Vorwort Sowenig Soziologie heute ohne das Werk Pierre Bourdieus (1930–2002) denkbar ist, sowenig kann eine Beschäftigung mit jenem von Bourdieus Auseinandersetzung mit Philosophie absehen, selbst wenn letztere darin häufig eine Negativfolie abgibt, von der sich eine konsistente Sozialwissenschaft abzuheben hat. Diese Auseinandersetzung beruhigt sich aber nicht mit Abgrenzungen im Sinne von arbeitsteiligen Zuweisungen von spezifischen Tätigkeitsbereichen zweier Disziplinen, die sich möglichst nicht in die Quere kommen sollen. Bourdieu ist selbst «gelernter» Philosoph, und seine innerhalb der «Institution Philosophie» gemachten Erfahrungen – von der eigenen Lektüre über die (stillschweigend oder explizit) geltende Hierarchie der kanonischen Texte bis hin zum Selbstbild des Korps der Philosophen – stellten in vielfacher Hinsicht Weichen für Fragestellungen, die sich durch das gesamte Oeuvre ziehen. Zwei späte Schriften, die «Meditationen» (2001 – der 1997 erschienene Originaltitel lautet «Méditations pascaliennes») und «Ein soziologischer Selbstversuch» (2002)1 legen davon Zeugnis ab. Hegel befand, dass Philosophie nur dadurch Philosophie sei, «(…) dass sie dem gesunden Menschenverstande, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechts der Menschen versteht, gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt.»2 Diese Entgegensetzung würde Bourdieu, je nach Hinsicht, unterschiedlich beurteilen: als deskriptiv richtig, da Philosophie als nahezu nutzlose, da kaum zu «applizierende» Wissenschaft tatsächlich den grössten Gegensatz zum Alltagsverstand bildet; als deontologische Forderung zumindest insofern zutreffend, als jeder wissenschaftlichen Objektivation (welchen empirischen Grades auch immer) ein Bruch mit dem Meinen lebensweltlich-alltäglicher Erfahrung vorausgehen muss; als reflektiv defizient, da sie implizit das Subjekt der Objektivation (bzw. im absoluten Idealismus die spekulative Ver1 Bourdieu entschied sich, diese Selbstreflexion vorerst nur auf Deutsch zu publizieren, um sich nicht den Verdikten des nur selten mit ihm sympathisierenden französischen Feuilletons auszusetzen. 2 Einleitung. Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere, in: Jenaer Schriften 1801 - 1807, Werke 2, Frankfurt a. M. 1986, p. 182 7 ZENKLUSEN, Philosophische Bezüge bei Pierre Bourdieu. ISBN 978-3-86764-256-9 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 nunft, die die beobachtende Vernunft in sich aufgehoben hat) als der «lokalen und temporären» Kontingenz entzogen setzt. Entstehung von Erkenntnis und diese selbst stehen nicht in äusserlichem Zusammenhang. Ein entscheidender Teil des Bourdieuschen Unternehmens besteht in der facettenreichen Auflehnung gegen die Abtrennung von Genese und Erkenntnis bzw. Geltungsbedingungen, wie sie «traditionelle» Philosophie vertritt: «Ein anderes aber ist der Gang des Entstehens und die Vorarbeiten einer Wissenschaft, ein anderes die Wissenschaft selbst; in dieser können jene nicht mehr als Grundlage erscheinen, welche hier vielmehr die Notwendigkeit des Begriffs sein soll.»3 Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den Affinitäten Bourdieus zu Émile Durkheim und Gaston Bachelard, zwei Vertretern eines «empirischen Rationalismus», deren Wirkmacht mit dem Ende der III. Republik zu Ende geht. Hervorzuheben ist hier insbesondere Bourdieus Übernahme der starken Durkheimschen Auffassung von Wissenschaftlichkeit und des «epistemologischen Bruchs» Bachelards. Bourdieu gehört zu einer Generation, die sich nolens volens relativ zur übermächtigen Figur Sartres situiert. Bourdieus Handlungstheorie steht dem Sartreschen Dezisionismus diametral entgegen. Weitaus mehr Sympathie hegt er für Merleau-Pontys Theorie der Wahrnehmung und des Handelns, die humanwissenschaftliche Erkenntnisse integriert. Spinoza und Leibniz gehören zu den meistzitierten Autoren bei Bourdieu. Hierbei spielen namentlich Spinozas Begriff des «conatus» und Leibniz’ Notionen der Menschmaschine und der «petites perceptions» eine Rolle. Nach seinen Forschungen in Algerien Ende der fünfziger Jahre beschäftigt sich Bourdieu mit den Heiratspraktiken in seiner Herkunftsregion Béarn. Das Kapitel zeichnet Bourdieus Untersuchung nach, auch um zu dokumentieren, dass dessen Begrifflichkeit immer im Kontext empirischer Arbeiten entsteht und verständlich wird. In der «Kritik der Urteilskraft» betreibt Kant, so Bourdieus These, die transzendentalphilosophische Verallgemeinerung und Perennierung eines schichtenspezifischen ästhetischen Ethos: demjenigen des «reinen», distanzierten, leidenschaftslos-unsinnlichen, interesselosen Blicks, der nur dank eines Bruchs mit den alltäglichen Nöten und Zwängen überhaupt entsteht. Als philosophischer Therapeut und Therapeut der Philosophie greift Bourdieu immer wieder auf den späten Wittgenstein zurück, der wohl der wichtigste Philosoph in Bourdieus Opus ist. Im Zentrum der Bourdieuschen Aufmerksamkeit stehen vor allem Wittgensteins Ausführungen zum Begriff der Regel und des Regelfolgens. 3 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, Werke 9, p. 15 8 ZENKLUSEN, Philosophische Bezüge bei Pierre Bourdieu. ISBN 978-3-86764-256-9 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010 Das siebente Kapitel befasst sich mit Bourdieus Buch über Heidegger. Bourdieus Lesart zeichnet sich dadurch aus, dass sie sowohl eine immanente Hermeneutik als auch einen sozioökonomischen und politischen Reduktionismus ablehnt. Stattdessen führt er eine doppelte Lektüre durch, die die Homologien zwischen den philosophischen und politischen Feldern herausarbeitet. «Habitus» ist sicherlich der prominenteste und einflussreichste Begriff Bourdieus. Bevor er bestimmt wird, soll es im achten Kapitel um die Darstellung von Vorformen des Begriffs bei Aristoteles, Thomas v. Aquin, Hegel und Arnold Gehlen gehen. Namentlich in der Anthropologie Gehlens sind Aspekte zu finden, die Bourdieus Habitusbegriff nahestehen. Adorno findet in Bourdieus Werk kaum Erwähnung, obwohl das Motiv einer Aufklärung der Aufklärung, die nicht in einem Postmodernismus enden soll, beiden gemeinsam ist. An den Leitbegriffen des Idealtypus, der Essayistik und des sozialen Elends soll erörtert werden, was beide eint und trennt. In seiner späten Schrift «Meditationen» betreibt Bourdieu eine «negative Philosophie». Der Kern seiner Kritik besteht im Vorwurf, die Philosophie würde die Ermöglichungsbedingungen philosophischer Tätigkeit kaum thematisieren und die Einsicht in jene schon gar nicht auf sich selbst wenden. Von der Durchführung einer solchen Analyse, die Hand in Hand mit der Soziologie vonstatten gehen soll, erhofft sich Bourdieu eine fruchtbare Befreiung von impliziten, vom spezifischen Feld und der Position im Sozialraum ausgeübten Zwängen. Vorliegender Arbeit mag ein gewisser additiver Zug eignen. Dies lässt sich insofern nicht verhindern, als die zahllosen Bezugnahmen Bourdieus zu Philosophen und Theoremen einen irreduzibel pluralen Charakter haben. Während die Anleihen bei Spinoza und Leibniz teilweise eher illustrativ sind, kommt Wittgenstein eine bedeutende Rolle zu; während Bourdieu Heidegger eine kritische Studie gewidmet hat, wird ihm Gehlen, der ihm konzeptuell in vielem nahekommt, kaum bekannt gewesen sein. So hofft der Verfasser mit der Rekonstruktion philosophischer Bezüge und der ideengeschichtlichen Kontextbestimmung zum vertieften Verständnis der Soziologie Bourdieus beizutragen, auch wenn diese Erhellung nur partiell von einem systematischen Ansatz her geleistet werden kann. 9 ZENKLUSEN, Philosophische Bezüge bei Pierre Bourdieu. ISBN 978-3-86764-256-9 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010