FREI ES THEMA Der Thoraxschmerz aus Sicht der Osteopathie O steopathische Medizin ist ein Zweig der medizinischen Wissenschaften und gründet sich auf den philosophischen Prinzipien von Dr. A. T. Still, MD, DO. Sie verbindet diese mit den allgemein anerkannten Standards der Medizin und ergänzt und erweitert das etablierte Medizinsystem im Kontext einer integrierenden Patientenversorgung, die sowohl evidenzbasiert als auch patientenzentriert arbeitet. Im Fokus steht die wechselseitige Beziehung zwischen Struktur und Funktion und die Unterstützung der Fähigkeit des Organismus, saluto-genetische Ressourcen zur Wiederherstellung und Erhaltung der Gesundheit einzusetzen. Osteopathische Medizin beinhaltet insbesondere eine umfassende manuelle Untersuchung, Diagnostik, Therapie und Prävention von Funktionsstörungen – somatischen Dysfunktionen – im muskuloskelettalen System (parietal), den viszeralen Organen (viszeral) und dem peripheren wie auch zentralen Nervensystem (kranio-sakral).* INTERDISZIPLINÄRES NETZWERK Im Verständnis ganzheitlicher Schmerzmedizin ist es unabdingbar, den Thoraxschmerz im interdisziplinären Netzwerk in enger Abstimmung mit Fachkollegen aus den Gebieten Innere Medizin/Kardiologie, Pulmologie, Allgemeinmedizin, Neurologie, Rheumatologie und bei Bedarf auch Herz-/ Thoraxchirurgie und Wirbelsäulenchirurgie zu diagnostizieren und zu behandeln. Gerade im niedergelassenen Bereich bedarf es des Aufbaus eines suffizienten FacharztNetzwerkes, um für bestmögliche Patientenzufriedenheit und Patientensicherheit zu sorgen. GRUNDLAGEN In den Hinterhorn-Laminae des Rückenmarks kommt es bei Afferenzen aus der Peripherie (C-Fasern, A-beta- und A-delta-Fasern) zu einer Konvergenz von Neuronen aus verschiedenen Organen sowie aus mehreren Rückenmark-Segmenten. Hierbei spielen sogenannte „Wide Dyna28 SCHMERZ NACHRICHTEN VON DR. REINHARD WALDMANN Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Ärztlicher Osteopath DO. DAAO-EROP, Spezielle Schmerztherapie, Manuelle Medizin. Wahlarzt für Schmerztherapie und Osteopathie, OA am Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation des KH Barmherzige Schwestern Linz mic Range“-Neurone (WDR-Neurone) eine wesentliche Rolle. Durch räumliche und zeitliche Summation kann es zudem zu einer verstärkten afferenten Weiterleitung im ZNS kommen (EPSP – Exzitatorische postsynaptische Potenziale). Des Weiteren kommt es auch zu einer Verschaltung auf efferente Fasern (Alpha-Motoneurone und autonom sympathische Neurone). Dadurch kommt es zu typischen Gewebsveränderungen, welche in der osteopathischen Medizin als somatische Dysfunktion beschrieben werden. Diese sind (zusammengefasst unter dem Begriff TART): Tissue texture change – Gewebsveränderung; Asymmetrie; Restriction –Bewegungseinschränkung; Tenderness – Schmerz. Beim Thoraxschmerz spielen diese afferent-efferenten Regelkreise, viszerosomatisch und somatoviszeral, eine wesentliche Rolle. So kann es beispielsweise durch eine längerfristige Pathologie am Herzen zu einem segmentalen Hypertonus der tiefen kurzen WS-Muskulatur und Dysfunktion des zweiten bis vierten BWK kommen. Dieses Phänomen wird „Fazilitation“ genannt und dient in der Osteopathie zur Diagnostik und Behandlung von Dysfunktionen. In der Diagnostik ist es von Bedeutung, kardiale und vertebragene Erkrankungen – gegebenenfalls durch interdisziplinäre Zusammenarbeit – zu erkennen und zu bewerten, um inadäquate invasive Diagnostik oder insuffiziente manuelle Behandlung zu vermeiden. THORAXSCHMERZ In der physikalisch-osteopathischen Facharztpraxis werden Patienten meist mit subakut bis chronischem Thoraxschmerz vorstellig, akute Symptomatiken sind die Ausnahme. Die von den Patienten geäußerten Beschwerden reichen von einem stechenden über ziehenden, brennenden bis drückenden Schmerz, welcher dauerhaft oder nur gelegentlich auftritt und teilweise bewegungsabhängig oder atemabhängig ist. Der Schmerz ist im Bereich des Sternums, der Synchondrose der Rippen, entlang der Rippen sowie der Rippenzwischenräume und der BWS lokalisiert. Begleitsymptomatiken wie Unwohlsein, vermehrtes Schwitzen, Blutdruckerhöhung, erhöhter Ruhepuls und Atemnot werden häufig geäußert. DIAGNOSTIK Zu unterscheiden ist, ob der Patienten beim ärztlichen Osteopathen primär zur Vorstellung kommt oder er bereits von einem oben genannten Kollegen (z. B. von einem Kardiologen) überwiesen wurde. Bei Überweisung sollten zuerst sämtliche vorliegende medizinische Befunde gesichtet werden (eventuell wurde bereits im Vorfeld mit dem Fachkollegen Kontakt aufgenommen und der Fall interdisziplinär erörtert). In diesem Fall kann gleich mit der osteopathischen Diagnostik einschließlich einer ausführlichen Schmerzanamnese begonnen werden. Kommt der Patient jedoch ohne vorhergehende fachärztliche Abklärung, so richtet sich die Anamnese zuerst auf die Symptomatik des Herzens, der Gefäße und der Lunge (einschließlich der Medikamente) und die Familienanamnese. Daran schließt eine orientierende Untersuchung des Herzens, der Gefäße und der Lunge an. Sollten hier Auffälligkeiten bestehen, wird der Patient zum entsprechenden Facharztkollegen oder Allgemeinmediziner zur weiteren Abklärung überwiesen. Anleitung zur adäquaten WS-Haltung. Bei Bedarf werden physikalische Therapien wie beispielsweise myofasciale Stoßwelle, Elektrotherapie, Wärmeanwendungen sowie Neuraltherapie etc. hinzugenommen. Bei unauffälligem Befund erfolgt nun eine Untersuchung der gesamten Wirbelsäule und der Extremitäten. Hier ist insbesondere auf Fehlhaltungen, Bewegungseinschränkungen und Schmerzangaben zu achten. Von Seiten des Bewegungsapparates sollten insbesondere Hinweise auf Wirbelkörpereinbrüche bei Osteoporose, rheumatische Erkrankungen, Hinweise auf ossäre Metastasierungen oder Primärtumore genauestens erfasst werden. Anschließend erfolgt noch eine neurologische Untersuchung, vor allem eine Myelopathie der UEX oder radikuläre Symptomatiken thorakal gilt es auszuschließen. Die gesamten erhobenen Befunde ergeben nun in Zusammenschau mit der Anamnese ein Bild der Schmerzursache. Die Diagnostik wird in den meisten Fällen durch ein konventionelles Röntgen der BWS in zwei Ebenen im Stehen ergänzt. Eine weiterführende Bildgebung mittels CT/MRT ist nur in Ausnahmefällen, bei konkretem Verdacht auf intraossäre oder neurologische Symptomatik notwendig. Eventuell kann eine Blutuntersuchung durchgeführt werden. Osteopathisch finden sich hierbei häufig Hypomobilitäten, TH2-4 in Steilstellung, verminderte Kyphose mit CTG-Dysfunktionen der entsprechenden Rippen auf der schmerzdominanten Seite. Dabei kommt es oft auch zu einem Druckschmerz an der zugehörigen Synchondrose. Sind Dysfunktionen TH4-6 zu finden, zeigen sich auch fast immer schmerzhafte viszerale Dysfunktionen in Epigastrium/Magen/Leber. Bei Patienten nach kardialen/mediastinalen Operationen kann eine erhöhte Spannung der mediastinalen Strukturen diagnostiziert und dabei der Schmerz unmittelbar ausge- Thinkstock Wenn dieser „allgemeine“ Teil der Untersuchung abgeschlossen ist, erfolgt eine ausführliche manuelle osteopathische Diagnostik von somatischen Dysfunktionen nach den Kriterien TART an der Brustwirbelsäule („Blockierungen“), den Costotransversalgelenken, dem Sternum mit den Synchondrosen, der Interkostalmuskulatur und der Rückenmuskulatur. Danach erfolgt die viszeral-osteopathische Untersuchung (nach denselben Kriterien wie parietal thorakal) von Herz, Lunge, Mediastinum, Zwerchfell, Magen, Leber und gegebenenfalls auch der Nieren sowie von Dünn- und Dickdarm. Die osteopathische Medizin bietet eine Vielzahl an verschiedenen Behandlungstechniken an, von manipulativem HVLA (High velocity low amplitude) über MFR (Myofascial release), MET (Muskelenergietechniken), BLT (Balanced ligamentous tension) bis zu sanften Techniken im Viscerum, den Gefäßen und Nerven. Eine umfangreiche Ausbildung ermöglicht es dem Osteopathen, die einzelnen Techniken dem Patienten anzupassen und ein bestmögliches Behandlungsergebnis zu erzielen. löst werden. Auch auf Veränderungen der Haut (Schwitzen, Unreinheit) im Dermatom wird genauestens geachtet. Entsprechende Reflexzonen nach Jarricot geben Hinweise auf Störungen innerer Organe, ebenso Chapman-Reflexpunkte, welche thorakalventral, nahe am Sternum in den Intercostalräumen aufgefunden werden. Abschließend werden die erhobenen Befunde mit dem Patienten ausführlich besprochen und das weitere Behandlungsregime festgelegt. In Summe sind für die gesamte Diagnostik mindestens 45 Minuten einzuplanen. OSTEOPATHISCHE THERAPIE Der Umfang und die Häufigkeit der Behandlung richten sich nach der Schwere der Erkrankung, der Dauer der Symptomatik und dem individuellen Ansprechen des Patienten auf die Behandlung. Erfahrungsgemäß sind drei Behandlungen à 45 Minuten im Abstand von einer Woche und drei weitere Behandlungen alle drei bis vier Wochen sinnvoll. Zudem erhält der Patient ein individuelles Eigenübungsprogramm, vor allem zur Mobilisation der BWS sowie Die Erfahrung hat gezeigt, dass eine rasche Besserung bei primärer Behandlung der BWS mit myofascialen und manipulativen Techniken zu erzielen ist. Anschließend werden die CTG behandelt. Des Weiteren erfolgt die Behandlung dysfunktioneller innerer Organe und des Zwerchfells. Abschließend werden noch detonisierend myofasciale Techniken und Techniken zur Behandlung des thorakalen Sympathikus angewendet. Bei sehr irritierbaren schmerzgeplagten Patienten muss in den ersten Sitzungen oft auf manipulative Techniken gänzlich verzichtet werden. Dieser Behandlungsablauf hat sich in den letzten Jahren bei vielen Patienten mit Thoraxschmerzen bewährt. Der Behandlungsablauf und die verwendeten Techniken unterscheiden sich jedoch von Therapeut zu Therapeut, entsprechend der individuellen Ausbildung und Erfahrung. Wichtig ist, dass der Patient ein adäquates Eigenübungsprogramm selbstständig langfristig durchführt, um Rezidive zu vermeiden. Eine regelmäßige, dauerhafte Behandlung über einen längeren Zeitraum ist nur in Ausnahmefällen notwendig. Eine „Abhängigkeit“ des Patienten von „seinem“ Osteopathen ist unbedingt zu vermeiden. Osteopathische Behandlungsserien im Intervall, mit entsprechenden Pausen in der Behandlung und Eigenmanagement durch den Patienten, sind bei chronischen Beschwerden einer regelmäßigen Dauerbehandlung vorzuziehen. *Deklaration Osteopathie des European Register for Osteopathic Physicians /EROP, www.erop.org SCHMERZ NACHRICHTEN 29