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Pressezentrum
Sperrfrist:
Dokument:
0/059 PF
Mittwoch, 13. Juni 2001; 18:00 Uhr
Programmbereich:
Veranstaltung:
Eröffnungsgottesdienste
Referent/in:
Kardinal Dr. Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen
Bischofskonferenz, Mainz
Ort:
Schlossterrasse, Schloss, Höchst
Das Losungswort des Frankfurter Kirchentags 2001 „Du stellst meine Füße auf weiten
Raum“ ist ohne gegenläufige Erfahrungen und Aussagen im Psalm 31 nicht so recht
erschließbar. Es gibt jedenfalls seine ursprüngliche Kraft nicht her, wenn wir diese
vertrauensvolle Aussage nicht mit den zerstörerischen Mächten unseres Lebens
konfrontieren. Der umfangreiche Psalm, der zwei Teile enthält (31,2–9.10–25), besteht
jeweils aus der Klage, dem Vertrauen und dem Dank des Beters. Auch wenn der Psalm die
Form eines individuellen Klageliedes hat, so herrscht doch das Wunder der Erhörung und
der Erfahrung des Heils vor. Der ganze Psalm ist von Dank und Vertrauen durchzogen. Für
den Christen hat dieser Psalm eine besondere Bedeutung, weil in ihm das letzte Wort Jesu
am Kreuz „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ enthalten ist (vgl. Ps 31,6 z.B. bei
Lk 23,46).
Der Beter nennt gerade im Kontext unseres Losungswortes sehr deutlich das Elend und die
Not (vgl. 31,8.11): „Meine Kraft ist ermattet im Elend, meine Glieder sind zerfallen.“ In
solchen Erfahrungen taucht Angst auf. Die Lebensmöglichkeiten schrumpfen. Es wird immer
enger. Angst und Enge gehören zusammen, nicht zufällig auch in unserer Sprache. Erst aus
dieser Bedrängnis heraus bekommt das Losungswort seinen vollen Klang: „Du hast mich
nicht preisgegeben der Gewalt meines Feindes, hast meinen Füßen freien Raum
geschenkt.“ Es gibt verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten: „Du stellst meine Füße auf
weiten Raum“ (Luther-Bibel), „Du hast mir Raum zum Leben verschafft“ (Gute NachrichtBibel), „Du hast auf weites Feld meine Füße gestellt“ (H.-J. Kraus).
Wir wissen nicht genau, in welcher Notlage sich dieser Beter befindet. Es ist nicht
ausgeschlossen, dass hinter der heutigen Textgestalt ursprünglich einmal die Erfahrung von
Krankheit und Heilung stand. Aber die Bedrängnis ist doch auch über eine einzelne
bestimmte Situation hinaus „typisch“. Es ist nicht überraschend, dass darum bei den
Auslegern viele mögliche Situationselemente genannt werden: ein unschuldig Verfolgter, ein
Mordanschlag, falsche Anklagen, vielleicht sogar ein Asylant. Auf jeden Fall spielen
Schwachheit, Elend und wohl auch soziale Isolierung eine Rolle. Es hat seinen guten Sinn,
wenn die konkrete Notlage etwas offenbleibt, denn so können viele, die leiden und Grund zur
Klage haben, ihre Bedrängnis in der Sprache dieses Psalms finden. So hat man auch schon
einmal den Psalm ein „Kompendium konkreter Nöte“ genannt. Nicht zufällig gibt es hier auch
eine große Verwandtschaft zu ähnlichen Texten des Alten Testamentes, z.B. zu Ps 6 und zu
den Konfessionen des Jeremia. So dürfen auch wir heute den Psalm vor dem Hintergrund
unserer Lebenssituationen und Notlagen lesen und verstehen.
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Das Losungswort enthält eine bildhafte Aussage, nämlich die wiedergewonnene Weite.
Jeder, der sich äußerlich und innerlich eingeengt und geradezu gefangen fühle, weiß um die
Befreiung, wenn man wieder ins Freie kommt. Dies ist auch ähnlich wenn wir wieder Raum
zum freien Atmen erhalten. Darum ist es auch nicht überraschend, dass die Bibel an anderer
Stelle dieses Bild gebraucht: „Er führt mich hinaus ins Weite, er befreite mich“ (Ps 18,20),
„Du schaffst meinen Schritten weiten Raum“ (Ps 18,37), „Befrei mein Herz von der Angst,
führe mich heraus aus der Bedrängnis“ (Ps 25,17), „In der Bedrängnis rief ich zum Herrn; der
Herr hat mich erhört und mich frei gemacht“ (Ps 118,5). Schließlich muss man hier noch in
unmittelbarer Nähe zu unserem Psalm ein ähnliches Wort anführen: „Du hast mir Raum
geschaffen, als mir angst war“ (Ps 4,2). So lässt sich leicht überblicken, wie sehr die
Befreiung aus Enge und Angst vielfältiger Art zur Heilsbotschaft der Bibel gehört. Es gehört
zum freien Menschen, dass er einen weiten Lebensraum hat. Dies betrifft in gleicher Weise
äußere Bedrängnis und innere Notlagen (vgl. weitere Beispiele bei 2 Sam 22,20; Ps 66,12;
Jes 54,2 usw.).
In dieser Situation von Enge und Angst kommt es darauf an, dass man nicht
mutterseelenallein und verlassen bleibt. Es ist schon ganz entscheidend, dass einer einem
im Elend überhaupt sieht. Die Angst kann ja so weit gehen, dass der Bedrängte jede
Hoffnung verliert, auch auf den Kontakt mit Gott. Wenn aber einer da ist, der keinen vergisst
und über allem wacht, ist Rettung in Sicht. Unser Psalm umschreibt diese mit kräftigen
Bildern, die heute eher verblasst sind: „Du wirst mich befreien aus dem Netz, das sie mir
heimlich legten; denn du bist meine Zuflucht“ (31,5), Gott ist wie ein schützender Fels und
eine feste Burg (vgl. 31,3f.). Immer wieder taucht aber an entscheidender Stelle das Wort
vom Antlitz Gottes auf. Er sieht den Menschen wirklich und wendet sich freundlich und gütig
dem Bedrängten zu: „Lass dein Angesicht leuchten über deinen Knecht ... du beschirmst sie
(die Menschen) im Schutz deines Angesichts“ (31,17.21).
Wenn man den befreienden Jubel und den überschäumenden Dank wahrnimmt, der in
diesem Klage- und Danklied liegt – es ist beides zugleich – zur Sprache kommt, spürt man
auch, dass hinter diesem Psalm Nöte stehen, die durch alle Zeiten und Epochen hindurch
immer wieder den Menschen bedrängen und in Ohnmacht versetzen: Krankheit, Leid,
Schuld, Lüge, Verleumdung, falsche Anklage, Lebensgefahr. Wir sollten auch heute nicht zu
schnell in Kirche und Seelsorge aus der Konfrontation mit diesen individuellen
Unheilsituationen flüchten und uns den mehr plakativen, großflächigen sozialen und
politischen Dimensionen verschreiben. Es gibt mitten in unserem Wohlstand und auch mitten
im Reichtum so viele unvermutete Situationen der Verlassenheit und des Elends, der
Rücksichtslosigkeit und der Ungerechtigkeit. Viele Menschen warten darauf, dass jemand
Zeit hat für sie, sie anhört und ihnen ein befreiendes Wort schenkt. Dies müsste in unserer
Seelsorge eine viel größere Achtung und Anerkennung finden. Statistiken können auch die
wirklichen Prioritäten, um die es geht, verdecken. Dies gilt besonders für unsere modernen
Nöte. Ich bin fest überzeugt, dass die erstaunlich hohe Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe
viel zu tun hat mit der Angst vor dem Sterben, vor dem Verlassensein, der fehlenden
Begleitung, der liebenden Hand, dem gütigen Blick. Durch unsere Präsenz im Glauben und
unser Zeugnis von Gott können wir, wenn wir es selbst aushalten, viel Licht und Trost in das
Dunkel bringen. Dann entdecken wir auch wieder ganz neu die Verheißung der biblischen
Offenbarung: „Du hast mir Raum geschaffen, als mir angst war.“
Hier darf uns freilich das Bild von der „Weite“ nicht täuschen. Es geht nicht nur um gute
Stimmung und die Luft zum Atmen. Wir kommen nicht zuletzt deshalb immer wieder in die
Enge und auch in Angst, weil wir das Heil bei Götzen und Idolen suchen, die versagen. Der
Beter entlarvt sie als „ohnmächtige Nichtse“, als „Windhunde der Nichtigkeit“ (vgl. 31,7).
Diese Weite kann uns wirklich nur Gott selbst schenken, wenn wir uns auf ihn einlassen und
allen schlechten Ersatz fahren lassen. Darum gehört zur Klage eben auch das
Eingeständnis, das wir uns nicht selbst helfen können. Nicht zufällig finden wir in unserem
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Psalm das letzte Wort des sterbenden Jesus: „In deine Hände lege ich voll Vertrauen meinen
Geist; du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott.“ (31,6).
Gerade hier kann man anknüpfen und weiterlesen im Neuen Testament. Die Theologie des
Kreuzes kann uns lehren, dass die Kraft Gottes den Menschen unglaublich viel ertragen
lässt. Wehe, wenn einer dies ausnützt. Der Heilige Paulus ist dafür selbst mit seinen
verschiedenen Lebenssituationen ein eindrucksvolles Beispiel (vgl. 2 Kor 4,8–12; 6,4–10;
12,9f.). Hier wird das Vertrauen, trotz aller Engen und Ängste in Gottes Hand geborgen zu
sein, gesteigert. Es gibt unglaublich kühne Aussagen, die wir in ihrer inneren Kraft noch
längst nicht genügend entdeckt haben, wie z.B.: „Von allen Seiten werden wir in die Enge
getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln
dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt
und doch nicht vernichtet.“ (2 Kor 4,8f.). Ähnlich heißt es in 2 Kor 6, 4–10: „In allem erweisen
wir uns als Gottes Diener: durch große Standhaftigkeit, in Bedrängnis, in Not, in Angst, unter
Schlägen, in Gefängnissen, in Zeiten der Unruhe, unter der Last der Arbeit, in durchwachten
Nächten, durch Fasten ... bei Ehrung und Schmähung, bei übler Nachrede und bei Lob. Wir
gelten als Betrüger und sind doch wahrhaftig; wir werden verkannt und doch anerkannt; wir
sind wie Sterbende, und seht: wir leben; wir werden gezüchtigt und doch nicht getötet; uns
wird Leid zugefügt, und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm und machen doch viele
reich; wir habe nichts und haben doch alles.“
Zu einer solchen Hoffnung sind wir gerufen. Sie kann nicht enttäuschen, auch nicht in tiefer
Finsternis. Darum ist es wichtig, den Herausforderungen standzuhalten und nicht zu flüchten.
Es gibt ja erstaunlich viele moderne Psalmen, die uns dies gerade von Dichterinnen und
Dichtern bezeugen, die viel gelitten haben.
Bei Hilde Domin heißt es: „salva nos ex ore leonis den Rachen offen halten in dem zu
wohnen nicht unsere Wahl ist“
(Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart, hg. P. K. Kurz, Freiburg 1978, 166)
Positiv gewendet darf man mit der unvergesslichen Nelly Sachs die Hoffnung haben: „Im
Geheimnis eines Seufzers kann das ungesungene Lied des Friedens keimen.“
(Höre Gott. Psalmen des Jahrhunderts, hg. P.K. Kurz, Zürich 1997, 86)
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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