Mein Streit mit den Wächtern des Islam Über das Buch „Himmelsreise“ von Necla Kelek © Die Berliner Literaturkritik, 14.04.10 Von Esteban Engel „Himmelreise“ ist der Versuch, in Buchform einen Pudding an die Wand zu nageln. Immer wieder, so schreibt Necla Kelek, werde behauptet, „den“ Islam gebe es gar nicht, sondern nur verschiedene Formen und Sichtweise. Nein, sagt Kelek zu Beginn ihrer Streit- und Aufklärungsschrift, den Islam gibt es: Als soziale Realität und kulturelle Institution, die das Verhalten von Menschen „definiert, einfordert und reproduziert“. Auf 250 Seiten beschreibt die 1957 in Istanbul geborene Autorin die durchdringende Macht der Religion Mohammeds - als Glaube, in Alltag und Politik. So heißt es im Untertitel auch: „Mein Streit mit den Wächtern des Islam“. Es geht um Koran-Auslegung, Kopftücher und Moscheen, um Zwangsheirat und dem Macho-Gehabe türkischer und arabischer Jungs. Aber Kelek will mehr. Der Islam müsse sich ohne Wenn und Aber dem Rechtsstaat verschreiben. Es sei von entscheidender Bedeutung für die Zukunft Europas, dass Muslime von der Idee einer säkularen und demokratischen Bürgergesellschaft überzeugt werden, in der die Freiheit attraktiver erscheine als die kollektiven Zwänge einer religiösen Weltanschauung. Doch was haben die bärtigen Männer mit Käppis und ihre Frauen in Pluderhosen, wie sie etwa in Berlin-Neukölln oder in Köln-Ehrenfeld leben, mit dem Islam zu tun? Wo liegt die Verbindung zwischen den Bräuchen und Verboten mit dem Glauben? Kelek spürt im ersten Teil ihrer Reise durch die muslimische Republik der Entstehungsgeschichte des Islam nach. Zwar gelte der Koran für gläubige Muslime als unfehlbares Wort Gottes. Doch all die Regeln, die Sexualmoral und die untergeordnete Rolle der Frau seien nicht gottgewollt, sondern vor dem Hintergrund einer feudalen Wüstengesellschaft entstanden, in der sich Mohammed im siebten Jahrhundert zum Religionsstifter hoch kämpfte. Kelek hat Volkswirtschaft und Soziologie studiert und promovierte über Islam im Alltag. Immer wieder meldet sich Kelek öffentlich zu Wort, zuletzt zu der ihrer Meinung zu schwachen Reaktion deutscher Medien zum Anschlag auf den dänischen MohammedKarikaturisten Kurt Westergaard. Für ihr Engagement wurde sie mit dem Geschwister-SchollPreis der Stadt München und 2006 mit dem internationalen Corine Preis für Sachbücher ausgezeichnet. Angesichts neuer Forschungsarbeiten vor allem europäischer Wissenschaftler müssten IslamGelehrte immer wieder den Vorwurf abwehren, der Koran sei keine Offenbarungsschrift, sondern „Literatur“. Die Quellen des Buches seien dubios und selbst der ägyptische Wissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid erkennt im Koran „Gottes Menschenwort“. Indem Mohammed zum „Siegel“ der Propheten erklärt wurde, also Jesus und Abraham überlegen, sei er für Menschen unerreichbar geworden, anders als im Christentum, wo Jesus eben zum sündigen Menschen wurde. Kelek plädiert dafür, dass sich die Schriften des Islam wie die Bibel einer theologischen und historischen Interpretation nicht entziehen dürfen. Auch in der muslimischen Alltagskultur zieht die Autorin eine Verbindung zum Glauben. Übertriebene Ehr-Gefühle, die ständige Einforderung von „Respekt“, die Rolle von Vater und Mutter, sogar der Satz „Was guckst Du“ und die Beschneidung sie seien alle letztlich in einer Religion begründet, die die Trennung von Weltlichem und Geistlichem nicht kennt und sich als «kollektive Selbstvergewisserung» der aufgeklärten Gesellschaft die kalte Schulter zeigt. Für ihr Buch hat Kelek Moscheen in Deutschland besucht. Sie schildert ihre Erfahrungen mit Vorbetern und Kommunalpolitikern, die sich eher hilflos den Herausforderungen der multikulturellen Gesellschaft stellen. Sie berichtet aus ihren Erlebnissen als Kind einer türkischen Emigrantenfamilie als langen, oft quälenden Weg auf der Suche nach einer eigenen Identität, wie ihn Kelek schon in ihrem Bestseller „Die fremde Braut“ beschrieben hat. Das Gefühl der Befreiung etwa, als sie als junges Mädchen erstmals eine Bratwurst mit dem verbotenen Schweinefleisch probierte. „Ich hatte gesündigt und fühlte mich gut dabei.“ Deutschland, so zeichnet es Kelek nach, stehe in einer langen Tradition des unkritischen Islamverstehens - von Karl dem Großen über Lessing und Goethe, dem Kaiserreich bis zu dem „Teufelspakt“ zwischen den Nazis und dem Großmufti von Jerusalem. Zum wohl informativsten Teil des Buches gehört die Darstellung der islamischen Organisationen in Deutschland und den Bemühungen der türkischen Regierung, ihre Landesleute nicht den Islamisten zu überlassen. Doch Kelek spricht den meisten Verbänden eine demokratische Legitimation ab. Sie spricht von „Stammesführern“, für die Glaube und Politik eins seien. Literaturangaben: NECLA, KELEK: Himmelsreise. Mein Streit mit den Wächtern des Islam. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 266 S. Von Adam über Moses bis Mohammed Ein Buch über den Propheten Mohammed und die Koranauslegung © Die Berliner Literaturkritik, 28.10.08 Im Koran wird, im Verständnis der Muslime in aller Welt, die Offenbarung Gottes dargestellt. Das „heilige Buch“, im Originaltext in arabischer Schrift übermittelt, ist jedoch „ohne Vorwissen gelesen, keine leichte Lektüre“. Das äußern zwei, die in jeweils unterschiedlichen Lebenszusammenhängen existieren, sich aber im Glauben vereint sehen: Der prominente ägyptische Islamwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid. Wegen seiner Reformbemühungen, die Korantexte sowohl aus der Zeit der Entstehung heraus zu interpretieren als auch die historischen Formulierungen für die heutige Zeit lesbar und verstehbar zu machen, wurde der 1943 geborene Zaid von Konservativen seines Landes der Apostasie angeklagt und 1995 von seiner Frau zwangsgeschieden. Er lehrt heute am IbnRushd-Lehrstuhl für Humanistik und Islam an der Utrechter Universität. Die deutsche Muslima, Journalistin, Schriftstellerin und Philosophin Hilal Sezgin mit väterlichem, türkischem Migrationshintergrund mischt sich in vielfältiger Form in die Integrationsdebatte ein. Leserinnen und Leser des Korans, ob als Muslime oder Andersgläubige, stünden, so die Auffassung der Autoren, vor einem doppelten Dilemma. Zum einen handelt es sich beim Koran um historische Texte, die sich auf Ereignisse und Verhaltensweisen aus der Entstehungszeit gründen. Sie wörtlich auf unsere Zeit zu übertragen, führt zwangsläufig zu Fehldeutungen und Missverständnissen. Zum anderen gelingt es dem Koranleser kaum, wegen vorgefasster Meinungen und auch Vorurteilen, unbefangen und ohne Vorbehalte die Texte aufzunehmen. Muslime gerieten dabei meist in eine Verteidigungshaltung, die einen echten und ebenbürtigen Dialog erschwere. Zaid und Sezgin wollen deshalb dazu beitragen, „den Koran nicht zu verteidigen und nicht anzuklagen; nicht über ihn zu urteilen, sondern ihn zu verstehen“. Dieses Vorhaben ist nicht nur deshalb gerechtfertigt, weil nach den neuen Statistiken rund 23 Prozent der Weltbevölkerung der Glaubensgemeinschaft des Islam angehören, im übrigen mit steigender Tendenz, während das Christentum, das bisher weltweit noch die meisten Anhänger hat, zahlenmäßig abnimmt; sondern auch, weil im Islam immer stärker Reformanstrengungen deutlich werden, sich auf die ursprüngliche Fähigkeit der Weltanschauung zu besinnen, darauf „wie dynamisch diese Religion einst war“. Im Laufe der Geschichte hat sich der Islam verändert, es wurden unterschiedliche Auslegungen entwickelt, theologische Traditionen begründet, unterschiedliche Rechtsschulen entstanden, und die Gläubigen praktizierten die unterschiedlichsten Riten und Normen. Die Muslime in den westeuropäischen Gesellschaften, in Deutschland leben derzeit 3,5 Millionen Muslime, darunter 1,1 Millionen mit deutscher Staatsbürgerschaft, werden von den Mehrheitsgesellschaften mit dem Fremdheits- oder gar Terrorismusverdacht belegt; was ohne Zweifel auch dazu beiträgt, dass die Kommunikation in der jeweiligen Gesellschaft verzerrt und verkrampft geführt wird, gepflastert mit Vorwürfen und Gegenvorwürfen. Diese, so die Autoren, führen uns nirgendwo hin! Vielmehr wäre es für die Muslime sinnvoller und hilfreicher zu antworten: „Ja, das stimmt, diese Stelle (des Koran) ist tatsächlich schwierig – lassen Sie mich also erklären, in welcher Situation sie entstand und wie wir sie zu lesen haben“. Das ist gleichsam der Schlüssel für das Verstehen des Buches: „Mein Verständnis des Islam (ist eines), das sich in einer bestimmten Zeit geformt hat … es ist nicht für die Ewigkeit. Es ist offen für weitere Interpretationen …, es muss sich öffnen, wieder und wieder“. Zweifelsohne ein Graus für die Dogmatiker und Islamisten, aber hilfreich für alle diejenigen, die in der Weltanschauung des Islam, als monotheistische Religion, mehr sehen als eine Unterwerfung, nämlich ein Einverständnis darüber, dass Allah will, dass die Menschen ein gutes Leben führen; denn in der 29. Sure, Vers 69, heißt es: „Siehe, Allah ist wahrlich mit denen, die recht handeln“. Wie bei allen Inhalten von „heiligen Büchern“, so besteht auch bei den Muslimen das Problem, dass ihr Wissen über den historischen Hintergrund der im Koran gesetzten Aussagen vielfach unvollständig und mangelhaft ist. Wie stellte sich die Situation der Menschen in Arabien vor dem Islam dar? Kenntnis über die Geschichte, die Kultur und die damals herrschenden religiösen Bräuche und Mythen, sind ein unverzichtbares Mittel, die heiligen Worte zu verstehen und für das individuelle Leben und das in der Glaubensgemeinschaft anzuwenden. Wir merken schon: Diese Interpretationshilfen können genau so gut an Menschen mit anderen Weltanschauungen gerichtet werden! Dabei ist noch eine weitere Einsicht wichtig: „Der Koran wurde Mohammed nicht in Form eines fertigen Buches gegeben, sondern die Offenbarung vollzog sich auf eine komplizierte, dialogische, diskursive, sogar argumentative Weise.“ Das Verständnis und die Einordnung, dass Mohammed in seiner Zeit sowohl geistiger als auch politischer Anführer seiner Anhänger war, erschließt sich dem Gläubigen erst, wenn er die Situation in Mekka und Medina jener Zeit reflektiert: „Mohammeds Aufgabe in jenen mekkanischen Jahren war die eines Warners, der seine Mitmenschen zum Glauben und zum ethischen Verhalten aufrufen und sie an den Tag des Jüngsten Gerichts erinnern sollte“. Der Wandel vom Gläubigen zum Politiker, zum Heerführer und schließlich zum Religionsbegründer vollzog sich erst während der Emigration seiner muslimischen Gemeinde nach Medina, der Hidschra. Zaid unternimmt bei seinen, historisch grundgelegten und linguistisch bestimmten Interpretationen sogar den Versuch (das Sakrileg!), die „menschliche Fehlbarkeit Mohammeds“ hervor zu heben; nicht um den Propheten zu demontieren oder unglaubwürdig zu machen, sondern zu verdeutlichen, dass seine Größe eine menschliche Größe ist. Wichtig für ein neues Verständnis der koranischen Texte und des Korans als Offenbarung ist die über die Jahrhunderte sich in unterschiedlichen Deutungen und Glaubensanweisungen vollzogene und weiterhin vollziehende Auseinandersetzung darüber, in welcher Sprache die Menschen zu ihrem Gott beten sollen – auf Arabisch, weil dies die „Sprache des Koran“ ist, oder in ihren Muttersprachen, weil sie nur so mit Allah kommunizieren, also beten können? Am Beispiel der Rezitation der Sure al-Fatiha, die der gläubige Muslim während der täglichen Pflichtgebete mindestens 17 Mal sprechen muss, machen die Autoren deutlich, dass der Koran nicht monophon, sondern polyphon zu verstehen ist, was ja nichts anderes bedeutet als: „An der Gestaltung der endgültigen Form des Koran waren Menschen beteiligt“. Wir sind damit bei der vielleicht theologisch und ideologisch wichtigen Frage angelangt, was die Autoren „Das Klare und das Zweideutige“ nennen; nämlich welche Wege der Interpretation erlaubt sind und welche nicht. Die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel hat in der Einleitung der deutschsprachigen Koranausgabe (Reclam 1960) darauf hingewiesen, dass von Mystikern berichtet wird, die 7.000 Auslegungen eines einzigen Koranverses kannten. Die wörtliche und / oder metaphorische (allegorische) Auslegung von Korantexten lässt sich freilich nicht verordnen. Sie ergibt sich, wie übrigens auch in der Bibel, dadurch, dass die jeweiligen Verse sowohl als Gebote im Sinne einer Vorherbestimmung und Bindung an das göttliche Wort als auch dem Anspruch des freien Willens und der eigenen Entscheidung des Gläubigen zu verstehen sind. Wie zeigt sich das Göttliche dem Menschen also? Im „Islam ist das Göttliche Allah“. Und dieser Gott stellt sich als barmherziger, als verstehender, aber auch als strafender, verurteilender und rächender Mächtiger dar. Zaid und Sezgin nehmen dabei eine eindeutige Position ein: Glauben ist etwas Relationales, also eine Beziehung zu Gott herstellen. Damit stellen sie sich gegen jede Form von dogmatischer Festlegung. Eine Neuinterpretation kann nicht gelingen, ohne die Frage nach der Bedeutung der Schöpfung in den monotheistischen Religionen zu stellen. Im Koran wird der Schöpfungsakt und die Schöpfungskraft Allahs als wohlgeordneter, den Bedürfnissen der Menschen und der anderen Lebewesen gerecht werdender Wille präsentiert. Dadurch entsteht eine Spannung bei den Gläubigen, die sich sowohl als Zweifel als auch als Vertrauen äußert, … „ich glaube, solche Spannungen bereichern und vertiefen unser Leben“. Die Auseinandersetzung mit dem Koran und damit der Weltanschauung des Islam, bedarf auch der Beschäftigung mit der Frage: Wie hält es der Islam mit der Gewalt? Die Autoren gehen dabei an die Interpretation der Korantexte wieder historisch heran. Und die für die kritische, nichtmuslimische Welt, aber auch für die Muslime selbst sich stellende Frage: „Erwartet Gott etwa von uns, dass wir Aggressivität in die Welt tragen?“, beantworten sie eindeutig: „Nein, für uns gilt die Verpflichtung der Friedfertigkeit“. Deutlich wird das nicht nur durch den bekannten Vers „… dass, wer einen Menschen tötet … wie einer sein soll, der die ganze Menschheit ermordet hat“, sondern auch in der Interpretation der Autoren, „dass sich das Wort ‚Muslim’ (als) eine allgemeinere Kategorie von Gläubigen bezeichnen soll …, die an den Einen Gott glauben und sich entsprechend verhalten“. Sicherlich eine der sensibelsten und vielleicht sogar umstrittensten Interpretationsversuche dürfte die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter im Islam sein: „Gleichheit oder Hierarchie?“ Doch auch hier die eindeutige Position: „Wir Muslime müssen uns hier entscheiden. Wollen wir uns von den sozio-historisch begründeten Regelungen beschränken lassen, die ihre Wurzeln im 7. Jahrhundert haben, oder folgen wir der Richtung, die im religiösen Bereich angegeben ist und die auf das Ideal der Gleichheit verweist?“; denn, so Zaid, das Bestehen auf den historischen Formulierungen im Koran entwertet den Islam. Freilich bleibt, bei allem Bemühen, die Textstellen im Koran, in denen Gleichheits- und Ungleichheitsvorstellungen formuliert werden, zu relativieren und zu „modernisieren“, doch eine Interpretationslücke, die die aus Pakistan stammende Muslima und Feministin Riffat Hassan (geb. 1943) so zu füllen versucht, wenn sie feststellt: „Im Koran herrscht Gleichheit vor Gott und Ungleichheit in der Gesellschaft.“ Die Kleidervorschriften des Koran, etwa die Frage des Tragens eines Kopftuchs (bei der Verpflichtung, eine Burka zu tragen oder sich gar komplett zu verhüllen, hört freilich auch bei den Autoren das Verständnis auf: „Ein schreckliches kulturelles Phänomen“), akzeptieren Zaid und Sezgin insofern, indem sie das Recht eines jeden Individuums hervorheben, die Identität in einer pluralistischen Gesellschaft (auch) dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass eine entsprechende Kleidung getragen werden darf. Damit weisen sie den Kopftuchträgerinnen das gesellschaftliche Recht dafür zu, eine religiöse Pflicht jedoch nicht. Auch die Scharia, die (vermeintliche) Verbindung von religiösem und staatlichem Recht, bedarf der Erneuerung. Freilich wird Zaids Hinweis, dass der Koran kein Gesetzbuch sei, die Konservativen im Islam auf die Palme bringen. Der Hinweis allerdings, dass die Gesetzesformulierungen im Koran eben auch historisch und gesellschaftlich zu interpretierende Aussagen wären und, wie die verschiedenen Rechtsschulen im Islam zeigen, dass die Scharia nicht göttlichen, sondern menschlichen Ursprungs wäre, hilft bei den Interpretationsversuchen weiter. Said erinnert in dem Zusammenhang daran, dass in der Tradition der islamischen Mystik die Scharia als äußere Hülle der Wahrheit betrachtet wurde. Und wenn Scharia im eigentlichen Sinn „Pfad“ und „Richtungsweisung“ bedeutet, kann das nicht zur Folge haben, zwangsweise eine Einbahnstraße gehen zu müssen, sondern im Ausbalancieren das „rechte Maß“ auf der Grundlage der Gerechtigkeit zu finden. Eigentlich sollte es im religiösen und philosophischen Diskurs keine Meinungsverschiedenheiten darüber geben, was Dogmen sind und welche Bedeutung sie für die Gläubigen haben sollen. Doch Dogmen werden, nicht zuletzt im Islam, eben auch als unverrückbare und vom Menschen nicht antastbare Gewissheiten verstanden. Dadurch ergeben sich auch bei der Auslegung von Korantexten vielfältige Schwierigkeiten. Für die Autoren gilt dabei die Notwendigkeit, über die Entstehung der Dogmen nachzuforschen und deren Bedeutung zu diskutieren. Damit kommt ins Spiel, was besonders für den interreligiösen Dialog von Bedeutung ist: Toleranz und die Fähigkeit, den Respekt gegenüber Andersgläubigen einzuüben. Und nicht zuletzt: „Wir müssen die Muslime ermutigen, für sich selbst zu denken“; und zwar durch eine „vernünftige islamische Erziehung“. Nimmt man die Worte ernst, dann heißt das eben: Die (kritische) Vernunft zum Maßstab aller Erziehung zu machen. Im letzten Teil wenden sich die Autoren der vielleicht für die öffentliche und gesellschaftliche Aufmerksamkeit umstrittensten und auch missverständlichsten Wahrnehmung zu: „Fundamentalismus und moderne muslimische Identität“. Sie unternehmen dabei nicht den sich erst einmal anbietenden und von den Nichtmuslimen in der jeweiligen Gesellschaft erwarteten Versuch, all die Vorurteile und Zuschreibungen widerlegen zu wollen, sondern sie ziehen dabei das vielleicht allzu oft vergessene Paradigma heran, dass der Islam keine Delegation von Schuld auf ein höheres Wesen kennt, etwa vergleichbar der „Erbsünde“ im Christentum, sondern was im Koran an mehreren Stellen deutlich zum Ausdruck kommt, dass jeder Mensch für sich und die eigenen Handlungen verantwortlich sei. Dies in das Bewusstsein der Muslime zu bringen, wie auch in das der Nichtmuslime, ist eine Aufgabe, die die Wirklichkeiten der Weltanschauungen in der Welt berücksichtigt: „Der Islam ist Teil des Westens geworden, ebenso wie der Westen in jedem Winkel der islamischen Welt gegenwärtig ist.“ Bezogen auf Europa und damit auch auf Deutschland bedeutet dies, dass es Hier und Heute zu einer Umorientierung und einem Perspektivenwechsel kommen muss. Das Buch ist dadurch entstanden, dass sich Hilal Sezgin im Sommer und Herbst 2007 in mehreren Interviews und Gesprächen mit Nasr Hamid Abu Zaid auf die Suche gemacht hat, die Positionen des Islamwissenschaftlers und gläubigen Muslims darzustellen. Das ist in der Form einer „argumentativen Erzählung“ gelungen. Die Arbeit „Mohammed und die Zeichen Gottes“ unter der Fragestellung der Gegenwart und Zukunft des Islam auf der Grundlage des Koran, ist eine interessante und für das Verständnis dieser monotheistischen Religion sowohl für Muslime als auch Andersgläubige überzeugende Argumentationshilfe. Deutlich wird dabei, dass es für die religiöse Identität wie für den interreligiösen Dialog überhaupt nichts bringt, Orient gegen Okzident auszuspielen, Entwicklung und Unterentwicklung gegenüber zu stellen, Hegemonie gegen Unterdrückung zu stellen, Aufgeklärtheit gegen Rückständigkeit fingerzuzeigen, sondern tatsächlich die Aufklärung für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und die Menschenrechte als gemeinsame Basis für das Leben der Menschen auf der Einen Erde zu etablieren. Das Buch reiht sich in die verschiedenen Initiativen von Reformbestrebungen im Islam ein, wie etwa dem „Koran für Kinder und Erwachsene“ von Lamya Kaddor und Rabeya Müller (München 2008) sowie Namen wie: Lale Akgün, Bülent Aslan, Canan Topcu, Yasemin Karakasoglu, Necla Kelek, Ekin Deligöz, Seyran Ates, Abbas Poya und viele andere. Sie alle setzen sich dafür ein, dass Muslime in unserer multikulturellen Gesellschaft eine gleichberechtigte Identität entwickeln können. Literaturangaben: ABU ZAID, NASR HAMID: Mohammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islam. Unter Mitarbeit von Hilal Sezgin. Herder Verlag, Freiburg 2008. 222 S.