterschieden (Lauth / Schlottke, 2002, S. 16 f.): • ein Mischtyp, bei dem die Merkmale Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität und Impulsivität gemeinsam beobachtet werden • ein vorwiegend auf Unaufmerksamkeit ausgerichteter Typ, bei dem nur die Merkmale Unaufmerksamkeit beobachtet werden, während hyperaktives-impulsives Verhalten nicht in der kritischen Häufigkeit auftritt • ein Typ mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bei vorherrschender Hyperaktivität-Impulsivität. Hier werden überwiegend hyperaktiv-impulsive Symptome beobachtet, während eine bedeutsame Unaufmerksamkeit im kritischen Bereich nicht vorliegt. Darüber hinaus wird im ICD 10 und im DSM IV die Kategorie einer nicht näher bezeichneten Aufmerksamkeitsstörung vorgegeben, die gewählt wird, wenn einzelne Diagnosekriterien nicht erfüllt sind (Döpfner, 2002). 27 Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen beiden Systemen besteht darin, dass ICD 10 Kombinationsdiagnosen für jene Störungen vorsieht, die häufig gemeinsam auftreten, während nach DSM IV mehrere Diagnosen unterschieden werden. 8.2 Medizinische Diagnostik Eine zusätzliche medizinische Diagnostik mit körperlicher Untersuchung des Kindes klärt, ob Erkrankungen bestehen, wie hirnorganische und neurologische Krankheiten oder auch Stoffwechsel- oder Muskelerkrankungen, die ADHS verursacht haben könnten, aber auch ob andere somatische Erkrankungen vorliegen, die zu ähnlichen Symptomen geführt haben können. Ein wichtiger Baustein in der medizinischen Diagnostik ist „die Beachtung der Gesamtmotorik des Kindes, um die Fähigkeiten und Schwächen, das Zusammenspiel und die Steuerung der Motorik und die Umsetzung verbaler Bewegungsaufgaben in Handlungen zu sehen und einschätzen zu können.“ (Imhof, 2003, S. 75) Anhand von Arbeitsproben wie Diktaten oder Zeichnungen des Kindes kann festgestellt werden, inwieweit auch die Feinmotorik betroffen ist. 8.3 Psychologische Diagnostik Die psychologische Diagnostik wird mit Hilfe verschiedener Tests und Fragebögen durchgeführt und soll Aufschluss darüber geben, welcher Art und Schwere die Aufmerksamkeitsstörungen sind, wie hoch die kognitive Leistungsfähigkeit des Kindes ist und ob Teilleistungsprobleme bestehen. Die psychologische Diagnostik richtet den Blick nicht nur auf die Verhaltensschwierigkeiten, sondern auch auf die Bedingungen und Situationen, in denen das auffällige Verhalten auftritt. Ebenso zur psychologischen Diagnostik gehört die Beobachtung des Kindes in anderen Situationen, wie in Interaktionen mit den Eltern, Geschwistern, in der Schule oder im Kindergarten. Sorgfältig beobachtet werden müssen auch alle anderen Verhaltensweisen, wie Ängste, Anzeichen von Verstimmung, Aggressionen, Niedergeschlagenheit und Anzeichen von Selbstwertproblemen, die ebenfalls mit Hilfe betreffender Fragebögen, wie z. B. Angstinventaren oder Stressbarometer, näher untersucht werden können. Nicht immer verhält sich ein Kind mit ADHS in der Untersuchungssituation auffällig. Barkley weist darauf hin, dass gerade in einer für das Kind neuen und interessanten Situa- 28 tion das Kind konzentriert, anwesend und selbstgesteuert wirken kann und hyperaktive Symptome nicht beobachtet werden können (Barkley, 2005, S. 202). Besondere Bedeutung wird dem Verhalten des Kindes in der Testsituation beigemessen: Wie konzentriert arbeitet es mit, welche Lösungsstrategien wendet es an und in welchem Maß benötigt das Kind Hilfe, um die Aufgaben zu lösen. Im Zusammenhang mit einem Test der Intelligenz weist Krowatschek (2001, S. 83) darauf hin, dass kurzdauernde Verfahren (z. B. CFT 20) nicht zu empfehlen sind, da sie während der Durchführung nicht genügend Beobachtungsspielraum für den Untersucher bieten. Als günstigere Tests sieht Krowatschek das K-ABC und den HAWIK R an. Oehler weist darauf hin, dass Kinder und Jugendliche mit ADHS in den Ergebnissen der Intelligenztests etwa 7 - 15 Punkte unter ihrem realen Wert liegen, was durch kurze Konzentrationsspannen und schnellen Aufmerksamkeitsabfall bedingt ist (Born / Oehler, 2004). Die wichtigsten Informationen für die Diagnose von ADHS erhält man aus der ausführlichen Erhebung der Lebensgeschichte des Kindes und seiner Familie, die durch Befragung der Eltern erhoben wird. Neben der Häufigkeit und Intensität des Auftretens des auffälligen Verhaltens kann der Untersucher in diesem Gespräch feststellen, in welchen Situationen dieses Verhalten auftritt. Dabei sind auch Informationen anderer Bezugspersonen wie Großeltern, Erzieher, Lehrer, Sporttrainer usw. von Bedeutung. Die Anamnese soll ebenfalls Aufschluss darüber geben, in welchem Ausmaß das Kind und seine Bezugspersonen von der Symptomatik beeinträchtigt sind (Dörner, 2000). Die Befragung der betroffenen Kinder ergibt oft nur wenige Informationen, da sie meist nur wenig Einsehen in ihr eigenes Verhalten haben. Dennoch sollte hier sehr einfühlsam vorgegangen werden, denn die Kinder fühlen häufig sehr deutlich, dass sie „anders“ sind als andere und nicht so handeln können wie diese Kinder, obwohl sie sich sehr anstrengen (Imhof, 2003). Weiterhin geklärt werden sollen Fragen zur Entwicklungsgeschichte des Kindes, wie Komplikationen in der Schwangerschaft, bei der Geburt und in der frühen Kindheit sowie Beginn und Verlauf der Probleme vor dem 6. Lebensjahr. In der Familienanamnese wird festgestellt, welche Belastungen durch die Störung des Kindes bestehen, wie tragfähig die Partnerbeziehung der Eltern ist und ob bei einzelnen Familienmitgliedern psychische Störungen (z. B. ebenfalls ADHS, Affekt- oder Angststörungen, Suchterkrankungen, Störungen im Sozialverhalten, psychiatrische Erkrankungen) bestehen oder Misshandlungen und Vernachlässigungen des Kindes vorliegen. 29 Anhand aller in der Diagnostik erhobenen Daten und Informationen werden die therapeutischen Interventionen bei ADHS festgelegt. 9 Therapie von ADHS Aufgrund der vielfältigen Lebens- und Funktionsbereiche, in denen Kinder mit ADHS beeinträchtigt sein können, ist mit einem einzelnen Behandlungsansatz die Störung allein häufig nicht zu beeinflussen. Aus diesem Grund wird in der Therapie von ADHS ein multimodales Behandlungskonzept empfohlen (s. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, 2003). Ein multimodales Konzept setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen, die miteinander kombiniert werden und jeweils nach Behandlungsbedarf und Problemen des Patienten zusammengestellt werden können. Die Therapieplanung und Auswahl der Methoden im multimodalen Vorgehen sollte so erfolgen, dass die Interventionen direkt dort ansetzen, wo die Schwierigkeiten des Kindes auftreten: beim Kind selbst, in der Familie, in der Schule oder im Kindergarten. „Dieses Prinzip der Vorgehensweise ist deshalb von außerordentlicher Bedeutung, weil eine Generalisierung von Therapieeffekten von einem Lebensbereich auf den anderen oder von einer Störungsform auf die andere bestenfalls unvollständig, häufig oder gar nicht gelingt.“ (Döpfner, S. 165 i. Petermann, 2002) Wichtige Ziele der therapeutischen Interventionen sind neben der Verringerung der Kernsymptomatik von ADHS die soziale Integration des betroffenen Kindes, ein Aufbau des Selbstwertgefühls und die Ermöglichung einer Schul- und Berufsausbildung, die den Begabungen und Möglichkeiten des Kindes oder Jugendlichen entspricht (Leitlinien der Kinder- und Jugendärzte e.V.). Ein multimodales Behandlungskonzept kann in Anlehnung an die Leitlinien der Kinderund Jugendpsychiater (2003) aus folgenden Elementen bestehen: 30 9.1 Aufklärung, Beratung und Instruktion der wichtigsten Bezugspersonen Eltern, Lehrer, Erzieher und auch das betreffende Kind werden über das Störungsbild von ADHS und seine Ursachen informiert. Den Bezugspersonen werden Handlungsstrategien für den täglichen Umgang mit dem Kind vermittelt. Dieser Baustein soll immer durchgeführt werden, unabhängig davon, welche weiteren Behandlungsschritte geplant sind. Das Kind, Eltern und andere Bezugspersonen, die häufig mit dem Kind zu tun haben, benötigen ein verständliches Erklärungskonzept und konkrete Handlungsanleitungen, um die Störung zu verstehen und mit ihr umzugehen (NeuyBartmann, 2006). Insbesondere für Eltern ist es oft erleichternd zu hören, dass nicht ein falsches Erziehungsverhalten zu der Störung geführt hat und die Kinder sich nicht absichtlich unaufmerksam und unkontrolliert verhalten. Ebenso kann es für die betreffenden Kinder hilfreich und entlastend sein, wenn sie wissen, dass ihre Verhaltensprobleme, Schwierigkeiten beim Lernen und mit ihren Mitschülern einen Grund haben und sie lernen können, damit umzugehen. 9.2 Kindzentrierte Therapieverfahren Hier stehen verhaltenstherapeutische Methoden im Vordergrund. Bei Kindern unter 6 Jahren kann ein Spieltraining zum Aufbau eines intensiven und ausdauernden Spiel- und Beschäftigungsverhaltens durchgeführt werden. Ab dem Alter von 7 Jahren stehen kognitive Therapieverfahren (Selbstinstruktions- und Selbstmanagementmethoden) im Vordergrund (Döpfner, 2002). Selbstinstruktionstrainings In Deutschland wurde diese Therapieform für Kinder mit ADHS insbesondere von Döpfner und Lauth / Schlottke zu einem Handlungsmodell weiterentwickelt. Bei Döpfner ist es Bestandteil des THOP (Döpfner et al, 2002). Bei Lauth / Schlottke (2002) ist es ein eigenständiges und umfassendes Selbstinstruktionstraining. Es soll im Folgenden näher dargestellt werden. Das Aufmerksamkeitstraining von Lauth / Schlottke ist ein kognitivbehaviourales Interventionsprogramm, das für Kinder mit ADHS im Alter von 7 - 12 Jahren vorgesehen ist. Mit Hilfe dieses Trainingsprogramms soll das Kind lernen, • Handlungen eigenständig und problemangemessen zu steuern, • bedacht planvoll an Probleme und Aufgaben heranzugehen, 31 • die eigenen Handlungsvollzüge selbstständig zu organisieren, • selbstreflexiv vorzugehen, d. h. vor der Ausführung einer Handlung nachzudenken und bei Schwierigkeiten innezuhalten • Handlungen zu entwickeln, die sowohl an den Fähigkeiten des Kindes als auch an den jeweiligen situativen Handlungen orientiert sind (Lauth / Schlottke, 2002). Das Trainingsprogramm besteht aus verschiedenen Bausteinen, die je nach zugrunde liegender Problematik beim Kind flexibel zusammen gestellt werden können: dem Basistraining, dem Strategietraining, der begleitenden Elternanleitung (s. familienzentrierte Interventionen), der Wissensvermittlung und der Vermittlung sozialer Kompetenzen. Basistraining Im Vordergrund der Interventionen steht hier die Ausbildung der Fähigkeiten des genauen Hinsehens, des korrekten Beschreibens und des aufmerksamen Zuhörens, Handlungen, die zur Verbesserung der Verhaltensregulation eingeübt werden. Strategietraining Es führt im Kern die gelernten Fähigkeiten des Basistrainings weiter, wendet sich aber komplexeren Aufgaben zu. Im Strategietraining sollen die Kinder lernen, sich schon zu Beginn ihrer Handlungen die relevanten Ziele sowie die verschiedenen Elemente der Problem- und Aufgabensituation zu vergegenwärtigen. Sie sollen die Fähigkeit erlernen, ihre Handlungen im Voraus zu planen und sich dabei an einer übergeordneten Strategie zu orientieren. Im Strategietraining • wendet der Therapeut folgende Methoden an: das kognitive Modellieren (Demonstration von förderlicher und erwünschter Vorgehensweise) • die Selbstinstruktion (Anleitung des Kindes zum lauten Denken, zu verbaler Handlungsregulation ). Das Erlernen von offener und verdeckter Selbstregulation spielt beim Aufbau der Verhaltenssteuerung eine wichtige Rolle. • die Bearbeitung divergenter Anforderungen 32 (Anwendung erlernter Strategien bei der Lösung von Aufgaben mit aufsteigender Komplexität) • der Einsatz von Tausch-Verstärkern • der Einsatz von Signalkarten, die relevante Problemlösungsstrategien deutlich machen (visualisieren). Die Signalkarten im Strategietraining nach Lauth / Schlottke sind von großer Bedeutung für die Selbstinstruktionen des Kindes, da sie die einzelnen Schritte beim Lösen von Problemen bildlich darstellen und das Handeln der Kinder strukturieren. Es sind insgesamt 6 Karten: • Karte 1. Was ist meine Aufgabe? Sie soll das Kind zum Nachdenken anhalten, welches seine Aufgabe ist. • Karte 2. Ich mache mir einen Plan! Hier sollen die Kinder überlegen, wie sie bei der Lösung vorgehen wollen. • Karte 3. Kenne ich etwas Ähnliches? Überlegung, ob das Kind schon einmal eine ähnliche Aufgabe gelöst hat. • Karte 4. Sorgfältig und bedacht! Diese Karte hält das Kind an, ruhig zu arbeiten und nicht hektisch zu werden. • Karte 5. Halt - Stopp, überprüfen! Erinnerung daran, die Lösung noch einmal zu überprüfen. • Karte 6. Das habe ich prima gemacht! Das Kind darf zufrieden sein und sich loben, wenn es die Aufgabe richtig gelöst hat. Zu Beginn des Trainings wird mit dem Kind handlungsrelevantes Wissen über die persönliche Symptomatik erarbeitet und es lernt die Signalkarten kennen. Im späteren Verlauf lernt es, die bisher verwendeten Strategien von den Zuordnungsaufgaben auf andere Zuordnungsmodelle zu übertragen. Im weiteren Trainingsverlauf soll es bisheriges Lösungsverhalten verallgemeinern und auf strukturell neue Probleme transferieren. Auch hier leitet der Trainer das Kind mit Hilfe der Signalkarten zu einem immer mehr selbst gesteuerten Verhalten an. 33 Am Ende des Strategietrainings wird das Kind zu einer Aufgabenlösung angeleitet, die eine höhere Abstraktion erforderlich macht und eine ausführliche Analyse des Ausgangszustandes, der Hypothesenbildung sowie das Erkennen eines Organisationsprinzips verlangen. Bei der Bearbeitung schulischer Inhalte werden ebenfalls die bisherigen Therapieinhalte auf neue Anforderungsbereiche übertragen (z. B. die Organisation von Lernschritten bei Sachaufgaben). Das Training von Lauth / Schlottke ist besonders auf schulische Schwierigkeiten hin ausgelegt, denn Aufmerksamkeitsstörungen zeigen sich meistens vor allem in schulischen Schwierigkeiten und die betroffenen Kinder müssen lernen, sich von außen gesetzten Forderungen anzupassen. (Lauth/Schlottke, 2002) Selbstmanagementmethoden gehören ebenfalls zu den verhaltenstherapeutisch-kognitiven Methoden und sollen das Kind mit ADHS anleiten, eigenes Verhalten in Relation zu seinem Umfeld (Familie, Schule, Freizeitbereich) zu erkennen, zu beobachten und kritisch zu hinterfragen. Es soll lernen, angemessenes alternatives Verhalten auszubilden, indem es versucht, sich an Regeln zu halten und sich dafür positiv zu verstärken. Hierbei sind spezielle Selbstbeobachtungs- und Selbstbeurteilungsbögen, die von den Kindern selbst ausgefüllt und mit dem Therapeuten oder Lehrer besprochen werden, hilfreich (Döpfner, 2000). 9.3 Familienzentrierte Interventionen Die familiären Interventionen bei ADHS sind ebenfalls ein Teilbereich kognitivverhaltenstherapeutischen Vorgehens. Sie werden als Form einer intensiveren Elternberatung gesehen und in Elterntrainings vermittelt. Ziel dieser Verfahren ist es, die Interaktion zwischen Eltern und Kind positiv zu gestalten und zu verbessern. Häufig provoziert ein Kind mit ADHS negative Reaktionen seiner Bezugspersonen und beeinflusst sein Umfeld damit so, dass seine Probleme aufrechterhalten und verschärft werden (Neuhaus, 2002). Um das Verhalten des Kindes günstig zu beeinflussen, müssen die Eltern (wie auch andere Bezugspersonen) in ihrem Erziehungsverhalten dem Kind gegenüber liebevoll, verständlich, konsequent, voraussehbar sein und auf klare Grenzsetzungen achten. Beim Erlernen dieser Fähigkeiten können Elterntrainings Unterstützung bieten. Ebenso vermitteln sie den 34 Eltern, ihr Verhalten so einzusetzen, dass das Zusammenleben mit dem Kind für sie weniger kräftezehrend ist, und in Absprache mit dem Partner dem Kind gegenüber übereinstimmend zu handeln. Eltern- und familienzentrierte Verfahren findet man z.B. als Bestandteile des Trainingsprogramms für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten THOP (Döpfner et al, 2002) und bei Lauth / Schlottke (2002). 9.3.1 Familienzentrierte Verfahren im THOP Neben Interventionen in Kindergarten und in der Schule stehen eltern- und familienzentrierte Verfahren (Eltern-Kind-Programm) im Vordergrund des Programms von Döpfner et al. Sie setzen bei der Interaktion innerhalb der Familie an, um die Verhaltensprobleme des Kindes zu vermindern. Das Eltern-Kind-Programm des THOP besteht aus verschiedenen Therapiebausteinen, die je nach Schwerpunkt der Störung und dem damit verbundenen Therapieziel miteinander kombiniert werden können. Der Ablauf der Interventionen erfolgt in sieben Stufen, auf denen jeweils ein spezielles Therapieziel im Mittelpunkt steht. Die erste Stufe „Definition des Problems, Entwicklung des Störungskonzepts und Behandlungsplanung“ wird immer durchgeführt. Danach werden zunächst Interventionen zur Förderung positiver Eltern-Kind-Interventionen und Beziehungen eingeführt (z. B. Herausstellung der positiven Seiten des Kindes, gemeinsame Spielzeit). Darauf folgen pädagogisch-therapeutische Interventionen zur Verminderung von impulsivem und oppositionellem Verhalten (z. B. Anleitung der Eltern zu wirkungsvollen und konsequenten Anweisungen, Belohnung für das Befolgen einer Aufforderung). Werden durch diese Maßnahmen keine Veränderungen erreicht, so kommen Token-Systeme, Verstärker-Entzugssysteme und time-out zum Einsatz. Um Veränderungen von spezifischen Verhaltensschwierigkeiten (geringe Spieldauer, Probleme beim Durchführen der Hausaufgaben oder unangemessenes Verhalten in der Öffentlichkeit) zu bewirken, stehen spezielle Interventionen zur Verfügung, die als kindzentrierte Interventionen durchgeführt werden (Spieltraining, Selbstinstruktionsverfahren, Selbstmanagement). Schließlich erfolgen Interventionen zur Stabilisierung der erreichten Effekte. Das therapeutische Vorgehen und die Ziele der Interventionen werden im Manual des 35 THOP ausführlich beschrieben. Zur Unterstützung der Eltern gibt es weiterhin ein Buch mit dem Titel „Wackelpeter und Trotzkopf“ (Döpfner, 2000), das sowohl als Selbsthilfeprogramm als auch begleitend im Rahmen des THOP eingesetzt werden kann. 9.3.2 Elterntraining als Begleitung zum Training für aufmerksamkeitsgestörte Kinder nach Lauth / Schlottke Der Trainingsbaustein für Eltern im Aufmerksamkeitstraining von Lauth / Schlottke (2002) richtet sich an beide Elternteile. Er umfasst 4 - 8 Sitzungen und wird zunächst vor der Therapie mit den Kindern begonnen, dann aber begleitend zum Basis-, Strategie- oder sozialem Training weitergeführt. Folgende Ziele und Interventionen werden dabei als wesentlich herausgestellt: 1. Informieren der Eltern über die Störung und die Therapie 2. Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion (durch Einführung einer regelmäßigen, gemeinsamen Spielzeit) 3. Beratung der Eltern im Bezug auf die Anleitung des Kindes im Alltag Zusammen mit dem Therapeuten erarbeiten die Eltern, durch eigene Erfahrungen gestützt, Hilfen für kritische Alltagssituationen (z. B. angemessene Hilfe bei den Hausaufgaben) 4. Aktuelle Belastungen verringern in kritischen familiären Standardsituationen Dabei werden zunächst Belastungen ausgewählt, die am leichtesten zu verändern sind. Später geht es um die Modifikation komplexer Verhaltensweisen, deren Veränderung schwieriger ist (Hausaufgaben, Besuch kommt, Zubettgehen u. a.). Mit Hilfe der Problemanalyse, direkter Beobachtung oder Rollenspiel erhält der Therapeut eine genaue Vorstellung über die Verhaltensabläufe und Situationsanteile, die dem Problem zugrunde liegen. Problematisches Elternverhalten wird reflektiert und alternative Strategien erarbeitet. Diese werden zunächst erprobt und dann im Alltag angewendet. Eltern lernen auch, dem Kind in Situationen, in denen es unangemessen reagiert, Struktur und Hilfestellungen zur Selbststeuerung zu geben und das Kind positiv zu verstärken. 5. Strukturelle Belastungen vermindern 36 Zu den strukturellen Belastungen zählen Lauth / Schlottke z. B. Partnerschaftskonflikte, finanzielle Probleme u. a. Sie sollen ebenfalls in die Beratung mit einbezogen werden. Ebenso sollen Möglichkeiten gefunden werden, die Mutter zu entlasten, wenn sie in der Familie die Hauptverantwortung für die Erziehung des Kindes trägt. Hierbei kann es sich z. B. handeln um: die regelmäßige Einbindung des Vaters durch Übernahme von Erziehungsaufgaben (Lauth / Schlottke, 2002, S. 325 f.) Nicht zuletzt sollte das Elterntraining die Eltern auch dazu anleiten, etwas für sich zu tun, um neue Kraft und Energie zu tanken. Das könnten sein: Auszeiten von der Erziehung durch kurze Reisen, Besuche, Hobbys, etc. 10 Schulische Interventionen Im Mittelpunkt der schulischen Interventionen steht der Lehrer des Kindes mit ADHS. Er ist eine wichtige Bezugsperson des Kindes, das er bei der sozialen Integration in die Klasse unterstützen sollte. Zugleich kann er Lern- und Arbeitsbedingungen schaffen, die der Schüler mit ADHS dringend benötigt, um in der Schule mitzukommen. 10.1 Allgemeine Prinzipien Grundvoraussetzungen für die Arbeit mit aufmerksamkeitsgestörten, hyperaktiven Kindern ist die Kenntnis des Lehrers über das Störungsbild und die damit verbundenen besonderen Lernvoraussetzungen der Betroffenen. Er sollte sich vergegenwärtigen, dass diese Kinder den Unterricht nicht absichtlich stören, sondern ihr Verhalten nicht steuern können. Da Kinder mit ADHS mit dem Lernen in der Schule häufig negative Erfahrungen gemacht haben, sind ihr Selbstwertgefühl und ihre Motivation beeinträchtigt. Eine positivannehmende Grundhaltung des Lehrers dem Kind gegenüber ist deshalb wichtig, ebenso Lob und konstruktive Kritik (Wender, 2002). Um dem Schüler mit ADHS Aufmerksamkeit und die Aufnahme des Lernstoffs zu ermöglichen, sollte der Lehrer für klare, überschaubare Strukturen in der Klasse und im Unterricht sorgen. Dies beginnt mit der Organisation förderlicher, äußerer Lernbedingungen: 37 • einem Klassenraum, der reizarm gestaltet ist, mit wenig Dekoration an den Wänden, die ablenkt • dem Sitzplatz des Kindes. Er sollte in der Nähe des Lehrers sein, mit Blick auf die Tafel, so dass der Schüler sich uneingeschränkt auf den Lehrer konzentrieren kann. Je nach Ausprägung der Störung kann das Kind allein sitzen oder neben einem ruhigen Mitschüler platziert werden. • ein übersichtlicher Arbeitsplatz, der nicht mit Büchern und Arbeitsmaterialien überladen ist, hilft dem Kind, ohne Ablenkung zu arbeiten. • Ebenso trägt ein niedriger Lärmpegel in der Klasse zum störungsfreien Arbeiten bei. Für die Arbeitsweise und das Verhalten in der Klasse sind klare, feste Regeln hilfreich, die für alle Schüler gelten sollten. Sie helfen bei der Entwicklung eines sinnvollen Arbeitsverhaltens, der Lernorganisation und im Umgang miteinander. Bei der Bestimmung und Einhaltung der Regeln sollten den Schülern die Konsequenzen bei Nichtbefolgung klar sein sowie auf eine konsequente Kontrolle geachtet werden. Wünschenswertes Verhalten des Schülers mit ADHS sollte sofort mit positiven Konsequenzen (Lob) begegnet werden. Gerade diese Kinder sind sehr auf diese positiven Reaktionen angewiesen. Bei der Planung und Durchführung des Unterrichts ist für den Lehrer zu beachten: • kurze, abwechslungsreiche Arbeitsphasen • Lernstoff in kleinen, überschaubaren Portionen darbieten mit kurzen und direkten Anweisungen an den Schüler, Wiederholungen einbauen • graphomotorischen Problemen damit begegnen, dass der Schüler vermehrt am Computer oder mündlich arbeitet • ungünstigen Unterricht mit offenen Strukturen wie Lernen in Projekten oder eigenständiges selbstinstruktives Lernen vermeiden. Dieses erschwert dem Kind mit ADHS, seinem Wahrnehmungsprofil entsprechend zu arbeiten. • Einsatz von Maßnahmen, von denen alle Schüler profitieren, wie z. B. Förderung der Konzentration, der Reaktions- und Merkfähigkeit und Entspannung (s. Krowatschek, 2002). 38 • Wecken von Verständnis vom Anderssein bei nicht betroffenen Schülern und Einbeziehung nicht betroffener Schüler zur Unterstützung von Kindern mit ADHS in der Klasse. • Weiterhin sollten Schule und Lehrer in engem Kontakt mit den Eltern zusammenarbeiten (Stark-Städele, 2005, Neuhaus, 2002). 10.2 Verhaltensmodifikation im Unterricht Zur Unterstützung und Ergänzung der allgemeinen Handlungsprinzipien im Unterricht können spezifische verhaltenstherapeutische Methoden vom Lehrer eingesetzt werden. Sie können vom Lehrer im Unterricht verwendet werden, um das Störverhalten einzelner Kinder zu vermindern, die Unterrichtssituation angemessener zu gestalten und eine positive Lernatmosphäre in der Klasse zu schaffen. Auch Kinder mit häufig auftretendem Störverhalten zeigen in der Schule Verhalten, welches verstärkt werden kann. Verhaltensmodifikatorische Interventionen in der Schule verstärken positives erwünschtes Zielverhalten und ignorieren oder bestrafen negatives Verhalten mit Verstärkerentzug. Solche speziellen Methoden sind erforderlich, wenn unerwünschtes Verhalten durch pädagogische Maßnahmen nicht mehr zu beeinflussen ist. Kontingenzverträge Kontingenzverträge sind Vereinbarungen, die in Zusammenarbeit mit dem Kind schriftlich vereinbart werden. Dabei wird in einem Vertrag festgehalten, welches Zielverhalten erreicht werden soll. Die Ziele sollen positiv formuliert werden und die Verhaltensalternative klar benennen (z. B. „ich melde mich, bevor ich spreche“). Ebenso muss klar sein, wann die Bedingungen erfüllt sind. Kontingenzverträge enthalten Verpflichtungen für beide Vertragspartner, die die Anzahl der Bedingungen, positive und negative Konsequenzen enthalten. Erfüllt das Kind eine vereinbarte Bedingung, so erhält es vom Lehrer oder Therapeuten dafür keine Belohnung (Imhof, 2003). Token-Systeme und Response cost (Verstärker-Entzugssysteme) Token-Systeme sind Verstärkerpläne, die durch Vergabe von Tauschverstärkern (Münzen, Punkte) angemessenes Verhalten belohnen. Dabei wird das Zielverhalten mit dem Kind 39 vorher abgesprochen. Zeigt es das erwünschte Verhalten, so bekommt es einen Tauschverstärker (Token). Die Kinder können eine bestimmte Menge von Tokens sammeln, die dann gegen die eigentliche Belohnung eingetauscht werden können (sozialer oder materieller Verstärker). Token-Systeme eignen sich besonders dann, wenn andere Verstärkerstrategien (Lob) nicht mehr wirken und Verhalten über eine lange Zeit aufgebaut werden soll (Imhof, 2003, Krowatschek, 2006). Verstärker-Entzugs-Systeme (Response cost) arbeiten ebenfalls mit einer festgelegten Verstärkervergabe, entziehen aber bei unerwünschtem Verhalten den Verstärker wieder. Diese Systeme sollten eingesetzt werden, um besonders auffälliges Verhalten zu modifizieren, das im Unterricht nur schwer zu beeinflussen ist (Döpfner, 2000). Time-out Der Begriff ‚Time-out’ bezieht sich auf eine Auszeit, d. h. das Kind wird aus einer Situation kurz herausgenommen, wenn es gegen Verhaltensregeln verstoßen hat und keine andere Reaktion von Seiten des Lehrers (oder der Eltern) in dieser Situation möglich ist. Bei der Anwendung von Time-out sollte das Kind genau wissen, gegen welche Regeln es verstoßen hat und diese Auszeit sollte von ihm als negative Konsequenz wahrgenommen werden. Bei Schülern mit ADHS kommt ein Time-out insbesondere zum Tragen, wenn das Kind in der Klasse trotz verschiedener Interventionen das störende Verhalten nicht unterlässt. Time-out sollte nicht zu häufig angewendet werden, da das Kind hier nicht lernt, positives Verhalten aufzubauen. Alle dargestellten Methoden der verhaltenstherapeutischen Interventionen sollten nur von einer Lehrkraft durchgeführt werden, die genaue Kenntnisse über diese Interventionen hat. Häufig ist es schwierig, diese in der Klasse konsequent durchzuführen. Deshalb muss der Lehrer genau abwägen, ob es ihm möglich ist, sie im Unterricht auch tatsächlich durchzuhalten (Imhof, 2003). Lauth / Schlottke sehen für die Schulung des Lehrers ein spezielles Lehrertraining vor, welches Informationen über das Erscheinungsbild der ADHS vermitteln soll und Anleitung von förderlichem Verhalten gegenüber Schülern mit ADHS geben will (Lauth / Schlottke, 2002). 40 In Lehrerfortbildungen können förderliches Handeln, der Einsatz effizienter Methoden und Klassenmanagement bei ADHS gelernt werden (z. B. SIL - Staatliches Institut für Lehrerfortbildung). 11 Medikamentöse Therapie Bei der Therapie von ADHS ist auch die Behandlung mit Medikamenten vorgesehen, die allerdings nur nach sorgfältiger Untersuchung und Diagnostik durch einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Pädiater gegeben werden dürfen. Damit die Einnahme sachgerecht erfolgt, müssen die Eltern und der Lehrer aufgeklärt und informiert werden. 11.1 Stimulanzien erster Wahl Die am meisten verordneten Medikamente bei ADHS sind Stimulanzien, insbesondere Methylphenidat, das in Deutschland unter dem Namen „Ritalin“ und „Concerta“ bekannt ist. Stimulanzien wirken sich positiv auf bestimmte Hirnareale aus. Nachgewiesen werden konnte dies anhand von bildgebenden Verfahren (PET, fMRI). Die Medikamente verbesserten den Blutfluss, speziell im Frontalhirn, also in Bereichen, welche Planung und Steuerung des Verhaltens gewährleisten (Lauth / Schlottke, 2002). Bei Kindern bewirken die Stimulanzien in bis zu 80 % der Fälle eine deutliche Verbesserung in folgenden Bereichen: • Konzentration und Aufmerksamkeit • Filterung der Außenreize und Erkennung von Informationen • motorischer Unruhe und Stimmungsschwankungen • Ausdauer und Durchhaltevermögen • positivere Effekte beim Lernverhalten • Verhalten in sozialen Beziehungen (umgänglicheres Verhalten) (Aust-Claus, 2000, Neuy-Bartmann, 2006) • Interaktion zwischen Müttern und Kindern (Barkley, 2005) Stimulanzien (und andere Medikamente) können eine Aufmerksamkeitsstörung nicht heilen, aber die Ausprägung der Kernsymptome mindern und beim Kind Voraussetzungen für 41 weiterführende therapeutische Interventionen schaffen. „Medikamente können nur Bedingungen schaffen, unter denen Konflikte entschärft, neue soziale Kompetenzen erlernt und kognitive Ressourcen genutzt und entwickelt werden können“ (Knölker, 2005, S. 39). Bei sorgfältiger diagnostischer Abklärung und Überwachung durch den Arzt sind Medikamente eine wichtige Hilfe, sie sollten aber nur für eine begrenzte Zeit verordnet werden und immer von weiterführenden therapeutischen Maßnahmen begleitet sein. 11.2 Weitere Medikamente Zu den Psychostimulanzien der zweiten Wahl gehören die Wirkstoffe D-Amphetamin und Pemolin. D-Amphetamin ist ein dem Methylphenidat verwandter Wirkstoff, der jedoch weniger wirksam ist. Pemolin ist eine Substanz, die bei entsprechender Dosierung ebenso wirksam ist wie Methylphenidat. Substanzen, die ebenfalls alternativ zum Methylphenidat gegeben werden, sind: Trizyklische Antidepressiva, die besonders wirksam sein sollen bei hyperkinetischem Verhalten und emotionalen Symptomen wie auch die kognitiven Funktionen wirkungsvoll beeinflussen, aber insgesamt nicht mit der Wirksamkeit von Stimulanzien vergleichbar sind. Clonidin, Carbamazepin zeigen Wirkungen in Bezug auf die Veränderung von aggressiver impulsiver Symptomatik. Andere Pharmaka werden wegen ihrer Nebenwirkungen oder nicht nachgewiesener Effizienz nur sehr eingeschränkt eingesetzt (Dörner, 2000, S. 31). 11.3 Indikationen und Kontraindikationen, Nebenwirkungen Nicht jedes Kind mit ADHS benötigt Medikamente. Sie sind aber dann angezeigt, „wenn eine stark ausgeprägte, situationsübergreifende hyperkinetische Symptomatik mit einer erheblichen Beeinträchtigung des Patienten oder seines Umfeldes (z. B. drohende Umschulung in Sonderschule, massive Belastung der Eltern-Kind-Beziehung) vorliegt.“ (Leitlinie Kinder- und Jugendpsychiater). Ebenso kommen Stimulanzien zur Anwendung, wenn keine andere Maßnahme bisher geholfen hat (s. Kapitel Intervention bei ADHS) und das Kind in den Bereichen Familie und Schule weiterhin ein ausgeprägtes hyperaktives Verhalten zeigt (Leitlinie Kinder- und Jugendpsychiatrie). Döpfner weist in diesem Zusammenhang auf folgenden Umstand hin: „Das Nichtbeachten medikamentöser Interventionsmaßnah- 42 men grenzt nach den vorliegenden empirischen Befunden an einen Kunstfehler, wenn alternative Therapien nicht erfolgreich gewesen sind“ (Döpfner i. Petermann, 2002, S. 168). Kontraindikationen werden in absolute und relative Kontraindikationen unterschieden: • absolute Kontraindikationen bestehen bei Psychosen und Jugendlichen mit Drogenkonsum • relative Kontraindikationen bestehen bei Angstzuständen, Hypertonie und Herzarrhythmien. Die Wirkung von Stimulanzien ist gut untersucht. Dennoch gibt es, wie bei allen anderen Medikamenten auch, Nebenwirkungen, diese können sein: • Appetitveränderungen / Appetitverlust • Schlafstörungen • Kopf- und Magenschmerzen • erhöhter Herzschlag • Ausbildung von Tic-Störungen Es bestehen keine Hinweise auf Suchtverhalten, das von Methylphenidat ausgelöst wurde (Döpfner, 2000). 12 Weitere Therapie-Maßnahmen Neben verhaltenstherapeutisch-kognitiven Methoden und der Pharmakotherapie können noch andere Maßnahmen in der Therapie von ADHS hilfreich und effektiv sein. Zu den wichtigsten zählen Ergotherapie, Psychomotorik, Entspannungsverfahren wie Autogenes Training und Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Weiterhin werden verschiedene Sportarten und Bewegungstrainings empfohlen. Alle genannten Maßnahmen haben jedoch, allein angewendet, keine ursächliche Wirkung auf die Symptome von ADHS. Sie sollten deshalb begleitend zu multimodalen Interventionen eingesetzt werden. 43 Schlussbemerkungen und eigene Erfahrungen Obwohl ADHS in den letzten Jahren stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist, gibt es nach wie vor einen hohen Anteil von Kindern mit ADHS, die weder von Experten fachgerecht untersucht noch angemessen behandelt werden (Barkley,2005). Die Auswirkungen von ADHS auf verschiedene Lebensbereiche und die Entwicklung des Kindes wurden in der vorliegenden Arbeit dargestellt. Je früher die Störung erkannt und therapiert wird, desto eher und leichter können dem Kind und seinen Eltern Misserfolge, Ausgrenzung und unnötiger Leidensdruck erspart bleiben. Das Hilfsangebot für Kinder mit ADHS und ihre Eltern ist , wie ich aus eigener Erfahrung weiß, insbesondere in ländlichen Regionen noch sehr unzureichend. In meiner Tätigkeit als Diplom Pädagogin in schulischen und außerschulischen Fördergruppen begegne ich häufiger Kindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsproblemen, hypermotorischen Verhalten und Lernstörungen. Oft haben sie und ihre Eltern einen langen Leidensweg hinter sich, bevor die richtige Diagnose gestellt und eine Behandlung eingeleitet wird. Nicht selten hat das Kind dann bereits Folgesymptome ausgebildet und befindet sich auf einer Haupt – oder Sonderschule, obwohl es mit entsprechender Therapie und Unterstützung durch die Bezugspersonen durchaus eine weiterführende Schule besuchen könnte. Als einzige Hilfe bietet die Schule oft nur den Nachhilfe- oder Förderunterricht an, wo sich schnell herausstellt, dass auch hier nicht angemessen geholfen werden kann, es also an dem Kind liegen muss, dass sich trotz aller pädagogischen Bemühungen keine Veränderung erzielen lässt. Durch meine Ausbildung zur Lerntherapeutin , der intensiven Auseinandersetzung mit der entsprechenden Fachliteratur und meinen bisherigen beruflichen Erfahrungen ist es mir möglich geworden, betroffenen Kindern und Eltern andere Hilfsmöglichkeiten aufzuzeigen und Schüler mit Lern- und Teilleistungsstörungen sowohl in Fördergruppen als auch in Einzelstunden gezielter zu unterstützen. Vor etwa einem Jahr habe ich zusammen mit meinen Kolleginnen an unserer Schule eine Sprechstunde für Kinder mit Lern- und Teilleistungsstörungen und deren Eltern eingerichtet. Es liegt uns inzwischen ein Verzeichnis mit qualifizierten Ärzten und Psychotherapeuten der Region vor, über die wir positive Rückmeldungen erhalten haben und mit denen wir zusammenarbeiten. Innerhalb der Schule bemühen wir uns um Kooperation mit den Lehrern, was jedoch nicht bei allen gleichermaßen gelingt. Einige unserer Schüler haben ihre Therapie bei einem Psychologen erfolgreich abgeschlossen und konnten in den Unterricht integriert werden. Bei 2 Schülern konnte ich 44 durch lerntherapeutische Förderung die Umschulung von der Realschule auf die Hauptschule verhindern. Für meine lerntherapeutische Arbeit wünsche ich mir weiterhin eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Eltern und Lehrern der Schüler, die mit Problemen zu uns in die Förderung kommen, denn ohne ihre Mithilfe wäre vieles schwieriger. 45 Literatur Aust-Claus, E., Hammer, P.-M. Das A. D. S.- Buch. Aufmerksamkeits- Defizit- Syndrom. Neue Konzentrations-Hilfen für Zappelphilippe und Träumer. Ratingen: Oberstebrink-Verlag 2000 Barkley, R. A. Das große ADHS-Handbuch für Eltern Bern: Huber 2005 Brandau, H. Das ADHS-Puzzle: Systemisch-Evolutionäre Aspekte, Unfallrisiko und Klinische Perspektiven Berlin: Springer 2004 Born, A., Oehler, C. Lernen mit ADS-Kindern. Ein Praxishandbuch für Eltern, Lehrer und Therapeuten. Stuttgart: Kohlhammer 2004 Dilling, H. et al Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinischdiagnostische Leitlinien. Bern: Huber 2000 Döpfner, M., Frölich, J., Lehmkuhl, G. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Bd.1, Hyperkinetische Störungen. Göttingen: Hogrefe 2000 Döpfner, M., Schürman, S., Frölich, J. Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten THOP Weinheim: Beltz 2002 46 Imhof, M., Skrodzki, K., Urzinger, M. S. Aufmerksamkeitsgestörte, hyperaktive Kinder und Jugendliche im Unterricht. Donauwörth: Auer 2003 Knölker, U. (Hrsg.) ADHS - Kindheit, Schule und Familie. Bremen: Uni-Med 2005 Krowatschek, D. Überaktive Kinder im Unterricht Dortmund: Borgmann 1996 Krowatschek, D. Alles über ADS. Ein Ratgeber für Eltern und Lehrer Düsseldorf: Walter 2001 Krowatschek, D. Das ADS-Trainingsbuch. Methoden, Strategien und Materialien für den Einsatz in der Schule. Lichtenau: AOL 2002 Lauth, G., Schlottke, P. F., Naumann, K. Rastlose Kinder, ratlose Eltern. Hilfen bei Überaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen. München: dtv 2000 Lauth, G., Schlottke, P. F., Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern. Weinheim: Beltz 2002 Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. www.ag-adhs.de 47 Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Hyperkinetische Störungen www.uni-duesseldorf.de/awmf Neuhaus, C. Das hyperaktive Kind und seine Probleme Stuttgart: Urania 2002 Neuy-Bartmann, A. ADS - Erfolgreiche Strategien für Kinder und Erwachsene Stuttgart: J. G. Colta`sche Buchhandlung 2006 Petermann, F. (Hrsg.) Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie und -psychotherapie Göttingen: Hogrefe 2002 Skrodzki, K., Mertens, K. Hyperaktivität. Aufmerksamkeitsstörung oder Kreativitätszeichen? Dortmund: Borgmann 2000 Stark-Städele, J. Erfolgreich lernen bei ADS. Probleme erkennen - Stärken nutzen - Strategien entwickeln. Stuttgart: Urania 2005 Steinhausen, H. C. (Hrsg.) Hyperkinetische Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Stuttgart: Kohlhammer 2000 Steinhausen, H. C. (Hrsg.) Schule und psychische Störungen Stuttgart: Kohlhammer 2006 48 Spitzer, M. Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens München: Elsevier 2007 Vester, F. Denken, Lernen, Vergessen München: dtv 2006 Wender, P. H. Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Ein Ratgeber für Betroffene und Helfer Stuttgart: Kohlhammer 2002 Saß, H. et al Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, DSM IV Göttingen: Hogrefe 1996 49