Originalarbeiten / Original Articles

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Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie
Ergebnisse aus Psychotherapie, Beratung und Psychiatrie
Herausgeberinnen und Herausgeber:
Albert Lenz, Paderborn; Franz Resch, Heidelberg; Georg Romer, Münster;
Maria von Salisch, Lüneburg; Svenja Taubner, Heidelberg
Verantwortliche Herausgeber:
Univ.-Prof. Dr. med. Franz Resch, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale
Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Blumenstr. 8, D-69115 Heidelberg
Univ.-Prof. Dr. med. Georg Romer, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und
-psychotherapie, Schmeddingstr. 50, D-48149 Münster
Redakteur: Dipl.-Psych. Kay Niebank (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Hartwigstr. 2c,
D-28209 Bremen, E-Mail: [email protected]
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Frühere Herausgeber: R. Adam, M. Cierpka, A. Dührssen, E. Jorswieck, G. Klosinski, U. Lehmkuhl,
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Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier.
ISSN (Printausgabe): 0032-7034, ISSN (online): 2196-8225
2 Beilagen: Kohlhammer Verlag, Beltz Verlag
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Inhalt
Originalarbeiten / Original Articles
Sarah Lange und Heinrich Tröster
Adaptive und maladaptive Emotionsregulation bei Jugendlichen mit ADHS . . . . . 298
Adaptive and Maladaptive Strategies of Emotion Regulation in Adolescents with ADHD
Franziska Both, Sandra Schmiedeler, Philipp Abelein und Wolfgang Schneider
Wirksamkeit eines Workshops für Lehrkräfte über die Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätsstörung (ADHS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Effectiveness of an Educator Training about the Attention-Deficit-/Hyperactivity Disorder
(ADHD)
Carola Cropp, Simone Salzer und Annette Streeck-Fischer
Veränderungen der psychischen Struktur im Verlauf der stationären
psychodynamischen Behandlung von jugendlichen Patienten mit einer
kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . 328
Changes in OPD-CA Axis Structure During Inpatient Psychodynamic Treatment of
Adolescents Suffering from Comorbid Disorders of Conduct and Emotions
Annabel Zwönitzer, Ute Ziegenhain, Ina Bovenschen, Melanie Pillhofer,
Gottfried Spangler, Jennifer Gerlach, Sandra Gabler, Heinz Kindler,
Jörg M. Fegert und Anne Katrin Künster
Frühe Hilfen und kindliche kognitive Entwicklung: Eine längsschnittliche Pilotuntersuchung psychosozial belasteter Mutter-Kind-Paare in der frühen Kindheit . . . 340
Early Intervention and Cognitive Development: A Longitudinal Study with Psychologically
Stressed Mother-Child-Dyad during Early Childhood
Aus Klinik und Praxis / From Clinic and Practice
Matthias Ochs, Björn Enno Hermans und Anke Lingnau-Carduck
Multi-Familien-Gruppen in der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
Multi-Family-Groups in Youth Welfare
Autoren und Autorinnen / Authors 371 | Buchbesprechungen / Book Reviews 373
Tagungskalender / Congress Dates 379 | Aus dem Inhalt des nächsten Heftes /
Preview of the next Issue 381
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 297 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
ORIGINALARBEITEN
Adaptive und maladaptive Emotionsregulation
bei Jugendlichen mit ADHS
Sarah Lange und Heinrich Tröster
Summary
Adaptive and Maladaptive Strategies of Emotion Regulation in Adolescents with ADHD
The present study investigated differences between adolescents with ADHD and control subjects in their adaptive und maladaptive regulation of negative emotions. We assessed emotion regulation strategies using the German self-report questionnaire FEEL-KJ in a sample of
adolescents (between 11 and 18 years) with ADHD (disturbance of activity, impulsivity and
attention: n = 32, hyperkinetic conduct disorder: n = 26) and controls (n = 58). We found that
adolescents with ADHD reported using less adaptive strategies for dealing with negative emotions than control subjects. No effects were found for maladaptive emotion regulation strategies for anger, fear and sadness. Our findings indicate that adolescents with ADHD should be
encouraged in the development of adaptive emotion regulation.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 298-314
Keywords
ADHD – disturbance of activity, impulsivity and attention – hyperkinetic conduct disorder –
emotion regulation – FEEL-KJ
Zusammenfassung
In der vorliegenden Studie wurde der Frage nachgegangen, ob sich Jugendliche mit ADHS
und Kontrollprobanden in ihrer adaptiven und maladaptiven Regulation negativer Emotionen unterscheiden. Dazu wurden Emotionsregulationsstrategien von Jugendlichen (11 bis
18 Jahre) mit einer ADHS nach ICD-10 (einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung: n
= 32, hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens: n = 26) und Kontrollprobanden (n = 58)
über Selbstberichte anhand des Fragebogens FEEL-KJ erfasst. Unsere Ergebnisse zeigen, dass
Jugendliche mit ADHS zur Bewältigung negativer Emotionen signifikant seltener adaptive
Emotionsregulationsstrategien als Kontrollprobanden nutzen. Keine Gruppenunterschiede
ergaben sich bei der maladaptiven Regulation von Wut, Angst und Trauer. Die Befunde deuPrax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 298 – 314 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
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Adaptive und maladaptive Emotionsregulation bei Jugendlichen mit ADHS 299
ten darauf hin, dass Interventionsmaßnahmen insbesondere darauf abzielen sollten, Jugendliche mit ADHS in der Anwendung adaptiver Strategien zu unterstützen.
Schlagwörter
ADHS – einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung – hyperkinetische Störung des
Sozialverhaltens – Emotionsregulation – FEEL-KJ
1
Theoretischer Hintergrund
Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) gehören mit einer weltweiten
Prävalenz von 5.0-7.1 % zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und
Jugendalter (Polanczyk, 2007; Polanczyk, Willcutt, Salum, Kieling, Rohde, 2014;
Willcutt, 2012). In Deutschland werden die Prävalenzen für das Schulalter auf 5 %
nach DSM-IV und auf circa 1 % nach den strengeren Kriterien der ICD-10 (Hyperkinetische Störungen) geschätzt (Döpfner, Breuer, Wille, Erhart, Ravens-Sieberer,
2008). Die Kernsymptomatik umfasst drei Problembereiche – Unaufmerksamkeit,
Impulsivität und Hyperaktivität – die vor allem bei schulischen Anforderungen in
vielfältigen Verhaltensproblemen zum Ausdruck kommen. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind leicht ablenkbar, motorisch unruhig, neigen zu Flüchtigkeitsfehlern, vermeiden Aufgaben, die über einen längeren Zeitraum kognitive
Anstrengung erfordern und haben Probleme beim Organisieren von Aufgaben und
Aktivitäten (Dilling, Mombour, Schmidt, 2014). Darüber hinaus zeigen Kinder und
Jugendliche mit ADHS auch Auffälligkeiten im psychosozialen Bereich. Beispielsweise haben sie Probleme, sich in die Perspektive von anderen Kindern hineinzuversetzen (Schwenck et al., 2011), verfügen über weniger Freundschaften (Merkt u.
Petermann, 2015) und werden häufiger von Peers abgelehnt als unauffällige Gleichaltrige (Hoza et al., 2005; Wheeler Maedgen u. Carlson, 2000). Überdies erleben
Kinder und Jugendliche mit ADHS oft intensive negative Emotionen (Braaten u.
Rosén, 2000; Shea u. Fisher, 1996; Whalen, Jamner, Henker, Delfino, Lozano, 2002),
möglicherweise aufgrund zahlreicher negativer Erfahrungen, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind. Auffälligkeiten im emotionalem Erleben zeigen sich auch häufig in einer erhöhten Angst- (Biederman, Newcorn, Sprich, 1991) und depressiven
Symptomatik (Lufi u. Parish-Plass, 1995; Treuting u. Hinshaw, 2001; Williams et al.,
2008). Vor allem im Jugendalter scheinen emotional-affektive Beeinträchtigungen
sowie eine geringe Lebenszufriedenheit als begleitende Symptome der ADHS zentral zu sein (Tischler, Schmidt, Petermann, Koglin, 2010).
Barkley (1997) sieht die Ursache der Verhaltensprobleme bei ADHS in einer defizitären Verhaltenshemmung, die zu Beeinträchtigungen von vier exekutiven Funktionen führt: Neben Funktionsdefiziten im verbalen (z. B. inneres Sprechen zur Handlungsplanung) und nonverbalen Arbeitsgedächtnis (z. B. Behalten von Ereignissen,
300 S. Lange, H. Tröster
vorausschauendes und rückblickendes Denken, mentale Problemlösung) und der
Entwicklung von Handlungssequenzen, werden auch Defizite in der Selbstregulation
von Emotionen, Motivation und Erregung vermutet. Während die kognitive und verhaltensbezogene Symptomatik der ADHS bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS
gut erforscht ist, ist noch vergleichsweise wenig über emotionale Korrelate der Störung, wie die Regulation von Emotionen, bekannt (vgl. Bunford, Evans, Wymbs, 2015;
Desman et al., 2006; Hampel u. Desman, 2006; Hampel, Manhal, Roos, Desman, 2008;
Schmitt, Gold, Rauch, 2012; Sjöwall, Roth, Lindqvist, Thorell, 2013).
Probleme im Umgang mit Emotionen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS
zeigen sich in einer erhöhten emotionalen Labilität, die in starker Reizbarkeit,
Stimmungsschwankungen und einer geringen Frustrationstoleranz zum Ausdruck
kommt (Banaschewski et al., 2012; Sobanski et al., 2010). Spezifische Hinweise auf
eine unangemessene Emotionsregulation fanden Desman et al. (2006), die zeigten,
dass Kinder mit ADHS bei der Bearbeitung einer Go-/Nogo-Aufgabe nicht nur eine
geringere Verhaltenshemmung und Aufmerksamkeitsleistung aufwiesen, sondern
sich bei der Aufgabenbearbeitung auch stärker herausgefordert fühlten und sich
vermehrt Sorgen über die Testsituation machten („Gedankliche Weiterbeschäftigung“). Auch in der Wahrnehmung der Eltern finden sich Anhaltspunkte dafür,
dass es Kindern und Jugendlichen mit ADHS im Vergleich zu Kontrollprobanden
weniger gut gelingt, Emotionen zu regulieren (Berlin, Bohlin, Nyberg, Janols, 2004;
Sjöwall et al., 2013).
Im Mittelpunkt bisheriger Studien zur Emotionsregulation bei Kindern mit ADHS
stand vor allem der Umgang mit Wut und Ärger. Dabei zeigte sich, dass Kinder mit
ADHS in frustrationsauslösenden Situationen seltener auf Strategien zurückgreifen,
die eine gezielte Impulskontrolle erfordern: Nach dem Selbstbericht der Kinder verfolgen sie in Streitsituationen mit dem Freund im Vergleich zu Kontrollprobanden
seltener distanzierende Strategien (z. B. Aufmerksamkeitslenkung, sich abwenden)
und es gelingt ihnen weniger gut, sich nach Ärgerereignissen ruhig und ohne Vorwürfe zu erklären und den eigenen Anspruch zurückzunehmen (Bonekamp u. von
Salisch, 2007). Zudem fällt es Kindern mit ADHS schwer, Emotionen zu verbergen
– auch wenn dies explizit gefordert wird (Walcott u. Landau, 2004).
Ob die Regulationsdefizite von Kindern mit ADHS auf Wut und Ärger beschränkt
sind oder ob generell die Regulierung negativer Emotionen erschwert ist, wurde
bislang selten untersucht. Vorliegende Befunde sprechen für emotionsübergreifende Regulationsdefizite. So gaben die Eltern in der Studie von Sjöwall et al. (2013)
an, dass es ihren Kindern mit ADHS im Vergleich zu unauffälligen Peers nicht nur
schwerer fällt, Ärgergefühle zu regulieren, sondern es ihnen überdies weniger gut
gelingt, Gefühle der Angst und Trauer zu bewältigen. Auch Schmitt et al. (2012)
fanden bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS emotionsübergreifende Auffälligkeiten in der Emotionsregulation. Nach den Selbstberichten greifen Kinder und
Jugendliche mit ADHS zur Regulation von Wut, Angst und Trauer seltener auf
adaptive Strategien wie Kognitives Problemlösen, Problemorientiertes Handeln,
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Adaptive und maladaptive Emotionsregulation bei Jugendlichen mit ADHS 301
Stimmung anheben, Umbewertung und Zerstreuung zurück. Keine Unterschiede
zeigten sich hingegen in der Nutzung maladaptiver Strategien (z. B. Rückzug, Selbstabwertung) im Umgang mit Wut, Angst und Trauer.
Inwieweit eine komorbide Störung des Sozialverhaltens die Fähigkeit zur Regulierung negativer Emotionen zusätzlich beeinträchtigt, ist noch nicht eindeutig
geklärt. Während Bunford, Evans und Langberg (2014) keine Unterschiede in der
Emotionsregulation zwischen Jugendlichen mit einfacher ADHS und denen mit
komorbiden oppositionellen Verhaltensstörungen fanden, lassen andere Befunde
vermuten, dass vor allem Kinder und Jugendliche mit ADHS und einer komorbiden
Störung des Sozialverhaltens Schwierigkeiten in der Regulierung negativer Emotionen aufweisen. So konnten Hampel et al. (2008) zeigen, dass sowohl Kinder mit
einer reinen ADHS-Problematik als auch Kinder mit einer zusätzlichen aggressiven
Symptomatik in Stresssituationen stärker als Kontrollprobanden mit aggressiven
Strategien und Resignation reagieren, Kinder des aggressiven Subtypus jedoch darüber hinaus auch stärker zu passiver Vermeidung und Rumination neigen. Auch
nach den Befunden von Melnick und Hinshaw (2000) weisen Kinder mit ADHS
und stark ausgeprägten aggressiven Symptomen in einer Frustrationssituation ein
weniger konstruktives Bewältigungsmuster auf als ADHS-Kinder mit gering ausgeprägten aggressiven Symptomen sowie Kontrollprobanden.
Zwar verweisen vorliegende Studien übereinstimmend auf Defizite in der Emotionsregulation bei Jugendlichen mit ADHS, dennoch bleiben einige Fragen offen.
So ist bislang noch nicht geklärt, ob von emotionsspezifischen oder emotionsübergreifenden Problemen in der Regulation negativer Emotionen auszugehen ist
(vgl. Bunford et al., 2015). Des Weiteren bleibt offen, inwieweit die Beeinträchtigungen in der Emotionsregulation auf den Einfluss einer aggressiven Symptomatik zurückzuführen sind, da bisherige Studien oft nicht zwischen einer reinen
ADHS-Symptomatik und ADHS mit komorbider aggressiv-oppositioneller Symptomatik differenziert haben (z. B. Berlin et al., 2004; Schmitt et al., 2012; Sjöwall
et al., 2013). In unserer Studie wurde daher die Regulation negativer Emotionen
(Wut, Angst, Trauer) von 11- bis 18-jährigen Jugendlichen mit beiden Formen der
ADHS nach ICD-10 (F90.0 – einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung,
F90.1 – hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens) mit einer Kontrollgruppe
verglichen. Erwartet wurde, dass Jugendliche mit einer einfachen Aktivitäts- und
Aufmerksamkeitsstörung sowie Jugendliche mit einer hyperkinetischen Störung
des Sozialverhaltens im Vergleich zu Kontrollprobanden (1) zur Regulierung negativer Emotionen seltener adaptive und mehr maladaptive Strategien verfolgen,
(2) negative Emotionen häufiger in einem dysfunktionalem Ausmaß regulieren
und (3) ein kleineres Repertoire an adaptiven und eine größere Bandbreite an maladaptiven Strategien einsetzen. Zusätzlich wurde erwartet, dass Jugendliche mit
einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens mehr aggressive Emotionsregulationsstrategien verfolgen als Jugendliche mit einer einfachen Aktivitäts- und
Aufmerksamkeitsstörung.
302 S. Lange, H. Tröster
2
Methodik
2.1 Stichprobe
Die klinische Untersuchungsstichprobe bestand aus 58 Jugendlichen (weiblich: 25.9 %)
zwischen 11 und 18 Jahren (M = 13.14, SD = 2.31), die entweder eine einfache
Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) oder eine hyperkinetische Störung des
Sozialverhaltens (F90.1) aufwiesen. Von diesen 58 Jugendlichen wiesen 24 (41.38 %)
komorbide Störungen auf, wobei 23 Probanden eine und ein Proband zwei weitere
Störungen nach ICD-10 aufwiesen. Es lagen folgende Komorbiditäten vor: Emotionale Störungen (n = 8), Angststörungen (n = 2), Lese- und Rechtschreibstörung
(n = 5), kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (n = 2), sonstige
Störungen (n = 8). Für die Kontrollgruppe wurden zunächst 517 Schülerinnen und
Schüler zwischen 11 und 18 Jahren rekrutiert. 140 Probanden wurden nachfolgend
aus der Kontrollgruppe ausgeschlossen, da diese nach dem Fragebogen für Jugendliche
(Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998) Symptome der ADHS oder
einer Störung des Sozialverhaltens aufwiesen (vgl. 2.2 Erhebungsinstrumente), sodass
eine Ausgangsstichprobe von 377 Schülerinnen und Schülern vorlag (weiblich: 51.7
%; Alter: M = 13.95, SD = 2.15). Um die Vergleichbarkeit der Gruppen zu erhöhen,
wurde in einem weiteren Schritt eine parallelisierte Stichprobe gebildet, in dem jedem
Jugendlichen mit einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (Alter: M =
13.27, SD = 2.29) sowie einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (Alter: M =
13.03, SD = 2.31) per Zufallsverfahren ein Proband mit gleichem Alter, Geschlecht und
gleicher Schulform zugewiesen wurde (n = 58; Alter: M = 13.14, SD = 2.31). Weitere
Informationen zur Stichprobe sind Tabelle 1 (folgende Seite) zu entnehmen.
2.2 Erhebungsinstrumente
Zur Erfassung der Emotionsregulation wurde der „Fragebogen zur Erhebung der
Emotionsregulation bei Kindern und Jugendlichen“ (FEEL-KJ; Grob u. Smolenski,
2009) eingesetzt. Der FEEL-KJ erfasst 15 Einzelstrategien zur Bewältigung der negativen Emotionen Wut, Angst und Trauer auf einer fünfstufigen Antwortskala (fast
nie, selten, ab und zu, meistens, fast immer) (vgl. Tab. 2, nächste Seite). Diese 15
Einzelstrategien werden gemäß ihrer Beziehung zum subjektiven Wohlbefinden in
adaptive (Problemorientiertes Handeln, Zerstreuung, Stimmung anheben, Akzeptieren, Vergessen, Umbewertung, Kognitives Problemlösen) und maladaptive (Aufgeben, Aggressives Verhalten, Rückzug, Selbstabwertung, Perseveration) Strategien
eingeteilt. Strategien, die hinsichtlich ihrer Adaptivität nicht eindeutig beurteilt werden konnten (Soziale Unterstützung, Emotionskontrolle, Emotionsausdruck) werden der Skala „weitere Strategien“ zugeordnet. Aus der Summe der sieben adaptiven
bzw. fünf maladaptiven Einzelstrategien über alle Emotionen wird die adaptive bzw.
maladaptive Sekundärskala gebildet. Über die Summe der adaptiven bzw. maladap-
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Adaptive und maladaptive Emotionsregulation bei Jugendlichen mit ADHS 303
tiven Einzelstrategien, getrennt für Wut, Angst und Trauer, wird die emotionsspezifische Emotionsregulation erfasst.
Tabelle 1: Stichprobe der Untersuchung
F90.0
(n = 32)
Geschlecht
weiblich
männlich
Schulform
Grundschule
Hauptschule
Realschule
Gesamtschule
Gymnasium
Berufskolleg
Komorbide Störungen
vorhanden
nicht vorhanden
keine Angabe
Schwere der Symptomatik
gering
mittel
stark
keine Angabe
Phase der Therapie
Anfang
Mitte
Ende
keine Angabe
F90.1
(n = 26)
Kontrollgruppe
(n = 58)
n
%
n
%
n
%
10
22
31.3
68.8
5
21
19.2
80.8
15
43
25.9
74.1
7
7
7
7
4
0
21.9
21.9
21.9
21.9
12.5
0
3
8
11
1
2
1
11.5
30.8
42.3
3.8
7.7
3.8
10
15
18
8
6
1
17.2
25.9
31.0
13.8
10.3
1.7
14
13
5
43.8
40.6
15.6
10
15
1
38.5
57.7
3.8
-
-
6
13
7
6
18.8
40.6
21.9
18.8
1
11
7
7
3.8
42.3
26.9
26.9
-
-
9
7
7
9
28.1
21.9
21.9
28.1
1
15
3
7
3.8
57.7
11.5
26.9
-
-
Anmerkungen: F90.0 = einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung; F90.1 = hyperkinetische
Störung des Sozialverhaltens
Das Verfahren weist zufriedenstellende bis hohe interne Konsistenzen auf (vgl.
Freundenthaler u. Wettstein, 2015). Das von den Testautoren ermittelte Cronbachs
Alpha der adaptiven Sekundärskala beträgt α = .93 und der maladaptiven Sekundärskala α = .82. Die interne Konsistenz der emotionsspezifischen Skalen liegt zwischen
α = .58 und α = .88, die der 15 Einzelstrategien zwischen α = .69 und α = .91. In
unserer Studie lag die interne Konsistenz der adaptiven und maladaptiven Sekundärskalen für die Gesamtstichprobe bei α = .91 und α = .84, die der emotionsspezi-
304 S. Lange, H. Tröster
fischen Skalen zwischen α = .60 und α = .86. Die Reliabilitäten der Einzelstrategien
lagen zwischen α = .60 und α = .85.
Tabelle 2: Beispielitems des Fragebogens zur Erhebung der Emotionsregulation bei Kindern und
Jugendlichen (FEEL-KJ; Grob u. Smolenski, 2009)
Strategien
Beispielitems „Wenn ich wütend/ängstlich/traurig bin, …“
Adaptive Strategien
Problemorientiertes
Handeln
„… versuche ich das zu verändern, was mich wütend/ängstlich/traurig
macht.“
Zerstreuung
„… tue ich etwas, was mir Spass macht.“
Stimmung anheben
„… denke ich über Dinge nach, die mich glücklich machen.“
Akzeptieren
„… mache ich das Beste daraus.“
Vergessen
„… versuche ich zu vergessen, was mich wütend/ängstlich/traurig macht.“
Kognitives Problemlösen
„… denke ich darüber nach, wie ich das Problem lösen könnte.“
Umbewertung
„… sage ich mir, dass das Problem nicht so schlimm ist.“
Maladaptive Strategien
Aufgeben
„… mag ich nichts mehr tun.“
Aggressives Verhalten
„… fang ich mit anderen Streit an.“
Rückzug
„… will ich niemanden sehen.“
Selbstabwertung
„… denke ich, dass es mein Problem ist.“
Perseveration
„… überlege ich immer wieder, warum ich wütend/ängstlich/traurig bin.“
In der Kontrollgruppe wurde zusätzlich die deutsche Fassung des Youth Self-Report
(YSR) der Child Behavior Checklist von Achenbach (1991), der Fragebogen für Jugendliche (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998), eingesetzt. Um
Jugendliche mit Aufmerksamkeitsstörungen und Störungen des Sozialverhaltens
in der Kontrollgruppe auszuschließen, wurden die Skalen „Aufmerksamkeitsprobleme“, „Aggressives Verhalten“ sowie „Delinquentes Verhalten“ ausgewählt. Anhand
der Skala Aufmerksamkeitsprobleme (9 Items) werden die Kernsymptome der ADHS
(motorische Unruhe, Impulsivität, Störungen der Konzentration) erfragt. Die Skala
Aggressives Verhalten (19 Items) erfasst verbal- und körperliche Aggressionen, die
Skala Delinquentes Verhalten (11 Items) berücksichtigt die Missachtung sozialer Regeln und Normen wie z. B. Stehlen. Die Jugendlichen werden nach der Häufigkeit
des Verhaltens im letzten halben Jahr mittels einer dreistufigen Antwortskala (nicht
zutreffend, etwas/manchmal, genau/häufig) befragt. Ausprägungen ab einem TWert von 70 werden als klinisch auffällig eingestuft (Arbeitsgruppe Deutsche Child
Behavior Checklist, 1998). Alle Jugendlichen mit einem klinisch auffälligen T-Wert
auf mindestens einer der Skalen wurden daher aus der Kontrollgruppe ausgeschlossen (N = 140). Die internen Konsistenzen der Syndromskalen liegen nach Angabe
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Adaptive und maladaptive Emotionsregulation bei Jugendlichen mit ADHS 305
des Testmanuals zwischen α = .70 und α = .84. In unserer Studie wurden interne
Konsistenzen zwischen α = .61 und α = .82 ermittelt.
2.3 Durchführung
Die Jugendlichen mit ADHS wurden über niedergelassene kinder- und jugendpsychotherapeutische Praxen (25 Fälle), Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie
(14 Fälle), kinder- und jugendpsychiatrische Tageskliniken (13 Fälle) sowie lerntherapeutische Praxen (6 Fälle) im Ruhrgebiet rekrutiert. Vorraussetzung für die
Aufnahme in die Stichprobe war eine durch Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder durch approbierte Kinder- und Jugendpsychotherapeuten gestellte ADHS-Diagnose nach ICD-10. Die teilnehmenden Einrichtungen wurden gebeten, ihren Patienten den FEEL-KJ (Grob u. Smolenski, 2009)
vorzulegen. Mit einem Erhebungsbogen für Therapeuten wurden nähere Informationen über die Diagnose, das Vorliegen komorbider Störungen, die Schwere der
Symptomatik sowie die Phase der Intervention erhoben. Die Kontrollprobanden
stammten aus Schulen des gesamten Ruhrgebiets. Sie bearbeiteten den FEEL-KJ
(Grob u. Smolenski, 2009) und den Fragebogen für Jugendliche (Arbeitsgruppe
Deutsche Child Behavior Checklist, 1998) in Anwesenheit der Erstautorin oder der
zuvor instruierten Lehrkraft im Klassenverband. Die Jugendlichen und ihre Eltern
wurden zuvor mit Informationsbriefen über die Studie aufgeklärt.
3
Ergebnisse
Erfasst wurden adaptive und maladaptive Strategien der Emotionsregulation bei
Jugendlichen mit ADHS und Kontrollprobanden. Die adaptive und maladaptive
Regulation erwies sich als unabhängig voneinander (r = .04; p > .05), während sich
hohe korrelative Zusammenhänge zwischen der adaptiven Bewältigung von Wut,
Angst und Trauer (im Durchschnitt r = .69; p < .01) sowie zwischen der maladaptiven Bewältigung der drei Emotionen (im Durchschnitt: r = .52; p < .01) ergaben.
Diese Befunde legen nahe, die adaptive und die maladaptive Regulation als zwei
unabhängige Kompetenzbereiche zu betrachten.
In der ersten Hypothese wurde erwartet, dass Jugendliche mit ADHS (einfache
Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung; hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens) negative Emotionen seltener mit adaptiven und häufiger mit maladaptiven Strategien bewältigen als Kontrollprobanden. Zur Überprüfung dieser Hypothese wurden die
drei Gruppen anhand der adaptiven und maladaptiven Gesamtwerte der Sekundärskalen miteinander verglichen. Aufgrund der Unabhängigkeit der adaptiven und maladaptiven Sekundärskalen (r = .04; p > .05) wurden univariate Varianzanalysen mit dem
dreistufigen Faktor Gruppe (einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, Kontrollgruppe) durchgeführt. Im Anschluss
306 S. Lange, H. Tröster
daran erfolgte ein Vergleich der Gruppen hinsichtlich der adaptiven und maladaptiven
Bewältigung der Einzelemotionen (Wut, Angst, Trauer) jeweils durch multivariate Varianzanalysen, denen univariate Analysen angeschlossen wurden. Bei multiplen Signifikanztests wurde das Signifikanzniveau von α = 5 % nach Bonferroni adjustiert (α‘ =
.0125 %). Anschließende Post-Hoc-Vergleiche erfolgten mit dem Scheffé-Test.
3.1 Adaptive Emotionsregulation
Jugendliche mit einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sowie mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens und Kontrollprobanden unterschieden sich signifikant in der adaptiven Emotionsregulation. Nach dem Post-Hoc-Test
verfolgen Jugendliche mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens, nicht
jedoch Jugendliche mit einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, signifikant seltener adaptive Strategien als Kontrollprobanden (vgl. Tab. 3, folgende Seite).
Das Ergebnis der multivariaten Varianzanalyse mit den drei emotionsspezifischen
Skalen verweist auf einen signifikanten Gruppenunterschied (F(6,222) = 3.834, Wilks‘
Lambda = .821, p < .01, η² = .09). Nachfolgende univariate Analysen zeigten signifikante Gruppenunterschiede in der adaptiven Regulation von Wut und Trauer, nicht
jedoch im Umgang mit Angst. Den Ergebnissen des Post-Hoc-Tests zufolge verfolgen
Jugendliche mit hyperkinetischer Störung des Sozialverhaltens zur Regulation von Wut
seltener adaptive Strategien als Kontrollprobanden. Zur Bewältigung von Trauer verfolgen sowohl Jugendliche mit einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung
als auch Jugendliche mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens signifikant seltener adaptive Strategien als Kontrollprobanden (vgl. Tab. 3).
3.2 Maladaptive Emotionsregulation
Für die maladaptive Emotionsregulation ergab sich kein signifikanter Unterschied
zwischen Jugendlichen mit einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung,
einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens und der Kontrollgruppe. Auch
bei der emotionsspezifischen maladaptiven Bewältigung zeigten sich sowohl auf
multivariater (F(6,222) = 0.627, Wilks’ Lambda = .967, p > .05, η² = .02) als auch auf
univariater Ebene keine Gruppenunterschiede in der Bewältigung von Wut, Angst
und Trauer (vgl. Tab. 3).
Zusätzliche Ergebnisse: Die Anwendung adaptiver (r = .082, p > .05) und maladaptiver (r = .147, p > .05) Strategien erwies sich als unabhängig vom Alter. Zwischen
Jugendlichen mit ADHS und komorbider Störung sowie Jugendlichen mit ADHS
ohne komorbider Störung konnten keine Unterschiede in der adaptiven (t (50) =
-0.054, p > .05) und maladaptiven Regulation (t (50) = 0.767, p > .05) aufgezeigt werden. Auf Analysen unter Berücksichtigung des Geschlechts, der Schwere der Symptomatik sowie der Phase der therapeutischen Intervention wurde aufgrund der geringen
Zellenbesetzungen verzichtet (vgl. Tab. 1).
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Adaptive und maladaptive Emotionsregulation bei Jugendlichen mit ADHS 307
Tabelle 3: Adaptive und maladaptive Emotionsregulationsstrategien
Strategien
Gruppe
F90.0
(n = 32)
Adaptive Strategien
Sekundärskala
Wut
Angst
Trauer
Maladaptive Strategien
Sekundärskala
Wut
Angst
Trauer
F90.1
(n = 26)
Faktor
KG
(n = 58)
M
SD
M
SD
M
SD
45.38
47.97
44.34
44.66
13.02
11.86
12.85
12.97
43.38
43.19
45.77
43.92
14.05
12.83
13.57
13.66
52.10
51.98
50.81
52.55
52.63
53.00
52.41
51.03
11.68
10.80
13.39
11.06
50.42 11.05 50.72 8.55
52.35 10.73 50.22 9.06
50.38 9.61 52.03 9.67
48.62 11.01 49.62 9.32
Gruppe
F(2,113)
η² post-hoc (Scheffé)
8.27 6.983* .11 F90.1 < KG
8.48 6.412* .10 F90.1 < KG
8.50 4.141 .07 8.53 7.933* .12 F90.0; F90.1 < KG
0.463
0.935
0.287
0.417
.01
.02
.01
.01
-
Anmerkungen: Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der adaptiven und maladaptiven
Strategien (T-Werte) sowie Ergebnisse der Varianzanalysen. F90.0 = einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung; F90.1 = hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens; KG = Kontrollgruppe;
* p < .0125 (nach Bonferroni adjustiert)
3.3 Adaptive und maladaptive Einzelstrategien
Ein explorativer Gruppenvergleich hinsichtlich der adaptiven und maladaptiven
Einzelstrategien zeigte, dass Jugendliche mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens seltener die Strategien Problemorientiertes Handeln, Kognitives Problemlösen und Zerstreuung als Kontrollprobanden verfolgen. Darüber hinaus verwenden beide ADHS-Subtypen seltener die die Strategie Akzeptieren im Vergleich
zu Kontrollprobanden. Entgegen der Erwartung ergaben sich weder Gruppenunterschiede in der Anwendung aggressiver Emotionsregulationsstrategien noch hinsichtlich anderer maladaptiver Einzelstrategien (vgl. Tab. 4, folgende Seite).
3.4 Dysfunktionale Emotionsregulation
Die Mittelwerte der drei Gruppen liegen sowohl bei den adaptiven als auch bei den
maladaptiven Strategien im unauffälligen Bereich. Anhand der Normwerte kann
der Anteil der Jugendlichen mit dysfunktionaler Emotionsregulation bestimmt
werden. Nach Grob und Smolenski (2009) sprechen T-Werte < 40 bei der adaptiven
Emotionsregulation für ein Defizit an adaptiven Emotionsregulationsstrategien und
T-Werte > 60 bei der maladaptiven Emotionsregulation für einen übermäßigen
Einsatz maladaptiver Strategien. Es wurde erwartet, dass Jugendliche mit ADHS
häufiger ein Defizit an adaptiven Strategien und ein Übermaß an maladaptiven
308 S. Lange, H. Tröster
Strategien aufweisen. Die Ergebnisse des Chi-Quadrat-Tests stützen die Hypothese hinsichtlich der adaptiven Emotionsregulation: Jugendliche mit einer einfachen
Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sowie mit einer hyperkinetischen Störung
des Sozialverhaltens zeigten mit 30.8 % bzw. 34.4 % signifikant häufiger Defizite in
der adaptiven Regulation als Kontrollprobanden mit 5.2 % (χ² (2, N = 116) = 14.481,
p < .01, Cramers V = .35). Dagegen unterschied sich der Anteil der Jugendlichen
mit einem Übermaß an maladaptiver Emotionsregulation zwischen Jugendlichen
mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (13.8 %), einer einfachen
Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (7.7 %) und der Kontrollgruppe (6.3 %)
nicht signifikant (χ² (2, N = 116) = 1.519, p > .05, Cramers V = .11).
Tabelle 4: Adaptive und maladaptive Einzelstrategien
Strategien
Gruppe
F90.1
(n = 26)
KG
(n = 58)
SD
M
SD
M
11.09
11.35
10.75
12.31
11.45
41.35
46.62
45.92
42.27
44.96
11.47
12.09
11.96
12.96
13.59
F90.0
(n = 32)
M
Adaptive Einzelstrategien
Problemorientiertes
Handeln
45.31
Zerstreuung
47.88
Stimmung anheben 49.03
Akzeptieren
43.34
Vergessen
44.88
Kognitives
Problemlösen
45.94
Umbewertung
47.41
Maladaptive Einzelstrategien
Aufgeben
53.09
Aggressives Verhalten 54.03
Rückzug
52.69
Selbstabwertung
48.13
Perseveration
49.13
51.92
57.92
51.04
43.81
46.85
10.41
13.36
9.07
10.33
12.74
F(2,113)
η² post-hoc (Scheffé)
50.55 11.29 6.504* .10 F90.1 < KG
53.05 7.85 4.955* .08 F90.1 < KG
51.60 9.28 2.786 .05 51.62 9.19 9.238* .14 F90.0; F90.1 < KG
50.93 10.03 4.116 .07 -
12.42 43.04 11.84 51.09
11.03 50.46 11.55 51.57
11.78
13.40
9.49
11.29
10.86
SD
Faktor
Gruppe
9.49
8.24
49.17 8.23
50.17 10.08
52.79 8.20
50.21 8.92
49.26 8.82
F90.1 < KG
5.584* .09
1.854 .03 1.841
4.026
0.389
3.723
0.527
.03
.07
.01
.06
.01
-
Anmerkungen: Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der adaptiven und maladaptiven
Einzelstrategien (T-Werte) sowie Ergebnisse der Varianzanalysen. F90.0 = einfache Aktivitäts- und
Aufmerksamkeitsstörung; F90.1 = hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens; KG = Kontrollgruppe;
* p < .01 (nach Bonferroni adjustiert)
3.5 Repertoire adaptiver und maladaptiver Strategien
In der dritten Hypothese wurde erwartet, dass Jugendliche mit ADHS ein geringeres
Repertoire an adaptiven Strategien und eine größere Bandbreite an maladaptiven
Strategien zur Regulation negativer Emotionen einsetzen als Kontrollprobanden. Das
Strategierepertoire wurde durch die Anzahl der nach dem Selbstbericht der Jugend-
ipabo_66.249.66.100
Adaptive und maladaptive Emotionsregulation bei Jugendlichen mit ADHS 309
lichen „oft“ und „fast immer“ verfolgten Strategien bestimmt. Die Ergebnisse der
univariaten Varianzanalysen zeigten, dass sich die drei Gruppen weder in ihrem Repertoire adaptiver Strategien (F90.0: M = 1.44, SD = 2.02; F90.1: M = 1.08, SD = 1.94;
Kontrollgruppe: M = 1.79, SD = 1.70; F(2,113) = 1.411, p > .05, η² = .02) noch im Repertoire maladaptiver Strategien (F90.0: M = 0.38, SD = 0.49; F90.1: M = 0.15, SD = 0.37;
Kontrollgruppe: M = 0.21, SD = 0.52; F(2,113) = 1.797, p > .05, η² = .03) unterscheiden.
4
Diskussion
In unserer Studie wurde die adaptive und maladaptive Emotionsregulation bei Jugendlichen mit ADHS untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche mit ADHS
Auffälligkeiten in der adaptiven Emotionsregulation, nicht jedoch in der maladaptiven Emotionsregulation, aufweisen. Die Schwierigkeiten in der adaptiven Emotionsregulierung können Barkleys (1997) Ansatz zufolge auf eine Störung inhibitorischer
Prozesse zurückgeführt werden, die dazu führt, dass es den betroffenen Jugendlichen
nicht gelingt, die Intensität negativer Emotionen zu dämpfen und nachfolgende
Handlungen, die geeignet sind, negative Affekte in einer sozial angemessenen Weise
zu verarbeiten, zu planen und zu steuern. So erfordern viele adaptive Strategien im
Umgang mit negativen Emotionen wie z. B. Problemorientiertes Handeln (z. B. „ …
versuche ich das zu verändern, was mich wütend/ängstlich/traurig macht“) eine antizipatorische Planung von Handlungssequenzen, die nur gelingt, wenn unmittelbare
affektive Impulse abgeschwächt und interferierende Impulse (z. B. aggressive Impulse)
kontrolliert werden können. Maladaptive Strategien sind dagegen durch eine mangelnde Reaktionshemmung weniger stark betroffen, weil im Rahmen dieser Strategien
negative Emotionen nicht abgeschwächt werden (z. B. Perseveration: „ …überlege ich
immer wieder, warum ich wütend bin“) oder begleitende Handlungen zur Emotionsregulation durch interferierende Impulse nicht oder kaum beeinträchtigt werden (z. B.
Selbstabwertung: „ ...suche ich den Fehler zuerst bei mir“).
Die gefundenen Auffälligkeiten in der adaptiven Emotionsregulierung bei Jugendlichen mit ADHS bestätigen vorliegende Ergebnisse (z. B. Bonekamp u. von Salisch,
2007; Melnick u. Hinshaw, 2000; Schmitt et al., 2012). Der Befund, dass sich keine Gruppenunterschiede in der maladaptiven Emotionsregulation ergaben, stimmt mit Ergebnissen von Schmitt et al. (2012) überein, die ebenfalls den FEEL-KJ bei Jugendlichen mit
ADHS einsetzten. In anderen Studien zeigten Kinder und Jugendliche mit ADHS jedoch
nicht nur eine eingeschränkte adaptive Emotionsregulation, sondern auch in einem höheren Ausmaß maladaptive Strategien bei der Bewältigung negativer Emotionen (z. B.
Desman et al., 2006; Hampel et al., 2008). Möglicherweise sind diese Inkonsistenzen
auf die Untersuchung unterschiedlicher Altersklassen sowie auf die Verwendung unterschiedlicher Erhebungsmethoden zurückzuführen. So wurde in den genannten Studien
die Emotionsregulation bei jüngeren Kindern mit ADHS erfasst und auf Erhebungsinstrumente aus der Stressbewältigungsforschung zurückgegriffen.
310 S. Lange, H. Tröster
Die vorliegenden Ergebnisse sprechen in Übereinstimmung mit anderen Studien
(Schmitt et al., 2012; Sjöwall et al., 2013) für emotionsübergreifende Auffälligkeiten in der
adaptiven Regulierung negativer Emotionen, wobei sich in Abhängigkeit vom ADHSSubtyp emotionsspezifische Unterschiede ergaben: Zur Regulation von Trauer verfolgten
sowohl Jugendliche mit einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung als
auch Jugendliche mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens seltener adaptive Strategien als Kontrollprobanden, im Umgang mit Wut waren lediglich Jugendliche mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens auffällig. Die Schwierigkeiten in der Bewältigung von Trauer können möglicherweise erklären, warum einige
Patienten mit ADHS eine depressive Symptomatik aufweisen (Treuting u. Hinshaw,
2001). Weitere klinische Forschung ist jedoch notwendig, um zu klären, ob es sich bei
den gefundenen Unterschieden tatsächlich um störungsspezifische Besonderheiten der
ADHS handelt. So deuten bisherige Studien eher auf ein störungsübergreifendes Phänomen hin, da bereits auch bei anderen klinischen Störungen ähnliche Auffälligkeiten
in der adaptiven Regulation von Wut und Trauer gefunden wurden (Greuel, Reinhold,
Wenglorz, Heinrichs, 2015; Lange u. Tröster, 2014).
Übereinstimmend mit Hampel et al. (2008) sowie Melnick und Hinshaw (2000) lassen unsere Befunde vermuten, dass vor allem Jugendliche mit ADHS und zusätzlicher
aggressiver Symptomatik Schwierigkeiten in der Emotionsregulation aufweisen. Die
Einzelstrategien zeigen, dass es Jugendlichen mit einer hyperkinetischen Störung des
Sozialverhaltens weniger gut gelingt, bei negativen Emotionen Zerstreuung zu suchen
und sich aus übergeordneter Perspektive mit der emotionsauslösenden Situation auseinanderzusetzen – eine Fokussierung, die jedoch bei adaptiven Regulationsstrategien
wie dem Kognitiven Problemlösen („ ...denke ich darüber nach, was ich tun könnte“)
und Problemorientierten Handeln („ …versuche ich das zu verändern, was mich wütend/ängstlich/traurig macht“) unabdingbar ist.
Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die Validität der
ADHS-Diagnosen nicht zusätzlich (z. B. durch strukturierte Interviews) abgesichert
werden konnte. Da die Diagnosen jedoch alle durch approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder durch Fachärzte für Psychiatrie gestellt wurden, kann
von einer Zuverlässigkeit der Diagnosen ausgegangen werden. Darüber hinaus ist zu
bedenken, dass in unserer Studie keine objektivierbaren Angaben zu den exekutiven
Funktionen sowie den Fähigkeiten zur Selbstregulation der Jugendlichen erhoben
wurden. Überdies liegen uns keine Informationen über die medikamentöse Einstellung der Jugendlichen mit ADHS vor. Da vorherige Studien darauf hinweisen, dass
sich eine Einnahme von Stimulantien positiv auf die Emotionsregulation auswirken
kann (z. B. Bonekamp u. von Salisch, 2007), ist nicht auszuschließen, dass eine Medikation zu einer verbesserten Emotionsregulation beigetragen hat. Abschließend ist zu
bedenken, dass in unserer Untersuchung die Emotionsregulation über Selbstbeurteilungen erhoben wurde. Offen bleibt, ob sich Jugendliche mit ADHS bewusst sind, wie
sie mit Emotionen im Alltag umgehen. Überdies neigen Kinder und Jugendliche mit
ADHS häufig zu einer unrealistischen Einschätzung ihrer Kompetenzen (Hoza et al.,
ipabo_66.249.66.100
Adaptive und maladaptive Emotionsregulation bei Jugendlichen mit ADHS 311
2004; Swanson, Owens, Hinshaw, 2012), sodass die berichteten Strategien möglicherweise nicht den tatsächlich verwendeten Strategien entsprechen müssen. Zukünftige
Untersuchungen zur Emotionsregulation sollten daher eine multimethodale Erfassung der Emotionsregulation bevorzugen (Bunford et al., 2014; Bunford et al., 2015;
Freundenthaler u. Wettstein, 2015).
Fazit für die Praxis
Unsere Ergebnisse sprechen für die Berücksichtigung emotional-affektiver Komponenten in der Diagnostik und Therapie bei ADHS im Jugendalter (vgl. auch
Tischler et al., 2010). Therapiemaßnahmen bei ADHS sollten, insbesondere bei
Patienten mit zusätzlicher aggressiver Symptomatik, neben der Behandlung der
Kernsymptomatik (Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Hyperaktivität), auch die
Förderung geeigneter Emotionsregulationsstrategien beinhalten. Interventionsmaßnahmen sollten sich, unseren Befunden zufolge, nicht nur auf den Umgang
mit Wut beschränken, sondern auch die Bewältigung von Trauer einbeziehen.
Dazu ist es notwendig, dass die Jugendlichen zunächst lernen, aktuelle Impulse
zu hemmen, um die Anwendung adaptiver Strategien (z. B. problemorientiertes
Handeln) zu ermöglichen.
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Korrespondenzanschrift: Sarah Lange, Rehabilitationswissenschaften, Lehrgebiet
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44221 Dortmund; E-Mail: [email protected]
Sarah Lange und Heinrich Tröster, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Technische Universität Dortmund
ipabo_66.249.66.100
Wirksamkeit eines Workshops für Lehrkräfte über die
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Franziska Both, Sandra Schmiedeler, Philipp Abelein und Wolfgang Schneider
Summary
Effectiveness of an Educator Training about the Attention-Deficit-/Hyperactivity Disorder (ADHD)
The purpose of the current study was to examine the effectiveness of a workshop for teachers
focussing on ADHD. A total of 44 educators answered a short version of the Knowledge of Attention Deficit Disorders Scale (KADDS) and self-report questions before, shortly after, and
three month subsequent (follow-up) to a 2.5 hour long workshop. Results showed a significant increase in the educators’ knowledge at post-test, which remained stable in the follow-up.
Whereas uncertainties (“don’t-know”-answers) decreased, heterogeneous results were found
concerning the number of misconceptions. Educators upgraded their knowledge perception
as well as their certainty in dealing with an affected child at post-test. The results show that
even a relatively short workshop had a positive and persistent impact on educators’ ADHD
expertise, which illustrates the potential of such workshops.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 315-327
Keywords
ADHD – training – educators – knowledge – KADDS
Zusammenfassung
Ziel der vorliegenden Studie war die Untersuchung der Wirksamkeit eines Workshops zur
Aufmerksamkeitsdefizit/-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Lehrkräften. Hierzu wurden 44
pädagogische Fachkräfte mittels einer gekürzten Version der Knowledge of Attention Deficit Disorders Scale (KADDS) und Fragen nach Selbstauskünften vor, unmittelbar sowie drei
Monate nach einem zweieinhalbstündigen Workshop (Follow-up) befragt. Es zeigte sich ein
signifikanter Wissenszuwachs der Lehrkräfte im Posttest, der auch langfristig (Follow-up)
stabil blieb. Während sich die Unsicherheitsurteile („Weiß-Nicht“-Angaben) reduzierten, fanden sich bezüglich häufiger Fehlannahmen heterogene Ergebnisse. Die Lehrkräfte schätzten
ihr eigenes Wissen sowie die Sicherheit im Umgang mit einem betroffenen Kind im Posttest
höher ein. Die Ergebnisse zeigen, dass sich bereits ein kurzer Workshop positiv und langfristig auf verschiedene Kompetenzbereiche von Lehrkräften bezüglich ADHS auswirkt, was das
Potenzial von Fortbildungsveranstaltungen dieser Art verdeutlicht.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 315 – 327 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
316 F. Both et al.
Schlagwörter
ADHS – Workshop – Lehrkräfte – Wissen – KADDS
1
Hintergrund
1.1 Die Rolle von Lehrkräften im Kontext ADHS
ADHS ist gekennzeichnet durch einen frühen Beginn mit situationsübergreifenden Verhaltensweisen und zeigt sich vor allem in den drei Kernsymptomen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität sowie Impulsivität (American Psychiatric Association,
2013). Die Störung spielt in pädagogischen Einrichtungen wie Kindergarten und
Schule eine große Rolle, da hier genau jene Verhaltensweisen von den Kindern gefordert werden, die dieser Kernsymptomatik widersprechen (Kos, Richdale, Hay,
2006). Häufig sind Lehrkräfte als Erste gefordert, wenn es darum geht, Verhaltens­
auffälligkeiten bei Schüler/innen zu erkennen und erste Maßnahmen zu ergreifen
(Sax u. Kautz, 2003). Die Diagnosestellung erfolgt durch das Zusammenfügen verschiedener Informationsquellen (z. B. Exploration von Eltern und Kind, Informationen von Kindergarten bzw. Schule, Verhaltensbeobachtung; Döpfner, Lehmkuhl,
Schepker, Frölich, 2007), sodass auch der Eindruck der Lehrkräfte eine wesentliche
Informationsquelle darstellt. Zudem unterstützen Lehrkräfte Betroffene im Schulalltag, begleiten den Entwicklungs- und Lernprozess, bieten Beziehung an und fördern die Integration in die Klassengemeinschaft (vgl. Ulbricht, 2005). Die hierfür
erforderlichen Kompetenzen verdeutlichen die Relevanz ADHS-geschulter Lehrkräfte und es zeigt, wie wichtig eine Unterstützung und Entlastung dieser in Bezug
auf die erhöhten Anforderungen sind. Fortbildungsveranstaltungen könnten hier
einen wichtigen Beitrag leisten.
1.2 Wirksamkeitsstudien zu Workshops über ADHS
Bislang existieren nur wenige Studien, die die Wirksamkeit von Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte zum Thema ADHS untersuchten (vgl. Nussey, Pistrang,
Murphy, 2013). Die Studie von Barbaresi und Olsen (1998) zeigte als eine der ersten, dass ein Workshop im Umfang von 2,5 Stunden bei Grundschullehrkräften,
deren Wissen mittels eines Fragebogens im Prä-Post-Design erfasst wurde, zu einer Steigerung im Wissen über ADHS führt. Eine erste randomisierte, kontrollierte
Studie liegt von Jones und Chronis-Tuscano (2008) vor, die an einer Stichprobe
von 142 amerikanischen Lehrkräften Wissenseffekte anhand eines selbst konstruierten, 25 Items umfassenden Fragebogens mit den Antwortmöglichkeiten „Richtig“ und „Falsch“ erfassten. Der Wissenszuwachs mit nur einem Punkt war in der
Experimentalgruppe jedoch nur mäßig, wenn auch signifikant. Syed und Hussein
(2010) entwickelten ein umfassendes, insgesamt zehnstündiges ADHS-Training für
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Wirksamkeit eines Workshops für Lehrkräfte über ADHS 317
Lehrkräfte. Als Messinstrument diente der weit verbreitete Fragebogen von Jerome,
Gordon und Hustler (1994), der das Wissen über ADHS durch 20 Items mit den
Antwortoptionen „Richtig“ und „Falsch“ erfasst. Der Fragebogen wurde vor, unmittelbar nach sowie sechs Monate nach dem Training beantwortet. In den Ergebnissen
zeigte sich ein signifikanter Wissenszuwachs, der auch im Follow-up stabil blieb.
Aguiar und Kollegen (2012) untersuchten Änderungen im Wissen über ADHS und
Lernstörungen in einer Stichprobe von 37 Grundschullehrer/innen. In einem sechsstündigen psychoedukativen Training wurden Inhalte bezüglich der beiden Störungsbilder anhand von Vorträgen, Fallvignetten und Diskussionen zur Thematik vermittelt. Über zwei getrennte Fragebögen wurde das Wissen im Prä-Post-Design erfasst.
Hypothesenkonform zeigten sich eine signifikante Wissenszunahme bezüglich beider
Störungsbilder sowie eine signifikante Reduktion in den Unsicherheitsurteilen. Für
den deutschsprachigen Raum konnte lediglich eine Studie zur Wirksamkeit von Fortbildungsveranstaltungen zu ADHS ausfindig gemacht werden. Rossbach und Probst
(2005) entwickelten ein insgesamt zwölfstündiges Gruppentraining, an dem 18 Beratungslehrer/innen aus Hamburger Regelschulen teilnahmen. Es zeigte sich ein signifikanter Zuwachs im Störungs- und Behandlungswissen der Lehrkräfte.
1.3 Weitere Wirksamkeitsnachweise
Der Großteil bisheriger Studien zur Wirksamkeit von ADHS-Workshops konzentriert sich in den Untersuchungen auf reine Wissenseffekte. Lediglich Barbaresi und
Olsen (1998) bezogen in ihre Untersuchung neben den reinen Wissensänderungen
auch das Stresserleben der Grundschullehrkräfte mit ein. Hierbei zeigte sich eine
signifikante Reduktion des Stresserlebens im Nachtest. Jones und Chronis-Tuscano
(2008) untersuchten außerdem den Einsatz von Verhaltensmodifikationstechniken,
die den Teilnehmer/innen im Rahmen des Workshops vermittelt wurden. Es konnte eine signifikante Zunahme des Einsatzes dieser Maßnahmen im Anschluss an
den Workshop festgestellt werden. In der einzigen deutschen Studie (Rossbach u.
Probst, 2005) wurden neben dem Wissen der Lehrkräfte auch die Effekte auf die
ADHS-Symptomatik der Schüler/innen, die von den Lehrkräften bewertet wurde,
untersucht. Hierbei zeigte sich eine signifikante Reduktion der Symptome.
2
Die vorliegende Untersuchung
In der vorliegenden Studie soll untersucht werden, inwiefern ein Workshop zum
Thema ADHS das Wissen, aber auch die Unsicherheitsurteile und Fehlannahmen
sowie Selbstauskünfte von Lehrkräften1 aus Deutschland sowohl kurz- als auch
1 Da an der Untersuchung überwiegend Lehrkräfte teilnahmen, wird in erster Linie über diese
Berufsgruppe berichtet.
318 F. Both et al.
langfristig (Follow-up nach drei Monaten) verändert. Mit einem zeitlichen Umfang
von circa 2,5 Stunden wird hierbei ein Workshop untersucht, der dem durchschnittlichen Umfang realer Fortbildungsveranstaltungen sehr nahe kommt. Dabei wird
eine auf 25 Items gekürzte Version der Knowledge of Attention Deficit Disorders
Scale (KADDS; Sciutto, Terjesen, Bender-Frank, 2000) eingesetzt, die im internationalen Forschungsraum breite Verwendung findet und neben dem tatsächlichen
Wissen (korrekte Angaben) auch Unsicherheitsurteile („Weiß-Nicht“-Angaben)
und Fehlannahmen (falsche Antworten) analysiert. Wir vermuten, dass durch den
Workshop das Wissen der Lehrkräfte steigt, während die Fehlannahmen und Unsicherheitsurteile abnehmen. Um ein umfassenderes Bild über die Wirksamkeit von
Fortbildungsveranstaltungen dieser Art zu geben, ist zudem von Interesse, inwiefern
sich die Selbstauskünfte der Lehrkräfte bezüglich ihrer Einschätzung des eigenen
Wissens und der Sicherheit im Umgang mit einem betroffenen Kind verändern und
inwiefern es zu Veränderungen in der Einschätzung der Lehrkräfte kommt, welche
Ratschläge diese Eltern guten Gewissens erteilen würden. Wir nehmen an, dass die
Lehrkräfte nach dem Workshop ihr Wissen höher einschätzen, eine erhöhte Sicherheit im Umgang mit ADHS-Kindern angeben und vermehrt denjenigen Elternratschlägen zustimmen, die sinnvoll, das heißt empirisch begründbar sind.
2.1 Methodik
2.1.1 Der Workshop
Die Rekrutierung der Studienteilnehmer/innen fand im Rahmen von drei inhaltlich
äquivalenten Workshops statt, die von einem universitätsangestellten ADHS-Experten mit Studienabschluss Sonderpädagogik (Lehramt Pädagogik bei Verhaltensstörungen) durchgeführt wurden, der keine Kenntnisse über das eingesetzte Messinstrument hatte. Die Teilnehmer der Workshops waren Lehrkräfte verschiedener
Schulen und Schularten (Grund- und Mittelschule, Förderschule, Realschule, Gymnasium). Die Workshops fanden im Rahmen von Fortbildungstagungen nachmittags
und außerhalb der Unterrichtszeit statt. Die Teilnahmegebühren wurden teilweise
von den Schulen bzw. von Trägern der Einrichtung übernommen. Ein nicht offiziell
bekannter individueller Unkostenbeitrag musste zum Teil auch von den Lehrkräften
selbst bezahlt werden. Der Workshop setzte sich aus einem einstündigen Impulsreferat mit anschließender Diskussion und einer ebenfalls etwa einstündigen Gruppenarbeit zusammen. Im Rahmen des Impulsreferates wurden den Teilnehmer/
innen theoriebasierte Informationen bezüglich Kernsymptomatik, diagnostischen
Kriterien, Prävalenz, Geschlechterverhältnis, Verlauf, häufigen Komorbiditäten,
epidemiologischen Faktoren und Therapiemöglichkeiten der Erkrankung gegeben.
Einschlägige Fachliteratur, auf die sich der Workshopleiter stützte, waren unter anderem die Beiträge von Breitenbach (2005), Dilling, Mombour und Schmidt (2008),
Gawrilow (2012), Myschker und Stein (2014), Schlack, Hölling, Kurth und Huss
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Wirksamkeit eines Workshops für Lehrkräfte über ADHS 319
(2007) sowie Schmid (2012). Zum Abschluss des Impulsreferats wurden den Lehrkräften konkrete pädagogisch-didaktische Prä- und Interventionsmöglichkeiten für
den Umgang mit ADHS-typischen Verhaltensweisen im Unterricht vorgestellt (u. a.
Frölich, Döpfner, Banaschewski, 2014; Lauth u. Naumann, 2009; Zentall, 2005).
Neben störungsspezifischen Maßnahmen wurden allgemeine, proaktive Grundprinzipien und Methoden für den Unterricht bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS
vermittelt (u. a. Hennemann u. Hillenbrand, 2010; Nolting, 2007; Stein u. Stein, 2014).
Im Rahmen der Gruppenarbeit erhielten die Workshopteilnehmer/innen die Chance,
sich über einen spezifischen, realen Fall aus ihrer beruflichen Praxis auszutauschen
und gemeinsam geeignete Handlungsmöglichkeiten für den Umgang mit dem betroffenen Kind bzw. Jugendlichen zu entwickeln und im Hinblick auf deren konkrete
Umsetzung zu durchdenken.
2.1.2 Stichprobe
Eine Zusammenfassung der wichtigsten demografischen Daten der Teilnehmer/innen befindet sich in Tabelle 1. Im ersten Workshop konnten n = 17 Personen, im
zweiten Workshop n = 4 und im dritten Workshop n = 23 für die Studie gewonnen
werden, sodass insgesamt die Datensätze von 44 Personen vorlagen. An der Prätes­
tung nahmen alle Personen teil, die auch den Workshop besuchten, während bei der
Posttestung unmittelbar nach dem Workshop n = 41 Personen (93.2 %) und beim
Follow-up nach drei Monaten n = 26 Personen (56.8 %) den Fragebogen beantworteten.
Tabelle 1: Überblick über die demografischen Daten der befragten pädagogischen Fachkräfte
Alter
Anzahl ADHS-Kinder in Klasse
Unterrichtserfahrung (in Jahren)
Merkmal
Geschlecht
weiblich
männlich
Beruf
Lehrer/in
Erzieher/in
Sozialpädagoge/in
Schulart
Primarstufe
Sekundarstufe
Förderschule
N*
44
41
40
N*
44
44
41
M (SD)
45.98 (9.82)
2.94 (1.80)
19.98 (11.34)
n* (%)
Min
24
1
2
40 (90.9)
4 (9.1)
39 (88.6)
2 (4.5)
3 (6.8)
18 (43.9)
18 (43.9)
5 (12.2)
*N bezieht sich auf die Anzahl der Personen, die dieses Item beantworteten
*n bezieht sich auf die Anzahl der Personen, auf die dieses Merkmal zutrifft
Max
61
9
38
320 F. Both et al.
Die statistische Auswertung der Messwerte erfolgte mit SPSS 18. Aufgrund der reduzierten Datenmenge im Follow-up wurde nachfolgend mit multiplen imputierten Datensätzen gerechnet. Studien zeigen, dass das Rechnen mit imputierten Daten – auch
bei einer großen Anzahl fehlender Datensätze – viele Vorteile bietet, unter der Voraussetzung, dass die Daten „missing at random“ sind, das heißt kein selektiver Drop-out
vorliegt (Lüdtke, Robitzsch, Trautwein, Köller, 2007). Auch bei unserem Datensatz
zeigten sich für keine der relevanten Variablen (Wissen, Fehlannahmen, Unsicherheitsurteile, Selbstauskünfte zur Sicherheit im Umgang mit betroffenen Kindern und
zum eigenen Wissen) bedeutsame Unterschiede zwischen Personen, von denen vollständige Datensätze vorlagen und denjenigen, die lediglich an Prä- und Posttestung
teilnahmen. Daher wird nachfolgend stets der Median der relevanten Parameter berichtet, der sich aus den Originaldaten sowie den Imputationsschätzungen ergibt.
2.1.3 Messinstrument
Die Veränderungen im Wissen der Lehrkräfte wurden mithilfe eines in den USA
entwickelten Fragebogens, der Knowledge of Attention Deficit Disorders Scale
(KADDS; Sciutto et al., 2000), erfasst, wobei für die vorliegende Studie die deutsche Übersetzung von Schmiedeler (2013) zur Anwendung kam. Während andere
Fragebögen zum Wissen über ADHS in der Regel nur Richtig/Falsch-Alternativen
anbieten (z. B. Jerome et al., 1994), erlaubt es das Format der KADDS mit einer Unterteilung nach „Richtig“, „Falsch“ und „Weiß nicht“, neben Veränderungen im tatsächlichen Wissen der Teilnehmer auch Veränderungen in den Unsicherheitsurteilen und Fehlannahmen messbar zu machen. Der Fragebogen besteht ursprünglich
aus 36 Items, die sich den drei Kategorien „Symptome und Diagnostik der ADHS“
(9 Items), „Behandlung der ADHS“ (12 Items) sowie „Allgemeine Aspekte der Störung“ in Form von Ursachen oder Verlauf (15 Items) zuordnen lassen. Für die Befragung im Rahmen dieser Studie wurde die bestehende Version aus ökonomischen
Gründen auf 25 Items gekürzt. Während in der ursprünglichen Fragebogenversion
das Verhältnis von richtigen und falschen Aussagen ausgeglichen war, veränderte
sich das Verhältnis der Aussagen hierdurch auf 10 positive bzw. richtige Items und
15 negative bzw. falsche Items. Bei der Komprimierung des Fragebogens wurden
solche Items entfernt, die in der Studie von Schmiedeler (2013) von einer großen
Prozentzahl an Lehrkräften richtig beantwortet wurden und bezüglich derer somit
kein hoher Wissenszuwachs zu erwarten war. Darüber hinaus wurden solche Items
eliminiert, die in der Beantwortung nicht ganz eindeutig erschienen und bei denen
es wahrscheinlich erschien, dass auf ihren Inhalt im Rahmen des Workshops nicht
eingegangen wird. Aufgrund der daraus folgenden geringen Anzahl an Items pro
Skala wurde in den Ergebnissen nur die Gesamtleistung in der KADDS berücksichtigt und nicht auf Skalenebene ausgewertet. Für richtige Antworten wurde in
der Bewertung 1 Punkt vergeben, für falsche Antworten oder Unsicherheitsurteile
hingegen 0 Punkte, sodass eine Wissensspanne von 0 bis 25 erreichbaren Punkten
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Wirksamkeit eines Workshops für Lehrkräfte über ADHS 321
möglich war. Für die 25-Items-Gesamtskala ergab sich ein Cronbachs α von α = .66,
womit die interne Konsistenz nicht deutlich schlechter ausfiel als bei der Langfassung der deutschen Übersetzung von Schmiedeler (α = .69).
Neben dem Einsatz der KADDS wurden die Lehrkräfte auch um Selbstauskünfte
gebeten. Hierbei wurde auf einer 7-stufigen Likert-Skala erfasst, wie gut die Lehrkräfte
ihr eigenes Wissen über ADHS einschätzten (1 = kein Wissen bis 7 = sehr viel Wissen)
und wie sicher sie sich im Umgang mit betroffenen Kindern in der Klasse fühlten
(1 = sehr unsicher bis 7 = sehr sicher). Darüber hinaus wurden die Lehrkräfte gebeten, aus acht vorgegebenen Ratschlägen diejenigen auszuwählen, die sie Eltern guten
Gewissens geben würden. Zu den auszuwählenden Optionen gehörten die Teilnahme
an Elterntrainings, Konsultation eines Kinderarztes bezüglich einer medikamentösen
Behandlung, Konsultation eines Psychologen oder Psychotherapeuten bezüglich eines
Verhaltenstrainings, Konsultation des schulpsychologischen Dienstes, Erhöhung der
Einnahme von Vitaminen, Reduktion des Verzehrs bestimmter Nahrungsmittel (z. B.
Nahrungsmittel mit bestimmten Konservierungs- oder Zusatzstoffen), Reduktion der
Zuckeraufnahme sowie die Anschaffung eines Buches zum Thema ADHS.
3
Ergebnisse
3.1 KADDS: Effekte auf das Wissen über ADHS
Tabelle 2 zeigt die relevanten Ergebnisse bezüglich Wissen, Unsicherheitsurteilen,
Fehlannahmen und Selbstauskünften der Lehrkräfte. Das Wissen der Teilnehmer/
innen lag in der Prätestung bei durchschnittlich 57.8 % korrekt beantworteten Items,
was M = 14.45 erreichten Punkten entspricht (SD = 3.64). In der Posttestung wurden 73.6 % der Items korrekt beantwortet (M = 18.41, SD = 2.26), und im Follow-up
66.4 % der Items (M = 16.61, SD = 2.73). Die Prüfung auf Signifikanz mittels Varianzanalyse mit Messwiederholung (ANOVA) für die Gesamtleistung in der KADDS
ergab einen signifikanten Haupteffekt Zeitpunkt (F(2,86) = 29.04, p < .001, η² = .41).
Post-hoc-t-Tests ergaben, dass sich das Wissen von Prä zu Post signifikant verbesserte (t(43) = 8.34, p < .001). Zwar zeigte sich auch, dass das Wissen drei Monate
nach dem Workshop wieder abnahm (t(43) = 3.82, p < .001), jedoch war dieses
immer noch signifikant größer als die Gesamtleistung vor dem Workshop (t(43) =
-3.34, p < .001). Bezüglich der Unsicherheitsurteile („Weiß-Nicht“-Angaben) ergab
die ANOVA ebenfalls einen signifikanten Haupteffekt Zeitpunkt (F(2,86) = 32.84, p
< .001, η² = .45). Ein Vergleich der Mittelwertunterschiede zeigte eine signifikante
Reduktion der Unsicherheitsurteile im Prä-Post-Vergleich (t(43) = 8.58, p < .001)
ebenso wie im Vergleich von Prätest und Follow-up (t(43) = 3.74, p < .001), während
die Unsicherheitsurteile im Vergleich von Post und Follow-up wieder zunahmen
(t(43) = -4.39, p < .001). Hingegen ergab sich für die Anzahl der Fehlannahmen kein
signifikanter Haupteffekt Zeitpunkt (F(2,86) = 3.01, p = .09, η² = .07).
322 F. Both et al.
3.2 Weitere Wirksamkeitsnachweise
Bezüglich der Selbstauskünfte zum eigenen Wissen über ADHS zeigte sich in der ANOVA ein signifikanter Haupteffekt Zeitpunkt (F(2,86) = 8.71, p < .001, η² = .18). Während
der unmittelbare Prä-Post-Vergleich eine Zunahme in der Einschätzung des eigenen
Wissens zeigte (t(43) = -5.06, p < .001), blieb diese Einschätzung aus der Posttestung
im Follow-up stabil (t(43) = 0.26, p = .42). Für die Selbstauskunft zur Sicherheit im
Umgang mit einem betroffenen Kind ergab die ANOVA einen signifikanten Haupteffekt Zeitpunkt (F(2,86) = 9.44, p < .001, η² = .19). Post-hoc-t-Tests zeigten, dass sich die
Sicherheit unmittelbar im Anschluss an den Workshop signifikant erhöhte (t(43) =
-4.60 , p < .001) und auch im Follow-up signifikant höher war als vor dem Workshop
(t(43) = -3.41 , p < .001). Der Vergleich der Mittelwerte zwischen Posttestung und
Follow-up ergab keinen signifikanten Unterschied (t(43) = -0.24, p = .72).
Tabelle 2: Mittelwerte und Standardabweichungen für Wissen, Unsicherheitsurteile und Fehlannahmen der KADDS sowie für die Selbstauskünfte zum eigenen Wissen und der wahrgenommenen
Sicherheit zu den drei Messzeitpunkten (Prä, Post, Follow-up)
Ergebnisse der KADDS (M (SD))
Korrekte Angaben (Wissen)
„Weiß-Nicht“-Angaben (Unsicherheitsurteile)
Falsche Angaben (Fehlannahmen)
Selbstauskünfte (M (SD))
Einschätzung des eigenen Wissens
Einschätzung der Sicherheit im Umgang
Prä
Post
Follow-up
14.45 (3.64)
6.89 (3.90)
3.41 (1.87)
18.41 (2.26) 16.61 (2.73) 30.55*
2.38 (2.26) 4.61 (3.09) 32.84*
4.07 (1.92) 3.50 (2.16) 3.01
4.07 (1.16)
3.91 (1.36)
4.90 (0.94)
4.71 (0.96)
4.88 (1.03)
4.77 (1.03)
F
10.08*
9.52*
Anmerkung: *p < .001
Die Auswertung der Elternratschläge (s. Tab. 3) erfolgte mittels Cochrans Q-Tests,
wobei sich lediglich bezüglich des Ratschlags „Den Verzehr bestimmter Nahrungsmittel reduzieren, z. B. Nahrungsmittel mit bestimmten Konservierungs- oder Zusatzstoffen“ ein signifikanter Haupteffekt Zeitpunkt fand (Q(2) = 6.00, p = .05). Der
Ratschlag „Die Zuckeraufnahme reduzieren“ verfehlte mit einem p-Wert von .06
das Signifikanzniveau knapp. Bezüglich aller anderen Ratschläge zeigten sich keine
signifikanten Veränderungen.
4
Diskussion
In der vorliegenden Studie wurde untersucht, inwiefern sich das Wissen von Lehrkräften (N = 44) aus dem deutschsprachigen Raum durch einen Workshop zum
Thema ADHS verändert. Das Wissen über ADHS wurde vor, unmittelbar sowie drei
Monate nach dem Workshop mit einer gekürzten Version der Knowledge of Atten-
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Wirksamkeit eines Workshops für Lehrkräfte über ADHS 323
tion Deficit Disorders Scale (KADDS; Sciutto et al., 2000) erfasst. Daneben wurden
Veränderungen bezüglich der Selbstauskünfte der Lehrkräfte zur Einschätzung des
eigenen Wissens und zur Sicherheit im Umgang mit einem betroffenen Kind sowie
Veränderungen im Erteilen von Elternratschlägen registriert.
Tabelle 3: Zustimmungsraten (in Prozent) bezüglich der Elternratschläge zu den drei Messzeitpunkten
(Prä, Post, Follow-up)
Teilnahme an Elterntrainings
Konsultation eines Kinderarztes
Konsultation eines Psychologen
Konsultation des schulpsych. Dienstes
Einnahme von Vitaminen erhöhen
Verzehr bestimmter Nahrungsmittel reduzieren
Zuckeraufnahme reduzieren
Buch anschaffen
Prä
84.1
40.9
86.4
47.7
4.5
13.6
29.5
52.3
Post
78.0
48.8
87.8
56.1
2.4
7.3
7.3
58.5
Follow-up
88.5
38.5
84.6
34.6
3.8
0.0
19.2
53.8
4.1 Veränderungen im Wissen über ADHS
Die Studienergebnisse legen nahe, dass die Lehrkräfte stark von den Inhalten des Workshops profitierten, was sich in einer signifikanten Wissenssteigerung in der KADDS
widerspiegelte. Während in der Studie von Jones und Chronis-Tuscano (2008) in der
Posttestung lediglich ein Wissenszuwachs von einem Punkt erzielt werden konnte,
zeigte sich in unserer Studie mit einem Wissenszuwachs von fast vier Punkten eine
sehr hohe Steigerung im Wissen der Lehrkräfte. Grund hierfür könnte die Konzeption unseres Fragebogens sein, der aufgrund der gekürzten Version verhältnismäßig
viele Items beinhaltete, für die wir hohe Wissenszuwächse erwarteten. Der Effekt der
Wissenssteigerung ließ sich nicht nur kurzfristig erfassen, sondern erwies sich auch
als nachhaltig, da das Wissen auch im Follow-up signifikant höher ausgeprägt war
als vor dem Workshop. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass mit vergleichsweise wenig
Aufwand, sowohl was die zeitliche Belastung der Lehrkräfte als auch die finanzielle
Belastung der Kostenträger angeht, ein stabiler Zuwachs im Wissen der Lehrkräfte
durch einen vergleichsweise kurzen Workshop erreicht werden kann.
Neben einer Wissenssteigerung zeigte sich auch eine deutliche Reduktion in den Unsicherheitsurteilen („Weiß-Nicht-Angaben“), was im Einklang mit der tatsächlichen Wissenszunahme im Zeitverlauf bei den Lehrkräften steht. Die Anzahl der Fehlannahmen
blieb in unserer Studie hingegen konstant. Auf Einzelitemebene ließ sich jedoch erkennen, dass insbesondere bezüglich ausführlich im Seminar diskutierter Inhalte (wie die
Frage nach der Wirksamkeit von Zuckerreduktion auf die ADHS-Symptome, bei der die
Fehlannahmen Prä = 34.1 %, Post = 9.8 % und Follow-up = 7.7 % betrugen) eher eine
Reduktion der Fehlannahmen zu finden war. Insgesamt stellt die Reduktion von Fehlan-
324 F. Both et al.
nahmen jedoch ein wichtiges Ziel von ADHS-Workshops dar, damit Lehrkräfte keine
falschen Annahmen zum Störungsbild haben, die negative Auswirkungen auf den korrekten Umgang mit dem Kind oder ihre Weiterempfehlungen an Eltern haben könnten.
4.2 Veränderungen in den Selbstauskünften
Die Lehrkräfte schätzten ihr Wissen im Anschluss an den Workshop signifikant höher
ein als zuvor, wobei dieser Effekt auch im Follow-up stabil blieb. Somit scheinen sich
Lehrkräfte langfristig mit dem Störungsbild vertrauter und kompetenter zu fühlen.
Außerdem spiegelt sich das Empfinden der Lehrkräfte auch in der tatsächlichen Steigerung des Wissens wider, sodass in unserer Studie Realität und Empfinden der Lehrkräfte nah beieinander zu liegen scheinen. Auch die Reduktion der Unsicherheitsurteile ist zu dem Ergebnis kongruent, dass sich die Teilnehmer/innen im Anschluss
an den Workshop im Umgang mit einem betroffenen Kind sicherer fühlten, wobei
auch dieser Effekt langfristig messbar war. Ein Grund für diesen langfristigen Anstieg
könnte die Umsetzung der im Workshop erlernten Techniken zum Umgang mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern sein, die im Verlauf dieser Zeit erste Erfolge gezeigt
haben könnten. Barbaresi und Olsen (1998) konnten in ihrer Studie in der Posttestung
eine Reduktion des Lehrerstresses messen. Die in unserer Studie gefundene Steigerung in der wahrgenommenen Sicherheit der Lehrkräfte könnte ein plausibler Grund
für die Reduktion im Stresserleben sein. Diesbezüglich sollten nachfolgende Studien
untersuchen, ob die wahrgenommene Sicherheit im Umgang mit diesen Schüler/innen einen Mediator zwischen Wissen und reduziertem Stresserleben darstellt.
Da die Diskussionen um das Störungsbild ADHS in den letzten Jahren deutlich
zugenommen haben, ist zu erwarten, dass auch in Zukunft seitens der Eltern viele
Fragen zum Störungsbild bestehen, sodass es notwendig erscheint, dass Lehrkräfte
ausreichend über ADHS informiert sind und auf Nachfrage sinnvolle Empfehlungen
zum weiteren Vorgehen (z. B. bezüglich einer diagnostischen Abklärung) aussprechen
können. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass bezüglich der Elternratschläge insgesamt
nur wenige Veränderungen durch den Workshop erzielt wurden, das heißt, die Lehrkräfte stimmten im Anschluss an den Workshop bzw. drei Monate nach dem Workshop ungefähr denselben Ratschlägen zu bzw. nicht zu wie bereits vor dem Workshop.
Ein Blick auf die Deskriptiva zeigt hierbei, dass die Lehrkräfte auch schon in der Prätestung insgesamt eher den Ratschlägen zustimmten, die sinnvoll bzw. empirisch erwiesen sind, sodass es durchaus als positives Ergebnis zu interpretieren ist, dass bezüglich
der Ratschläge eine große Konstanz festgestellt wurde.
4.3 Grenzen der Studie
Als Einschränkung der vorliegenden Studie ist die geringe Rücklaufquote bezüglich
des Follow-up zu nennen. Zwar nahmen nahezu alle Teilnehmer/innen an der Präund Posttestung teil, jedoch nur 26 der 44 Personen am Follow-up (56.8 %). Somit
ipabo_66.249.66.100
Wirksamkeit eines Workshops für Lehrkräfte über ADHS 325
kann eine Verzerrung der Ergebnisse durch Selektionseffekte nicht ausgeschlossen
werden. Jedoch zeigten die Analysen des Drop-outs, dass sich keine Unterschiede
zwischen den verbleibenden Personen und denjenigen Lehrkräften ergaben, die nicht
mehr am Follow-up teilnahmen. Weiterhin sei angemerkt, dass aufgrund der Konzeption unserer Studie bei der Durchführung der Workshops nicht auf alle Items des
Fragebogens eingegangen wurde, sodass bezüglich dieser Items keine Zuwächse im
Wissen aufgrund im Workshop vermittelter Inhalte möglich waren. Einschränkend ist
anzumerken, dass in der vorliegenden Studie keine Kontrollgruppe untersucht wurde.
Um Veränderungen in den untersuchten Variablen jedoch eindeutig auf die Workshopteilnahme zurückführen zu können, sollte eine Kontrollgruppe, die zunächst als
Wartegruppe fungiert und den Workshop erst im späteren Zeitverlauf besucht (vgl.
Aguiar et al., 2012), in zukünftigen Studien eingeschlossen werden. Ferner stellt sich
die Frage, inwiefern die Wissensvermittlung durch den Workshop über das derzeit in
der Lehrkraftausbildung an den Universitäten vermittelte Wissen hinausgeht.
Eine Evaluation seitens der Teilnehmer/innen hätte wichtige Hinweise darüber
liefern können, welche Elemente des Workshops (z. B. Impulsreferat oder Fallintervention) die Teilnehmer/innen am hilfreichsten fanden und in zukünftigen Untersuchungen berücksichtigt werden sollten. Unklar bleibt außerdem, ob die erzielten
Wissenszuwächse auch tatsächlich zu genaueren Verhaltenseinschätzungen seitens
der Lehrkräfte führen und inwiefern vermittelte Techniken zum Umgang mit betroffenen Kindern im Anschluss an den Workshop eingesetzt wurden.
Fazit für die Praxis
In unserer Studie konnte neben einer langfristigen Wissenssteigerung unter den
Lehrkräften auch gezeigt werden, dass die Selbstauskünfte bezüglich des Wissens
und der Sicherheit im Umgang mit einem betroffenen Kind mithilfe eines Workshops zunahmen. Sie bietet somit neue Erkenntnisse, die über die bisherigen Studien hinausgehen. Dass ein vergleichsweise kurzzeitiger Workshop bereits große und
auch langfristige Effekte auf verschiedene Wirksamkeitsbereiche erzielen kann, verdeutlicht das hohe Potenzial von Fortbildungsveranstaltungen dieser Art, zumal der
untersuchte Workshop in dieser Form häufig in der Praxis abgehalten und nicht auf
die Evaluationsstudie abgestimmt war. Obwohl der Workshopleiter über die Inhalte
des Fragebogens nicht informiert war, zeigten sich vergleichsweise starke Effekte auf
das Wissen der Teilnehmer/innen. Zwar konnten Fehlannahmen in der vorliegenden
Studie nicht signifikant reduziert werden, jedoch zeigte sich deskriptiv bezüglich ausführlich im Seminar diskutierter Fehlannahmen eher eine Reduktion. Bei der inhaltlichen Gestaltung zukünftiger Fortbildungsveranstaltungen sollte daher zugunsten
einer langfristigen und hohen Wirksamkeit auf häufige Fehlannahmen verstärkt eingegangen werden. Hier scheint insbesondere der Einbezug der Teilnehmer/innen in
Diskussionen ein erfolgversprechendes Kriterium zu sein.
326 F. Both et al.
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Korrespondenzanschrift: Franziska Both, Lehrstuhl für Psychologie IV, Institut für
Psychologie der Universität Würzburg, Röntgenring 10, 97070 Würzburg;
E-Mail: [email protected]
Franziska Both, Sandra Schmiedeler, Philipp Abelein und Wolfgang Schneider, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Veränderungen der psychischen Struktur im Verlauf
der stationären psychodynamischen Behandlung von
jugendlichen Patienten mit einer kombinierten Störung des
Sozialverhaltens und der Emotionen
Carola Cropp, Simone Salzer und Annette Streeck-Fischer
Summary
Changes in OPD-CA Axis Structure During Inpatient Psychodynamic Treatment of Adolescents
Suffering from Comorbid Disorders of Conduct and Emotions
In a randomized controlled clinical trial (RCT) we evaluated an inpatient psychodynamic
treatment for adolescents suffering from mixed disorders of conduct and emotions. The
sample consisted of severely impaired adolescents with remarkable deficits regarding psychic
structure. The current study wanted to examine if the manualized treatment did not only
reduce symptoms but also enhance the structural level of the patients. The axis structure of
the Operationalized Psychodynamic Diagnostics in Childhood and Adolescence (OPD-CA)
was used to assess the structural level of N = 46 adolescent inpatients. To examine differences
between the patients‘ structural level at the beginning and at the end of inpatient treatment
we conducted a repeated measures ANOVA. The overall score as well as the three subscores of
the axis structure improved significantly during inpatient treatment. The corresponding effect
sizes were large (η2 = .29 to .47). The inpatient psychodynamic treatment led to significant improvements regarding symptomatology as well as psychic structure. However, further studies
with larger sample size and control group data should be conducted to confirm these results.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 328-339
Keywords
inpatient psychodynamic psychotherapy – adolescence – psychic structure – OPD-CA
Zusammenfassung
Im Rahmen einer randomisiert-kontrollierten klinischen Studie wurde im Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn die stationäre Behandlung von Jugendlichen mit einer kombinierten
Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen evaluiert. Die Stichprobe bestand aus Patienten mit komplexen Störungen und schweren strukturellen Beeinträchtigungen. In der
vorliegenden Untersuchung sollte geprüft werden, ob das manualisierte psychodynamische
Behandlungskonzept bei den jugendlichen Patienten neben dem bereits nachgewiesenen
symptomatischen Behandlungserfolg auch zu einer Verbesserung struktureller Fähigkeiten
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 328 – 339 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
ipabo_66.249.66.100
Veränderungen der psychischen Struktur bei stationär behandelten Jugendlichen 329
geführt hat. Es lagen Daten zur Achse Struktur der Operationalisierten Psychodynamischen
Diagnostik im Kindes- und Jugendalter (OPD-KJ) von N = 46 Jugendlichen vor. Mittels
einfaktorieller Varianzanalysen mit Messwiederholung wurde geprüft, ob sich das Strukturniveau der Patienten signifikant zwischen dem Aufnahme- und Entlassungszeitpunkt unterschied. Sowohl im Gesamtwert als auch in allen drei Dimensionen der Achse Struktur
kam es während der stationären Behandlung zu signifikanten Verbesserungen mit großen
Effektstärken (η2 = .29 bis .47). Die stationäre psychodynamische Behandlung konnte in der
untersuchten Patientengruppe nicht nur symptomatische Verbesserungen erzielen, sondern
auch zur Entwicklung struktureller Fähigkeiten beitragen. Diese ersten positiven Ergebnisse
sollten allerdings in Studien mit größeren Stichproben und unter Einbeziehung von Kontrollgruppendaten weiter geprüft werden.
Schlagwörter
stationäre psychodynamische Psychotherapie – Jugendalter – psychische Struktur – OPD-KJ
1
Hintergrund und Fragestellung
Die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter
(OPD-KJ; Arbeitskreis OPD-KJ, 2003) wurde – wie bereits die Operationalisierte
Psychodynamische Diagnostik für das Erwachsenenalter (OPD; Arbeitskreis OPD,
1996) – entwickelt, um zusätzlich zu einer nosologischen Klassifikation psychischer
Störungen auch psychodynamische Konstrukte, die zu einem besseren Verständnis
der Symptomatik und zur differentiellen Indikation und Therapieplanung beitragen
können, valide erfassbar zu machen. Beide Instrumente haben sich in der psychotherapeutischen Forschung und Praxis etabliert und sind inzwischen in überarbeiteten Versionen herausgegeben worden (OPD-2; Arbeitskreis OPD, 2006; OPD-KJ 2;
Arbeitskreis OPD-KJ 2, 2013). Insbesondere die Berücksichtigung des psychischen
Strukturniveaus von Patienten kann diagnostisch wichtige Informationen über den
Schweregrad der psychischen Erkrankung liefern (vgl. Arbeitskreis OPD-KJ 2, 2013).
Die Bedeutsamkeit des Konstrukts zeigt sich auch daran, dass im Rahmen des alternativen Modells der Persönlichkeitsstörungen vor kurzem eine der OPD-Strukturachse
sehr ähnliche Klassifikation (das sogenannte „Funktionsniveau der Persönlichkeit“)
Einzug in das aktuelle Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen
(DSM-5; APA, 2013) gehalten hat. Liegen bei Patienten deutliche strukturelle Beeinträchtigungen vor, sollte im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung
zunächst auf diese Defizite fokussiert werden, das heißt strukturbezogen statt konfliktaufdeckend gearbeitet werden (Arbeitskreis OPD, 2006; Arbeitskreis OPD-KJ 2,
2013). Der Therapeut nimmt in diesem Fall eine aktive therapeutische Haltung ein
und übernimmt zunächst Hilfs-Ich-Funktionen für den Patienten. Da die Arbeit an
strukturellen Fähigkeiten bei solchen Behandlungen ein zentraler Behandlungsfokus
ist, sollten im Rahmen von Therapieevaluationsstudien bei strukturell beeinträchtig-
330 C. Cropp et al.
ten Jugendlichen unbedingt auch die erzielten Veränderungen des psychischen Strukturniveaus mit betrachtet werden. Die Achse Struktur der OPD-KJ hat sich bereits
als reliables und veränderungssensitives Instrument erwiesen, in dem Veränderungen
der psychischen Struktur gut abgebildet werden können (Jelen-Mauboussin et al.,
2013; Weitkamp, Claaßen, Wiegand-Grefe, Romer, 2014). Sowohl in einer stationären
kinder- und jugendpsychiatrischen Stichprobe von Jelen-Mauboussin et al. (2013) als
auch in einer ambulanten Patientengruppe von Weitkamp et al. (2014) ergaben sich im
Verlauf der untersuchten Behandlungen signifikante Verbesserungen des psychischen
Strukturniveaus. Es zeigten sich allerdings auch deutliche Unterschiede im Strukturniveau der Patienten zu Beginn der Behandlung: Während die ambulanten Psychotherapiepatienten durchschnittlich über ein mäßig integriertes Strukturniveau verfügten,
lagen die mittleren Strukturwerte der stationär behandelten Patienten nur im gering
integrierten Bereich. Diese Ergebnisse decken sich mit denen von Seiffge-Krenke, Mayer, Rathgeber und Sommer (2013), die ebenfalls signifikant niedrigere Strukturwerte
bei stationär behandelten Kindern und Jugendlichen fanden im Vergleich zu ambulant behandelten. Seiffge-Krenke et al. (2013) konnten zudem nachweisen, dass Patienten mit F9-Diagnosen (nach ICD-10) ein deutlich geringeres Strukturniveau hatten
als Patienten mit F3- oder F4-Diagnosen.
Im Rahmen einer randomisiert-kontrollierten klinischen Studie wurde im Askle­
pios Fachklinikum Tiefenbrunn eine manualisierte stationäre psychodynamische
Therapie von jugendlichen Patienten mit einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen evaluiert (Salzer, Cropp, Jaeger, Masuhr, StreeckFischer, 2014b). Bei der untersuchten Patientengruppe handelte es sich um Jugendliche mit komplexen Störungen. Neben den Diagnosekriterien einer Störung
des Sozialverhaltens erfüllten die Patienten durchschnittlich die Kriterien von 3,1
SKID-I Diagnosen und 1,8 SKID-II Diagnosen. Zwei Drittel der Stichprobe berichteten zudem von Traumatisierungen in der Kindheit und 60 % der Jugendlichen
erfüllten bereits die Kriterien einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (vgl. Cropp,
Zimmermann, Streeck-Fischer, 2014; Salzer, Cropp, Streeck-Fischer, 2014a; Salzer
et al., 2014b). Vor diesem Hintergrund war zu erwarten, dass die Patientengruppe
auch durch deutliche strukturelle Defizite gekennzeichnet sein würde. Hinsichtlich
der Remissionsraten zeigte sich ein hoch signifikanter Unterschied zwischen der
Behandlungsgruppe und der Wartekontroll- bzw. treatment as usual (TAU) Gruppe, mit deutlich höheren Remissionsraten in der Behandlungsgruppe (71,9 % vs.
8,8 %). Auch bezüglich der allgemeinen Symptomatik (SCL-90-R, SDQ) konnten
signifikante Verbesserungen während der stationären Behandlungszeit erzielt werden (vgl. Salzer et al., 2014b). Das in der Studie verwendete manualisierte Behandlungskonzept (Streeck-Fischer, Cropp, Streeck, Salzer, im Druck) stützt sich auf die
psychoanalytisch-interaktionelle Methode (PIM) und ist speziell für Patienten mit
strukturellen Störungen konzipiert. Es hat neben einer symptomatischen Verbesserung auch eine strukturelle Nachreifung der Patienten zum Ziel (vgl. Streeck-Fischer u. Streeck, 2010). In der vorliegenden Untersuchung sollte daher anhand der
ipabo_66.249.66.100
Veränderungen der psychischen Struktur bei stationär behandelten Jugendlichen 331
OPD-KJ-Strukturwerte der jugendlichen Patienten geprüft werden, ob das manualisierte Behandlungskonzept neben dem symptomatischen Behandlungserfolg auch
zu einer Verbesserung struktureller Fähigkeiten geführt hat.
2
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
2.1 Datenerhebung
Die vorliegenden Daten wurden in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des
Kindes- und Jugendalters des Asklepios Fachklinikums Tiefenbrunn im Rahmen einer
randomisiert-kontrollierten Wirksamkeitsstudie1 zur stationären psychodynamischen
Psychotherapie von Jugendlichen mit einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens
und der Emotionen (F 92 nach ICD-10) erhoben. Zur Überprüfung der Wirksamkeit
des psychodynamischen Behandlungsansatzes wurde hierbei eine Behandlungsgruppe (N = 32) mit einer Wartekontrollgruppe/TAU (N = 34) verglichen. Die Patienten
der Wartekontrollgruppe mussten sechs Monate auf den Beginn der stationären Behandlung warten und wurden dann in einem zweiten Studienabschnitt ebenfalls nach
demselben Manual behandelt (vgl. Salzer et al., 2014b). Aus ethischen Gründen stand
es ihnen allerdings frei, während der Wartezeit alternative (psychotherapeutische und/
oder psychopharmakologische) Behandlungsformen (TAU) in Anspruch zu nehmen.
Die hier berichteten Daten zur OPD-KJ-Achse Struktur wurden während der stationären Behandlungszeit der Jugendlichen aus beiden Bedingungen, also sowohl aus der
Behandlungsgruppe als auch aus der Wartekontrollgruppe, erhoben. Von Patienten
der Wartekontrollgruppe, die nach der sechsmonatigen Wartezeit nicht stationär in
der Klinik Tiefenbrunn aufgenommen wurden, lagen keine OPD-KJ-Strukturdaten
vor. Das OPD-KJ-Strukturrating erfolgte zu Behandlungsbeginn im Anschluss an die
sogenannte „Zweitsicht“, die circa sechs Wochen nach der stationären Aufnahme der
Patienten stattfand. In dieser Zweitsicht wurden erstmals im Behandlungsverlauf die diagnostischen Befunde des gesamten interdisziplinären Teams zusammengetragen und
anschließend mit dem Patienten besprochen. Als Grundlage des Strukturratings diente
das Gespräch zwischen der Chefärztin und dem Jugendlichen, das in der Regel einen
zeitlichen Umfang von 30-45 Minuten hat. Im Anschluss an dieses Gespräch führten die
in der Zweitsicht anwesenden und somit auch dem Gespräch zwischen Chefärztin und
Jugendlichem beiwohnenden Teilnehmer des ärztlich-therapeutischen Behandlungsteams (in der Regel 3-5 Rater) unabhängig voneinander und ohne weitere Absprachen
das Rating auf der OPD-KJ-Achse Struktur durch. Im Vorfeld des Ratings fand kein
1 Die Studie wurde gefördert durch die Gesellschaft zur Förderung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie e. V., den Förderverein für analytische Kinder- und Jugendpsychotherapie e. V. Krefeld und die Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten
in Deutschland e.V. (VAKJP).
332 C. Cropp et al.
Austausch mehr zwischen den Ratern über die strukturellen Fähigkeiten des Patienten
statt. Alle Rater hatten im Vorfeld eine Schulung erhalten (OPD-KJ-Training durch A.
Streeck-Fischer). Es konnten auch unter diesen Bedingungen (d. h. ohne videografiertes
OPD-KJ-Interview) hinreichend gute Interrater-Reliabilitäten (ICC = .67-.79) für die
OPD-KJ-Strukturratings nachgewiesen werden (Cropp, Salzer, Häusser, Streeck-Fischer,
2013). Die Strukturratings zum Behandlungsende fanden im Rahmen der letzten Wiedervorstellung der Patienten statt. Wiedervorstellungen erfolgten im Behandlungsverlauf alle vier bis sechs Wochen, um die bereits erfolgten Behandlungsschritte zu evaluieren und die nächsten Behandlungsschritte zu planen. In der letzten Wiedervorstellung
ging es vor allem darum, gemeinsam mit dem Jugendlichen ein Resümee des Behandlungsverlaufs zu ziehen sowie die Zeit nach der Entlassung zu planen. Wie in der Zweitsicht folgte nach einem interdisziplinären Austausch des Behandlerteams ein Gespräch
zwischen der Chefärztin und dem Jugendlichen, welches Grundlage für das Rating der
OPD-KJ-Strukturachse war. Wie zu Beginn der Behandlung wurden die Ratings von
den an der Wiedervorstellung teilnehmenden Kollegen des ärztlich-therapeutischen Behandlungsteams (in der Regel 3-5 Rater) unabhängig voneinander und ohne weitere
Absprachen durchgeführt.
2.2 Stichprobe
Wie oben beschrieben, konnte im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nur
ein Teil der Gesamtstichprobe der Studie betrachtet werden, bestehend aus den
Patienten der Behandlungsgruppe (N = 32) sowie den nach der sechsmonatigen
Wartezeit stationär aufgenommenen Patienten der Wartekontrollgruppe (N = 27).
Zudem konnten nur Datensätze eingeschlossen werden, in denen OPD-KJ-Strukturratings von mindestens einem Erhebungszeitpunkt vorlagen. Die verbleibende
Teilstichprobe umfasste 46 Jugendliche, unterschied sich jedoch hinsichtlich Alter,
Geschlecht und Ausmaß der psychischen Beeinträchtigung nicht signifikant von
der Gesamtstichprobe (N = 66): Das durchschnittliche Alter der Patienten betrug
16,7 Jahre und die Stichprobe umfasste 31 weibliche Jugendliche (67,4 %) sowie 15
männliche Jugendliche (32,6 %). Es handelte sich um eine Stichprobe von Jugendlichen mit komplexen Störungen: Neben den Diagnosekriterien einer Störung des
Sozialverhaltens wurden Kriterien von durchschnittlich 3,1 SKID-I Diagnosen und
1,7 SKID-II Diagnosen erfüllt. Zu den häufigsten SKID-I Störungen zählten depressive Störungen (78,3 %), soziale Phobien (47,8 %) und somatoforme Störungen
(41,3 %). Im SKID-II Interview waren am häufigsten die Diagnosekriterien einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung (50 %), einer depressiven Persönlichkeitsstörung
(34,8 %) und einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung (32,6 %) erfüllt. Der
durchschnittliche GAF-Wert der Patienten lag bei 50,7 (SD = 6,8) was einer ernsthaften Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit in verschiedenen Alltagsbereichen
entspricht (vgl. SKID: Wittchen, Zaudig, Fydrich, 1997). Die Jugendlichen wurden
im Durchschnitt 33,3 Wochen (SD = 12,0) stationär behandelt.
ipabo_66.249.66.100
Veränderungen der psychischen Struktur bei stationär behandelten Jugendlichen 333
2.3 Stationäres Behandlungskonzept
Das manualisierte stationäre Behandlungskonzept umfasst klare Vorgaben zur Aufgaben- und Rollenverteilung für Therapeuten, Stationsleiter und Pflegekräfte (StreeckFischer et al., im Druck). Während der Einzeltherapeut einen geschützten Rahmen
zur Verfügung stellt und mit den Jugendlichen an der Stabilisierung, an aktuellen
Problemen und an der Entwicklung von Ich-Fähigkeiten arbeitet, begleiten die Pflegekräfte den Jugendlichen in seinen Alltagsbelangen, im Umgang mit den anderen
Jugendlichen sowie in Hinblick auf Anforderungen in Schule und Ausbildung. Dem
Stationsleiter kommt die Aufgabe zu, den Jugendlichen mit Verhaltensweisen zu konfrontieren, die seine Teilnahme am Alltagsleben beeinträchtigen, sie gegebenenfalls
einzugrenzen und den Jugendlichen zu veranlassen, seine Probleme in die Therapie
einzubringen. Sowohl der Therapeut als auch der Stationsleiter stützen sich auf die
Behandlungsprinzipien der psychoanalytisch-interaktionellen Methode, die mit der
übertragungsfokussierten und der mentalisierungsbasierten Psychotherapie Ähnlichkeiten hat (Streeck-Fischer u. Streeck, 2010). Sie wurde für die Behandlung von
Patienten mit Entwicklungsstörungen der Persönlichkeitsstruktur (sog. strukturelle
Störungen) mit verinnerlichten pathologischen Beziehungserfahrungen, Traumatisierungen und Störungen im Bereich verschiedener Ich-Fähigkeiten entwickelt. Das
Manual ist darauf ausgerichtet, die Jugendlichen aus ihrem unreflektierten Handeln
in das therapeutische Arbeiten zu bringen, indem Verbindungen zwischen ihrem aktuellen Verhalten im „Hier und Jetzt“ auf der Station einerseits und ihren frühen und
späteren belastenden Erfahrungen andererseits gezogen werden, wobei ihr Verhalten
als Ausdruck unbewusster Re-Inszenierungen verstanden wird. Gleichzeitig gilt es
strukturelle Nachreifungen in Gang zu bringen. Traumatisierungen spielen in vielen
Fällen eine wichtige Rolle, deren Bedeutung den Jugendlichen jedoch meist erst im
Laufe der Behandlung erkennbar wird. Bei Patienten mit schweren Steuerungsproblemen werden in der ersten Behandlungsphase begleitend auch Psychopharmaka gegeben, um gravierende Regelverletzungen (z. B. massives selbst- und fremddestruktives
Verhalten) und somit eine vorzeitige Entlassung zu verhindern.
2.4 Die OPD-KJ-Achse Struktur
Die Achse Struktur der OPD-KJ erfasst anhand verschiedener Items zentrale strukturelle Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen. Die Daten der vorliegenden Untersuchung wurden mit der ersten Version der OPD-KJ (Arbeitskreis OPD-KJ, 2007)
erhoben, in der die Achse Struktur wie nachfolgend beschrieben aufgebaut ist. Die
Achse unterteilt sich in drei Dimensionen, nämlich Steuerung, Selbst- und Objekterleben sowie kommunikative Fähigkeiten. Diese Dimensionen werden von jeweils vier
bis fünf Items repräsentiert, welche auf einer vierstufigen Skala von 1 (gut integriert)
bis 4 (desintegriert) geratet werden können. In der vorliegenden Untersuchung war
beim Rating auch die Vergabe von Zwischenwerten (z. B. 1,5) erlaubt. Das Rating ori-
334 C. Cropp et al.
entiert sich an Ankerbeispielen, welche für jedes Item in allen drei Altersstufen die
erwartbaren Fähigkeiten eines Kindes oder Jugendlichen mit optimal integriertem
Strukturniveau beschreiben. Bei der Beurteilung des Strukturniveaus ist entscheidend, wie flexibel, wie gut, wie häufig und wie eigenständig das Kind oder der Jugendliche die einzelnen strukturellen Leistungen erbringen kann. Aus den insgesamt
14 Items können einerseits Subskalenwerte für die drei oben genannten Dimensionen
gebildet werden und andererseits kann auf der Basis aller Items ein Strukturgesamtwert bestimmt werden. Da unsere Stichprobe Jugendliche im Alter von 15-19 Jahren
umfasste, kamen für das Strukturrating nur die Operationalisierungen der Altersstufe
3 (12 Jahre und älter) zur Anwendung (vgl. Arbeitskreis OPD-KJ, 2007). Wie oben beschrieben, wurde das OPD-KJ-Strukturrating jeweils parallel von drei bis fünf Teammitgliedern durchgeführt. Für die vorliegende Untersuchung wurden anschließend
Durchschnittswerte basierend auf den Einschätzungen aller Rater gebildet.
2.5 Statistische Auswertung
Die statistische Auswertung der Daten erfolgte mit dem Statistikprogramm SPSS
(Version 20). Zunächst wurde mittels t-Tests für unabhängige Stichproben geprüft, ob
sich Patienten mit und ohne medikamentöse Begleitbehandlung signifikant in ihren
strukturellen Fähigkeiten unterschieden. Zur Überprüfung der strukturellen Veränderungen während der stationären Behandlung wurden anschließend einfaktorielle
Varianzanalysen mit Messwiederholung gerechnet. Zuletzt wurde noch mittels Korrelation geprüft, ob es signifikante Zusammenhänge zwischen den strukturellen Veränderungen der Patienten und ihrem symptomatischen Behandlungserfolg gab.
Bei allen Berechnungen wurde die intention-to-treat (ITT) Stichprobe (N = 46)
verwendet. Im Falle von fehlenden Werten fand die Last-observation-carried-forward (LOCF) Methode Anwendung. Um eine Kumulierung des α-Fehlers zu verhindern, wurde im Rahmen der Signifikanzprüfung bei den t-Tests und Varianzanalysen jeweils eine Bonferroni-Korrektur durchgeführt.
3
Ergebnisse
3.1 Unterschiede in den OPD-KJ-Strukturwerten zwischen Patienten mit und
ohne Medikation
In der untersuchten Stichprobe erhielten 65,2 % der stationär behandelten Jugendlichen phasenweise eine psychopharmakologische Begleitbehandlung (N = 30). Davon erhielten 17 Patienten Neuroleptika, 7 Patienten Antidepressiva, 1 Patient ein
Antiepileptikum und 5 Patienten erhielten eine Kombination aus Antidepressiva,
Neuroleptika und/oder Methylphenidat. Da eine psychopharmakologische Begleitbehandlung insbesondere bei Patienten mit gravierenden Steuerungsproblemen
ipabo_66.249.66.100
Veränderungen der psychischen Struktur bei stationär behandelten Jugendlichen 335
indiziert war (s. Abschnitt 2.4), wurde mittels t-Tests überprüft, ob sich die Patienten mit und ohne medikamentöse Begleitbehandlung hinsichtlich ihrer Strukturwerte zum Aufnahme- und/oder Entlassungszeitpunkt signifikant unterschieden.
Die entsprechenden Ergebnisse sind in Tabelle 1 dargestellt. Es zeigten sich für alle
drei Skalenwerte der OPD-KJ-Achse Struktur keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen, weder zu Beginn der Behandlung noch zum Zeitpunkt
der Entlassung. Die Medikation (ja/nein) wurde daher nicht als Kontrollvariable in
den weiteren Berechnungen berücksichtigt.
Tabelle 1: Vergleich der OPD-KJ Strukturwerte bei Patienten mit und ohne Medikation, N = 46 (ITT)
Struktur Aufnahme
Steuerung Aufnahme
Selbst-/Objektwahrnehmung Aufnahme
Kommunikative Fähigkeiten Aufnahme
Struktur Entlassung
Steuerung Entlassung
Selbst-/Objektwahrnehmung Entlassung
Kommunikative Fähigkeiten Entlassung
Keine Medikation
(N = 17), M(SD)
2,51 (0,39)
2,63 (0,38)
2,42 (0,40)
2,49 (0,42)
2,31 (0,37)
2,36 (0,39)
2,24 (0,37)
2,32 (0,38)
Medikation
(N = 29), M(SD)
2,64 (0,26)
2,77 (0,26)
2,53 (0,33)
2,61 (0,28)
2,31 (0,33)
2,35 (0,35)
2,25 (0,35)
2,33 (0,31)
t
-1,32
-1,55
-1,00
-1,20
-0,04
0,10
-0,09
-0,13
p
0,19
0,13
0,32
0,24
0,97
0,92
0,93
0,90
Erläuterungen: t-Test bei unabhängigen Stichproben; M(SD) = Mittelwerte mit Standardabweichung;
1 = gute Integration, 2 = mäßige Integration, 3 = geringe Integration, 4 = Desintegration (vgl. Arbeitskreis OPD-KJ, 2003)
3.2 Veränderungen der psychischen Struktur während der stationären
Behandlung
Zur Überprüfung der Hauptfragestellung dieser Untersuchung wurde mittels einfaktorieller Varianzanalysen mit Messwiederholung überprüft, ob es während der stationären Behandlung der jugendlichen Patienten neben dem bereits nachgewiesenen
symptomatischen Behandlungserfolg auch zu signifikanten Veränderungen der psychischen Struktur kam. Alle Patienten, von denen mindestens von einem Messzeitpunkt OPD-KJ-Strukturratings vorlagen (N = 46), wurden in die Analyse einbezogen. Im Falle von fehlenden Daten (N = 6) fand die Last-observation-carried-forward
(LOCF) Methode Anwendung. Tabelle 2 stellt die entsprechenden Ergebnisse dar. Sowohl im Gesamtwert sowie auch in allen drei Dimensionen der Achse Struktur kam es
während der stationären Behandlung zu einer statistisch signifikanten Verbesserung
mit großen Effektstärken (η2 = .29 bis .47). Die Jugendlichen veränderten sich von
einem durchschnittlich eher geringen Strukturniveau hin zu einem durchschnittlich
eher mäßigen Strukturniveau. Generell lagen die Struktur-Gesamtwerte der Patienten
größtenteils zwischen mäßig integriert („2“) und gering integriert („3“). Zu Beginn
336 C. Cropp et al.
der Behandlung hatte nur ein Patient einen Struktur-Gesamtwert < 2,0, hingegen
hatten vier Patienten Struktur-Gesamtwerte > 3,0. Zum Ende der Behandlung hatten
fünf Patienten einen Struktur-Gesamtwert < 2,0 und kein Patient hatte mehr einen
Struktur-Gesamtwert > 3,0. Bei fast allen Jugendlichen der Completer-Stichprobe kam
es während der Behandlung zu Verbesserungen im OPD-KJ-Struktur-Gesamtwert.
Lediglich sechs Patienten wurden am Ende der Behandlung etwas schlechter eingestuft als zu Beginn der Behandlung (Differenzwerte von 0,06 bis 0,49) und ein Patient erhielt zu beiden Messzeitpunkten identische Werte. Wichtig zu bemerken ist
außerdem, dass die Verschlechterung der OPD-KJ-Strukturwerte nur in einem Fall
auch mit einer symptomatischen Verschlechterung im General Severity Index (GSI)
der Symptom-Checkliste-90-R (SCL-90-R: Franke, 2002) einherging, bei allen anderen Patienten verbesserten sich hingegen die GSI-Werte. Somit handelt es sich bei der
Gruppe nicht um Jugendliche mit per se negativem Behandlungsergebnis. Generell
korrelierten die Veränderungen in den Skalen der OPD-KJ-Achse Struktur in der
Stichprobe nicht signifikant mit symptomatischen Veränderungen im GSI (r von -.11
bis .04, p von 0,50 bis 0,90).
Tabelle 2: Veränderungen der OPD-KJ Strukturwerte während der stationären Behandlung, N = 46 (ITT)
Struktur Gesamtwert
Aufnahme
M (SD)
2,59 (0,32)
Entlassung
M (SD)
2,31 (0,34)
F
27,80
p
< 0,001**
η2
.38
Steuerung
2,72 (0,31)
2,36 (0,36)
39,43
< 0,001**
.47
Selbst-/Objektwahrnehmung
2,49 (0,36)
2,25 (0,36)
18,13
< 0,001
**
.29
Kommunikative Fähigkeiten
2,56 (0,34)
2,33 (0,33)
19,19
< 0,001
**
.30
Erläuterungen: F von einfaktoriellen Varianzanalysen mit Messwiederholung; *p < 0,0125 (0,05/4),
**p < 0,0025 (0,01/4); η2 = QSUV/(QSUV+QSres); M(SD) = Mittelwerte mit Standardabweichung; 1 = gute
Integration, 2 = mäßige Integration, 3 = geringe Integration, 4 = Desintegration (vgl. Arbeitskreis OPDKJ, 2003)
4
Diskussion
In der vorliegenden Untersuchung sollte geprüft werden, ob es bei jugendlichen Patienten mit einer kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
während der stationären psychodynamischen Psychotherapie neben bereits beschriebenen symptomatischen Verbesserungen (Salzer et al., 2014b) auch zu strukturellen Veränderungen gekommen ist.
Die Ergebnisse zeigen, dass die stationäre Behandlung bei den untersuchten Patienten zu einer signifikanten Verbesserung des Strukturniveaus geführt hat. Während
die Patienten zum Zeitpunkt der Aufnahme eher ein gering integriertes Strukturniveau
aufwiesen, entwickelten sich ihre strukturellen Fähigkeiten unter der Behandlung hin
zu einem eher mäßig integrierten Strukturniveau. Die strukturellen Verbesserungen
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Veränderungen der psychischen Struktur bei stationär behandelten Jugendlichen 337
entsprachen in allen Subskalen großen Effekten. Die Ergebnisse unserer Untersuchung
decken sich somit mit denen bisheriger Studien zu strukturellen Veränderungen während ambulanter und stationärer Therapie von Kindern und Jugendlichen, in denen
ähnliche Verbesserungen des psychischen Strukturniveaus nachgewiesen werden
konnten (Jelen-Mauboussin et al., 2013; Weitkamp et al., 2014). Im Unterschied zu der
stationären Stichprobe von Jelen-Mauboussin et al. (2013), die über einen Zeitraum
von zwei Jahren stationär und anschließend ambulant psychotherapeutisch behandelt
wurde, konnte in unserer Untersuchung eine vergleichbare Verbesserung des Strukturniveaus allerdings schon nach durchschnittlich neun Monaten Behandlung erzielt
werden. Zudem ist hervorzuheben, dass es sich bei unserer Stichprobe um eine relativ
homogene, besonders schwer behandelbare Gruppe jugendlicher Patienten handelte,
die zu großen Teilen komplex traumatisiert war und bereits die Diagnosekriterien einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erfüllte.
Unsere Befunde replizieren auch die Ergebnisse mehrerer Studien, in denen stationär behandelte Patienten durchschnittlich ein geringes Strukturniveau aufwiesen – im
Gegensatz zu ambulant behandelten Patienten, die im Durchschnitt eher mäßig strukturiert waren (Jelen-Mauboussin et al., 2013; Seiffge-Krenke et al., 2013; Weitkamp et
al., 2014). Möglicherweise lassen sich die dargestellten Ergebnisse daher auch so interpretieren, dass die strukturellen Verbesserungen der Jugendlichen am Ende der stationären Behandlungszeit eine erreichte ambulante Therapiefähigkeit abbilden. Dies
würde einmal mehr für die Nützlichkeit der OPD-KJ-Strukturachse im Hinblick auf
die psychotherapeutische Indikationsstellung und Behandlungsplanung sprechen.
Wie in der stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Stichprobe von JelenMauboussin et al. (2013) gab es auch in unserer Stichprobe keine signifikanten Zusammenhänge zwischen dem Strukturniveau der Patienten bzw. der strukturellen
Veränderung während der Behandlung und der Gabe von Psychopharmaka. Dennoch wurden in unserer Stichprobe Patienten, die psychopharmakologisch mitbehandelt wurden, zu Beginn der Behandlung im Bereich ihrer Steuerungsfähigkeiten
etwas niedriger eingestuft als Patienten, die keine ergänzende psychopharmakologische Behandlung erhielten – auch wenn der Unterschied nicht signifikant war.
Dieses Ergebnis war allerdings insofern erwartungskonform, als die Indikation für
eine psychopharmakologische Begleitbehandlung gemäß dem stationären Behandlungsmanual vor allem beim Vorliegen gravierender Steuerungsprobleme gestellt
wurde (vgl. Streeck-Fischer et al., im Druck).
4.1 Limitationen
Einschränkend ist anzuführen, dass die untersuchte Stichprobe mit N = 46 relativ
klein war. Zudem lagen keine OPD-KJ-Strukturratings aus der Wartezeit der Kontrollgruppe vor, sodass ein Vergleich der strukturellen Veränderungen in Behandlungs- und Kontrollgruppe im Rahmen dieser Studie nicht möglich war. Da die
Daten im Rahmen einer randomisiert-kontrollierten Wirksamkeitsstudie erhoben
338 C. Cropp et al.
wurden, handelte es sich bei der untersuchten Stichprobe um eine relativ homogene
Patientengruppe, nämlich ausschließlich stationär behandelte Jugendliche mit der
ICD-10-Diagnose F92 „Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen“. Da dies eine Patientenklientel mit oftmals strukturellen Defiziten ist, war die
Varianz des Strukturniveaus zwischen den Patienten relativ gering (vgl. Tab. 2). Die
Ratings wurden außerdem von Mitgliedern des Behandlungsteams durchgeführt,
erfolgten also nicht verblindet. Dadurch kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass das Wissen um den Erhebungszeitpunkt das Rating beeinflusst hat. Andererseits sprechen die an dieser Stichprobe überprüften Inter-Rater-Reliabilitäten
für eine einigermaßen zuverlässige Einschätzung des Strukturniveaus (vgl. Cropp
et al., 2013). Da die Medikation nicht randomisiert, sondern nach Indikation gegeben wurde, können keine genaueren Aussagen darüber getroffen werden, ob bzw.
wie sich die eingesetzten Medikamente auf das Strukturniveau ausgewirkt haben.
Es kann lediglich spekuliert werden, dass sie bei einigen Patienten die Verbesserung
des Strukturniveaus möglicherweise mit unterstützt haben.
Fazit für die Praxis
Die Ergebnisse der Untersuchung liefern einen ersten Beleg dafür, dass das manualisierte psychodynamische Behandlungskonzept bei den stationär behandelten jugendlichen Patienten zu einer Verbesserung ihrer strukturellen Fähigkeiten geführt hat. Da die untersuchte Stichprobe jedoch relativ klein war und
die Strukturratings nicht verblindet erfolgten, sollten die Ergebnisse in weiteren
Untersuchungen überprüft werden. Wichtig wäre zudem, in zukünftigen Studien
auch Kontrollgruppendaten zu berücksichtigen, um die spezifische Wirkung der
psychotherapeutischen Behandlung auf die strukturellen Veränderungen noch
besser absichern zu können.
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Korrespondenzanschrift: Dipl.-Psych. Carola Cropp, Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn, 37124 Rosdorf; E-Mail: [email protected]
Carola Cropp, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn; Simone Salzer, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, GeorgAugust-Universität Göttingen; Annette Streeck-Fischer, International Psychoanalytic University, Berlin
Frühe Hilfen und kindliche kognitive Entwicklung:
Eine längsschnittliche Pilotuntersuchung psychosozial
belasteter Mutter-Kind-Paare in der frühen Kindheit
Annabel Zwönitzer, Ute Ziegenhain, Ina Bovenschen, Melanie Pillhofer,
Gottfried Spangler, Jennifer Gerlach, Sandra Gabler, Heinz Kindler, Jörg M. Fegert
und Anne Katrin Künster
Summary
Early Intervention and Cognitive Development: A Longitudinal Study with Psychologically
Stressed Mother-Child-Dyad during Early Childhood
Early intervention programs aiming at developing parents’ relationship and parenting skills and
supporting young families have become increasingly established in Germany throughout the last
decade. The present longitudinal study analyzed 53 children and their mothers receiving early intervention due to their psychosocially highly challenging life situations and personal circumstances. The children were examined at birth and at an age of twelve months as well as between ages two
and four. The results revealed that the child’s cognitive development could be predicted by both
maternal sensitivity and mother’s psychosocial stress. However, the amount, type, and intensity of
early intervention did not have any effect on the child’s development. In terms of the effectiveness
of early interventions the results implicate that interventions seems to be offered in an unspecific
manner and does not contribute to an improvement of the child’s developmental status.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 340-353
Keywords
early intervention – child protection – early childhood – maternal sensitivity – child’s cognitive
development
Zusammenfassung
Frühe Hilfen zur Förderung elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen und Entlastung junger Familien sind zunehmend etabliert. In der hier vorgestellten Pilotuntersuchung
wurden 53 Kinder und ihre Mütter, die aufgrund ihrer psychosozial hoch belasteten Lebenslage Frühe Hilfen erhielten, kurz nach der Geburt, zum ersten Geburtstag sowie zwischen
zwei und vier Jahren untersucht. Es zeigte sich, dass die Anzahl erhaltener Unterstützungsmaßnahmen und die Art bzw. Intensität der empfangenen Hilfen in keinem signifikanten
Zusammenhang mit der kindlichen Entwicklung standen. Die kognitive Entwicklung der
Kinder wurde sowohl durch die Feinfühligkeit der Mutter als auch durch die subjektiv empfundene Belastung der Mütter vorhergesagt. In Bezug auf die Wirksamkeit der Frühen Hilfen
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 340 – 353 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
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Frühe Hilfen und kindliche kognitive Entwicklung 341
zeigt die Studie, dass Frühe Hilfen derzeit eher unspezifisch angeboten werden und nicht in
jedem Fall zu einer Verbesserung der kindlichen kognitiven Entwicklung beitragen.
Schlagwörter
Frühe Hilfen – Kinderschutz – frühe Kindheit – mütterliche Feinfühligkeit – kognitive
Entwicklung
1
Frühe Hilfen und Kinderschutz
Frühe Hilfen sind niedrigschwellige und präventive Unterstützungs- und Versorgungsangebote für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern. Sie entstanden in der Folge
verschiedener tragischer Kinderschutzfälle in Deutschland. Frühe Hilfen umfassen
zum einen lokale Vernetzungsstrukturen und zum anderen den Auf- und Ausbau
eines breiten und interdisziplinär zusammengesetzten Angebotsrepertoires.
Letzteres besteht aus Leistungen der Regelversorgung, ergänzt durch spezifische Angebote und Kooperationen zwischen unterschiedlichen Leistungserbringern wie der
Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen, der Frühförderung oder der Sozialhilfe. Frühe Hilfen umfassen sowohl niedrigschwellige, universell präventive als auch
spezifische, selektiv präventive Angebote für psychosozial belastete Familien. Diese
Angebote sollten sich idealerweise aufeinander beziehen und ergänzen (Walper, Franzkowiak, Meysen, Papoušek, 2009). Hier sind überwiegend multiprofessionell angelegte
und passgenaue Hilfen notwendig (Ziegenhain et al., 2010; Ziegenhain, 2012).
Ein konzeptueller Schwerpunkt Früher Hilfen sind Angebote zur frühen Förderung
elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen. Sie werden gewöhnlich über die
Qualität elterlichen feinfühligen Verhaltens operationalisiert. Diese gilt als wichtiger
Einflussfaktor für die Entwicklung sozial-emotionaler und sozial-kognitiver Kompetenzen bei Kindern (Bakermans-Kranenburg, van IJzendorn, Juffer, 2003; Minde
u. Minde, 1997; Petermann u. Petermann, 2006). Zudem steht die mütterliche Feinfühligkeit mit der Entwicklung des IQ bis zum Grundschulalter im Zusammenhang
(Blohmeyer, Laucht, Pfeiffer, Reuß, 2010).
Erziehungs- und Beziehungskompetenzen von Eltern lassen sich dimensional auf
einem Kontinuum von sehr gutem bis extrem gefährdendem Verhalten abbilden. Eltern
am oberen Ende des Kontinuums erfüllen die Bedürfnisse des Kindes feinfühlig, Eltern
am unteren Ende des Kontinuums misshandeln und vernachlässigen ihre Kinder (Ziegenhain, 2008). Letztere Verhaltensweisen lassen sich gehäuft und ausgeprägt bei Eltern
in Hochrisikosituationen beobachten (Crittenden, 1981, 1992; Ziegenhain, 2004).
Angebote spezifischer Förderung feinfühligen Verhaltens sind noch nicht systematisch
und flächendeckend als Angebote Früher Hilfen in Deutschland implementiert. Eine erfolgversprechende Entwicklung zeigte sich allerdings in den letzten Jahren in der Etablierung bindungstheoretischer Konzepte und Forschungsergebnisse in die beraterische
342 A. Zwönitzer et al.
und therapeutische Praxis. Es entstanden zahlreiche präventive Interventionsansätze, die
spezifisch Feinfühligkeit bzw. eine sichere Bindung fördern (Ziegenhain, 2004; Berlin, Zeanah, Lieberman, 2008). Diese Ansätze sind manualisiert und entsprechen den Leitlinien
präventiver Intervention, die theoriegeleitet und ressourcenorientiert vorgehen und evaluiert sind (Cicchetti u. Hinshaw, 2002; Luthar u. Cicchetti, 2000; Berlin, 2005). Im Rahmen des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ wurden Programme wie STEEP (Egeland u. Erickson, 2004) oder das Nurse
Family Partnership Programm (NFP; Olds, Kitzman, Cole, Robinson, 1997) als Projekt
„Pro Kind“ im Rahmen von Modellprojekten auf deutsche Verhältnisse übertragen und
in ihrer Wirksamkeit erprobt (Brand u. Jungmann, 2013; Suess, Bohlen, Mali, Frumentia
Maier, 2010). Ein weiteres Programm ist „Keiner fällt durchs Netz“ mit der Evaluationsstudie „Frühe Interventionen für Familien – PFIFF“ (Sidor, Kunz, Schweyer, Eickhorst,
Cierpka, 2011). Die Entwicklungspsychologische Beratung (Ziegenhain, Fries, Bütow,
Derksen, 2004), für die zu Beginn des Aktionsprogramms bereits erfolgreiche „Feasibility-Studien“ und erste Evaluationsergebnisse vorlagen (Ziegenhain, Derksen, Dreisörner,
2004), wurde im Rahmen des Bundesmodellprojekts „Guter Start ins Kinderleben“ hinsichtlich ihrer Wirksamkeit evaluiert. Eine Verbesserung mütterlichen feinfühligen Verhaltens während der Intervention für hoch belastete Mütter in der Interventionsgruppe
konnte im Vergleich mit einer Kontrollgruppe belegt werden. Bei der Follow-Up Erhebung zeigten sich die Effekte nicht mehr (Bovenschen et al., 2012; Pillhofer et al., 2015).
Verglichen mit der umfangreichen internationalen Literatur ist die Datenlage über die
in Deutschland erprobten Programme noch lückenhaft (Taubner, Munder, Unger, Wolter, 2013). Es gibt zwar Effektivitätsstudien zu spezifischen Programmen Früher Hilfen
(Taubner et al., 2013) und zu Programmen zur Förderung der Elternkompetenzen (z. B.
Heinrichs, Kilem, Hahlweg, 2014; Schneewind u. Berkic, 2007), bislang fehlen jedoch
systematische Informationen darüber, wie die wachsenden Angebote Früher Hilfen jeweils relativ zu den individuellen Bedürfnissen von jungen Familien und ihren Problemlagen passgenau und interdisziplinär zusammengestellt werden und inwieweit sie dazu
beitragen, die Entwicklung des Kindes zu fördern. Letztere ist zentrales Kriterium für
den Erfolg bzw. die Wirksamkeit Früher Hilfen. Die kognitive Entwicklung gilt dabei als
besonders bedeutsamer Faktor für die Voraussage des Lebenserfolgs (Pauen, 2012).
Im Rahmen der hier berichteten Studie wurden psychosozial belastete Familien
und ihre Kinder nachuntersucht, die zuvor im Bundesmodellprojekt „Guter Start ins
Kinderleben“1 von der Geburt bis zum Ende des ersten Lebensjahres begleitet wurden
(Bovenschen et al., 2012; Pillhofer et al., 2015). Ziel der hier zu berichtenden Nachuntersuchung („Nachhaltige Wirkung Früher Hilfen“2) war es zu erfassen, welche Unterstüt1 Das Modellprojekt entstand unter gemeinsamer Initiative und Förderung der Bundesländer
Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Thüringen, die wissenschaftliche Evaluation
wurde vom BMFSFJ und dem NZFH gefördert.
2 Das Projekt „Nachhaltige Wirkung Früher Hilfen“ wurde vom „Nationalen Zentrum Früher Hilfen“ (NZFH) gefördert.
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Frühe Hilfen und kindliche kognitive Entwicklung 343
zungsangebote die Familien nach dem Ende des Modellprojektes erhielten und wie sich
die mütterliche Belastung im weiteren Verlauf entwickelt hatte. Überprüft wurde, inwieweit die Inanspruchnahme Früher Hilfen mit Vorteilen in der kognitiven bzw. mentalen
Entwicklung der Kinder (z. B. manuelles Explorieren, Sprachentwicklung, Vokalisation,
Problemlösen) einherging bzw. ob und in welchem Umfang Belastungen und Feinfühligkeit der Mutter mit diesem Aspekt der kindlichen Entwicklung zusammenhing.
2
Methoden
2.1 Ablauf der Untersuchung
Diese Nachuntersuchung basiert auf der Stichprobe des längsschnittlichen Modellprojekts „Guter Start ins Kinderleben“ (N = 113; Kontrollgruppe = 36,3 %; Interventionsgruppe = 63,7 %), das von 2007 bis 2011 durchgeführt wurde. In der Studie erhielten zwei Drittel der teilnehmenden Mütter Entwicklungspsychologische
Beratung. Diese wurde von zuvor trainierten Fachkräften in unterschiedlichen Systemen der Regelversorgung durchgeführt. Die übrigen Mütter erhielten reguläre
Jugendhilfe- bzw. Gesundheitsleistungen (Treatment as Usual; Bovenschen et al.,
2012; Pillhofer et al., 2015). Einschlusskriterien waren die folgenden Risikofaktoren:
Jugendliche Mutter, psychosoziale Probleme, mütterliche psychische Erkrankung,
Migrationshintergrund, kindliche Entwicklungsrisiken. Die ursprünglich geplante
Randomisierung in eine Interventions- und Kontrollgruppe konnte nur teilweise
durchgeführt werden. Gründe lagen in ethischen Bedenken der Beraterinnen bzw.
in fehlenden indizierten Angeboten (Pillhofer et al., 2015).
Für die Nachuntersuchung konnten 46,9 % der Mutter-Kind-Paare erneut gewonnen werden (41,5 % aus der ehemaligen Kontrollgruppe und 58,5 % aus der Interventionsgruppe). Die Mütter wurden schriftlich und telefonisch kontaktiert, häufig über
vorherige Melderegisterauskünfte. Zudem wurden frühere Kontakte mit dem Helfersystem (z. B. die Beraterinnen der Entwicklungspsychologischen Beratung) genutzt,
um Familien zu kontaktieren.
Für die Analysen wurden neben der im Rahmen der Nachuntersuchung erhobenen
Daten die Daten aus der Studie „Guter Start ins Kinderleben“ (Bovenschen et al., 2012;
Pillhofer et al., 2015) kurz nach der Geburt sowie zum ersten Geburtstag des Kindes
herangezogen.
2.2 Beschreibung der Untersuchungsgruppe
Nachuntersucht wurden 53 Mütter mit ihren Kleinkindern (24 Jungen (45,3 %), 29
Mädchen (54,7 %), durchschnittlich 35.2 Monate alt (SD = 10.0; Alter der Mütter
zur Geburt M = 26.1 Jahre, SD = 6.78; Alter zur Nachuntersuchung M = 28.5, SD =
6.7). Zum Zeitpunkt der Geburt lebten N = 35 (66 %) der Mütter alleine und 34 %
344 A. Zwönitzer et al.
mit ihrem Partner zusammen. Zum letzten Messzeitpunkt lebten 32,1 % (N = 17)
alleine und 66 % (N = 35) mit einem Partner.
Die Gruppe der nachuntersuchten Mütter und Kinder unterschied sich nicht statistisch signifikant von der ursprünglichen Gruppe hinsichtlich soziodemografischer
Angaben und Belastungskennwerte. Ebenso zeigten sich keine Unterschiede zwischen
den Müttern mit und denen ohne Entwicklungspsychologischer Beratung (Ziegenhain et al., 2013).
2.3 Instrumente
Zur Entwicklungsdiagnostik wurden die Bayley Scales of Infant Development
II (Bayley-II; Reuner, Rosenkranz, Pietz, Horn, 2007) sowie der ET 6-6 (Petermann, Stein, Macha, 2004) verwendet. Der Bayley-Test dient zur Einschätzung
des Entwicklungsstandes eines Kindes zwischen 1 und 42 Monaten. In der hier
beschriebenen Studie wurde nur die Skala zur kognitiven bzw. mentalen Entwicklung (Mental Scale, MDI) herangezogen. Die Skala enthält Aufgaben zum Problemlösen, zur manuellen Exploration, zum Sprachverhalten und Sozialverhalten
und zur Vokalisation.
Der Entwicklungstest ET 6-6 (Petermann et al., 2004) lässt sich von sechs Monaten
bis sechs Jahren durchführen und ist ökonomisch einsetzbar. Erstellt wird ein Entwicklungsprofil im Vergleich zu Kindern einer Normstichprobe. Der ET 6-6 wurde
in der vorliegenden Arbeit für diejenigen Kinder verwendet, die älter als 42 Monate
waren und damit nicht mehr mit dem Bayley-II getestet werden konnten. Die Skalen
Gedächtnis, Handlungsstrategien, Kategorisieren, Körperbewusstsein, rezeptive Sprache, Sozialentwicklung und emotionale Entwicklung wurden – entsprechend denen
im Bayley-II – verwendet. Für die Analysen wurden die Ergebnisse der Skalen des ET
6-6 und der MDI des Bayley-II z-transformiert.
Der „Interviewleitfaden zur Inanspruchnahme weiterführender Hilfen“ (Zwönitzer,
Ziegenhain, Künster, 2012) erfasste, welche Unterstützung und Leistungen die Familien seit der Geburt des Kindes bis zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung im Bereich
der Kinder- und Jugendhilfe, des Gesundheitswesens oder finanzieller Art erhalten
hatten. Zudem wurden der Umfang und die Häufigkeit der Leistungen analysiert. Diese wurden durch die Eltern eingeschätzt und gegebenenfalls durch weitere Informationen aus vorliegenden Jugendamtsakten ergänzt.
Die mütterliche psychische Belastung wurde mit der ADS-L (Hautzinger u. Bailer,
1993), dem BSI (Franke, 2000) und dem EBSK (Deegener, Spangler, Körner, Becker,
2009) zu allen Messzeitpunkten erfasst. Die Allgemeine Depressionsskala ADS-L ist ein
Selbstbeurteilungsverfahren mit 20 Items. Erfasst werden das Vorhandensein und die
Dauer von Beeinträchtigungen durch depressive Affekte, körperliche Beschwerden,
motorische Hemmung und negative Denkmuster (0 bis zu maximal 60 Punkte, Werte
von 23 und höher werden als klinisch auffällig bezeichnet; interne Konsistenz α = .89.92; Hautzinger u. Bailer, 1993).
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Frühe Hilfen und kindliche kognitive Entwicklung 345
Das Brief Symptom Inventory (BSI) ist ein Selbstbeurteilungsverfahren, das die
subjektiven Beeinträchtigungen durch körperliche und psychische Symptome in der
vergangenen Woche erfasst. Auf neun Skalen mit 53 Items werden Symptome im Bereich Somatisierung, Zwanghaftigkeit, Unsicherheit im Sozialkontakt, Depressivität,
Ängstlichkeit, Aggressivität/Feindseligkeit, phobische Angst, paranoides Denken und
Psychotizismus erfragt. Für die hier berichteten Analysen wurde der Globale Kennwert (Global Severity Index, GSI) verwendet. Als klinisch auffällig gelten T-Werte von
63 oder höher im GSI oder bei mindestens zwei der neun Unterskalen. Die interne
Konsistenz liegt bei α = .83-.90 (Franke, 1997).
Das Eltern-Belastungs-Screening zur Kindeswohlgefährdung (EBSK) ist die deutsche verkürzte Version des Child Abuse Potential Inventory (CAPI; Milner, 1994). Die
Skala erfasst relevante Risikofaktoren für abweichendes Elternverhalten und bildet die
elterliche Belastung ab. Werte von 161 und höher gelten als leichte, ab 185 als starke
und ab 207 als sehr hohe Belastung. Die interne Konsistenz liegt bei α = .91 (Deegener
et al., 2009).
Der CARE-Index (Crittenden, 2005) ist ein Beobachtungsverfahren zur Einschätzung der Qualität der Mutter-Kind-Interaktion. Trainierte und durch die Autorin des
Verfahrens zertifizierte Auswerterinnen, die nicht selbst am Projekt beteiligt waren,
analysierten drei- bis fünfminütige Videoaufnahme einer freien Spielsituation. Bei einer möglichen Vergabe von 14 Punkten entsprechen 0-4 dem Hochrisikobereich, 5-6
dem Interventionsbereich, 7-14 dem Normbereich. Die Intraklassen-Korrelation der
Auswerterinnen bezüglich der Feinfühligkeit der Mutter wurde anhand von zehn zufällig ausgewählten Interaktionsvideos pro Messzeitpunkt berechnet und lag zwischen
.74 und .87.
Es handelte sich bei allen Instrumenten bis auf den Fragebogen zur Inanspruchnahme der Hilfen um validierte Instrumente (Franke, 1997; Deegener et al., 2009; Künster,
Fegert, Ziegenhain, 2010; Hautzinger u. Bailer, 1993).
3
Ergebnisse
3.1 Die kindliche kognitive Entwicklung
Es zeigte sich, dass 34 % aller Kinder im Vergleich zu den Normwerten eine unterdurchschnittliche kognitive Entwicklung mindestens zwei Standardabweichungen
unter dem Mittelwert der Normstichprobe aufwiesen. Die übrigen 66 % der Kinder
zeigten eine normal bis überdurchschnittliche kognitive Entwicklung.
3.2 Darstellung der in Anspruch genommenen Unterstützungsangebote
Tabelle 1 zeigt, welche Hilfen und Unterstützungsangebote die Familien seit der Geburt erhalten hatten.
346 A. Zwönitzer et al.
Tabelle 1: Inanspruchnahme von Hilfsangeboten, Zufriedenheit und Intensität
Anteil der
Familien,
die Hilfe in
Anspruch
genommen
haben
Erziehungs- und
Familienberatungsstelle
psychologische Beratungsstelle
Wie hilfreich wurde
sie empfunden? (1 =
gar nicht,
10 = sehr);
M (SD)
7.6 (1.76)
N=8
6.0 (3.42)
N=8
Häufigkeit der
Inanspruch­
nahme
(absolut)
M (SD)
Dauer der
Inanspruch­
nahme in
Monaten
M (SD)
138.3 (213.1)
N=7
12.5 (12.63)
N=7
32.8 (33.6)
N=8
15.0 (15.7)
N=5
0 % (0)
32.1 % (17)
7.8 (2.3)
N = 13
36.7 (34.4)
N = 12
27.5 (5.9)
N = 10
18.9 % (10)
17.0 % (9)
Suchtberatungsstelle
Frühförderung (z. B. Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Frühförderstelle, SPZ, Inanspruchnahme von Rehabilitations- und Nachsorgeangebote
Finanzielle Hilfen (z. B. Erstausstattung,
Unterhaltsvorschuss, Wohngeld,
Sozialhilfe)
Kindertagesbetreuung
52.8 % (28)
8.6 (2.0)
N = 23
7.6 (10.4)
N = 18
20.0 (12.9)
N = 16
58.5 % (31)
9.2 (1.7)
N = 27
18.2 (16.3)
N = 23
Angebote der Familienbildung
35.8 % (19)
Selbsthilfegruppen oder Elterntreffs
11.3 % (6)
Hilfen vom Jugendamt
(z. B. Beratung, SPFH, Mutter-KindEinrichtung, Familienbeistandschaft)
psychologische oder psychiatrische
Hilfen für die Mutter
psychologische oder psychiatrische
Hilfen für das Kind
Eltern-Kind-Kur
47.2 % (25)
7.8 (2.5)
N = 18
8.0 (2.0)
N=5
7.9 (2.3)
N = 18
49.1 % (26) tägl.
5.7 % (3)
1 x pro Woche
57.5 (77.7)
N = 17
129.1 (208.7)
N=6
142.7 (137.7)
N = 11
9.8 (8.9)
N = 16
24.0 (31.0)
N=6
28.8 (15.2)
N = 22
7.6 (2.5)
N=9
9.25 (1.5)
N=4
9.2 (1.3)
N=5
9.1 (1.9)
N = 30
46.3 (40.5)
N=9
17.0 (22.5)
N=3
1.0 (0)
N=5
131.8 (147.8)
N = 15
20.6 (17.0)
N=9
29.5 (29.2)
N=5
0.8 (0.1)
N=5
27.8 (16.2)
N = 21
7.1 (2.4)
N=3
70.6 (75.2)
N=3
12.6 (20.2)
N=3
22.6 % (12)
9.4 % (5)
9.4 % (5)
Nachbarschaftshilfe, Patenschaftsmodelle, 60.4 % (32)
soziale Unterstützung durch nichtprofessionelle Personen wie Freunde,
Verwandte
Sonstige (z. B. Kinderschutzbund, Haus- 11.3 % (6)
haltshilfe, Schwangerenberatung)
Alle Familien gaben an, irgendeine Form der Unterstützung in Anspruch genommen zu haben. Im Mittel entfielen 4.72 Hilfeformen auf eine Familie (SD = 2.25).
Insgesamt empfanden die Mütter die Hilfen und Angebote, die sie nutzten, als eher
hilfreich (M = 6.14; SD = 2.11).
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Frühe Hilfen und kindliche kognitive Entwicklung 347
3.3 Die mütterliche Belastung und Feinfühligkeit im Verlauf
Tabelle 2 gibt einen Überblick über die mütterliche Belastung und Feinfühligkeit im
Verlauf der drei Messzeitpunkte.
Tabelle 2: Deskriptive Darstellung der mütterlichen Belastung und Feinfühligkeit im Verlauf
Eltern-Belastungsscreening zur
Kindeswohlgefährdung (EBSK)
Psychische Belastung der Mütter (BSI)
Depressivität der Mütter (ADS)
Feinfühligkeit der Mütter (CARE-Index)
Geburt
M (SD)
165.6 (26.2)
12 Monate
M (SD)
168.8 (29.4)
Nachuntersuchung
M (SD)
168.2 (29.9)
54.2 (13.0)
14.,5 (8.8)
6.3 (2.5)
51.35(13.8)
11.9 (9.0)
6.5 (2.0)
52.7 (14.3)
12.9 (9.5)
7.5 (2.3)
Die Ergebnisse zeigen, dass es sich um eine hoch belastete Untersuchungsgruppe
handelt. Klinisch relevante Werte hinsichtlich Depressivität zeigten sich bei 15-17
%, hinsichtlich der allgemeinen psychischen Belastung waren es sogar 30,2 bis 41,5
% aller befragten Mütter. Im EBSK schätzen sich über die Hälfte der Mütter als belastet ein. Generell zeigte sich eine moderate bis hohe Stabilität der Belastungskennwerte über die drei Messzeitpunkte hinweg. Nur hinsichtlich der Entwicklung der
Feinfühligkeitswerte zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen den einzelnen
Messzeitpunkten (Varianzanalyse mit Messwiederholung; F(2,98) = 6.06; p < .01). PostHoc Analysen ergaben, dass sich die Feinfühligkeit der Mütter nur im Vergleich
zwischen den Werten zur Geburt und der Nachuntersuchung signifikant unterschieden (t = -3.26 (51); p < .01).
3.4 Vorhersage der kindlichen kognitiven Entwicklung
Die Entwicklung des Kindes wurde hinsichtlich möglicher Einflussfaktoren (soziodemografische Angaben, mütterliche Belastung und Feinfühligkeit) untersucht. Da
die Stichprobe sehr klein war, wurden nur die Variablen in das Regressionsmodell
mit aufgenommen, die signifikant mit der kognitiven Entwicklung korrelierten. Sowohl die mütterliche Belastung (EBSK) (r = .38, p = .00; N = 50) als auch die mütterliche Feinfühligkeit zum ersten Geburtstag des Kindes (r = .29, p < .05; N = 51)
sowie zur Nacherhebung (r = .29, p < .05; N = 52) standen in einem signifikanten
Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung der Kinder und wurden als unabhängige Variablen in das Regressionsmodell aufgenommen. Es zeigten sich keine
systematischen Zusammenhänge mit der Anzahl, der Dauer der erhalten Hilfen (s.
Tab. 3, folgende Seite) oder spezifischen Hilfeformen.
Es wurde ein schrittweises Vorgehen gewählt, um eine Vorhersage der kognitiven
Entwicklung zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung zu ermöglichen. Das Regressionsmodell wurde mit F(1.45) = 6.97 signifikant. Die kognitive Entwicklung wurde signifikant
348 A. Zwönitzer et al.
durch den Belastungsgrad der Mütter (B = -.01, Beta = -.319, p = .02) und tendenziell
durch die Feinfühligkeit der Mütter zum ersten Geburtstag des Kindes (B = .114; Beta =
.239, p = .08) vorhergesagt. Es zeigte sich, dass eine geringe mütterliche Belastung und
eine hohe Feinfühligkeit zu einem positiven kognitiven Entwicklungstand beitrugen.
Das Modell erklärt insgesamt 18,6 % der Gesamtvarianz.
Tabelle 3: Interkorrelationsmatrix kognitive Entwicklung
CARE-Index
ADS
BSI
EBSK
Summe Hilfen
Dauer Hilfen
T1
-.02
-.14
-.12
-.24
T5
.29*
-.08
-.17
-.23
T6
.29*
-.26
-.18
-.38**
-.01
-.07
Anmerkung: * < .05; ** < .01
4
Diskussion
Im Rahmen der hier berichteten Studie wurde die Inanspruchnahme von Hilfen
und Leistungen junger Familien in den sogenannten Frühen Hilfen im Zusammenhang mit Belastungen und feinfühligem Verhalten der Mutter sowie der kognitiven
Entwicklung des Kindes von seiner Geburt über die ersten anderthalb Lebensjahre
bis zu fünf Jahren analysiert.
Sowohl die Begleitung von mehr als hundert Familien im Bundesmodellprojekt
„Guter Start ins Kinderleben“ als auch die Nachuntersuchung von 53 Familien fand
vor dem Hintergrund der heterogenen und noch wenig systematischen Unterstützung
und Versorgung in den Frühen Hilfen statt. Frühe Hilfen sind nach wie vor in ihrer
Qualität und im Tempo ihrer Implementierung lokal sehr unterschiedlich.
Hinsichtlich der Inanspruchnahme von Hilfen zeigte sich, dass alle befragten Familien auch nach Ende des Modellprojektes Hilfen in Anspruch genommen hatten und
die Unterstützung als hilfreich bezeichneten. Es wurden vor allem Angebote der Kindertagesbetreuung, des Jugendamtes sowie finanzieller Art in Anspruch genommen.
Insgesamt zeigte sich, dass bei zwei Dritteln der Kinder ihre kognitive Entwicklung
zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung im Normalbereich lag. Es zeigte sich allerdings
auch, dass sie bei einem Drittel der Kinder unterdurchschnittlich war. Des Weiteren
waren einige Kinder immer noch Risikofaktoren wie einer geringen Feinfühligkeit
oder einer starken psychischen Belastung ihrer Mütter ausgesetzt. Zudem hatten sich
die psychischen Belastungen der Mütter seit der Säuglingszeit bis zur Nachuntersuchung im Mittel nicht wesentlich verändert.
Feinfühligkeit und Belastung der Mütter waren zentrale Prädiktoren der kognitiven
Entwicklung beim Kind. Sie lassen sich also als geeignete Ansatzpunkte für Frühe Hil-
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Frühe Hilfen und kindliche kognitive Entwicklung 349
fen bestätigen. Der Zusammenhang zwischen mütterlicher Feinfühligkeit und dem
kognitiven Entwicklungsstand des Kindes zeigte sich ebenfalls in anderen deutschen
Studien (Blomeyer et al., 2010; Ziegenhain, Müller, Rauh, 1996). Weiter hatte die Feinfühligkeit der Mütter seit der Geburt signifikant zugenommen und lag im Mittel nun
im adäquaten bis feinfühligen Bereich. Es zeigte sich jedoch kein systematischer Zusammenhang zwischen der Anzahl, der Dauer und/oder Intensität der Hilfen und der
kognitiven Entwicklung beim Kind.
Positiv zusammenfassen lässt sich, dass immerhin zwei Drittel der untersuchten
Kinder zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung gut entwickelt waren und sich die
Mütter überwiegend feinfühlig verhielten. Eher wenig zufriedenstellend ist, dass die
in Anspruch genommenen Hilfen die Entwicklung des Kindes nicht systematischer
beeinflussten. Dies darf allerdings nicht als Beleg für eine nicht gegebene Effizienz
missverstanden werden. Ein fehlender (negativer) Zusammenhang zwischen der Inanspruchnahme von Hilfen und Leistungen und der kognitiven Entwicklung könnte
sogar einen gewissen Erfolg darstellen, nämlich dann, wenn sich die Risiken bzw. Problembereiche der Familien im Verlauf verändert hatten und die Hilfen in Intensität
und Dauer daran ausgerichtet wurden. Allerdings wird durch diese unklaren Ergebnisse die auch schon von anderen Autoren geäußerte Notwendigkeit der Wirksamkeits- und Qualitätsforschung im Bereich Früher Hilfen (Jungmann u. Brand, 2012)
noch einmal betont. Zudem muss berücksichtigt werden, dass messbare Effekte bezüglich der kognitiven Entwicklung, besonders im Risikobereich, markante Veränderungen voraussetzen, die sich unter Umständen erst zu einem sehr viel späteren
Zeitpunkt in der kindlichen Entwicklung niederschlagen (Rauh, 2007).
Limitierend müssen die kleine Größe der Untersuchungsgruppe, die hohe DropOut-Rate sowie das Fehlen einer Kontrollgruppe bestehend aus Familien, die gar keine Leistungen aus dem Bereich der Frühen Hilfe erhalten haben, genannt werden.
Zudem wurde nur die mütterliche Feinfühligkeit in die Studie mit einbezogen, nicht
jedoch der Einfluss des väterlichen Interaktionsverhaltens. In weiterführenden Studien sollte daher auch der Einfluss anderer Bezugspersonen wie der der Väter mitberücksichtigt werden.
Die hohe Drop-Out-Rate von über 50 % im Verlauf lässt sich eventuell darauf zurückführen, dass die Nachuntersuchung nicht von Beginn an geplant, sondern erst
nach Abschluss der ersten Studie initiiert und mit einem größeren zeitlichen Abstand
durchgeführt wurde. Eine kontinuierliche „Pflege“ der Untersuchungsgruppe war
nicht möglich. Zum anderen handelte es sich bei den Teilnehmenden um psychosozial stark belastete Familien, die teilweise aufgrund zahlreicher Umzüge nicht mehr
erreicht werden konnten. Es zeigten sich jedoch keine Hinweise auf einen selektiven
Drop-Out, die Belastungskennwerte zwischen dem Teil der Untersuchungsgruppe,
der an der Nachuntersuchung teilnahm und dem, der nicht erneut teilnahm, unterschieden sich nicht signifikant.
Der Befund der zunehmenden mütterlichen Feinfühligkeit im Verlauf kann mithilfe
der vorliegenden Daten nicht eindeutig erklärt werden. Mögliche Erklärungen wären
350 A. Zwönitzer et al.
unspezifische aber ähnliche Effekte sehr unterschiedlicher Früher Hilfen, das sehr weit
gefasste Konzept der Intensität von Hilfen in dieser Studie oder ein Stichprobeneffekt,
der auf die kleine Untersuchungsgruppe zurückzuführen wäre.
Mit der vorliegenden Studie wurde ein erster Schritt zur Untersuchung des Versorgungssystems Frühe Hilfen gemacht. Weitere Studien sollten analysieren, inwieweit
lokale Versorgungssysteme systematisch und passgenau auf Risiko- und Bedarfslagen
bei Familien reagieren und sich in der Folge risikoadjustiert unterschiedliche Entwicklungsverläufe zeigen. Besonders wichtig erscheint dabei die Entwicklung von Standards und Leitlinien. Dazu gehört etwa die Anwendung empirisch abgesicherter und
standardisierter Verfahren wie Screeninginstrumente für die Risiko- und Ressourceneinschätzung ebenso wie die systematische und kompetente Berücksichtigung von Interaktionsdiagnostik als zentrales Instrument und Voraussetzung dafür, Angebote zur
Förderung elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen gezielt anzubieten
und deren Wirksamkeit im Einzelfall zu überprüfen. Zudem geht es darum, dass die
diagnostischen Informationen Eingang in die passgenaue Hilfeplanung finden und
alle Schritte in der Unterstützung und Förderung von Familien aus der Perspektive des
individuellen Kindes heraus gedacht und geplant werden müssen. Risiken ebenso wie
Ressourcen, unterschiedliche interdisziplinäre Hilfen, unterschiedliche niedrig- oder
hochschwellige Hilfen, stehen nicht für sich allein, sondern sind immer daraufhin
abzuwägen, wie sie in ihrer unmittelbaren oder indirekten Wirkung den jeweiligen
(Entwicklungs-)Bedürfnisse des Kindes entsprechen.
Fazit für die Praxis
Die hier vorgestellten Ergebnisse könnten erste vorläufige Hinweise auf die Bedeutsamkeit Früher Hilfen liefern. Die Ergebnisse dieser Untersuchungsgruppe zeigten,
dass Unterstützungsangebote früh ansetzten und Familien erreichen konnten, die
hohe Belastungen bzw. viele Risikofaktoren aufwiesen. Die Familien erhielten also
frühzeitig vielfältige Hilfsangebote und waren zudem sehr zufrieden mit diesen.
Dabei schien sich insbesondere die frühe mütterliche Feinfühligkeit sowie das
Ausmaß an psychischer Belastung auf die kindliche Entwicklung auszuwirken.
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die frühe Unterstützung und die Förderung
mütterlicher Feinfühligkeit weiter vorangetrieben werden sollte, z. B. indem die Interaktionsdiagnostik als Instrument zur Hilfeplanung und Intervention vermehrt
herangezogen wird.
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Frühe Hilfen und kindliche kognitive Entwicklung 351
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Korrespondenzanschrift: Annabel Zwönitzer, Universitätsklinik Ulm, Klinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Steinhövelstr. 5, 89075 Ulm;
E-Mail: [email protected]
Annabel Zwönitzer, Ute Ziegenhain, Melanie Pillhofer, Jörg M. Fegert und Anne Katrin Künster, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm; Ina Bovenschen, Gottfried Spangler, Jennifer Gerlach und Sandra Gabler, Institut für Psychologie, Universität Erlangen-Nürnberg; Heinz
Kindler, Deutsches Jugendinstitut München
AUS KLINIK UND PRAXIS
Multi-Familien-Gruppen in der Jugendhilfe
Matthias Ochs, Björn Enno Hermans und Anke Lingnau-Carduck
Summary
Multi-Family-Groups in Youth Welfare
Multi-Family-Groups are an intervention setting, that is mainly applied in the context of systemic therapy and counselling. In this article we introduce some basics of that setting and
sketch some specifics and two examples of use for the application in the context of youth
welfare.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 354-370
Keywords
Multi-Family-Groups – youth welfare – systemic therapy and counselling – Family Therapy
Zusammenfassung
Multi-Familien-Gruppen stellen ein methodisches Setting dar, das vor allem im Kontext systemischen Arbeitens Anwendung findet. In diesem Artikel soll in einige grundlegende Aspekte und Besonderheiten dieser Methode eingeführt sowie Anwendungsbeispiele und eine
Kasuistik im Kontext der Jugendhilfe zur Veranschaulichung skizziert werden.
Schlagwörter
Multi-Familien-Gruppen – Jugendhilfe – Systemische Therapie und Beratung – Familientherapie
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 354 – 370 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
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1
Multi-Familien-Gruppen in der Jugendhilfe 355
Hintergrund
Multi-Familien-Gruppen (MFG)1 stellen ein Gruppensetting dar, das vor allem im
Kontext systemischen Arbeitens2 in den Anwendungsfeldern der Heilkunde sowie
der Jugendhilfe umgesetzt wird. Ein guter Überblick zu Multifamiliengruppentherapie ist bei Asen (2002), zur Anwendung in Deutschland bei Born (2012) und zu unterschiedlichen Anwendungsfeldern bei Asen und Scholz (2008) zu finden.3 „Multifamilientherapeutischen Interventionen ist gemeinsam, dass mehrere Familien mit
ähnlichen Problemlagen an einer Gruppentherapie mit dem Ziel der Symptomreduktion und Konfliktlösung“ teilnehmen (Born, 2012, S. 168).
1.1 Heilkunde
Von Sydow (2015) berichtet, dass im Kontext der Heilkunde über 40 RCT-Studien zur
Wirksamkeit von Multi-Familien-Therapie (MFT) sowohl für Erwachsene als auch für
Kinder und Jugendliche als Index-Patienten vorliegen. MFT wird hier als Methode dem
psychotherapeutischen Verfahren Systemische Therapie zugeordnet (z. B. Schweitzer,
Schlippe, Ochs, 2007; Schweitzer u. Ochs, 2003; Ochs u. Schweitzer, 2012; Ochs, 2013),
das 2008 auch vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (nach §11 PsychThG) anerkannt wurde.4 Eine Übersicht über die empirische Evidenz von MFG/MFT als Behandlungsverfahren für Kinder und Jugendliche geben zudem McDonell und Dyck (2004).
Die konkreten Störungen und Erkrankungen, die mit diesem Ansatz behandelt werden, sind vielfältig. Ein großes Anwendungsfeld stellen etwa chronische körperliche
Erkrankungen dar (z. B. zu zystrischer Fibrose: Goldbeck u. Babka, 2001; bei pädiatrisch-onkologischen Erkrankungen: Ochs u. Altmeyer, 2006; bei entwicklungsbeeinträchtigten, chronisch kranken und behinderten Kindern: Goll-Kopka, 2009; bei juveniler Diabetes: Spierling u. Mohr, 2014; für einen Überblick s. Steinglass, 1998). Schon
früh wurden MFG zudem im Kontext schwerer psychiatrischer Störungen eingesetzt
(z. B. Hausmann, 1974; Strelnick, 1977; Rossberg et al., 2010; zusammenfassend McFarlene, 2002). Einen besonderen Schwerpunkt – was gerade auch für den Kontext
der Jugendhilfe relevant ist – bildet hierbei die Behandlung der juvenilen Anorexia
Nervosa, die etwa im stationären Setting der universitären Kinder- und Jugendpsychiatrie in Dresden aufbauend auf den Erfahrungen des Marlborough Family Zentrums
1 In der Literatur sind verschiedene Begrifflichkeiten für diese Form des Gruppensettings anzutreffen, wie etwa Multi-Familien-Beratung, MFT, Multi-Familien-Gruppentherapie.
2 Einige Multi-Familien-Gruppen-Konzepte, vor allem im heilkundlichen Kontext, können als Hybride sowohl aus behavioral-psychoedukativen als auch aus systemischen Anteilen betrachtet werden (z. B. Steinglass, 1998; Fristad, Gavazzi, Soldano, 1998; MacPherson, Leffler, Fristad, 2014).
3 Es existieren zudem die Bundesarbeitsgemeinschaft MFT e. V. (www.bag-mft.de), sowie die eine
Fachgruppe Multifamilientherapie (MFT) in der DGSF (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie e. V.): www.dgsf.org/ueber-uns/gruppen/fachgruppen/mft
4 www.wbpsychotherapie.de/page.asp?his=0.113.134.135
356 M. Ochs et al.
in London (Asen, Dawson, McHugh, 2001) entwickelt wurde (Scholz u. Asen, 2001;
Scholz, Rix, Hegewald, Gantchev, 2003; Scholz, Rix, Scholz, Gantchev, Thömke, 2005).
Weitere Anwendungsfelder sind beispielsweise Gruppen mit Kindern und deren Familien, die eine ADHS-Diagnose erhalten haben, internetsüchtig sind oder auch zum
Teil erhebliches oppositionelles Verhalten im schulischen Kontext gezeigt haben und
mit entsprechenden Diagnosen belegt wurden (z. B. Kratochwill et al., 2009; Morris et
al., 2014; Liu et al., 2015).
1.2 Jugendhilfe
Der Einsatz von MFG in der Jugendhilfe und Sozialen Arbeit hat schon eine längere
Tradition (z. B. Cassano, 1989a, b; Schwartzben, 1992; Zarski, Aponte, Bixenstine,
1992). Dies ist aufgrund der ähnlichen Grundprinzipien von Jugendhilfe/Sozialer
Arbeit und den Prinzipien systemisch ausgerichteter MFG/MFT wie etwa Lebensweltorientierung, Empowerment, Fokussierung auf Ressourcen und Lösungen der
Adressaten, nicht verwunderlich. In Deutschland werden MFG/MFT vor allen im
Kontext der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der Jugendhilfe angeboten (Born, 2012). Beispiele für MFG in der Jugendhilfe sind etwa:
• Im Landkreis Biberach wird seit 1994 systemische Familienberatung am Jugendamt durchgeführt. In einigen Beratungen wurde deutlich, dass es eine ergänzende
Unterstützung nach dem Prinzip „Lernen am Modell/Soziales Lernen“ unter Einbindung der vorhanden Ressourcen und Kräfte innerhalb der Familie geben muss.
Nach diesem Leitgedanken wurde von dem Family Help e. V. die erste MFG-Elternschule in Bad Buchau 1999 mit acht Plätzen entwickelt.5
• Buckel, Eggemann-Dann und Möhrke (2013) beschreiben die Übertragung eines
MFG-Konzeptes durch die Erziehungsberatung als Multifamilientraining in die
ambulanten Erziehungshilfen des Jugendamtes der Stadt Ludwigshafens.
• Im Albert-Schweitzer-Kinderdorf Hessen wird in Hanau MFT als ambulante Hilfe
zur Erziehung angeboten. Die Zielgruppen sind „entstrukturierte“ Familien bis hin
zu sogenannten „Multiproblemfamilien“, die Schwierigkeiten haben, ihren Kindern
adäquate Entwicklungsbedingungen anzubieten.6
Zwei weitere Beispiele aus der Jugendhilfe, nämlich die MFT/MFG-Angebote des
SKF-Essen7 und des Shed e. V. in Wuppertal,8 werden in den Abschnitten 2 und 3
beschrieben.
5 www.family-help.de
6 www.ask-hessen.de/pdf/broschueren/Multifamilientherapie-Flyer-Hanau.pdf
7 Diese wurden wesentlich vom Zweitautor in seiner Funktion als Geschäftsführer des SKF Essens
initiiert und mitentwickelt.
8 Dieses Angebot wurde von der Drittautorin während ihrer Zeit der pädagogischen Leitung des
Vereins entwickelt und implementiert.
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Multi-Familien-Gruppen in der Jugendhilfe 357
1.3 Einige Basics von Multi-Familien-Gruppen
In der Regel nehmen vier bis acht Familien an einer MFT/MFG-Behandlung teil.
Die Durchführungsarten und Settings von Multi-Familien-Gruppen können sehr
variieren. So existieren etwa im heilkundlichen Kontext (teils deutlich) strukturierte
Durchführungsmanuale (z. B. im Kontext Onkologie: Steinglass, Ostroff, Steinglass,
2002; bei Anorexia Nervosa; Scholz et al., 2003). Auf der anderen Seite werden MFG
durchgeführt, die sich „lediglich“ an Prinzipien ausrichten und auf einen „Bauchladen“ an Übungen und Interventionen zurückgreifen, wie sie etwa Asen und Scholz
(2009) beschrieben haben (z. B. im Jugendhilfe-Kontext: Buckel et al., 2013). Was das
Setting angeht, so sind regelmäßige (z. B. wöchentliche, vierzehntätige oder monatliche) Abendtermine möglich. So trafen sich z. B. die Familien mit einem Index-Patienten mit Teilleistungsstörungen bei Retzlaff, Brazil und Goll-Kopka (2008) neunbis zwölfmal wöchentlich für eine Doppelstunde, während in der Arbeitsgruppe von
Anne Kazak Multi-Familien-Gruppen im Kontext von pädiatrisch-onkologischen
Erkrankungen im Format von Ein-Tages-Workshops durchgeführt wurden (Kazak
et al., 1999, 2001) und bei Goll-Kopka (2009) das Angebot für jeweils sieben bis
neun Familien mit einem lernbeeinträchtigten, chronisch kranken oder behinderten Kindes in einer MFT-Gruppe in Form eines dreitägigen Wochenendseminars
bestand. Die Gruppen können zudem geschlossen sein oder (halb-)offen, das heißt
dass es weiteren Familien ermöglicht wird, im Verlauf der Behandlung/Durchführung noch einzusteigen (für weitere Details zu unterschiedlichen Vorgehensweisen
siehe auch Asen und Scholz, 2009). Eine erfolgreiche und innovative Spielart von
MFG ist die Integration des Schulumfeldes (z. B. Asen et al., 2001; Kratochwill et al.,
2009; Hermans, 2014).
Allgemein formulieren Asen und Scholz (2009, S. 15f) folgende Prinzipien der
MFT/MFG-Arbeit):
• Förderung von Solidarität: „Wir sind im gleichen Boot.“
• (Schambedingte) Isolation und Stigmatisierung überwinden: „Wir sind ja nicht die
einzigen.“
• Anregung zu neuen Sichtweisen: „Ich sehe sehr genau beim anderen Dinge, für die
ich bei mir selbst blind bin.“
• Voneinander „Modell-lernen“: „Wie die anderen das machen, finde ich gut.“
• Sich in anderen „gespiegelt“ sehen: „Wir sind wie ihr.“
• Nutzung des Gruppendrucks: „Ich kann hier nicht kneifen.“
• Unterstützung/Rückmeldung: „Toll, wie ihr das macht – und wie seht ihr uns?!“
• Kompetenzen entdecken/erweitern: „Ich kann doch mehr, als ich dachte, ich bin
doch gar nicht so hilflos.“
• Mit „Pflegefamilien“/Surrogaten experimentieren: „Ich kann mit anderen Kindern
ganz gut – und wie deine Eltern mit meinem Kind umgehen, ist klasse.“
• Treibhauseffekt schaffen: „Hier brodelt es, es tut sich was.“
• Hoffnung wecken: „Licht am Ende des Tunnels, auch für uns.“
358 M. Ochs et al.
• Üben von neuen Verhaltens-/Erziehungsmustern im „Schonraum“: „ich kann hier
was ausprobieren, auch wenn es mal schief geht.“
• Stärkung von Selbstreflexion und Offenheit durch „öffentlichen“ Austausch: „Ich sehe
mich hier genauer und anders“, „Niemand verteufelt mich, ich kann mich öffnen.“
2
Multi-Familien-Gruppen in der Jugendhilfe in Essen
2.1 Teilstationäre Jugendhilfe: Multi-Familien-Tagesgruppe „MehrFamilienHaus“
Seit 2010 besteht die Multi-Familien-Tagesgruppe „MehrFamilienHaus“ in Essen, in
der zehn Kinder im Alter von 7-13 Jahren zusammen mit ihren Familien im Rahmen der Jugendhilfe begleitet werden. In der Tagesgruppe werden Kinder mit verschiedenen Auffälligkeiten und einem hohen Erziehungshilfebedarf betreut, deren
Eltern zu einer intensiven Mitarbeit bereit sind. Diese besteht darin, dass zumindest
ein Elternteil an mindestens einem Tag pro Woche gemeinsam mit dem Kind den
Nachmittag in der Tagesgruppe verbringt und zusätzlich einmal im Monat an der
Multi-Familien-Gruppe mit allen Familien teilnimmt. Somit befinden sich immer
ähnliche viele Elternteile wie Mitarbeitende in der Gruppe, was zu einer anderen
Verantwortungsverteilung führt, als in klassischen Formen der Erziehungshilfe.
Mittlerweile hat sich das Konzept stärker in Richtung Schule weiterentwickelt, da
Tagesgruppenkonzepte zeitlich mit der nun fast flächendeckenden Ganztagsbeschulung in NRW kollidieren. Insofern stehen bei den Aufträgen der Familien auch
Schulschwierigkeiten stärker im Vordergrund.
2.2 Frühe Hilfen: „elternHaus“
Mit dem „elternHaus“ existiert seit 2013 eine tagesstrukturierende Einrichtung, die
sich an die Zielgruppe der adoleszenten Eltern richtet. In Weiterentwicklung einer
Eltern-Kind-Einrichtung entstand dieses Konzept, das sowohl auf die Verhinderung
von vollstationärer Unterbringung, auf die Nachbetreuung und als Alternative zur
ambulanten Betreuung im Einzelsetting ausgerichtet ist. In der Praxis haben sich
zwei weitere Schwerpunkte ergeben:
• Eine Clearingfunktion im Bereich Kinderschutz in Fällen, in denen eine Kindeswohlgefährdung allein mit ambulanten Hilfen nicht hinreichend ausgeschlossen
werden kann.
• Fälle, bei denen es bereits zu einer Fremdplatzierung des Säuglings oder Kleinkindes
in einer (Bereitschafts-)Pflegefamilie gekommen war und nun in der Einrichtung
die Rückführung begleitet wird.
Auch hier spielt das voneinander lernen und Nutzen der Kompetenzen und Ressourcen der Anderen in der Gruppe eine große Rolle.
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Multi-Familien-Gruppen in der Jugendhilfe 359
2.3 Sekundärprävention im Sozialraum: Familienschule
Seit 2013 existiert eine Familienschule, ebenfalls als tagesstrukturierendes Angebot,
allerdings deutlich niederschwelliger vor der eigentlichen Hilfe zur Erziehung. Dem
Konzept der Familienschulen von Family-Help e. V. im Landkreis Biberach folgend,
werden bis zu acht Kinder und ihre Familien von Familientherapeut/innen an vier
Nachmittagen in der Woche betreut, die von der Schule, dem Jugendamt und dem
Träger der Maßnahme als potenziell unterstützungsbedürftig eingeschätzt werden.
Alle Familien kommen aus dem gleichen Stadtbezirk und die Kinder besuchen häufig die gleiche Schule. Die Freiwilligkeit steht im Mittelpunkt des Angebotes, sodass
die Vorschläge der oben genannten Institutionen immer nur Einladungscharakter
haben. In der Praxis befinden sich fast ausschließlich Familien mit Migrationshintergrund in der Familienschule, häufig aus sieben verschiedenen Herkunftsländern.
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass mit dem Besuch der Familienschule in vielen Fällen auch dauerhaft keine formale Hilfe zur Erziehung mehr notwendig wird.
Entwicklung elterlicher Perspektiven – ein Bespiel aus der Familienschule
Bei Aufnahme von Familien in die Familienschule beziehen sich Veränderungswünsche der Eltern fast ausschließlich auf die Kinder; die Erfüllung dieser Wünsche
wird „in die Hände des Teams“ gelegt (verständlich, wenn auch nicht erfüllbar). Im
Verlauf der Begleitung sehen die Eltern zunehmend die Beziehung zwischen Eltern
und Kindern und die Einflussmöglichkeiten der Eltern auf das Verhalten ihrer Kinder als Ansatzpunkte zur Veränderung und wünschen sich Unterstützung bei der
Bewältigung von schwierigen Situationen.
Wir beobachten bei den Eltern oft eine deutliche Erleichterung, dass auch andere
Familien (Erziehungs-)Probleme haben. Es entwickelt sich ein vertrauensvoller Austausch untereinander; etwa was das Schreien der 1,5-jährigen Tochter von Frau M. angeht, die augenscheinlich ihren Willen damit durchsetzen möchte oder gegen Verbote
protestiert. Der Mutter ist das Schreien vor den anderen Eltern peinlich und sie erfüllt die Wünsch des Kindes. Speziell Frau St. und Frau D. (die früher ähnlich reagiert
haben) unterstützen sie darin, konsequent zu bleiben und das Schreien auszuhalten.
Diese Erleichterung der Eltern führt zu einer großen Offenheit untereinander und uns
gegenüber sowie zu einer Bereitschaft, Veränderungsprozesse anzugehen.
Die gemeinsamen Familienaktionen, speziell während der MFT-Einheiten, werden
sowohl von den Kindern, die hier ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern genießen,
als auch von den Eltern sehr geschätzt: In den belasteten Eltern-Kind-Beziehungen
entspannt es die Atmosphäre und den Eltern wird ein Zusammenhang von intensiver
positiver Beschäftigung mit ihren Kindern und deren ausgeglichenerem Verhalten
deutlich und erfahrbar.
Uns wird währenddessen deutlich, dass nicht nur Überforderung oder Desinteresse
(unsere mögliche allererste Hypothese) die Eltern davon abhält, sich mit ihren Kin-
360 M. Ochs et al.
dern zu beschäftigen, sondern oft auch kulturelle Hintergründe, in denen es ganz andere Werte und Verantwortlichkeiten in der Erziehung gibt. Fehlende oder sehr unterschiedliche Handlungsmuster verunsichern die Eltern, oder aber ihre eigene Kindheit,
die teils durch Krieg, Flucht oder andere schwerwiegende Erlebnisse geprägt wurde,
wird erst bei uns reflektierbar. So wird ein simples Kartenspiel für die Eltern zu einem
solchen Spaß und Genuss, dass sie kaum Augen für ihre Kinder und deren Aktionen
während des Spiels haben. Bastelangebote wecken den Ehrgeiz und die Gestaltungsfreude der Eltern teils so stark, dass die Eltern ihre Kinder als hinderlich oder störend
empfinden. Hier ist ein wertschätzender Blick auf die unerfüllten kindlichen Bedürfnisse der Eltern und Fingerspitzengefühl unsererseits gefragt, um die Aufmerksamkeit
der Eltern wieder auf ihre Rolle und ihre Kinder zu lenken.
Aus unserer Sicht lässt sich durch die Treffen in der Familienschule ein weiterer
positiver Effekt verzeichnen: Es ergeben sich private Kontakte zwischen den Familien
D. und M. Sie machen gemeinsame Ausflüge auch mit den Vätern oder die Frauen
treffen sich mit den Kindern. Darüber hinaus unterstützen sie sich wechselseitig in
der Betreuung der Kinder, sodass sie auch entspannt z. B. Arzttermine wahrnehmen
können. Die Familien fühlen sich nicht mehr so isoliert und sie genießen den Kontakt.
Da die eine Familie aus dem Kosovo kommt und die andere aus Afghanistan, üben sie
sich gleichzeitig in der deutschen Sprache.
Auch die anderen Familien tauschen sich untereinander privat aus. Frau M. näht sehr
gut, Frau St. modelliert Fingernägel und Frau E. frisiert afrikanische Zopf-Frisuren.
Durch die Anerkennung und den Austausch ihrer Fähigkeiten untereinander steigert sich
ihr Selbstwertgefühl und die Frauen können ihrer Isolation aktiv entgegenwirken. Frau
F. hat sich durch das Vorbild von Frau E. und deren gutem Zureden zu einem Deutschkurs durchgerungen, der sie zwar zeitlich belastet, aber ihr neue Optionen eröffnet. Wo
die Frauen auch sehr viel Anerkennung und Bestätigung über ihre Kochkünste erfahren,
kann der einzige alleinerziehende Vater, Herr S., sich sehr durch seine ruhige und geduldige Art in der Hausaufgabenbegleitung einbringen. So besteht unsere Hauptaufgabe
besonders bei den neuen Familien darin, eine guten Rahmen für die Kontaktaufnahme
mit den anderen Familien zu schaffen und den Austausch untereinander zu fördern.
Es gilt, die Ressourcen zu benennen und anerkennend in den Alltag einfließen zu
lassen. Die Bewusstmachung der Ressourcen der einzelnen Familienmitglieder ist
auch für uns ein wichtiger Teil unserer Team-Arbeit, um bei allen Schwierigkeiten, die
diese sogenannten „Multiproblemfamilien“ haben, den wertschätzenden und lösungsorientierten Blick für die kleinen Erfolge und Fortschritte der Arbeit zu behalten.
2.4 Schulischer Kontext: „family classrooms“
Mit der Einführung zusätzlicher Stellen der „schulbezogenen Jugendsozialarbeit“
im Jahr 2012 konnten bis heute an insgesamt sechs Schulen (davon fünf Grundschulen und eine Förderschule) Familienklassen basierend auf dem Konzept der „family
classrooms“ realisiert werden.
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Multi-Familien-Gruppen in der Jugendhilfe 361
In allen beteiligten Schulen stehen an einem Vormittag der Woche eine entsprechend vorqualifizierte Lehrkraft (häufig Sonderpädagogin) und ein geeigneter Raum
zur Verfügung. Von Seiten des Jugendhilfeträgers ist ein systemisch qualifizierter Sozialarbeiter beteiligt. Der Zeitraum für den Besuch der Familienklasse beträgt ungefähr zwölf Wochen, also die Hälfte eines Schulhalbjahres. Von der Schule werden in
Zusammenarbeit mit der Sozialarbeiterin bzw. dem Sozialarbeiter sechs bis acht Kinder identifiziert, die aufgrund ihres Sozialverhaltens nur schwierig im Klassenverband
zu beschulen sind und bei denen häufig ein Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs ansteht. An dem jeweiligen Vormittag werden die Kinder
von ihren Eltern in die Familienklasse begleitet und verbringen den Vormittag dort
gemeinsam. Nach einer Einführungsrunde findet dann Unterricht statt, wobei die Eltern als Beobachter, reflecting team oder auch Handelnde agieren, z. B. wenn ihr Kind
sich von ihnen Unterstützung wünscht. In einer Pause am Vormittag erfolgt dann eine
erste Reflexion mit der gesamten Gruppe, auch zu weiteren Ideen, wie die einzelnen
Kinder unterstützt werden können, ihre Ziele zu erreichen.
Nach einer weiteren Unterrichtseinheit erfolgt dann die Auswertung des Vormittags
mit konkreten Zielabsprachen. Alle Kinder vereinbaren mit ihren Eltern ganz konkrete
schulische Verhaltensziele für die bevorstehende Woche. Diese werden verschriftlicht
und an den Folgetagen von den Lehrern der Klasse jeweils per Skalierung bewertet. In
der Folgewoche werden diese Bewertungen dann gemeinsam besprochen und mit den
Teilnehmern ausgewertet (Behme-Matthiessen, Pletsch, T., Bock, K., Nykamp, 2012).
Von allen Schulen, den beteiligten Familien und Fachkräften wird das Angebot als
sehr bereichernd und in vielen Fällen überraschend wirksam erlebt. Ein wesentlicher
zu unterstellender Wirkfaktor ist hier sicher das interessengleiche Zusammenwirken
von Schule, Familie und Jugendhilfe.
3
Das ambulante Multisystemische Jugendhilfeangebot „Familienzeit“
des Shed e. V. in Wuppertal
Im Jahre 2013 entwickelte der Shed e. V. vor einem 30-jährigen Erfahrungshintergrund stationärer und ambulanter erzieherischer Hilfen unter Beteiligung von Mitarbeitern, Kindern, Familien und dem örtlichen Jugendamt ein ambulantes Konzept
multisystemischer Arbeit in Wuppertal. Vier bis sechs Familien treffen sich nach
einem gemeinsamen Intensivwochenende einmal wöchentlich ganztägig in der Familienzeit mit drei Mitarbeiter/innen und gestalten Alltag unter gleichzeitiger Nutzung beraterischer, therapeutischer und erlebnispädagogischer Angebote.
Die Arbeit in der Familienzeit orientiert sich an dem individuellen Entwicklungsbedarf der Familien und ist ausgerichtet an den Potenzialen, Hoffnungen und Entscheidungen der Familienmitglieder. Die Arbeit bemüht sich um ressourcenfördernde, realistische, und kreative Lösungen, die sich auf den tatsächlichen Bedarf beziehen und
sich verändernde Systemkonstellationen und Themenbereiche berücksichtigt. Hierbei
362 M. Ochs et al.
werden biografische Themen einschließlich einer mehrgenerationalen Sichtweise einbezogen. Die Themenbereiche der Verantwortungsübernahme und der Eigenwirksamkeit erhalten einen großen Stellenwert und werden mit Blick in die Zukunft von
den Familien „visionär“ entwickelt und quasi „als Weg begonnen“.
Der Grundsatz, dass die Verantwortung stets bei den Eltern bleibt, fordert von den
Begleitern den Paradigmenwechsel von einer kindzentrierten hin zu einer familienzentrierten Arbeit. Dies verlangt eine Rücknahme der Berater und Therapeuten im
Arbeitssetting, eine Bescheidung in den eigenen Impulsen und Affekten sowie die Fähigkeit, Familienmitglieder untereinander als Experten zu nutzen und zu koppeln.
Familien, die bereits sehr lange kompensatorische Hilfen bekommen, Familien, die
aus mehrfacher Hinsicht belastet sind, Familien, die Sucht strukturiert leben, mit traumatischem Stress, psychischen oder physischen Erkrankungen oder mit Gewalt leben,
in Bindungsunsicherheit leben, Familien, die in Patchwork oder in Pflegeverhältnissen leben, oder auch Familien, die nicht mehr zusammen leben, dies aber zukünftig
wieder wollen, finden alle in der Familienzeit einen Ort, an dem Familienleben beraterisch und therapeutisch unterstützt regelmäßig gelernt und gelebt wird. Die Familien
gestalten diesen Ort und ihr Zusammensein sehr proaktiv und vernetzen sich nachhaltig. Sie kommen gerne und regelmäßig, entwickeln ihre Zuversicht, Zuverlässigkeit
und Verantwortungsübernahme, üben sich in Reflexionsfähigeit, Fehlerfreundlichkeit
und Selbstwertsteigerung.
Ein weiterer Effekt dieser Arbeit ist die Entlastung der Mitarbeiter/innen, die im
multisystemischen Setting, im Gegensatz zu aufsuchender Einzelfallhilfe, einen geeigneten Zeitpunkt im gesamten Tagesverlauf für gewählte Interventionen finden und
gestalten können. So kann vieles in Ruhe und mit ganzer Zustimmung aller Beteiligten stattfinden, da alle Mitarbeiter und alle Familienmitglieder ganztägig vor Ort
sind. Der passende Zeitpunkt hat eine hohe Wirkkraft.
Begleitung der Familie K. durch ein Jahr Familienzeit
Melanie K., eine alleinerziehende Mutter mit zwei minderjährigen Kindern (Yannick, 5 Jahre und Yasmin, 4 Jahre) war vor einigen Monaten durch den plötzlichen
Tod ihres Bruders und einige Wochen später den Tod ihrer Mutter emotional und
wirtschaftlich in eine existenzielle Notlage geraten und damit in eine Überforderungssituation mit ihren beiden Kindern. Nachdem sowohl Nachbarn als auch
der Kindergarten ihres Sohnes dem Jugendamt gegenüber Meldungen über kindeswohlgefährdende Begebenheiten machten, wurden ambulante erzieherische
Hilfsangebote in der Familie installiert. Schnell wurde klar, das die trauernde und
zurückgezogen lebende Mutter derzeit mit den betreuenden Personen in keinem
tragenden und dauerhaft sicheren Kontakt bleiben konnte. Das Jugendamt entschied
gemeinsam mit der Mutter und den betreuenden Fachkräften zur Abwendung einer
drohenden Fremdunterbringung der Kinder eine Anfrage zu dem Angebot „Familienzeit“ zu stellen.
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Multi-Familien-Gruppen in der Jugendhilfe 363
Anfragebearbeitung: Nach der telefonischen Anfrage durch das Jugendamt nahm die
Leitungskraft der Familienzeit Kontakt mit der Familie auf und macht einen mehrstündigen Hausbesuch. Dort führte sie mit der Mutter und den Kindern ein erstes
Gespräch. Der Fokus in diesem Erstgespräch lag auf dem gegenseitigen Kennenlernen
und einem ersten Versuch, die Notlage der Familie zu verstehen, ihre bisherigen Lösungsversuche zu erfahren und ihre Zukunftswünsche zu hören. Das Angebot der Familienzeit wurde in Ruhe beschrieben und gemeinsam wurden erste Ideen entwickelt,
wofür genau eine Teilnahme in der Familienzeit gut sein könnte.
Frau K. berichtete von ihren beiden erwachsenen Kindern aus erster Ehe und von
ihrem Glück, bereits Oma zu sein. Ihre Tochter Yvonne ist seit drei Jahren selbst Mutter. Mit ihrem erwachsenen Sohn Michael hatte Frau K. seit der Scheidung keinen
Kontakt mehr, er war bei seinem Vater geblieben, während Yvonne mit der Mutter
auszog. Frau K. fürchtete nun, auch den Kontakt zu ihrer Tochter und Enkelin zu
verlieren, da sie häufig um Erziehungsfragen stritten. Frau K. entwickelte die Idee, mit
ihren beiden Kleinen und mit ihrer großen Tochter und Enkelin die Familienzeit zu
besuchen. Sie wünschte sich gemeinsam mit den Betreuern und den anderen Familien
erzieherische Fähigkeiten zu verbessern.
Frau K. traute sich nicht zu, eine Therapie für sich selbst zu finden, da sie sich selbst
als extrem depressiv und antriebsarm beschrieb. Sie wünschte sich, ihre Verluste aufzuarbeiten und angemessen mit ihrer Trauer umgehen zu lernen. Gerne wollte sie
mit ihren Kindern wieder Zeiten mit Spaß und Lachen erleben können. Die beiden
Kinder hatten große Lust mit anderen Familien und hoffentlich auch anderen Kindern
zusammen zu sein.
Auftragsklärung/Netzwerktreffen: Frau K. hatte sich mit ihren Kindern nach dem
ersten Gespräch für die Teilnahme in der Familienzeit entschieden. Sie lud zu dem
ersten Netzwerktreffen in den Räumen der Familienzeit ein. Hierfür schrieb sie selber
auf den Familienzeitpostkarten die Einladungen.
Hilfeplangespräch: Die fallverantwortliche Fachkraft des Jugendamtes lud alle Beteiligten einer Familie zu einem ersten Hilfeplangespräch ein und verschriftlichte die
Aufträge und Ziele.
Kontraktphase: Eine systemische Familientherapeutin traf sich mit der Familie allein
in der Familienzeit und klärte die Aufträge genau. Anschließend wurde der Kontrakt
in sechs Schritten schriftlich fixiert:
1. Welcher Anlass führt die Familie als Ganzes, aber auch jeden Einzelnen hierher?
Frau K. fühlte sich von dem Jugendamt gezwungen, eine Hilfe anzunehmen, um weiter gemeinsam mit ihren Kindern leben zu können. Sie erlebte den ersten Kontakt
mit der Familienzeitmitarbeiterin als gut und hoffnungsvoll. Zum ersten Mal fühlte
sie sich gehört und in Ganzheit gesehen und verstanden. Sie konnte ihre Angehörigen
zum Mitmachen bewegen und erlebte sich hier wirksam und erfolgreich.
2. Was möchte die Familie/jeder Einzelne innerhalb der Familienzeit erreichen?
Frau K. wünschte sich in der Familienzeit gute und respektvolle Kontakte mit anderen Menschen.
364 M. Ochs et al.
Sie möchte immer gemeinsam mit ihren Kindern leben und erhoffte sich Unterstützung in erzieherischen Fragen und in Bezug auf ihre Trauer. Frau K. möchte vor allem
ihre Geduld vergrößern und angemessene Konsequenzen in der Kindererziehung erfinden können. Sie möchte ihr Verhältnis zu ihrer großen Tochter verbessern. Yvonne
wünschte sich ebenfalls eine Verbesserung in ihrem Verhältnis zu ihrer Mutter. Gerne
wollte sie gesundes Kochen lernen und mit jemandem über alle Fragen zur Erziehung
ihrer Tochter sprechen. Die Kinder wünschten sich Zeiten des gemeinsamen Spielens
und das Finden neuer Freunde. Yannick wollte weniger Streit zu Hause und seine
Wut in den Griff bekommen.
3. Was erwartet/erhofft sich die Familie von den anderen Menschen in der Familienzeit?
Alle wünschten sich das Kennenlernen netter Menschen und einen Austausch über
die schwierigen Fragen des Lebens. Sie hofften auf ein Zusammensein mit Respekt,
Wertschätzung und gegenseitigen guten Ratschlägen und dem Raum, vertrauensvoll
Dinge erzählen zu können.
4. Welche Befürchtungen gibt es?
Sie fürchteten Familien, die noch mehr streiten als sie selbst. Wenn es nicht so nette
Menschen wären, fürchteten sie ihren eigenen Rückzug und eine sinkende Bereitschaft, sich auf das Miteinander ehrlich einzulassen.
5. Was bietet die Familientherapeut/in der Familie an?
Die Familientherapeutin bot Frau K. einen Therapieprozess in Bezug auf die persönliche Biografie unter der besonderen Berücksichtigung der biografischen Trauerverarbeitung an. Yvonne K. bot der Familientherapeut einen Therapieprozess zu dem
Thema ihrer depressiven Verstimmungen an.
6. Wann gibt es eine erste Zwischenbilanz?
Zwischenbilanzierungen wurden zu jedem Quartal vereinbart. Die beiden Frauen
begrüßten es sehr, neben dem Miteinander auch einen Raum für eigene Themen zu
bekommen und planvoll regelmäßig an der Ausgestaltung beteiligt zu werden.
Erstellen eines Familienordners: Das Team der Familienzeit erstellte vor Beginn der
Intensivphase für die Familie K. zwei individuelle und kontraktrelevante Familienordner. Die Familie gestaltete ihn an dem Intensivwochenende. Dieser Ordner
sammelte, ordnete, zeigte und begleitete die Familie über die gesamte Familienzeit.
Besonders die Kinder schauten ihn sich bei fast jedem Treffen an. Sie erzählten immer wieder die Geschichten und stellten die Ordnung um. Andere Familien freuten
sich an dem Anblick und gaben Frau K. oft Rückmeldungen dazu, wie „süß“ sie ihre
Kinder fanden. Frau K. konnte diese Komplimente anfangs kaum annehmen und
fühlte gleichzeitig Freude und Stolz.
Intensivwochenende: Zu Beginn der Familienzeit fand mit allen Familien und allen
Mitarbeiter/innen ein Intensivwochenende statt. An einem Samstag und Sonntag trafen sich alle von 9-19 Uhr in der Familienzeit zur gemeinsamen Arbeit und Freizeit.
Hier lernten sich die Familien zum ersten Mal kennen und hier fanden sie ausreichend
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Multi-Familien-Gruppen in der Jugendhilfe 365
Zeit um unterstützt durch narrative, hypnosystemische, körperorientierte, analoge
und kommunikative Techniken an ihren bereits vereinbarten Zielen zu arbeiten.
Familie K. erstellte z. B. ein wunderschönes Familienwappen und eine Familiencollage, auf der auch die Menschen einen Platz fanden, zu denen kein Kontakt mehr
bestand, wie z. B. der Vater von Yannick und Yasmine. Die Kinder nutzten den Raum
sehr gerne und stellten der Mama viele Fragen zu ihrem Vater und zu der elterlichen
Liebesbeziehung. In diesem Kontext und Setting war es Frau K. zum ersten Mal möglich, über diesen Teil ihrer Lebensgeschichte zu reflektieren und innerfamiliär zu sprechen. Die anschließende Vernissage der Collagen und Wappen machte allen Familien
großen Spaß und sie reflektierten gemeinsam ihren Stolz auf ihre Familien.
An diesem Intensivwochenende wurde gemeinsam der Essensplan erstellt, eingekauft und gekocht unter der Überschrift „Preiswerte und gesunde Ernährung“. Familie K. freute sich über die Vielfalt und das Kennenlernen „fremder“ Gerichte. Beim
Schnippeln und Kochen erfuhren sie gegenseitige Unterstützung und Rückmeldung
(„Toll, wie ihr das macht! Kann ich euch helfen?“).
Auch gemeinsame Aktivitäten wie z. B. das Speed-Dating oder ein Fragekartenspiel
zu Emotionen und persönlichen Erfahrungen forderten vor allem von Melanie und
Yvonne K. großen Mut. Sie machten die Erfahrung der Offenheit im spielerisch öffentlichen Austausch und erklärten „Niemand verteufelt mich, ich kann mich öffnen.“
So zog Melanie K. z. B. die Frage „Was hat dich schon einmal sehr traurig gemacht?“,
dachte an den Verlust ihres Bruders und ihrer Mutter durch Tod und musste weinen. Sie wurde getröstet von anderen Teilnehmer/innen und hörte auch deren Verlustgeschichten. Sie sah sich in den anderen gespiegelt, fand „Wir sind wie ihr!“ und
erlebte eine erste Überwindung ihrer eigenen Stigmatisierung („Wir sind ja nicht die
einzigen“) in gefühlter Solidarität („Wir sitzen alle im gleichen Boot“).
Intensivphase: Nach dem Intensivwochenende begann die Intensivphase mit einem
Tag pro Woche von 9-17 Uhr. Für zwölf Wochen trafen sich alle Familienmitglieder, die
Zeit haben, bereits um 9 Uhr. Alle Schulkinder kamen nach der Schule. Im Vormittag
wurden die Themen der Erwachsenen bearbeitet und sie fanden Zeit, Dinge zu regeln,
wie z. B. Unterstützung bei notwendigem Schriftwechsel, Bewerbungsschreiben, Internetrecherchen oder dem Training des Umgangs mit behördlichen und ärztlichen Telefonaten. Der Einkauf und die Vorbereitung eines gesunden Mittagessens machte Frau
K. großen Spaß. Sie entdeckte vor allem durch die wertschätzenden Rückmeldungen
der anderen Familien ihr großes Küchentalent. Für viele Menschen zu kochen beflügelte
sehr ihre gute Laune und ihre Kreativität. Sie freute sich darüber, dass das Gemecker
ihrer Kinder bezogen auf das Essen nichts mit ihren Fähigkeiten zu tun hatte und konnte
es weniger persönlich nehmen. Sie verstand, das ihre Kinder oftmals im Spiel versunken
waren und Essen nicht so wichtig war. Die Organisation der anstehenden Arbeiten und
Wünsche stellte ein Modell für die Organisation der Familie zu Hause dar.
In dem Nachmittagsbereich ging es zunächst oft um die Hausaufgaben und das
Lernen der Kinder mit der Unterstützung der Erwachsenen. Da dieser Bereich für
viele Familien zu Hause eine kritische Zeit ist, wird hier erlebbar gemacht, dass jeder
366 M. Ochs et al.
Erwachsene helfen kann und das jedes Kind sich helfen lässt. Frau K. fand ihre Eigenwirksamkeit wieder, da sie als Mutter von Kindergartenkindern sehr hilfreich war bei
Hilfen für die Kinder anderer Familien. Sie konnte das in Gelassenheit tun und die
Therapeuten hatten echte Anknüpfungspunkte für eine Reflexion mit ihr bezogen auf
ihren Wunsch, geduldiger zu werden.
Zum Abschluss des Tages finden sich alle Familien und Mitarbeiter/innen in einem
großen Stuhlkreis zur „Tagesschau“ zusammen und reflektieren den Tag zu den Fragen „Was war heute besonders schön?“, „Welchen Ärger gab es für mich?“ und „Was
wünsche ich mir für das nächste Mal?“.
Für die Kinder der Familie K. war es zu Beginn sehr schwierig, sitzenzubleiben und
bis zum Ende mitzumachen. Für die beiden Erwachsenen war es schwierig, den Tag
zu reflektieren und ihres in Worte zu fassen. Frau K. bemerkte, dass sie sich in ihrer
Familie noch nie gemeinsam die Zeit für so etwas genommen haben. Sie fühlte sich
sehr ungeübt im Reflektieren und neigte zu Antworten wie „Alles war schön, Ärger
gab es keinen und ich wünsche mir auch nichts“. Doch bereits bei dem ersten Treffen
freute sie sich darüber, das mehrere Menschen ihre Kochkünste ausdrücklich lobten
und das es keinerlei Rückmeldungen zu Ärger über ihre Kinder gab. Gegen Ende der
Intensivphase war Melanie K. eine der Teilnehmerinnen, die mit Blick auf die Uhr gerne an das Einhalten einer ausführlichen Tagesschau erinnerte und gleichzeitig auch zu
Hause mit ihren Kindern über das Ritual der „Bohnengeschichte“ einen abendlichen
Moment des gemeinsamen Innehaltens und Sprechens über den Tag etablierte.
Beide Frauen arbeiteten in ihrem Therapieprozess wöchentlich an ihren Themen.
Während Melanie K. zum Ende der Intensivphase ihren Therapieprozess abschloss,
entschied sich ihre Tochter für eine Verlängerung des Prozesses. Das Verhältnis der
beiden hatte sich durch den regelmäßigen Raum und durch ihrer beider Therapieprozesse deutlich verbessert. Sie genossen die gespiegelte und kommunizierte Rückkopplung der anderen Familien sichtbar, besonders, wenn sie um ihr Verhältnis und ihre
gegenseitige Unterstützungsmöglichkeiten beneidet wurden.
Reduzierte Intensivphase: Nach zwölf Wochen wird die Häufigkeit der Familienzeit
um die Hälfte reduziert und findet noch vierzehntägig am selben Wochentag zwölfmal
statt. Die Struktur, die Rituale und die Inhalte der Intensivphase bleiben exakt erhalten.
Frau K. bedauerte mit ihren Kindern diese Reduktion. Sie sprach dieses Bedauern
im Plenum mit den anderen Familien an und traute sich zu, etwas Neues in diesem
Schonraum zu wagen. Sie bot an, für alle Familien in der Woche zwischen den Familienzeitterminen ein Treffen zu organisieren, an dem alle die wollen teilnehmen können. Da mehrere Familien ihr Bedauern teilten, trafen sie sich ohne die Mitarbeiter/
innen nun alle vierzehn Tage und behielten die Tagesstruktur der Familienzeit bei.
In den Familienzeitterminen wurden ihre Treffen reflektiert und boten somit viele
Anknüpfungspunkte für die Themen der Einzelnen. Frau K. hat dieses Engagement
einige Wochen durchgehalten und erlebte sich selbst als wirksam und antriebsvoll. Sie
geriet in Schwierigkeiten bei der Unzuverlässigkeit anderer und gab in ihrem Ärger
ihr Engagement auf, sehr zum Bedauern ihrer Kinder. Das erneute Thematisieren im
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Multi-Familien-Gruppen in der Jugendhilfe 367
Plenum führte dazu, das es eine weitere Mutter gab, die nun ihre Unterstützung anbot,
sodass sie als zwei Motoren erneut aktiv Treffen organisieren konnten.
Zum Ende der reduzierten Intensivphase wählte Melanie K. auch diese andere Familie als Familienzeitpaten für die kommenden zwölf Wochen aus. Sie besprachen
ihre Wünsche und die Grenzen dieser Patenschaft und vereinbarten die Häufigkeit
ihrer gegenseitigen Besuche.
Selbsthilfephase: Die Familien werden jeweils von ihrer gewählten Patenfamilie und
von einer Familienzeitmitarbeiter/in in den nächsten zwölf Wochen individuell und
aufsuchend begleitet.
Für Familie K. ist aus dieser Patenschaft eine gewachsene Freundschaft geworden.
Sowohl die Kinder als auch die Mütter verstanden sich sehr gut und freuten sich aufeinander bei jedem Treffen. Bereits während dieser letzten drei Monate wurde deutlich,
dass die Zuverlässigkeit der Termineinhaltungen für Frau K. von großer Bedeutung
für ein Fortbestehen dieser und anderer Verbindungen war. Frau K. setzte sich hier
noch einmal sehr mit ihren persönlichen Werten und Ansprüchen auseinander. Sie
erkannte einen bewussten Unterschied zwischen Freunden und Bekannten und konnte so ihre privaten Kontakte besser einordnen. Sie lernte proaktiv auf die Menschen
zuzugehen und ihre abwartende und oftmals gekränkte Haltung zunehmend aufzugeben. Besonders ihre erwachsenen Tochter Yvonne konnte nun dauerhafter mit ihrer
Mutter in Kontakt sein und musste sich weniger mit Vorwürfen bezogen auf nicht
erfüllte Erwartungen auseinandersetzen.
In dieser Phase lernte Frau K. zu Hause alle notwendigen Aufgaben und Tätigkeiten
in eine für sie praktikable Struktur zu bringen und die Erprobung dessen mit ihrer Patenfamilie und mit der aufsuchenden Familienzeitmitarbeiter/in zu reflektieren und
anzupassen.
Frau K. nutzte ihre neu gewonnene Proaktivität am Ende des Jahres zu einem vorgezogenen Gespräch im Jugendamt und überzeugte die zuständige Fachkraft von ihrer
Bitte, ein zweites Mal die Familienzeit zur familiären Stabilisierung besuchen zu dürfen. Dieses Mal wollte sie ohne ihre große Tochter teilnehmen, um offener zu sein für
neue Kontakte. Das Jugendamt entsprach ihrem Wunsch.
Frau K., Yannick und Yasmin waren in der nächsten Runde Familienzeit wieder mit
dabei und konnten so ihren reichen Erfahrungsschatz mit den anderen teilen. Sie waren
gemeinsam als Familie Experten der Familienzeit geworden und erlebten sich als Unterstützer für alle neuen Familien. Sie ermutigten, beruhigten, halfen, reflektierten und
achteten auf Rahmen und Struktur in dem neuen Durchlauf. Beide Kinder waren sich
mit ihrer Mutter einig, dass sie sich noch nie so sehr als „gute Familie“ gefühlt hatten!
Für das Jugendamt war es nach der Beendigung der ersten Familienzeit sicher, das
Melanie K. mit ihren beiden Kindern zusammen leben darf, ohne weitere Auflagen.
Die Freiwilligkeit der zweiten Familienzeit sowie die aktiviert erlebte Verhaltensänderung der Mutter freute und beruhigte die Fachkraft des Jugendamtes sehr.
368 M. Ochs et al.
Fazit für die Praxis
Multifamilienarbeit ist eine methodische Erweiterung der systemischen Beratung
und Therapie, die sowohl in klinischen als auch Jugendhilfe-Kontexten immer weitere Verbreitung und Anerkennung findet – und zudem auf einer breiten Evidenzbasierung fußt (Sydow, 2015). Besonders attraktiv ist der Fokus auf die „Selbstheilungskräfte“ der Familien und auf das Erleben von familiärer Selbstwirksamkeit
im gemeinsamen Veränderungsprozess. Für Fachkräfte ist es einerseits herausfordernd, die vielleicht als sicherer empfundene Expertenrolle zu verlassen und sich
„auf einen Prozess“ einzulassen. Die Rolle in diesem Prozess besteht eher darin,
den Rahmen zu schaffen und „zu halten“ – ganz im Sinne des Schaffens von Kontexten, in denen selbstorganisierte Veränderungsprozesse stattfinden können – und
weniger selbst im Sinne bestimmter Veränderungen zu agieren.
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Korrespondenzanschrift: Prof. Dr. Matthias Ochs, Hochschule Fuldam, Fachbereich
Sozialwesen, Leipziger Straße 123, 36037 Fulda; E-Mail: [email protected]
Matthias Ochs, Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda; Björn Enno Hermans, Caritas Essen;
Anke Lingnau-Carduck, Hochschule Fulda und Katholische Hochschule Köln
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AUTOREN UND AUTORINNEN
Philipp Abelein, lehrt Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Universität Würzburg.
Franziska Both, M. Sc. Psychologie, Studium an der Universität Würzburg, in Ausbildung
zur Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie), in der Ambulanz der
Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg tätig.
Ina Bovenschen, Dr. phil., Dipl.-Psych., systemische Beraterin, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Psychologie.
Carola Cropp, Dipl.-Psych., Mitarbeiterin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des
Kindes- und Jugendalters des Asklepios Fachklinikums Tiefenbrunn.
Jörg M. Fegert, Prof. Dr. med., Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm.
Sandra Gabler, Dr. phil., Dipl.-Psych., systemische Familientherapeutin (DGSF), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie der Universität Erlangen-Nürnberg, Mitarbeiterin in einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie.
Jennifer Gerlach, M.Sc. Psychologie, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Psychologie.
Björn Enno Hermans, Dr. rer. medic., Dipl.-Psych, Systemischer Kinder, Jugendlichen- und (Multi-)Familientherapeut, Caritasdirektor in Essen, Therapeut und Supervisor in eigener Praxis, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie.
Heinz Kindler, Dr. phil., Dipl.-Psych., Leiter der Fachgruppe 3 „Familienhilfe und Kinderschutz“, Deutsches Jugendinstitut München.
Anne Katrin Künster, Dr. biol. hum., Dipl.-Psych., Systemische (Familien-)Therapeutin
(DGSF), Entwicklungspsychologische Beraterin, Leitende Psychologin der Sektion Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie, Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm.
Sarah Lange, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet „Rehabilitationspsychologie – Psychologische Diagnostik“ der Fakultät Rehabilitationswissenschaften an der Technischen Universität Dortmund.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 371 – 372 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
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Autoren und Autorinnen
Anke Lingnau-Carduck, Dipl.-Sozialpädagogin, Systemische Supervisorin IFS, Systemische
Familientherapeutin DGSF, Lehrbeauftragte an der Hochschule Fulda und an der Katholischen Hochschule Köln, selbständig in eigener Beratungspraxis.
Matthias Ochs, Prof. Dr., Dipl.-Psych., psychologischer Psychotherapeut, systemischer Familientherapeut, Professor am FB Sozialwesen der Hochschule Fulda für das Fachgebiet „Psychologie und Beratung“.
Melanie Pillhofer, Dr. phil., Dipl.-Psych., Entwicklungspsychologische Beraterin, psychologische Psychotherapeutin, freie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Pädagogik,
Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie, Universitätsklinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm.
Simone Salzer, Dipl.-Psych. Dr. rer. nat, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Georg-August-Universität Göttingen.
Sandra Schmiedeler, Dr., Dipl.-Psych., Postdoktorandin am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie der Universität Würzburg und Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie).
Wolfgang Schneider, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie der Universität Würzburg.
Gottfried Spangler, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Lehrstuhlinhaber Institut für Psychologie,
Universität Erlangen-Nürnberg.
Annette Streeck-Fischer, Prof. Dr. med., Hochschullehrerin an der International Psychoanalytic University Berlin, ehemalige Chefärztin der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters des Asklepios Fachklinikums Tiefenbrunn.
Heinrich Tröster, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls „Rehabilitationspsychologie – Psychologische Diagnostik“ der Fakultät Rehabilitationswissenschaften an der Technischen Universität Dortmund.
Ute Ziegenhain, Prof. Dr. phil., Entwicklungspsychologin und Leiterin der Sektion Pädagogik,
Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie, Universitätsklinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm.
Annabel Zwönitzer, Dipl.-Psych., systemische Beraterin, Entwicklungspsychologische Beraterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Pädagogik, Jugendhilfe, Bindungsforschung und Entwicklungspsychopathologie, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm.
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BUCHBESPRECHUNGEN
Staats, H. (2014). Feinfühlig arbeiten mit Kindern. Psychoanalytische Konzepte
für die Praxis in Kita und Grundschule. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,
156 Seiten, 18,00 €.
Feinfühlig zu sein ist eine zentrale Kompetenz in der pädagogischen Arbeit. Hermann Staats, Professor für psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologie
an der FH Potsdam, will seinen Studentinnen und Studenten theoretisch das Wissen um die Bedeutung der Feinfühligkeit vermitteln, aber auch dabei helfen, dieses
Wissen in der Praxis umzusetzen. Entwicklungspsychologisches Wissen, aber auch
die Fähigkeit zu mentalisieren, sind Faktoren, die Feinfühligkeit fördern.
Zu Beginn begründet Staats den Wert psychoanalytischer Konzepte in der Pädagogik und erläutert, wie unbewusste Beziehungen die eigenen Entscheidungen der
Erziehenden beeinflussen. Anschließend beschreibt er Konflikte in der kindlichen
Entwicklung und ergänzt als Gegenstück das Konzept der Struktur. Er ermutigt, kindliches Verhalten unter beiden Gesichtspunkten zu sehen. Er unterscheidet Selbst- und
Fremdwahrnehmung und betont das Verständnis der eigenen Biografie.
Gefühle organisieren das Verhalten. Unter diesem Gesichtspunkt erläutert er als
entwicklungspsychologische Grundlagen die unterschiedlichen Aspekte psychoanalytischer Theorienbildung (triebtheoretisches Modell, ich-psychologisches Modell,
objektbeziehungstheoretisches Modell, selbstpsychologische Konzepte, Bindungstheorie) und geht kurz auf Regression ein. Staats stellt hier die Bindungstheorie in
eine Reihe gleichwertig mit anderen psychoanalytischen Theorien.
Abwehr und Widerstand werden eher bei anderen erkannt, als dass sie Gegenstand der Selbstreflexion sind. Staats erläutert wichtige Abwehrmechanismen und
geht dabei ausführlich auf die Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung
ein. Anschließend stellt er den Zusammenhang von Regression und Spiel dar.
In den letzten Kapiteln geht es um pädagogische Implikationen für das konkrete
Handeln. Im Umgang mit dem Kind und dem Geschehen im Gruppenalltag werden
die Bedeutung von Interesse, Neugier, Präsenz, Akzeptanz, Wahrnehmen und Differenzierung von Gefühlen, Anerkennen, aber auch Grenzen setzen, eigene Wünsche
der Pädagoginnen und die Phasen der Eingewöhnung und der Verabschiedung thematisiert. Implikationen für die Beratung der Eltern werden ebenfalls herausgearbeitet.
Staats bringt in jedem Kapitel viele, viele Beispiele. Diese bereichern die Darstellung
und machen sie anschaulich und hilfreich für die pädagogische Praxis. Zur Selbstreflexion werden zudem viele Fragen gestellt. Manchmal werden diese auch beantwortet,
aber manchmal sollen sie auch nur zum Nachdenken anregen. Ich hätte mir bei etlichen Fragen auch konkretere Antworten gewünscht. Das Buch ist an einigen Stellen
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 373 – 378 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
374 Buchbesprechungen
redundant; dies sei aber gewollt (so der Autor), weil dadurch einzelne Kapitel auch für
sich gelesen werden können.
Lothar Unzner, Putzbrunn
Hanswille, R. (Hrsg.) (2016). Handbuch systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 590 Seiten, 50,00 €.
Sie kennen Romane, von denen Ihnen vorgeschwärmt wurde? Sie beginnen zu lesen
und spüren aufkommenden Ärger. Sie haben die Teile 1-4 (Grundlagen systemischer
Therapie; Besonderheiten in der therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen; Systemisches Arbeiten im Kontext alternativer Familienformen – in dem ein
Abschnitt über Pflege- und Adoptivfamilien fehlt; Systemische Diagnostik) gelesen.
Sie kämpfen mit dem Entschluss, dieses Buch nicht fertig zu lesen, sind aber Rezensent. Vielleicht weisen die störungsorientierten Kapitel im 5. Teil mehr Substanz auf?
Sie werden wieder enttäuscht. Inhaltsreiche (?) Sätze wie „Wichtiges Element einer autismusspezifischen Förderung unter systemischen Gesichtspunkten sollte daher sein,
die Interaktion zwischen dem Menschen mit einer ASS und dessen Bezugspersonen
zu unterstützen“ (S. 251), fordern funktionierende Impulskontrollen auf Ihrer Seite.
Solche Trivialitäten sind keine Ausnahme. Sie finden sich nahezu in jedem dieser störungsspezifischen Kapitel. Die Aufarbeitung der einzelnen Themen ist nicht auf der
Höhe der aktuellen Literatur. Im Kapitel „Auffälligkeiten des Sozialverhaltens“ fehlt
ein Hinweis auf das Buch von Eigenheer et al. (2016) zur multisystemischen Therapie, auch wenn es vom Erscheinungsjahr später „dran ist“. Die Diskussion namhafter
Vertreter der systemischen Therapie zum Umgang mit intraindividuell orientierten
Störungskonzepten, zum Wechselspiel zwischen Psyche, Soma und Umfeld fehlt. Weiterentwicklung systemischen Denkens durch die Beiträge der Synergetik – Fehlanzeige! „Systemische Diagnostik (erfordert) das Denken in komplexen Systemzusammenhängen“ (S. 212); Ja, aber in diesem Handbuch wird dies nicht realisiert.
Die Frage taucht auf, was an der Darstellung der Störungsbilder im Buch „systemisch“
sei. Von einem Handbuch der systemischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie erwartet man Anregungen, konkrete Ideen, sodass man es gerne als Fundgrube nutzt. Solche Erkenntnisse wie zum Thema spezielle Lernprobleme, dass die „… Schwierigkeiten
… meist nicht nur Auswirkungen auf die betroffenen Personen (haben), sondern auch
auf deren unmittelbares Umfeld“ (S. 277), oder dass „es sinnvoll sein (kann), mit Eltern,
Kind und Lehrern gemeinsam nach Lösungen für die vorhandenen Schwierigkeiten zu
suchen“ (S. 281), lassen verzweifeln. Subjektiv gefühlt 100-fache Hinweise in nahezu allen
Kapiteln auf die Nützlichkeit systemischer Techniken und Haltungen (zirkuläre Befragung, Lösungsorientierung, Externalisierungen etc.), auf das Online-Material – das nicht
viel hergibt – oder die viel zu oft zu findende Abgrenzung gegenüber linearen Therapieansätzen machen es schwer, dem Buch gegenüber „eine typisch systemische Haltung“
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Buchbesprechungen 375
aufzubringen (gemeint ist eine wertschätzende Haltung; vgl. S. 296). Da hätte man sich
bessere Herausgeberarbeit zu den von insgesamt 27 Bearbeiter/innen erstellten Kapiteln
gewünscht. Als Leser/in wünscht man sich mehr Erkenntnisse zum spezifischen Vorgehen der systemischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie als die, dass ein „weiteres
systemisches Thema … der Umgang mit der Symptomatik im familiären Bezugssystem
(ist)“ (S. 320). Scharf formuliert kommen manche Kapitel nicht über ein Grundstudium-Niveau hinaus. Kostprobe: „Das Symptom – wir sind im Kapitel Somatisierungsstörungen – kann die Funktion haben, eine dysfunktionale Kommunikation zwischen den
Eltern zu verdecken“ (S. 337). Vielfach werden Bezüge zu anderen therapeutischen Ansätzen hergestellt; aber wie kann es sein, dass bei „Enuresis und Enkopresis“ die AVT mit
keinem einzigen Wort berücksichtigt wird und die ganze Thematik der Enuresis „vergessen“ wird? Dem Rezensenten graut es, wenn so ausgebildete Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in der Praxis hilflos herumirren. Nähme man dieses Handbuch als
Indikator für den Entwicklungsstand systemischer Ansätze in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, könnte einem angst und bange werden. Vielfach schimmern eine
Art Defensivhaltung und ein konstruiert wirkender Gegensatz zwischen systemischen
und nicht-systemischen Ansätzen hervor. Die Nützlichkeit externalisierender, ressourcenorientierter etc. Arbeit wird gebetsmühlenartig, plakativ beschworen, deren Grenzen
werden nicht reflektiert und die spezifischen Bedingungen einer systemischen Arbeit mit
Kindern und Jugendlichen werden nicht ausreichend expliziert.
Gibt es gelungenere Teile dieses Handbuchs? Ja, einzelne Kapitel des 6. Teils (Systemische Techniken und Methoden) wie die Arbeit mit Metaphern, das Konzept der Externalisierung oder die Überlegungen zum Reflecting Team sind lesbar, hilfreich, auch
wenn pseudo-neuropsychologische Konzepte („Aufgaben zwischen den Sitzungen
dienen dazu, neue neuronale Vernetzungen zu bilden“; S. 410) durchschimmern. Pikanterweise finden sich nützliche Ideen eher in den Kapiteln, die nicht explizit zum systemischen Ansatz zu rechnen sind (z. B. das Kapitel zur Psychodrama-Arbeit mit Kindern). Fazit: Der Anspruch des Buches, „einen Beitrag zum Brückenschlag“ zwischen
Gesundheitssystem, störungsspezifischen Konzepten und systemischer Theorie (vgl. S.
18) leisten zu wollen, ist wunderbar, aber mit diesem Handbuch nicht umgesetzt.
Manfred Mickley, Rostock und Berlin
Wienand, F. (2015). Projektive Diagnostik bei Kindern, Jugendlichen und
Familien – Grundlagen und Praxis. Ein Handbuch. Stuttgart: Kohlhammer, 416
Seiten, 69,00 €.
Ein Buch, auf das viele Leser lange gewartet haben – dieses ist die erste systematische
Zusammenfassung über alle projektiven Verfahren mit hohem Praxisbezug. Es werden
die gängigen Verfahren in der individuellen Diagnostik von den Zeichentests (Mannzeichentest, Familie in Tieren, Baum-Tests und das Winnicott’sche Schnörkelspiel) über
376 Buchbesprechungen
Verbale Verfahren wie Satzergänzungstest, Wunschprobe und Düss-Fabeln, Schweinchen Schwarzfuß oder PFT, und auch spielerische Verfahren wie Sandspiel und SzenoTest, bis hin zum „Klassiker“ Rorschach vorgestellt. Danach schließen sich modernere
Verfahren zur Bindungsdiagnostik an (z. B. SAT, AAP) und familiendiagnostische Verfahren. Das Werk fungiert somit nicht nur als „Handbuch“ hinsichtlich der praktischen
Anwendung, sondern ihm kommt das Verdienst zu, dass der Autor und seine Mitautoren nahezu jegliche verfügbare wissenschaftliche Literatur über jedes einzelne Verfahren herangezogen haben und in der Darstellung stringent einer wissenschaftlichen
Systematik gefolgt wird, welche die Theorie, Durchführung, Auswertung und Testgütekriterien, soweit verfügbar, umfasst. Im anschließenden Fazit findet sich manche kreative
Neubewertung, immer eine persönliche Bewertung des Autors mit durchaus kritischen
Aspekten (wie die Unübersichtlichkeit einer Auswertungsanweisung) und dabei eine jeweils wohltuende Distanzierung von Überinterpretationen des jeweiligen Verfahrens.
Nachvollziehbare Fallvignetten und Beispielbilder aus der Praxis der Autoren runden
die jeweiligen Kapitel häufig ab. Lesenswert sind das ausführliche Fallbeispiel über verschiedene eingesetzte Tests am Einzelfall am Ende des Buches und die persönlichen Erfahrungen des Ko-Autors Günter über Nutzen und Grenzen der verschiedenen Verfahren in der Begutachtung, die sich wohltuend mit einer pauschal ablehnenden „Studie“
auseinandersetzen, welche projektive Verfahren für familienrechtliche Verfahren rundheraus ablehnte (um, was im Buch nicht erwähnt wird, demgegenüber die projektive
Testbatterie SURT zum Goldstandard zu erheben).
Durch die stringente Handhabung und Anwendung der Bewertungskriterien auf
jedes Verfahren resultieren bei genauerer Lektüre unterschiedliche Gewichtungen aus
der praktischen Erfahrung und den theoretischen Erkenntnissen der Autoren. Nach
den sehr ausführlich dargestellten Zeichenverfahren geraten die verbalen Verfahren
Wunschprobe, SET oder PFT recht kurz, waren allerdings jeweils auch nicht Gegenstand vieler Arbeiten dazu. Etwas „unterbewertet“ ist aus Sicht der Rezensentin das
Squiggle-Spiel, das in seiner Anwendung auf scheue Kinder ab vier bis fünf Jahren zur
Beziehungsaufnahme reduziert wird. Der doch weit verbreitete Rosenzweig-PFT wird
– zu Recht, liest man die theoretische und praktische Würdigung – sehr kritisch dargestellt. Erfrischend ist die Einordnung des Schwarzfuß-Tests als „systemisches projektives
Verfahren“ in Scheidungskonflikten und der empfohlene souveräne Umgang mit dem
komplexen TAT, dem entsprechend der Testbewertung „aufwendiges, aber doch recht
ergiebiges“ Kapitel gewidmet ist. Lesenswert ist das Kapitel über die spielerischen Gestaltungsverfahren einschließlich der theoretischen Einbettung und der Spieldiagnostik
in Anlehnung an Paulina Kernberg. In diesem Kapitel kommt nur die äußerst negative
Bewertung von Computerspielen zu konservativ daher – wäre nicht auch die Frage nach
dem liebsten Avatar ein projektiver Erkenntnisgewinn, oder wäre nicht die Erwähnung
von Live-Rollenspielen und Fantasy-Spielen heutiger Jugendlicher ein Unterkapitel wert
gewesen? Dem Szeno-Test kommen ebenso wie dem Sandspiel gebührender Platz und
adäquate Würdigung zu. Eine auch kritische Bewertung des in den 30er Jahren entwickelten Materials und die Möglichkeit flexibler Ergänzung desselben (etwa durch einen
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Fernseher) hätte das Fazit persönlich vertiefen können, wenngleich Kinder solche Themen mit dem vorhandenen Material auch oft selbst darstellen.
Die überwiegend neueren, für die Forschung entwickelten bindungsdiagnostischen
Testverfahren mit teilweise sehr gut operationalisiertem qualitativen Auswertungsvorgehen (z. B. AAP, GEV-B) hätte man sich ausführlicher dargestellt gewünscht, zumal
diese über hervorragende Gütekriterien verfügen. Hier scheint es an klinischen Anwendungsfeldern und Praxiserfahrungen noch zu fehlen. Bei den systemtherapeutisch
fundierten familiendiagnostischen Verfahren ist die Bewertung als „Kommunikationsmittel“ und die Schilderung sowohl der diagnostischen als auch therapeutischen
Erkenntnisse der hier selektierten projektiven Verfahren gewinnbringend zu lesen.
Die Vorzüge qualitativer Verfahren und damit des projektiven Vorgehens in der
Diagnostik psychischer Problemlagen hätten in diesem Buch bereits in der Einleitung angesichts der Fülle an Material noch mehr betont werden können. Der Leser
kann dem Werk viele theoretische und praktische Hinweise für die eigene Praxis,
für die weitergehende Exploration von Kindern und die Argumentation gegenüber
Eltern und Dritten entnehmen. Beherzigt werden sollte in künftigen Forschungen
die Aufforderung des Eingangskapitels, qualitative Verfahren systematischer auf die
einzelnen dargestellten Tests, auch bezogen auf einzelne Diagnosen, anzuwenden.
Denn wenn das Buch etwas demonstrieren konnte, dann den Reichtum an Erkenntnismöglichkeiten anhand des mit diesen Verfahren generierten Materials bei
gleichzeitiger Möglichkeit einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise. Dem erfahrenen Kliniker hilft der Band zu einer neuen subjektiven Verortung im Umgang mit
den verschiedenen Verfahren und vielleicht zu Neuentdeckungen, dem Anfänger zu
einem didaktisch gelungenen Einstieg. Es ist somit insgesamt ein sehr empfehlenswertes Lese- und Nachschlagewerk.
Renate Schepker, Ravensburg
Die folgenden Neuerscheinungen können zur Besprechung bei der Redaktion
angefordert werden:
–– Alman, B. M. (2016). Weniger Stress – mehr Kindheit! Ein Stressbewältigungsprogramm für
Kinder, ihre Eltern und Lehrer. Heidelberg: Carl-Auer, ca. 96 Seiten, ca. 14,95 €.
–– Barwinski, R. (2016). Resilienz in der Psychotherapie. Entwicklungsblockaden bei Trauma,
Neurosen und früher Störung auflösen. Stuttgart: Klett-Cotta, ca. 280 Seiten, ca. 34,95 €.
–– Bergmann, M. S. et al. (Hrsg.) (2016). Kinder der Opfer. Kinder der Täter. Psychoanalyse und
Holocaust. Gießen: Psychosozial-Verlag, ca. 420 Seiten, 34,90 €.
–– Bode, H. et al. (2016). Psychosomatische Grundversorgung in der Pädiatrie. Stuttgart: Thieme,
288 Seiten, 99,99 €.
–– Brisch, K. H. (2016). Bindungstraumatisierung. Wenn Bindungspersonen zu Tätern werden.
Stuttgart: Klett-Cotta, ca. 300 Seiten, ca. 39,95 €.
378 Buchbesprechungen
–– Brisch, K. H. (2016). Grundschulalter. Stuttgart: Klett-Cotta, ca. 220 Seiten, ca. 23,95 €.
–– Burkhardt-Mußmann, C., Dammasch, F. (Hrsg.) (2016). Migration, Flucht und Kindesentwicklung. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel, ca. 220 Seiten, ca. 19,90 €.
–– Cierpka, M., Windaus, E. (Hrsg.) (2016). Psychoanalytische Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel, ca. 220 Seiten, ca. 19,90 €.
–– Echardt, J. (2016). TRAUMA. Verstehen und heilen. Salzburg: Ecowin, 336 Seiten, 21,95 €.
–– El-Mafaalani, A. (2015). Migrationssensibilität. Zum Umgang mit Globalität vor Ort. Weinheim: Beltz Juventa, ca. 140 Seiten, ca. 14,95 €.
–– Haig, M. (2016). Ziemlich gute Gründe, am leben zu bleiben. München: dtv, 304 Seiten, 18,90 €.
–– Harms, T. (2016). Körperpsychotherapie mit Säuglingen und Eltern. Grundlagen und Praxis.
Gießen: Psychosozial-Verlag, ca. 350 Seiten, 39,90 €.
–– Hartung, T. et al. (2016). Wie viel Richtlinien verträgt die Psychoanalyse? Eine kritische Bilanz
nach 50 Jahren Richtlinien-Psychotherapie. Gießen: Psychosozial-Verlag, ca. 150 Seiten, 19,90 €.
–– Jansen, P., Richter, S. (2016). Macht Bewegung wirklich schlau? Zum Verhältnis von Bewegung
und Kognition. Göttingen: Hogrefe, ca. 240 Seiten, ca. 29,95 €.
–– Korittko, A. (2016). Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen.
Störungen systemisch Behandeln. Heidelberg: Carl-Auer, ca. 288 Seiten, ca. 34,95 €.
–– LeDoux, J. (2016). ANGST. Wie wir Furcht und Angst verstehen und therapieren können,
wenn wir das Gehirn verstehen. Salzburg: Ecowin, 632 Seiten, 26,00 €.
–– Leuzinger-Bohleber, M., Lebiger-Vogel, J. (Hrsg.) (2016). Migration, früher Elternschaft und
die Weitergabe von Traumatisierung. Stuttgart: Klett-Cotta, ca. 320 Seiten, ca. 34,95 €.
–– Ludwig-Körner, C. et al. (Hrsg.) (2016). Frühe Hilfen – Frühförderung – Inklusion. Stärkung der
Eltern-Kind-Beziehung im Kindergarten. Gießen: Psychosozial-Verlag, ca. 210 Seiten, 24,90 €.
–– Pav, U. (2016). „… und wenn der Faden reißt, will ich nur noch zuschlagen!“ Pädagogischer
Umgang mit Gewalt in der stationären psychotherapeutischen Behandlung Jugendlicher. Gießen: Psychosozial-Verlag, ca. 300 Seiten, 34,90 €.
–– Pretis, M. (2016). ICF-basiertes Arbeiten in der Frühförderung. München: Reinhardt, 197 Seiten, 29,90 €.
–– Preuss, W. F. (2016). Geschlechtsdysphorie, Transidentität und Transsexualität im Kindes- und
Jugendalter. München: Reinhardt, ca. 280 Seiten, ca. 39,90 €.
–– Reddemann, L. (2016). Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit
ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart: Klett-Cotta, ca. 240 Seiten, ca. 27,95 €.
–– Schneider. W., Hasselhorn, M. (2016). Förderprogramme für Vor- und Grundschule. Göttingen: Hogrefe, ca. 250 Seiten, ca. 34,95 €.
–– Streeck-Fischer, A. et al. (2016). Borderline-Störungen bei Jugendlichen. Die psychoanalytischinteraktionelle Methode. Göttingen: Hogrefe, ca. 120 Seiten, ca. 24,95 €.
–– Thomas, A. (2016). Interkulturelle Psychologie. Verstehen und Handeln in internationalen
Kontexten. Göttingen: Hogrefe, ca. 300 Seiten, ca. 32,95 €.
–– Tuschen-Cafier, B., Hilbert, A. (2016). Binge-Eating-Störung. Göttingen: Hogrefe, ca. 90 Seiten,
ca. 19,95 €.
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TAGUNGSKALENDER
3.-5.6.2016 in Hamburg:
10. Tagung Bundesverband psychoanalytische Paar- und Familientherapie (BvPPF).
Paare als Eltern – Eltern als Paare
Auskunft: BvPPF, Frau Gutmann, E-Mail: [email protected],
Internet: www.bvppf.de/kongress
10./11.6.2016 in Köln:
Forum Frühe Kindheit 2016: Lernen und Bildung in den ersten Lebensjahren
Auskunft: Gerda Rüsche & Lisa Frings, Universität Siegen, Adolf-Reichwein-Str. 2,
57068 Siegen; Tel.: 0271- 740 4014, Fax : 0271-740 4095, E-Mail: [email protected],
Internet: www.forum-fruehe-kindheit.de
11.6.2016 in Aachen:
5. Aachener Symposion für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter.
Jugend und Familie in Zeiten des Umbruchs
Auskunft: Stiftung KJPP, Lütticher Str. 512 a, 52074 Aachen; Tel.: 0241-73960,
Fax: 0241-79419, E-Mail: [email protected], Internet: www.stiftung-kjpp.de
17.-19.6.2016 in Hannover:
2. Maschsee-Symposium. Helden, Täter und Opfer – Zum Dilemma der Verbundenheit
Auskunft: TagungsAgentur: E-Mail: [email protected]
8.-10.7.2016 in München:
10. Internationaler Kongress über Theorie und Therapie von Persönlichkeitsstörungen
(IKTTP). Persönlichkeitsstörungen – Welche Therapie ist richtig?
Auskunft: Internet: www.ikttp.de/nc
11.-15.7.2016 in Salzburg/Österreich:
65. Internationale Pädagogische Werktagung Salzburg. ZEIT
Auskunft: Internet: www.bildungskirche.at/Werktagung
10./11.09.2016 in Bremen:
67. Kindertherapietage
Auskunft: Eva Todisco, Zentrum für Klinische Psychologie der Universität Bremen,
Grazer Straße 6, 28359 Bremen; Tel.: 0421-218-68603, Fax: 0421-218-68629,
E-Mail: [email protected], Internet: www.zrf.uni-bremen.de
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 379 – 381 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
380 Tagungskalender
16.-17.9.2016 in Düsseldorf:
Männerkongress 2016. Männliche Sexualität und Bindung
Auskunft: Internet: www.maennerkongress2016.de
28.9.-1.10.2016 in Athen/Griechenland:
European Family Therapy Association (EFTA)
Auskunft: Internet: www.efta2016athens.gr
30.9.-1.10.2016 in Göppingen:
19. interdisziplinäres Symposium zur entwicklungsfördernden und individuellen Betreuung von Frühgeborenen und ihren Eltern
Auskunft: Ausbildungszentrum Laktation und Stillen, Kantor-Rose-Str. 9, 31868
Ottenstein; Tel.: 05286-1292, E-Mail: [email protected],
Internet: www.neonatalbegleitung.de
20.-22.10.2016 in Alpbach/Österreich:
24. Internationale Wissenschaftliche Tagung. Kongress Essstörungen 2016
Auskunft: Netzwerk Essstörungen, Templstrasse 22, A-6020 Innsbruck, Österreich;
Tel.: +43-512-576026, Fax: +43-512-583654, E-Mail: [email protected],
Internet: www.netzwerk-essstoerungen.at
21.-22.10.2016 in Innsbruck/Österreich:
17. Jahrestagung der Österreichischen Adipositas Gesellschaft
Auskunft: Österreichische Adipositas Gesellschaft, Währingerstraße 76/13, A-1090 Wien;
Tel.: +43-650-7703378, Fax: +43-1-2645229, E-Mail: [email protected]
25./26.11.2016 in Berlin:
4. Kongress Meditation & Wissenschaft 2016
Auskunft: Dr. Nadja Rosmann, content + creation + consulting, Hofheimerstraße
21A, 65719 Hofheim; Tel: 06192-2068258, Fax: 03222-3943886,
E-Mail: [email protected]
Internet: www.meditation-wissenschaft.org
8.-11.3.2017 in Heidelberg:
International Systemic Research Conference (ISR) 2017. Linking Systemic Research
and Practice
Auskunft: Institute of Medical Psychology, Heidelberg University Hospital, Bergheimer
Str. 20, 69115 Heidelberg; Tel.: 06221-568185, E-Mail: [email protected],
Internet: www.systemisch-forschen.de
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Tagungskalender 381
9.-11.03.2017 in Frankfurt am Main:
19. Symposion Frühförderung 2017
Auskunft: Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung e.V., Bundesgeschäftsstelle, Seidlstraße 18a, 80335 München; Tel: 089-54589827, Fax: 089-54589825,
E-Mail: [email protected]
Aus dem Inhalt des nächsten Heftes
Aufwachsen unter Risiko: Exekutive Funktionen der Kinder
S. Bergmann et al.: Belohnungsaufschub bei Kindern adipöser Mütter – A. Fuchs et al.:
Transgenerationale Einflussfaktoren kindlicher Inhibitionskontrolle – S. Schloß: Exekutive Funktionen bei Vorschulkindern mit erhöhtem ADHS-Risiko – K. Schuchardt, C.
Mähler: Exekutive Funktionen bei Kindern mit Lernstörungen
Seelische und körperliche Risiken für Männer:
den Rollenkäfig sprengen
Matthias Franz / André Karger (Hg.)
Angstbeißer, Trauerkloß,
Zappelphilipp?
Seelische Gesundheit bei Männern und Jungen
2015. 271 Seiten, mit 9 Abb. und 9 Tab., Paperback
€ 25,– D
ISBN 978-3-525-45243-1
eBook: € 19,99 D
ISBN 978-3-647-45243-2
Psychische Belastungen äußern sich bei Männern häufig anders als bei Frauen.
Statt darüber zu sprechen oder sich Hilfe zu suchen, verhalten sich Männer eher
destruktiv – gegenüber anderen oder sich selbst.
Bis heute ist der männliche Rollenkäfig recht stabil. Gefühlsferne und klagloses
Ertragen von Härten und Gesundheitsrisiken sind immer noch typisch für Männer. Sie tun sich schwer mit der eigenen emotionalen Bedürftigkeit. In der Kindheit erfahrene Verunsicherungen, Ängste, Wut und Trauer werden abgewehrt. Ungesundes Arbeiten, Alkoholmissbrauch, Aggression sind krank machende Folgen.
Aber auch gesellschaftlich greift der Rollenkäfig, beispielsweise werden bei Jungen
normale Aggression und Bewegungsdrang zu destruktiver Impulsivität und ADHS
umgedeutet. Medizinische Diagnostik und Behandlung sind noch zu unsensibel
für die seelischen Nöte von Jungen und Männern. Expertinnen und Experten informieren über diese Problematik und zeigen Lösungswege auf.
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Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
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Neuer Zugang zum Verständnis
von Autismus-Spektrum-Störungen
Peter Vermeulen
Autismus als
Kontextblindheit
Mit einem Vorwort von Sven Bölte, übersetzt
von Rita Hallbauer und Reinhard Rudolph.
2016. 333 Seiten, mit 68 Abb. und 1 Tab., kartoniert
€ 35,– D
ISBN 978-3-525-49010-5
eBook: € 27,99 D
ISBN 978-3-647-49010-6 (PDF)
ISBN 978-3-647-99749-0 (ePub)
Autismus-Spektrum-Störungen gibt es häufiger als allgemein angenommen.
Peter Vermeulens Theorie der Kontextblindheit eröffnet neue Sichtweisen auf die
Störung und gibt praktische Impulse für den gemeinsamen Alltag.
Menschen mit Autismus haben Probleme, Kontextinformationen von Situationen zu
erfassen. Was bedeutet das? Anhand seiner Theorie der Kontextblindheit ordnet Peter
Vermeulen Autismus-Spektrum-Störungen wissenschaftlich neu ein und fundiert sie
neuropsychologisch. Belegt durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse und Beispiele aus der Praxis, eröffnet der Autor Betreuern, Lehrern, Begleitern
und Eltern von Menschen mit Autismus neue Perspektiven. Er leitet Strategien zur
Kompensation bzw. Hinweise und Beispiele für eine autismusfreundliche Gestaltung
der Umwelt ab und gibt so neuartige Anregungen für den Alltag.
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Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
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Lieber überwacht als übersehen werden! Den psychosozialen
Veränderungen der digitalen Moderne auf der Spur
Martin Altmeyer
Auf der Suche nach Resonanz
Wie sich das Seelenleben in der digitalen
Moderne verändert
2016. 280 Seiten, kartoniert
€ 25,– D
ISBN 978-3-525-46272-0
eBook: € 19,99 D
ISBN 978-3-647-46272-1 (PDF)
ISBN 978-3-647-99773-5 (ePub)
Gegen die gängige Modernekritik, die unter der Parole der Überwachungsgesellschaft
einen digitalen Totalitarismus heraufziehen sieht, analysiert Martin Altmeyer die
Welt der neuen Medien als identitätsstiftendes Resonanzsystem: Ich werde gehört
und gesehen – also bin ich!
Wir posten und posen, was das Zeug hält. Wir stellen unsere Selfies ins Netz oder
verschicken sie über soziale Medien. Eifrig füllen wir unsere Facebook-Seiten oder
bedienen uns der Bildtechniken von Instagram. Ständig schauen wir auf unsere
Smartphones, um ja nicht die neueste SMS zu verpassen. Warum tun wir das? Aus
narzisstischen Motiven? Nein, sagt Martin Altmeyer, wir sind auf der Suche nach
einem Feedback unserer Umwelt, weil die Befriedigung von Resonanzbedürfnissen identitätsstiftend wirkt – von Geburt an, ein Leben lang. Wir werden getrieben von einer Sehnsucht nach Spiegelung, vom Verlangen danach, von anderen
Menschen gesehen und gehört zu werden. Diesen psychosozialen Veränderungen
in der digitalen Moderne geht das Buch auf den Grund.
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
www.v-r.de
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