PU 1/2003

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INHALTSVERZEICHNIS
I
EDITORIAL
3
II ZUR DIDAKTIK UND METHODIK POLITISCHER BILDUNG
 Hans-Joachim Fichtner: Grußwort zum 10. Politiklehrertag
4
 Prof. Rolf Wernstedt: "Politische Bildung - wieder einmal
in der Krise?"
6
 Vorbemerkung zum Parlamentsrollenspiel
12
 Die Beiträge zum Parlamentsrollenspiel
14
 Arbeitsgruppe: Lokale Demokratie und Politik für
Schülerinnen und Schüler verständlicher und erfahrbarer
machen
36
III ZUM ZEITGESCHEHEN
 Wilhelm Wortmann / Sami Hussein: Filistina 2002 Palästinatage in der Region Hannover
43
 Wilhelm Wortmann: Impulsgedanken zur Eröffnung
der Palästinatage 2002
45
 Fritz Erich Anhelm: Politische Bildung und religiöse
Orientierung
51
 Behrouz Khosrozadeh: Religion und Politik als
Zwillinge. Der Islam: eine Religion ohne funktionale
Ausdifferenzierung
63
 Wolf D. Ahmed Aries: Zivilreligion - einige
Anmerkungen aus muslimischer Sicht
69
 Stefan Weigand: Freiheitsrechte und die NS-Justiz
in einer Wanderausstellung des Niedersächsischen
Justizministeriums
75
 Leserbrief zur Rede des Niedersächsischen
Justizministers zur Eröffnung der Wanderausstellung
"Justiz im
Nationalsozialismus"
80
IV AUS UNTERRICHTSPRAXIS; AUS- UND FORTBILDUNG
 Hans-Dietrich Zeuschner: Wirtschaftskunde in der
Berufsschule
d
82
INHALTSVERZEICHNIS
V REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN,
TERMINE
 Rezension zu "Kurt-Peter Merk: Die Dritte Generation Generationenvertrag und Demokratie - Mythos und
Begriff" von Hans-Joachim Fichtner
92
 Rezension zu "Grillmeyer/Ackermann: Erinnern für die
Zukunft" von Hagen Weiler
95
 Rezension zu "Klein/Thränhardt: Gewaltspirale ohne
Ende? - Konfliktstrukturen und Friedenschancen im
Nahen Osten" von Wilhelm Wortmann
98
 Rezension zu "Fatima Mernissi: Islam und Demokratie.
Die Angst vor der Moderne" von Wilhelm Wortmann
100
 9. Bundeskongress für politische Bildung
102
 11. Politiklehrertag in Niedersachsen
102
 Nachruf auf Wolfgang Hilligen
103
VI DVPB-INTERN
 Bericht über die Mitgliederversammlung am 04.09.02
105
 Vordruck zur Mitgliedschaft (Beitrittserklärung)
108
 Verzeichnis der Autoren
109
 Impressum
-2-
EDITORIAL
I
EDITORIAL
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
dieses Heft dokumentiert den 10. Politiklehrertag, den wir im
September 2002 im Niedersächsischen Landtag veranstaltet haben.
Diese Tagung war ein besonderer Höhepunkt unter den
jahrzehntelangen
Aktivitäten
unseres
Landesverbandes.
Im
Mittelpunkt stand ein Parlamentsrollenspiel mit mehr als 170
Schülerinnen und Schülern unter Leitung von Landtagspräsident Prof.
Wernstedt, das landesweit wochenlang in den Schulen vorbereitet
worden war und dann auch vorzüglich klappte. Noch nie stand unser
Landesverband so sehr in der Öffentlichkeit. Vom Wohlwollen des
Landtagspräsidenten begleitet, war die Zusammenarbeit mit der
Landtagsverwaltung ausgezeichnet, Herr Dr. Enste und Herr Surborg
waren sehr hilfsbereit. Aus dem Vorstand der DVPB gebührt neben
dem Vorsitzenden Dr. Hans-Joachim Fichtner Dr. Michael Bax,
Bernhard Bock, Roland Freitag, Bernd Leithold, Stefan Nolting,
Hendrik Peitsch und Hans-Joachim Rödiger für die aufwendige
Vorbereitung besonderer Dank. Geradezu begeisternd waren die
Ernsthaftigkeit und das Engagement der teilnehmenden Schülerinnen
und Schüler. Viele, die schließlich aus Platzmangel nicht teilnehmen
konnten, hatten sich zuvor im Internet am Meinungsaustausch
beteiligt.
Den zweiten Themenschwerpunkt dieses Heftes bildet die
Dokumentation der Palästina-Tage in der Region Hannover, die unser
Vorstandsmitglied Dr. Wilhelm Wortmann im September 2002
organisiert hat. In seine Veranstaltungsreihe führt er selbst ein. Ich will
dazu nur anmerken, wie wichtig es ist, in diesen Wochen und
Monaten, in denen die Kriegsgefahr im Nahen Osten ständig wächst,
das große Leid der Palästinenser zur Kenntnis zu nehmen und nach
Wegen der Verständigung zu suchen.
Im Januar dieses Jahres ist Wolfgang Hilligen gestorben, einer der
großen Didaktiker der politischen Bildung, dem unser Fach viel zu
verdanken hat. Auf den Nachruf von Renate Fricke-Finkelnburg in
diesem Heft möchte ich ausdrücklich hinweisen.
Albrecht Pohle
-3-
EDITORIAL
Im Februar 2003
-4-
10. POLITIKLEHRERTAG
II ZUR DIDAKTIK UND METHODIK POLITISCHER BILDUNG
Grußwort zum 10. Politiklehrertag am 4.9.2002 in Hannover
von Dr. Hans-Joachim Fichtner, Landesvorsitzendem der Deutschen
Vereinigung für politische Bildung (DVPB) - Niedersachsen
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen, liebe Schülerinnen und Schüler!
Zur 10. Fachtagung für Politiklehrerinnen, Politiklehrer und
Interessierte mit dem Thema „Schülerinnen und Schüler machen
Politik“ heiße ich Sie im Namen der Deutschen Vereinigung für
Politische Bildung Niedersachsen (DVPB) herzlich willkommen.
Ihnen, Herr Präsident, gilt unser besonderer Dank dafür, dass wir uns
hier und heute in unserem niedersächsischen Haus des Volkes
versammeln dürfen, um der politischen Bildung neue didaktischmethodische Impulse aus der Schul-Praxis für die Schul-Praxis
zukommen zu lassen.
Neben dem Niedersächsischen Landtag sei auch unseren weiteren
Kooperationspartnern für deren tatkräftige Unterstützung bei der
Organisation und Finanzierung dieser Tagung herzlich gedankt: der
Zentralen Einrichtung für Weiterbildung der Universität Hannover, der
Initiative „n-21: Schulen in Niedersachsen online“ und der
Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung.
Schon jetzt danke ich Herrn Landtagspräsidenten Prof. Wernstedt,
den Moderatoren Dr. Beyersdorf und Dr. Wortmann von der
Universität Hannover, den Leiterinnen und Leitern der verschiedenen
Arbeitsgruppen sowie – last, but not least – den 170 Schülerinnen und
Schülern aus verschiedenen Schulen und Regionen des Landes und
ihren Politik-Lehrkräften für ihre Mitwirkung beim 10. Politiklehrertag.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, unsere
Tagung mit drei berühmt gewordenen Fragen und Antworten aus dem
Vorabend der Französischen Revolution zu eröffnen. Das folgende,
von Abbé Sieyès stammende Zitat soll direkt zum ersten
Tagesordnungspunkt unserer Veranstaltung führen:
-5-
10. POLITIKLEHRERTAG
„Was ist der Dritte Stand? – Alles.
Was ist er bisher gewesen? – Nichts.
Was verlangt er? – Etwas zu werden.“
Idee und Wirklichkeit der Volkssouveränität ließen sich bekanntlich
nicht länger aufhalten: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Doch ist
das damit verbundene politische Grundrecht auf allgemeine Wahl
(„one man – one vote“) in die demokratische Realität wirklich
umgesetzt worden? Kann man von einer entwickelten Demokratie
sprechen, wenn wesentliche Teile des Volkes durch die altersbedingte
Vorenthaltung des aktiven Wahlrechts politisch ausgegrenzt werden?
Und ist es angesichts der demographischen Entwicklung in
Deutschland nicht opportun, der zunehmenden Überalterung unseres
Volkes durch ein zunächst indirektes, später dann direktes Wahlrecht
für Kinder und Jugendliche zu begegnen?
Wenn wir in Sieyès’ Fragen den Begriff „Dritter Stand“ durch
„Minderjährige“ ersetzen, dann sind wir bereits mitten im visionären
Thema des Parlamentsrollenspiels „Wahlalter Null ?!“.
Möge der 10. Politiklehrertag das Gewinnen neuer Erkenntnisse und
Einsichten befördern! Ich wünsche unserer Tagung einen guten und
produktiven Verlauf!
-6-
10. POLITIKLEHRERTAG
"Politische Bildung - wieder einmal in der Krise?"
von Prof. Rolf Wernstedt, Präsident des Niedersächsischen Landtages
Vortrag beim 10. Politiklehrertag der Deutschen Vereinigung für politische
Bildung, Landesverband Niedersachsen, am 04.09.2002 im
Niedersächsischen Landtag
Fast alle bildungspolitischen Debatten seit Dezember 2001 haben die
PISA-Studie zu ihrem Bezugspunkt gemacht. Die Rezeption der
Studie und vor allem der PISA-E-Studie, die einen innerdeutschen
Ländervergleich zum Inhalt hat, sind ein einziger politischer Skandal.
Sie zeigt, dass der Großteil der Journalisten, Politiker,
Verbandsvertreter und andere Interessenvertreter die Studien
entweder nicht gelesen oder nicht verstanden haben. Insofern gibt die
PISA-Studie nicht nur Auskunft über 15-jährige deutsche Jugendliche,
sondern auch über die politische Diskussionskultur in diesem Land.
Sie ist der eigentliche Schock. Denn bevor man zu endgültigen
pädagogischen Urteilen und politischen Maßnahmen schreitet,
bedürfte es der Vergewisserung der methodischen und normativen
Voraussetzungen der Testreihen. Dabei würde auffallen, dass in
Aufnahme angelsächsischer Traditionen auf so genanntes
Anschlusswissen und Basiskompetenzen Wert gelegt wird.
Dieser Ansatz geht von der Annahme aus, dass es bei Beherrschung
dieser Basiskompetenzen einem Menschen leichter fällt, mit neuen
Informationen und Problemen konfrontiert zu werden (wie z. B. auch
bei Tests), solche Informationen zu verknüpfen und Lösungen
anzubieten. Die Zielrichtung dieser PISA-Tests war es, die Fähigkeit
zu testen, in Zusammenhängen zu denken und komplexe
Sachverhalte zu identifizieren, in Beziehung zu setzen und zu
verstehen. Diese Vorgehensweise lässt sich bei den Lesetests
genauso nachweisen wie bei den mathematischen und
naturwissenschaftlichen Aufgaben.
Genau betrachtet nehmen die PISA-Macher damit eine Sichtweise ein,
die die politische Bildung zu ihrem Grundprinzip hat. Unbestritten hat
es bisher zu den Grundzielen der politischen Bildung gehört, politische
Urteilsfähigkeit
zu
befördern
und,
wenn
möglich,
Handlungsbereitschaft und den Willen zur demokratischen
-7-
10. POLITIKLEHRERTAG
Einmischung zu ermutigen.
Dieses setzt aber voraus - hierin sind sich Wissenschaft, Pädagogik
und Politik einig -, dass Sachverhalte ermittelt, Probleme beschrieben
und evtl. Lösungen erarbeitet werden. Dabei ist auch gerade in der
Politik auf Absichten, Interessen, Wirkungen und Folgewirkungen zu
achten. Insofern ist politische Bildung wie Politik selbst ein
Unterfangen mit höchsten intellektuellen Ansprüchen. Das Image der
Fächer, die politische Bildung zum Inhalt haben, ist anders. Dies liegt
vor allem an den vorrationalen Komponenten des Politischen: den
normativen politischen Grundhaltungen und den um Machterwerb und
Machterhalt sich gruppierenden Kräften sowie der medialen
Verarbeitungen politischen Geschehens.
Ich sehe gegenwärtig und strukturell drei Probleme, mit der sich
politische Bildung auseinander setzen muss, bevor sie zu
methodischen und didaktischen Überlegungen schreitet:
1. Wir wissen es, und die jüngste Shell-Studie hat es demonstrativ
hervorgehoben, dass junge Menschen in Deutschland (zwischen
15 und 25) mehrheitlich mit Fleiß und Entschiedenheit an ihrer
Karriere und dem eigenen Fortkommen arbeiten. Dies geht einher
mit einer ziemlich deutlichen Abkehr von der Politik, die bis zur
Verachtung reicht. Von der Politik wird keine Lösung eigener oder
gar weltweiter Probleme erwartet. Die Forscher sprechen sogar
von der egoistischsten Generation seit dem 2. Weltkrieg. Nimmt
man dazu noch die davor liegende Generation, die sich in Florian
Illies Beschreibung der "Generation Golf" ein eigenwilliges
Selbstportrait geliefert hat, dann haben wir es offenbar mit einem
manifesten und dicken Problem zu tun, nämlich der Auffassung,
sich auf Politik einzulassen sei unnütz, stressig und sogar
verächtlich. Es macht sich eine Konsumentenhaltung gegenüber
der Politik breit, die jede Inanspruchnahme von Gütern und
Dienstleistungen, die politisch vermittelt sind, als selbstverständlich
ansieht, aber dann, wenn sie ausbleiben, den Unmut über die
Politik verstärken. Es ist unklar, ob hierin eine innere Aushöhlung
der Demokratie zu sehen ist oder dies sogar Ausdruck einer
inneren Stabilität der Verhältnisse sein könnte, wie in den
Vereinigten Staaten diskutiert wird. Die politische Bildung muss
sich fragen lassen, ob sie in den vergangenen Jahrzehnten versagt
hat oder selbst nur Ausdruck der Verhältnisse ist.
-8-
10. POLITIKLEHRERTAG
2. Der Befund der Generation als einer egoistischen steht in starkem
Kontrast zu anderen Beobachtungen. Zeichen elementarer
Hilfsbereitschaft,
spontanen
Mitleids
und
aufopfernden
Engagements sind uns in den letzten Wochen vor Augen geführt
worden. Jugendliche haben in fast unglaublich strapaziösen
Einsätzen geholfen, die Flut der Elbe und ihre Folgen zu
bekämpfen. Dieses ist aber nur scheinbar eine Überraschung. Man
konnte bereits in den letzten Jahren beobachten, dass sich
Jugendliche in konkreten Projekten, Bürgerinitiativen, Hilfsaktionen
für die Dritte Welt oder Umweltaktivitäten durchaus einbringen und
Zeit investieren. Diese Art als politisch zu bezeichnen, zögere ich
sehr. Ich möchte dies eher als eine grundsätzliche Bereitschaft zu
Engagement werten, die durchaus abgerufen werden kann, wenn
die Ziele erreichbar und die Zwecke einsichtig sind. Es kommt
hierin eine sehr altruiistische und sympathische Grundhaltung zum
Vorschein, die in ihrem ehrlichen Ansatz häufig etwas Rührendes
und zugleich Gefährliches hat. Die Zielgerichtetheit (bei
Katastrophen gut nachvollziehbar) zeigt die Forderung nach
Effektivität; sobald sich allerdings bei dem Durchsetzen eines
Projektes Widerstand ergibt oder die Problembeobachtung
insgesamt widerständig ist, finden sich auch Zeichen von Ungeduld
und zuweilen von Rechthaberei. Die langfristige Investition von Zeit
ist das eigentliche Problem. Die Jugend ist ansprechbar, bindet
sich aber schwer. Sie ist politisch nur im Potentialis. Die Denk- und
Handlungsweise, die hier gilt, ist die der organisierten Zivil- oder
Bürgergesellschaft. Ohne die Bereitschaft zur Bindung allerdings
wird sie porös.
3. Denn Politik ist eigentlich noch etwas Anderes. Sie hat zur
Voraussetzung ihrer Wirksamkeit ein Bewusstsein von den
Zusammenhängen und der Komplexität des zu Bearbeitenden.
Hermann Gieseke hat in der 1. Ausgabe seiner Didaktik der
politischen Bildung zu Recht darauf hingewiesen, dass die Politik
das Reich des noch nicht Entschiedenen sei. Er zog daraus die
Schlussfolgerung, dass die Konflikte, die bei zur Entscheidung
anstehenden
Sachfragen
aufbrechen,
der
didaktische
Anknüpfungspunkt für die pädagogische Bearbeitung sein müsse.
Ich halte dies nach 35 Jahren aktiver Politik für immer noch gültig.
Es muss aber um einen entscheidenden Gedanken erweitert
werden: Politische Entscheidungen müssen immer das Ganze im
-9-
10. POLITIKLEHRERTAG
Blick haben. Auch dann, wenn einseitig Interessen durchgesetzt
werden sollen, müssen diese auf ihre Vermittelbarkeit mit einem
gedachten Gemeinwohl abgeklopft werden (z. B. Steuersenkungen
oder
-erhöhungen,
Waffenexporte,
Jugendaustausch,
Hochbegabtenförderung, usw., usw.). Die konkreteste und zugleich
anstrengendste Form der ganzheitlichen politischen Betrachtung
ist die Aufstellung und Diskussion des öffentlichen Haushalts
(Gemeinde, Land, Bund). Ich bin inzwischen der Überzeugung,
dass es keinen politischen Unterricht mehr geben dürfte, der nicht
mindestens 1 x ausführlich eine Haushaltsdebatte diskutiert, oder
noch besser simuliert.
Jede Haushaltsberatung ist gleichsam ein PISA-Test. Mitdenken,
Mitdiskutieren und evtl. Mithandeln kann verantwortlich nur
geschehen, indem man die eigenen Auffassungen und Interessen
anderen, evtl. ebenso einsichtigen und nachvollziehbaren Interessen
des Anderen gegenüberstellt und daran den Wert oder die Relativität
der eigenen Auffassung erlebt.
Die Überlegungen zum Egoismus, dem Altruismus und dem
Politischen allgemein haben einen spezifischen Aspekt, unter dem wir
in Deutschland leben und arbeiten, noch nicht im Blick: die
Demokratie.
Politik gibt es immer, zu allen Zeiten und in allen Formen. Aber
Demokratie gibt es erst seit Kurzem. Sie ist das Produkt eines
jahrhundertelangen Freiheitsprozesses und findet bei uns ihren
Ausdruck
in
der
Festschreibung
von
Grundwerten
und
institutionalisierten Verfahrensregeln.
Der demokratische Grundgedanke geht von der Freiheit des Einzelnen
und seinen prinzipiellen Mitwirkungsrechten an den öffentlichen
Angelegenheiten aus. Der Ausgangspunkt von der Freiheit des
Einzelnen bedeutet im Übrigen, dass jede Einschränkung der Freiheit
gesetzlich begründet werden muss.
Da es in der Politik um das Unvollendete, Vorläufige geht, in der
Urteile, Interessen, Wahrheit und Täuschung, Kompromiss und
Herrschaft
gleichermaßen
zusammenwirken,
wollen
die
demokratischen Verfahrensregeln zweierlei erreichen: Schutz vor
überfallartigen Veränderungen durch eine angemessene Zeit der
Beratung und Erörterung und die Möglichkeit zur Einmischung eines
jeden Einzelnen.
- 10 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Diese Prozesse sind natürlich strapaziös: der/die Einzelne stoßen auf
gegenläufige Interessen, die so einsichtige Forderung muss erst noch
Anhänger gewinnen, man muss um Mehrheiten kämpfen usw. Das
kostet Zeit und ist auch nicht immer effektiv. Denn Demokraten sind
Laien und treffen manchmal ungeübt aufeinander. Unter dem
Gesichtswinkel des wachsenden Egoismus (mich interessiert nur, was
mir nützt) ist die Demokratie eine spezifische Kränkung des
selbstverliebten Ego. Sie zwingt jeden, den mit dem reinen Herzen
genauso wie den mit den ausgebufften Interessen, an einen Tisch, um
Kompromisse zu suchen und einen oft ungeliebten Konsens zu
ertragen.
Die Demokratie zwingt zur Ein- und Unterordnung. Das
Beteiligungsversprechen der Demokratie (ganz gleich ob repräsentativ
oder direkt) führt zu Relativierung der eigenen Rechthaberei.
Demokratie ist insofern Chance und Abweisung zugleich. Gerade
Jugendliche mit ihren Idealvorstellungen von der Gerechtigkeit der
Welt mögen diesen Mechanismus nicht für sich gelten lassen. In
Parenthese möchte ich hinzufügen, dass ich gerade unter Lehrerinnen
und Lehrern eine solche Idealisierung von politischen Interessen finde,
die nicht zu einer sachgerechten politischen Urteilsfindung führen.
Aber auch die Verweigerung stellt, wie wir wissen, eine politische
Haltung dar. Sie vermehrt unlegitimierte Entscheidungen.
Politikverdrossenheit ist deswegen Unsinn, sie ist im Kern
Demokratieverdrossenheit. Sie verlangt von den angeklagten
kritisierten Politikern ständig, was sie selbst zu geben nicht bereit ist:
nämlich die Übernahme der Verantwortung für das Ganze.
Es führt kein Weg daran vorbei:
a) Die anerkannten Institutionen garantieren die individuellen
Freiräume und die individuelle Entfaltung, (z. B. Polizei, Justiz,
Bildungseinrichtungen), sie garantieren sie nicht immer.
b) Die verachteten Institutionen begünstigen nicht kontrollierte Macht
(Medien, mafiotische Verhältnisse, Betrüger).
c) Bewusste Überzeugungen
verlässlich agiert wird.
stabilisieren
Institutionen,
weil
d) Bewusste unreflektierte Meinungen sind ambivalent und gleichsam
"glitschig" und können sowohl Problemanzeiger als auch totalitäre
Tendenzen beinhalten.
Als Menschen, die sich der politischen Bildung verschrieben haben,
- 11 -
10. POLITIKLEHRERTAG
muss man von der einfachen Beobachtung ausgehen, dass auch das
Leben der Schülerinnen und Schüler und Jugendlichen nicht vom
System ausgeht, sondern von den konkreten Lebenserfahrungen und
Hoffnungen. Es wäre allerdings ungenügend, das Demokratiegebot
nur für die großen Institutionen gelten zu lassen. Auch die Schlichtung
täglicher Konflikte, das Binnen- und Kleinklima einer Schule, im
Lehrer-Schüler-Verhältnis, im Verhältnis der Schüler untereinander,
der Mädchen und der Jungen usw., unterliegt dem Demokratiegebot,
nicht institutionell verfestigt, aber aushandelbar.
Wenn man die Demokratie als Kränkung des absoluten
Autonomiegefühls versteht, dann muss man die Ergebnisse des
Prozesses allerdings so gestalten, dass das Miteinander erträglich ist
und bleibt. Auch die positive Beurteilung des Wettbewerbs lässt sich
nur aufrecht erhalten, wenn man nicht immer nur der Verlierer ist,
sondern auch Gewinner sein kann und wird.
Mir kommt es beim Verständnis der Aufarbeitung der politischen
Bildung darauf an, herauszuarbeiten, dass politisches Interesse
notwendigerweise
intellektuelle
Anstrengungen,
emotionale
Beteiligung und auch seelische Standfestigkeit erfordert. Meinungen
haben kann jeder, Meinungen argumentativ zu verteidigen ist schon
schwerer, Meinungen zu verändern zeigt bereits einen charakterlichen
Reifegrad, für seine Meinungen demokratisch zu streiten wäre fast das
Höchste.
Ich hielte es daher für äußerst hilfreich, die Regeln der rhetorischen
Darstellung für jeden nutzbar zu machen, das wäre in jedem Fach
möglich, beim Vortragen eines Referats oder eines kurzen
Sachverhalts. Im Zeitalter der medialen Präsentation und des
persönlichen Verkaufens ist das übrigens auch für jeden Einzelnen im
Leben brauchbar, z. B. beim Vorstellungsgespräch oder in
Diskussionen. Elektronische Kommunikation hat demokratiefeindliche
Aspekte. SMS und E-Mail verstärken den Informationsfluss (und
manchmal auch den Informationsmüll), aber lassen die
argumentativen Kräfte verkümmern. Katastropheneinsätze und
manche Bürgeraktion vermehren das Wohlgefühl des Beteiligtseins
und des Geleisteten, demokratisch geht es dabei allerdings nicht
immer zu.
Ob die sinkende Wahlbeteiligung unter Jugendlichen und die
- 12 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Missachtung auch der demokratisch gewählten Politiker ein
Krisensympton ist, weiß ich nicht. Dass Politik besser gemacht, besser
dargestellt und auch besser begründet werden kann, scheint mir
zweifelsfrei. Aber auch hier gilt Erich Kästner: "Es gibt nichts Gutes,
außer man tut es." Das wäre auch eine unbestreitbar gute Folgerung
aus den PISA-Studien.
- 13 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Vorbemerkung zum Parlamentsrollenspiel mit dem
Thema „Wahlalter Null ?!“
Am 4.9.2002 fand in Hannover der 10. Politiklehrertag des
Landesverbandes Niedersachsen der Deutschen Vereinigung für
Politische Bildung (DVPB) in Zusammenarbeit mit dem
Niedersächsischen Landtag, der Universität Hannover und der
Initiative „n-21: Schulen in Niedersachsen online“ statt. Unterstützt
wurde die Veranstaltung von der Niedersächsischen Landeszentrale
für Politische Bildung.
Im Mittelpunkt der Tagung stand ein Parlamentsrollenspiel zu dem
visionären Thema „Wahlalter Null ?!“ unter der Leitung von
Landtagspräsident Prof. Rolf Wernstedt im Plenarsaal des Landtages.
Mit dieser Simulation einer parlamentarischen Debatte wollte die
DVPB mit etwa 170 Schülerinnen und Schülern der Jahrgänge 10 bis
13 aus verschiedenen niedersächsischen Schulen und Regionen neue
Anstöße für einen handlungsorientierten und spannenden
Politikunterricht geben.
Das aus fünf Fraktionen bestehende Schüler-Parlament debattierte
über ein facettenreiches Thema, das mit Blick auf die bevorstehenden
Bundestags- und Landtagswahlen, aber auch angesichts der
demographischen Entwicklung in Deutschland viel Diskussionsstoff in
sich barg und heute noch birgt. Diese Art der Politik-Erfahrung
bedeutet didaktisch-methodisches Neuland. Darauf wurden die
Schülerinnen und Schüler, die sich beteiligen wollten, im Unterricht
und mit Hilfe einer Internet-Plattform vorbereitet. Dieses
Unterrichtsmodell dürfte relativ leicht auf andere Parlamente und
Themenfelder übertragbar sein.
Im Vorfeld der Debatte setzten sich die am Parlamentsrollenspiel
beteiligten Schülerinnen und Schüler vor allem mit den
vertragstheoretischen,
verfassungsrechtlichen,
demokratietheoretischen und gesellschaftspolitischen Dimensionen
eines „angedachten“ Minderjährigen-Wahlrechts auseinander. Dies
geschah in der Rollenspielvorbereitung vorwiegend aus den jeweiligen
Perspektiven der Fraktionen „Wahlalter 0 ohne Stellvertreter“,
- 14 -
10. POLITIKLEHRERTAG
„Wahlalter 0 mit Stellvertreter“, „Wahlalter 14“, „Wahlalter 16“ und
„Wahlalter 18“.
Im Anschluss an die Auswertung des Rollenspiels im Plenum sollten in
verschiedenen Arbeitsgruppen weitere konkrete schulische Projekte
und Planspiele vorgestellt werden.
Das Parlamentsrollenspiel ist in wesentlichen Teilen aufgezeichnet
worden. Die beiden Videobänder können bei Herrn Roland Freitag,
Altenhäger Straße 75, 31558 Hagenburg, Tel.: 05033-7895,
ausgeliehen werden.
Eine Anmerkung am Rande:
Nicht wenige Schülerinnen und Schüler hatten sich aus diesem Anlass
auffällig sorgfältig gekleidet, einige erschienen im schwarzen Anzug
bzw. im "kleinen Schwarzen". Das soll hier nicht ironisiert, sondern als
Beweis für die Ernsthaftigkeit ihrer Beteiligung und den Respekt
gegenüber dem Ort des Geschehens gewertet werden.
Leider ist es nicht gelungen, alle Schülerinnen und Schüler, die
Debattenbeiträge vorgetragen haben, namentlich zu erfassen.
Albrecht Pohle
- 15 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Fraktion: Die Weißen
(„Wahlalter 0 – mit Stellvertreter“)
Einbringungsrede zum Parlamentsrollenspiel am
4. September 2002
Herr Präsident,
meine Damen und Herren!
Mit dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf zur Einführung des
„Wahlalter 0 mit Stellvertreter“ wollen wir, die Weiße Fraktion, ein
Signal für mehr Beteiligung der Kinder setzen. Wir alle wissen, dass
Artikel 38 des Grundgesetzes von einem allgemeinen Wahlrecht
spricht. Das Grundgesetz geht also davon aus, dass jede Bürgerin
und jeder Bürger dieses Staates wählen darf. Denn nichts anderes
bedeutet dieser Begriff. Artikel 20 GG legt fest, dass die Staatsgewalt
in Wahlen vom Volk ausgeübt wird. Wer ist dieses Volk? Wir alle!
Alle Einschränkungen, insbesondere das Wahlalter, werden erst durch
nachrangige Gesetze festgelegt und dies ist natürlich durch
Erwachsene erfolgt. Nach unserer Auffassung wird dadurch gut ein
Fünftel der Bevölkerung- so groß ist nämlich noch der Anteil der
Kinder und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung - diskriminiert
und zu Bürgern 2.Klasse abgestempelt. Dabei geht es doch bei vielen
Entscheidungen, die Parlamente treffen, gerade um Auswirkungen auf
die Zukunft- die nächste Generation- also auf unsere Kinder. Und wer
trifft diese Entscheidungen? Das sind die Alten, die eine ganz andere
Interessenlage haben. Ein kinderloses Ehepaar kann für seine
Interessen zwei Stimmen in die Waagschale werfen, eine Familie mit 3
Kindern hat auch nicht mehr Gewicht bei der Stimmabgabe. Dies
wollen wir ändern!
Die Politiker müssen lernen, die Interessen der künftigen
Generationen im Sinne von Ökologie und Ökonomie zu
berücksichtigen. Die egoistischen Gedanken müssen in den
Hintergrund gestellt werden, denn nicht das Hier und Jetzt ist
entscheidend, sondern das Morgen und vor allem das Übermorgen.
Deshalb müssen wir das Ruder herumreißen und die Kinder – unsere
Zukunft – in den Mittelpunkt aller politischen Entscheidungsprozesse
- 16 -
10. POLITIKLEHRERTAG
stellen. Deutschland und auch Niedersachsen müssen wieder
kinderfreundlicher werden.
Meine Damen und Herren,
natürlich sind wir nicht so blauäugig, uns vorstellen zu können, dass
ein Baby oder ein Kleinkind von 2 Jahren zur Wahl schreiten sollte, um
sein Wahlrecht auszuüben. Ein Kinderwahlrecht ohne Stellvertreter
wäre eine Idealvorstellung. Doch wir sind Realisten und fordern das
Wahlrecht der Kinder, welches sich am Kindeswohl orientiert und von
den
Eltern
oder
sonstigen
Erziehungsberechtigten
nur
vertretungsweise ausgeführt wird. Genau dies setzt unser
Gesetzentwurf um! Denn können die Eltern nicht die Interessen der
Kinder und Jugendlichen am besten durchsetzen, solange diese nicht
selber in der Lage dazu sind? Dadurch verteilen wir das Gewicht
innerhalb der Gesellschaft richtig. Denn in einem Sozialstaat wie
unserem, kann und darf es nicht sein, dass bestimmten Gruppen das
elementarste Recht in einer Demokratie versagt wird. Das Wahlrecht
muss endlich Geltung für alle erlangen. Somit sollten auch die Kinder
und Jugendlichen nicht von diesem politischen Vorgang
ausgeschlossen werden. Eine Demokratie muss sich weiterentwickeln
und die regierenden Parteien sollten das Vertrauen aller
Bevölkerungsschichten und aller Altersgruppen genießen.
Und seien wir doch ehrlich, meine Damen und Herren, was mit Kinderund Jugendparlamenten an Partizipation der Kinder in diesem Lande
geschaffen worden ist, das ist in Wahrheit doch nur eine
Alibiveranstaltung der Politiker, aber de facto können wir damit gar
nichts
bewegen.
Deshalb, sehr geehrte Damen und Herren, appelliere ich im Interesse
aller Kinder und Jugendlichen an Sie: Stimmen Sie unserem
Gesetzentwurf zu!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Angela Konert, Gymnasium Mellendorf
- Fraktionsvorsitzende -
- 17 -
10. POLITIKLEHRERTAG
LK Politik, 13. Jahrgang (FI)
Mellendorf, den 22. August 2002
Parlamentsrollenspiel im Niedersächsischen Landtag am 4. 9. 2002
Gesetzentwurf der Fraktion „Wahlalter Null mit
Stellvertreter“
Das Parlament möge beschließen, Art. 38 GG wie folgt zu ändern:
„(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in
allgemeiner, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind
Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht
gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
(2) Wahlberechtigt sind alle Deutschen von Geburt an. Das Wahlrecht
des Kindes wird von seinem gesetzlichen Vertreter stellvertretend
ausgeübt, bis das Kind erklärt, das Wahlrecht selbst ausüben zu
wollen . Wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die
Volljährigkeit eintritt.
(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.“
Begründung:
Gemäß dem Grundsatz ‚Ein Mensch – eine Stimme’ muss auch
minderjährigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern das aktive
Wahlrecht von Geburt an eingeräumt werden, da die altersbedingte
Vorenthaltung des politischen Grundrechts auf Teilnahme an der Wahl
gegen die Staatsfundamentalnorm des Art. 20.2 GG verstößt. Das
aktive Wahlrecht des Kindes wird nach Art 6.2 GG – am Kindeswohl
orientiert (!) – von den Eltern nur vertretungsweise ausgeübt.
- 18 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Einbringungsrede Fraktion „Grün“
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Abgeordnete des
Niedersächsischen Landtages,
die Fraktion „Grün“ beantragt, Art. 38 Abs. 2 GG wie folgt abzuändern:
„Das Wahlrecht beginnt mit der Geburt und ist nicht übertragbar,
auch nicht auf die gesetzlichen Vertreter Minderjähriger; wählbar
ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“
Begründung:
1. Der Artikel 20.2 GG benennt „das Volk“ als Souverän. Jedem, der
sich fähig fühlt, an der politischen Willensbildung mitzuwirken unabhängig von seinem Alter - muss diese Mitwirkung durch
Wahlen ermöglicht werden.
Ein bestimmtes Alter kommt in Artikel 20.2 GG nicht vor.
Minderjährige aber gehören unzweifelhaft zum Volk. Diese
Minderjährigen machen ein Viertel des Volkes aus. Die Einbindung
von Kindern und Jugendlichen muss als ein Versuch verstanden
werden, unsere Demokratie neu zu beleben.
2. Artikel 3.1 GG formuliert die Gleichheit aller Menschen vor dem
Gesetz. Das muss gerade für das Wahlrecht gelten, das zu
berücksichtigen hat, „politikmündigen“ Kindern und Jugendlichen
diese Gleichheit auch faktisch zuzugestehen. Wählen sollen nur
diejenigen Kinder und Jugendlichen, die sich dafür fähig fühlen.
Sie sind nicht verpflichtet zu wählen. Das ist uns besonders
wichtig zu betonen. Es geht nicht darum, Babytasten in den
Wahlkabinen zu installieren. Wer sich politikmündig fühlt, der soll
auch wählen gehen, wer nicht, bleibt zu Hause.
Es bleibt bei dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl der
Abgeordneten durch die Wähler. Eine Übertragung des Wahlrechts
auf z.B. die Eltern ist nicht erlaubt. So ist gesichert, dass die
Wählerstimmen der Kinder und Jugendlichen nicht missbraucht
werden. Sie gehen wie alle anderen Wähler allein in die
Wahlkabine und können so bei der Wahl nicht beeinflusst werden.
- 19 -
10. POLITIKLEHRERTAG
3. Werden Kinder und Jugendliche, die sich selbst als „politikfähig“
verstehen, vom Wahlrecht ausgeschlossen, so wird ihnen ein Teil
ihrer Menschenwürde genommen. Hierin sehen wir einen Verstoß
gegen das Grundgesetz.
In Artikel 1.1 GG steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar
(...)“
Die Würde des Bürgers in einer Demokratie drückt sich aber
gerade in seiner Aufgabe als „Wahlbürger“ aus, der dem
Abgeordneten und der Partei seines Vertrauens Macht auf Zeit
überlässt.
In Artikel 12.1 der UN-Kinderrechtskonvention, die am 26.01.1990
von der BRD unterzeichnet wurde, steht: „Die Vertragsstaaten
sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu
bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind
berührenden
Angelegenheiten
frei
zu
äußern,
und
berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und
entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“
Ohne ein Kinderwahlrecht sehen wir eine grobe Verletzung dieses
Artikels aus der UN-Kinderrechtskonvention. Wenn hier von dem
Alter und der Reife gesprochen wird, die zu berücksichtigen sind,
so kann dies nur durch das Kinderwahlrecht gewährleistet werden.
Aus diesen Begründungen ergibt sich unsere Forderung nach einem
Kinderwahlrecht und so fordern wir: Das Wahlrecht beginnt mit der
Geburt!
- 20 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Gymnasium Johanneum Lingen
Berufsbildende Schule Osnabrück
Kooperative Gesamtschule Sehnde
Parlamentsrollenspiel im
Landtag Niedersachsen
04.09.2002
Einbringungsrede der Fraktion „Gelb“ (Wahlalter 14)
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr verehrte Damen und Herren,
hiermit stelle ich den Antrag für die Fraktion - Gelb, das Wahlalter für
alle Wahlen auf 14 Jahre herab zu setzen. Diesen Antrag begründe
ich folgendermaßen:
Jugendliche im Alter von 14 dürfen noch immer nicht wählen, obwohl
sie schon in der Lage sind Verantwortung zu übernehmen, und dies
auf sehr unterschiedliche und vielfältige Weise bereits tun.
Sie sind im Stande, verantwortlich mit ihren Finanzen umzugehen,
denn sie führen ihr eigenes Konto und sind somit durchaus souverän
in ihren Entscheidungen als Konsumenten. Als solche werden sie
schon jetzt ernst genommen, denn sie verfügen über ein Millionen
schweres Marktpotenzial. Sie sind allerdings nicht nur für ihre
finanziellen Angelegenheiten verantwortlich, sondern Jugendliche
werden ab dem 14. Lebensjahr für ihr Tun und Handeln auch vor dem
Gesetz zur Rechenschaft gezogen.
Auch wenn das Strafrecht nicht in voller Härte bei ihnen angewandt
wird, sehen sie sich trotzdem der Erwartung ausgesetzt, sich ihres
Handelns und auch den Grenzen und Folgen ihres Handelns durchaus
bewusst zu sein.
Wer sagt denn eigentlich, dass Reife und Urteilsvermögen im Alter
von 14 Jahren noch nicht genügend ausgeprägt seien? Sie orientieren
sich an Vorbildern, sicher, welcher Erwachsene tut das nicht? Aber sie
haben ein sehr sicheres Gespür dafür, was gut ist und was schlecht
oder was richtig ist und was falsch.
Wer hat eigentlich das Recht den Jugendlichen, einem großen Teil
unserer Bevölkerung, die Teilnahme an Wahlen vorzuenthalten?
- 21 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Jugendliche können und wollen genauso urteilen wie Erwachsene und
diese können, je nach Persönlichkeit, genauso unreif sein.
Durch das Wahlrecht und die erhöhte Verantwortung würde meiner
Meinung nach das Interesse an der politischen Partizipation erheblich
gestärkt werden. Jugendliche würden sich auch im politischen Leben
ernst genommen fühlen und nicht entweder an die Wand gedrängt
oder übersehen oder aber auf politische Spielwiesen wie z.B.
Jugendparlamente verbannt werden. Und sie könnten selbst Einfluss
nehmen und so gerade in den Fragen zu Wort kommen, die sie
wesentlich betreffen. Sowohl die Jugend als auch die Parteien
könnten auf diese Weise von der Stimme eines jeden einzelnen
Jugendlichen profitieren. Man kann und darf nicht zwischen
Erwachsenen und Jugendlichen trennen. Man kann höchstens
zwischen reifen und unreifen Menschen trennen, welche trotz allem
aber immer noch ein Volk mit den gleichen Rechten sind.
Dieses Land wird später einmal das Land der heutigen Jugend sein. Warum sollten diese dann nicht schon so früh wie möglich anfangen
dürfen, in diesem Land auch politisch verantwortlich mitzuwirken?
Fraktion „Gelb“
- 22 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Fraktion der Gelben
Antrag: Wahlalter 14
Redebeitrag (1): Edyta Klaja, BBS am Pottgraben, Osnabrück
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
lassen Sie mich auf noch auf eine wichtigen Aspekt eingehen. Wir
erleben es doch fast bei allen Wahlen:
Die Beteiligung unserer Bürger an politischen Wahlen nähert sich
bedrohlich der 50 %-Marke. Nach jeder Wahl müssen wir
schmerzlich zur Kenntnis nehmen, das sich der Abwärtstrend bei
der Wahlbeteiligung beschleunigt. Wollen Sie in Zukunft nur
noch von 30 oder 20 % der Bevölkerung gewählt werden? Wollen
Sie, dass der Souverän des Grundgesetzes auf eine - allerdings
dann entscheidende – Minderheit zusammenschrumpft?
Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse!!!!!!!!
Nur durch eine frühzeitige Wahlbeteiligung aller Bürgerinnen und
Bürger können wir dieser antidemokratischen Entwicklung Einhalt
gebieten. Wir fordern gleichzeitig, dass die politische Bildung
ausgebaut und frühzeitig an den Schulen vermittelt wird. Nur eine
erfolgreiche politische Bildung schafft die Voraussetzung für eine
wirklich selbstbestimmte Mitwirkung.
Ich appelliere deshalb eindringlich an Sie alle: Geben Sie allen
Staatsbürgern mit Vollendung des 14. Lebensjahres das volle
staatsbürgerliche Mitwirkungsrecht bei politischen Wahlen.
Stimmen Sie einer Herabsetzung des Wahlrechts auf 14 Jahre zu.
Verhindern Sie eine weitere Entmachtung des Souveräns – eine
Entmachtung unseres Volkes. Geben Sie den Kindern und
Jugendlichen dieses wichtige Instrument zur aktiven Gestaltung
ihrer eigenen Zukunft.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
- 23 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Fraktion der Gelben
Antrag: Wahlalter 14
Redebeitrag (2): Petra Alt, BBS am Pottgraben, Osnabrück
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
tagtäglich erleben wir, dass Kinder und Jugendliche in der
gesellschaftlichen Wirklichkeit schon in vielen Bereichen erheblichen
Anforderungen ausgesetzt sind und diese auch bewältigen können. In
unserer Antragsbegründung haben wir mit recht darauf hingewiesen, dass
Kinder ab 14 Jahre als selbstverantwortliche Konsumenten handeln
müssen. Für unser Wirtschaft stellen Sie ein erhebliches
Kaufkraftpotential dar. Nehmen wir die Kinder und Jugendlichen nur als
Objekte zur Steigerung des Umsatzes wahr?
Haben Sie auch daran gedacht, das Kinder mit vierzehn bereits
strafmündig und deliktsfähig sind? Sie akzeptieren es, dass Kinder
mit vierzehn Jahren ins Gefängnis kommen, dass sie strafrechtlich
zur Verantwortung gezogen werden und dass sie für ihr Verhalten in
bestimmten Fällen auch Schadenersatz leisten müssen.
Mir ist ein Fall bekannt, in dem ein 14-Jähriger durch einen verschuldeten
Verkehrsunfall zur Zahlung eines Schadenersatz von mehr als 1.000,00
DM verurteilt wurde. Er musste diese Summe in Raten mit Beginn seiner
Berufsausbildung abbezahlen. Ich glaube auch Ihnen allen ist klar, mit
welcher Motivation dieser Jugendliche seine berufliche Ausbildung
begonnen hat. Eine Ausbildung, die für einen Jugendlichen eigentlich
der Start in eine hoffnungsvolle Zukunft sein sollte. Die harten
Sanktionen des Staates durfte er spüren! Das Recht auf Mitwirkung
an der politischen Gestaltung dieses Staates- seines Staates - wurde
ihm verwehrt.
Ich bitte Sie deshalb nachdrücklich:
Geben Sie allen Staatsbürgern mit Vollendung des 14. Lebensjahr das
volle staatsbürgerliche Mitwirkungsrecht bei politischen Wahlen. Ich
betone – allen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, auch allen
ausländischen Mitbürgerinnen und Bürgern, soweit Sie fünf Jahr in
unserem Land leben. Dies ist eine Erweitung unseres Antrages.
Stimmen Sie einer Herabsetzung des Wahlrechts auf 14 Jahre für alle
Bürgerinnen und Bürger zu.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
- 24 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Fraktion der Gelben
Antrag: Wahlalter 14
Redebeitrag (3): Michael Dütemeyer,
BBS am Pottgraben, Osnabrück
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
mit welchem Recht beanspruchen wir als Erwachsene die Kompetenz,
eine große Gruppe unseres Volkes von seinem grundgesetzlich
verankertem Recht auf politische Mitwirkung bei Wahlen
auszuschließen? Etwa 15 Mio. Kindern und Jugendlichen verweigern wir
das Wahlrecht. Ich finde, das ist ein unerträglicher Zustand und einer
modernen Demokratie nicht würdig.
Haben unsere Parlamente nicht häufig gezeigt, wie nachhaltig sie die
Interessen der Kinder und Jugendlichen vernachlässigt haben und dies
noch immer tun? Oder sogar gegen deren Interessen entscheiden? So
in den Bereichen Bildung und Ausbildung. Denken Sie bitte nur an unser
beschämendes Verhalten im Bereich Umwelt und Klimaschutz! Der
Klimagipfel in Johannisburg wird es wieder beweisen: Außer Spesen
nichts gewesen.
Glauben Sie mir, wenn Kinder und Jugendliche das Wahlrecht haben,
müssen wir als Parteien auch unsere Programme und politischen
Entscheidungen auf deren Interessen ausrichten. Und Sie können
sicher sein, diese Wählergruppe wird auf so manche leere
Wahlversprechung nicht hereinfallen.
Was haben wir geleistet zur Friedenssicherung und Kriegsvermeidung!
Was war mit der Rechtsschreibreform: Darüber haben Erwachsene
entschieden und alles wurde Schrott!
Haben Sie den Mut zur von uns vorgeschlagenen Änderung des
Wahlrechtes. Folgen Sie der Tradition zur weiteren Demokratisierung
unsere Gesellschaft und unseres Staates: Nach der Abschaffung des
Dreiklassenwahlrechtes und der Einführung des Wahlrechts für
Frauen sowie der Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre muss
jetzt die Einführung des Wahlrechts für Kinder und Jugendliche ab
14 Jahre folgen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
- 25 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Fraktion der Gelben
Antrag: Wahlalter 14
Redebeitrag (4): Filiz Alarslan,
BBS am Pottgraben, Osnabrück
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
meine Vorrednerin Petra Alt hat bereits auf die von uns gewünschte
Erweiterung unseres Antrages hingewiesen: Für unsere Fraktion ist es
nicht länger hinnehmbar, dass unsere ausländischen Mitbürgerinnen
und Mitbürger vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Wir fordern
deshalb, dass das Wahlrecht auf alle ausländischen Mitbürgerinnen
und Mitbürger ausgedehnt wird, die länger als fünf Jahre in
Deutschland leben.
Man muss sich doch heute im Zeitalter global agierender Unternehmen
und der zunehmenden internationalen politischen Abhängigkeit fragen, ob
wir Menschen nur noch als Arbeitskräfte und Konsumenten funktionieren
sollen. Obwohl wir alle gleichermaßen von dieser Globalisierung betroffen
sind, egal wo wir leben. Die Notwendigkeit der politischen Gestaltung der
Globalisierung gilt für alle Länder dieser Erde. Wir müssen sie gemeinsam
gestalten, nicht gegeneinander. Dies gilt auch für die internationale
Sicherheit und die Bekämpfung der Terrorismus.
Wir meinen deshalb, dass es nur konsequent ist, wenn wir allen
Bürgerinnen und Bürgern das Wahlrecht gewähren. Was befürchten wir
eigentlich? Besteht hier etwa die Gefahr, dass wir Deutschen
untergebuttert werden, überstimmt werden, Einfluss verlieren?
Ich glaube diese Befürchtungen entlarven sich selbst als
Scheinargumente. Eines kann ich Ihnen aber versichern: Es wäre eine
gute Waffe gegen den aufkeimenden Rechtsextremismus in unserem
Lande.
Meine Damen und Herren, unterstützen Sie unseren Antrag. Machen
Sie sich zum Motor für eine weitere Demokratisierung unsere
Wahlrechts, für eine weitere Demokratisierung unserer Gesellschaft
und unseres Staates.
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10. POLITIKLEHRERTAG
Herr Präsident, meine Damen und Herren, vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
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10. POLITIKLEHRERTAG
Diskussionsbeiträge der Gruppe „Gelb“ – Wahlalter 14
Sehr geehrter Herr Präsident, meine verehrten Damen und Herren,
Auf den Deichen in Magdeburg und Wittenberg packten viele junge
Leute mit an, Teenager in kurzen Hosen kämpften Seite an Seite mit
Soldaten und Bürgermeistern. Nicht etwa, weil sie meinten damit die
Welt zu retten, nein, sie wollten konkret etwas Gutes tun und sich
engagieren.
Was wir uns fragen ist, warum die neue Shell Studie unsere heutige
Jugend als eine in weiten Teile egoistische Jugend abspeist. Wir seien
auf Karriere bedacht und mit dem einen Ziel vor Augen – „Aufstieg
statt Ausstieg".
Dabei hat die heutige Jugend – und nicht zu vergessen auch alle
Generationen zuvor – eine eigene Antwort auf die gesellschaftlichen
Herausforderungen gefunden. Täglich erleben Jugendliche, wie der
Wettbewerb ihr Leben bestimmt. So z.B. in der Schule: Jugendliche
müssen sich mit Arbeiten und immer wieder neuen Anforderungen
herumschlagen. Und auch in der Freizeitmüssen Jugendliche sich
ständig beweisen : so z.B. im Sport. Es sind meistens nur die Besten,
die Erfolge haben und weiter kommen. Wer will ihnen da verdenken,
dass sie vor allem auf ihr eigenes Vorankommen bedacht sind ? Doch
um dies auch zu erreichen, brauchen Jugendliche das Gefühl wichtig
zu sein und mitwirken zu können! Sie sind immer da zur Stelle, wo sie
spüren, dass es wirklich um etwas geht.
In einem Zeitungsartikel sagt Jörg Kallmeyer, dass Jugendliche auf
Parteien, Verbände und selbst auf Bürgerinitiativen verzichten könnten
- doch wenn Teenager das Recht hätten mitzubestimmen wie ihre
Zukunft, ob sie nah oder fern liegt, aussieht, sind gerade diese Dinge
total wichtig.
Um diese Jugend braucht einem nicht bange zu werden – wohl aber
um die Politiker, die dieser Jugend immer wieder zurück drängen!!
Seit Jahren beklagt man das sinkende Interesse von Jugendlichen an
der herkömmlichen Politik. Die Frage ist doch aber, warum dieses
Desinteresse
überhaupt
existiert
?
Sogar
die
SPD
Bundesfamilienministerin Christine Bergmann sagt, dass die heutige
Jugend zukunftsorientiert sei und die aktuellen gesellschaftlichen
Herausforderungen zu meistern in der Lage sein wird. „Diese
Generation kann der Politik Mut machen“ so Bergmann.
- 28 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Nach Aussagen der Entwicklungsforschung sind schon 12-Jährige
fähig, abstrakt zu denken; das heißt doch auch, dass sie im Stande
sein müssten Auswirkungen abzuwägen, die durch falsche
Entscheidungen geschehen.
Weiterhin ist die Forschung der Meinung. Dass Reife und
Urteilsvermögen mit 14 sicher sind somit sollten sie positive und
negative Auswirkungen unterscheiden können.
Außerdem belegen Studien, dass 14-Jährige genauso an Politik
interessiert sind wie 18-Jährige.
Sollten Jugendliche sich nicht für Politik interessieren, so liegt es an
Politikern, die sich nur mit Themen der Erwachsenen
auseinandersetzen -, aber Fragen außen vor lassen, die für
Jugendliche von Bedeutung sind, wie z.B. Ausbildungsfragen, eine
lebenswerte Umwelt, Gestaltung des Wohnumfeldes usw.
Jugendliche tragen die Konsequenzen vieler Entscheidungen, dürfen
an der Gestaltung aber nicht teilhaben. Z.B. gab es keine Befragung
vor der Einführung des EURO – die Konsequenzen tragen allerdings
auch Jugendliche, deren Taschengeld jetzt viel weniger wert ist als
vorher. An einer solchen Entscheidung müssen auch junge Menschen
beteiligt werden !!!
Ein Wahlalter ab 14 und bessere und verständlichere Aufklärung und
Information und positive Beispiele würden das Interesse der
Jugendlichen sicher wieder verstärken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Annemarie Lübberstedt, KGS Sehnde
Sehr geehrter Herr Präsident, meine verehrten Damen und Herren,
ich beziehe mich mit meinem Beitrag auf die Konsequenzen einer
Senkung des Wahlalters auf 14 Jahre.
In der Bundesrepublik gibt es ca. 20 % Jugendliche, die, wenn sie
wählen könnten, das Wahlergebnis drastisch verändern würden.
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10. POLITIKLEHRERTAG
In den kommenden Jahren und Jahrzehnten ist ein enormer Anstieg
der Älteren in der BRD zu erwarten. So lag der Bevölkerungsanteil der
über 60-jährigen 1950 bei 14,6 %. 1991 waren es bereits 20,4 %. Die
durchschnittliche Lebenserwartung liegt heute bei fast 80 Jahren. Dies
wird dazu führen, dass sich finanzielle Mittel und politische
Aufmerksamkeit verstärkt auf diese Altersgruppe richten werden.
Angesichts dieser demographischen Entwicklung müssen die Politiker
besonders darauf achten, die Interessen der jüngeren Generation
nicht zu vernachlässigen.
Die Parteien müssten ihr Wahlprogramm erweitern und somit die
Jugendlichen gezielt ansprechen. Die Jugendlichen legen nicht nur
großen Wert auf eine gute Schule und Bildungseinrichtungen, sondern
auch auf die Verbesserung von Freizeiteinrichtungen; ein vernünftiges
Wohnumfeld. Und die Erhaltung der Umwelt.
74 % der in Westdeutschland lebenden Jugendlichen halten laut der
neuen Shell-Studie die Demokratie für eine gute Staatsform.
Andererseits ist das Interesse, sich in die praktische Politik
einzumischen deutlich geringer. (z. B. geben nur 27 % der 15- bis 17Jährigen an, sich ganz sicher an der nächsten Bundestagswahl
beteiligen zu wollen.)
Unserer Meinung nach könnte mit einer Herabsetzung des Wahlalters
das politische Interesse der Jugendlichen gefördert werden. Denn das
wiederum fördert das Erlernen von Verantwortung und
Urteilsvermögen, denn sie könnten so selbst Einfluss nehmen auf die
Entwicklung ihrer Zukunft. Dadurch würden sich die 14-Jährigen
ernster genommen fühlen und verantwortungsbewusster handeln.
Eine weitere Förderung der Kinder und Jugendlichen würde in
stärkerer finanzieller Unterstützung liegen, die soziale Defizite
ausgleichen müsste und die Lebensbedingungen insgesamt steigern
müsste.
Es ist unschwer erkennbar, dass es auf jeden Fall sinnvollziehbar und
sinnvoll wäre, das Wahlalter auf 14 herabzusetzen und die politische
Partizipation der Jugendlichen zu fördern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
- 30 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Antrag der Gruppe "Wahlrecht ab 16"
Antragsteller: Schülerinnen und Schüler
 des Tellkampf-Gymnasiums Hannover / Grundkurs Politik 12 und 13 und
 der Eugen-Reintjes-Schule Hameln / Klasse MKM-M1 (Kfz-Technik)
Gesetzentwurf der Fraktion "Rot"
Herr Präsident, meine Damen und Herren,
Antrag (Stephan Brandau, Eugen-Reintjes-Schule Hameln)
Im Namen der Gruppe "Wahlrecht ab 16" möchte ich den Antrag
stellen, das Mindestwahlalter bei den künftigen Landtagswahlen auf
16 Jahre zu senken.
Begründung
Seit Herbst 1996 darf in Niedersachsen bei Kommunalwahlen vom 16.
Lebensjahr an gewählt werden.
Es ist nicht einzusehen, dass die Senkung des Wahlalters auf die
Kommunalwahl beschränkt bleibt, sondern wünschenswert, dass ab
16 auch bei der Landtagswahl (und natürlich auch bei der
Bundestags- und der Europawahl) gewählt werden darf.
Bei einer Umfrage in der Eugen-Reintjes-Schule in Hameln haben sich
60 % der Schülerinnen und Schüler für das Wahlalter 16 entschieden.
Warum schon mit 16 wählen?
Gerade diese Personengruppe setzt sich im Politikunterricht intensiv
mit dem Thema "Wahlen" in allen Schulformen auseinander, es sei
denn, der Politikunterricht in den Schulen wird weiter zu Gunsten
anderer Fächer vernachlässigt oder ganz abgeschafft, wie im
Fachgymnasium ab Jahrgangsstufe 12.
Somit gehören die 16- und 17-Jährigen zu den wenigen Wählern, die
eine etwaige "Wahlprüfung" eher bestehen würden, als viele ältere
Wählerinnen und Wähler.
"Alle Gewalt geht vom Volke aus!" Auf diesen Satz gründet sich
unsere Demokratie, und Jugendliche sind Teil des Volkes.
- 31 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Jugendliche ab 16 sind befähigt, in die Arbeitswelt einzutreten. Somit
ist es schwer, hier einen Unterschied zwischen Erwachsenen und
Jugendlichen zu machen.
Jugendliche sind vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft und
sollten auch gleichberechtigte Mitglieder sein.
Auch aus diesem Grund sollte man einen Schritt auf die Jugendlichen
zugehen und das Wahlalter auf 16 senken.
Und im Gegensatz zu der viel geäußerten Meinung, Jugendliche seien
politisch nicht interessiert, sind viele junge Menschen politisch aktiver
als viele Erwachsene. Jugendliche sind nicht "politikmüde", sondern
"politikermüde"!
Fraktion "Rot"
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10. POLITIKLEHRERTAG
Rote Fraktion: Wählen mit 16
Als Sprecher des Politikkurses der Tellkampfschule begrüße ich Sie,
Herr Präsident, und alle Anwesenden herzlich.
Unser Politikkurs hat sich mehrwöchig mit dem Thema "Wählen mit 16
Jahren auch auf Bundesebene" auseinandergesetzt und kontrovers
diskutiert.
Ergebnis dieser Diskussion ist ein eindeutiges Votum unsererseits,
das Wahlalter nicht nur, wie schon gegeben auf kommunaler Ebene,
sondern auch auf Bundesebene auf 16 herab zu senken.
Ausschlaggebend für diese Entscheidung sind für uns u.a. folgende
Argumente:
Als widersinnig für erscheint uns zum Einen die Entscheidung, 16jährigen
jungen
Menschen
auf
kommunaler
Ebene
ein
Mitspracherecht einzuräumen, dieses ihnen aber auf Bundesebene zu
verweigern.
Zum Anderen lässt sich eindeutig nachweisen, dass Jugendliche mit
ihren Interessen, Bedürfnissen, Nöten und Wünschen von der Politik
allenfalls als Randgruppe wahrgenommen werden. Revolutionierende
Jugend mit ihren Ideen und oft eindeutig hörbaren Protesten wird als
mangelhaft sozialisiert abgestempelt und zugunsten konservierter
Privilegien totgeschwiegen.
Weiterhin ist eine zunehmende Politikverdrossenheit, gepaart mit der
Nichtbereitschaft Verantwortung zu übernehmen, eine sichtbar
bedrohliche Tendenz bei der Jugend geworden. Doch wie soll Jugend
Verantwortung, selbstkritisches Handeln und den Umgang mit
demokratischen Werten lernen, wenn ihr zu einer Zeit, da natürliche
Neugierde und die Motivationsbereitschaft Neues zu probieren noch
groß sind, das Recht auf Mitgestaltung und Mitentscheidung durch
Verweigerung des Wahlrechts abgesprochen wird? Einüben von
gewissenhaftem politischen Handeln ist nun einmal mit Abstinenz
nicht vereinbar und Demokratie muss frühzeitig geübt werden.
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10. POLITIKLEHRERTAG
Dass diese Überlegung nicht neu ist, belegt ein Zitat von Willy Brandt,
der einst sagte: "Mehr Demokratie wagen."
Die Jugendlichen von heute sind einst die Politiker von morgen, die
ein Erbe antreten werden, um dann zu beweisen, dass sie sorgfältig,
gerecht und zum Wohle aller damit umzugehen wissen.
Aus dieser Gewissheit leiten wir ein Recht auf frühzeitiges Einüben
unter sachbezogener Begleitung ab und fordern das Wahlrecht im
Alter von sechzehn Jahren allen Ebenen der Politik.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Christopher Fredebohm
Tellkampfschule, Hannover
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10. POLITIKLEHRERTAG
Abdul Oral, BBS Stadthagen
Sehr geehrter Herr Präsident, meine verehrten Damen und Herren,
im Auftrag meiner blauen Partei stelle ich den Antrag, der Ihnen
schriftlich vorliegt, das aktive Wahlrecht nicht zu senken, sondern
Artikel 38, Absatz 2 so zu belassen.
Unsere Fraktion stimmt einer Gesetzesänderung nicht zu, da wir der
Auffassung sind, dass staatsbürgerliche Rechte und Pflichten
miteinander gekoppelt sein sollten.
Mit der Volljährigkeit erhalten junge Menschen ein Paket von Rechten
und Pflichten, das u.a. die Strafmündigkeit, die volle
Geschäftsfähigkeit und das volle Wahlrecht enthält. Soll dieses Paket
nun aufgeschnürt und zerteilt werden?
Wir halten diese Regelung des Artikels 38 GG für sinnvoll, dass nur
volljährige Bürgerinnen und Bürger das aktive und passive Wahlrecht
erhalten, um an politischen Meinungsbildungsprozessen teilnehmen
zu können.
Denn, meine Damen und Herrn, wie sieht es aus auf dem politischen
Feld? Wie sollen sich Heranwachsende im Alter von 14 oder 16
Jahren zurechtfinden auf einem Terrain, auf dem politisch erfahrene
Erwachsene diskutieren und um Entscheidungen ringen? Kinder und
Jugendliche können viele Zusammenhänge und Hintergründe noch
nicht erkennen. Dadurch werden sie manipulierbar durch sogenannte
„politische Freunde und Ratgeber“. Sie kennen alle die schmerzlichen
Erfahrungen deutscher Vergangenheit.
All diese Punkte zeigen doch sehr deutlich, dass unsere Gesetze den
Jugendlichen in seiner Entwicklungsphase schützen wollen und sollen.
Und machen wir uns doch nichts vor, Jugendlichen wird nur durch
Herabsetzung des Wahlalters kein aktives Mitgestaltungsrecht
gegeben. Eine Erweiterung der Kompetenzen von Jugendparlamenten
wäre sicher der bessere Weg um Jugendliche in politische Prozesse
frühzeitig einzugliedern.
Deshalb wollen wir keine Änderung unseres Grundgesetzes.
Meine Damen und Herren, lassen Sie es nicht dazu kommen.
Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
- 35 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine verehrten Damen und Herren,
hiermit stelle ich den Antrag für die Fraktion blau, das Wahlalter für
alle Wahlen bei 18 Jahren zu belassen. Diesen Antrag begründe ich
folgendermaßen:
Viele 18-jährige haben bereits Kontakt mit dem Berufsleben, wodurch
das politische Interesse bei ihnen größer ist als bei noch nicht
volljährigen Jugendlichen; was daraus resultiert, dass die Regierung
für Arbeitspolitik verantwortlich ist.
Politische Partizipation und Meinungsbildung auf Bundesebene setzt
bei der Multiperspektivität von Politik elementare Grundkenntnisse des
Politischen voraus.
Jugendliche unter 18 haben für gewöhnlich diese Kenntnisse nicht.
Minderjährige sollten sich erst auf kommunaler Ebene oder in Kinderund Jugendparlamenten politisch betätigen, da dies für sie
überschaubarer ist und sie mit ihrer kommunalen Politik in engeren
Kontakt stehen. Wenn eine Ebene der Politik transparent genug ist,
um auch von jungen, relativ unerfahrenen Menschen durchschaut
werden zu können, ist es die Kommunalpolitik, auf keinen Fall aber die
Bundespolitik. Durch politische Beteiligung auf kommunaler Ebene
können Minderjährige sich orientieren und haben dann mit 18 schon
eine gewisse politische Bildung und können die bundesweite Politik
gut beurteilen. Ein Herabsetzung des Wahlalters würde daher nicht
bedeuten, dass Jugendliche damit eine qualitative Ausweitung ihres
bisherigen Gestaltungsspielraumes erfahren würden. Studien
beweisen außerdem, dass die Wahlbeteiligung bei 16-jährigen trotz
des herabgesetzten Wahlalters sehr gering ist.
Minderjährige sind nur beschränkt geschäftsfähig und strafmündig und
haben noch keine hinreichende Eigenverantwortung über ihr Leben.
Da Wahlrecht und staatsbürgerliche Pflichten jedoch gekoppelt sein
sollten, würde man ihnen mit dem Wahlrecht Rechte geben, die sie
aufgrund ihrer Minderjährigkeit noch nicht haben dürfen.
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10. POLITIKLEHRERTAG
Wir müssen auch bedenken, dass der Großteil der Minderjährigen
stark beeinflussbar ist. Diese Beeinflussbarkeit kann von Parteien aus
wahltaktischen Gründen ausgenutzt werden, was dazu führen kann,
dass Parteien in die Parlamente gewählt werden, die nicht in allen
Politikfeldern dem demokratischen Spektrum zugehörig sind oder
einfach keine gute Politik machen.
Abschließend möchten wir noch anführen, dass Meinungsumfragen
und wissenschaftliche Studien deutlich belegen, dass der Großteil der
Bevölkerung sich aus den oben genannten Gründen dafür ausspricht,
dass das Wahlalter 18 ein guter Kompromiss ist.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.
- 37 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Zum Ablauf des Parlamentsrollenspiels ist Folgendes
anzumerken:
In der ersten Runde wurden die Anträge der fünf Fraktionen zum
Wahlalter vorgestellt und begründet.
In einer zweiten Runde, bei der die Fraktionen in gleicher Reihenfolge
aufgerufen wurden, konnten die eigenen Anträge verteidigt und die
gegnerischen zurückgewiesen werden. Es war für die Schülerinnen
und Schüler schwer, auf die Argumente der anderen Fraktionen
einzugehen; das gelang nur selten.
In der dritten Runde rief der Landtagspräsident zur freien Debatte auf.
Ein kleiner Kreis von mutigen Schülerinnen und Schülern löste sich
daraufhin in Rede und Gegenrede ab. Natürlich wiederholten sich die
Argumente, das war nicht anders zu erwarten, aber mancher Redner
ging noch zwei- oder dreimal zum Pult, um zu reagieren. Es war ein
Spiel und ein Sich-Erproben.
Am Ende ließ der Landtagspräsident über die Anträge abstimmen,
über den weitestgehenden zuerst: weiß, grün, gelb - die Anträge
wurden der Reihe nach mit Mehrheit abgelehnt. Der Antrag der roten
Fraktion erhielt mit 92 Stimmen die Mehrheit.
Es war offensichtlich, dass viele Schülerinnen und Schüler ihr
Abstimmungsverhalten nach Ablehnung ihres eigenen Antrags unter
taktischen Gesichtspunkten nicht genügend durchdacht hatten.
Der Landtagspräsident machte sie behutsam auf diesbezüglich
erforderliche Überlegungen aufmerksam.
Politik in der Demokratie lebt von und mit Kompromissen.
Anschaulicher als bei diesem Rollenspiel kann man das kaum
erfahren.
Albrecht Pohle
- 38 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Schülerinnen und Schüler machen Politik
10. Fachtagung für Politiklehrerinnen, Politiklehrer und Interessierte
Mittwoch, 4. September 2002 im Niedersächsischen Landtag
AG 1
Lokale Demokratie und Politik für Schülerinnen und
Schüler verständlicher und erfahrbarer machen
Ideen und Projekte in Kooperation von Stadtverwaltung und Schulen
in Hannover
Kontakt:
Dr. Werner Heye, Referat für Stadtentwicklung, Hannover
Tel.: (0511) 168-43789, E-mail: [email protected]
Christoph Honisch, Stadtjugendpfleger, Hannover
Tel.: (0511) 168-41014, E-mail: [email protected]
Themen und Fragestellungen für die AG 1
I.
Einführung: Motive und Ziele, warum es aus städtischer
Perspektive wichtig und notwendig ist, sich stärker, gemeinsam
für das Thema zu engagieren.
II.
Kurzdarstellung: Beispielhafte Projekte und Projektideen
III.
Erfahrungsaustausch / Perspektivdiskussion:
-
Wie kann dem Thema ‚lokale Demokratie und Politik‘ in der
schulischen Lernorganisation mehr Gewicht verliehen
werden ?
-
Wie kann die Kooperation von Schule und Kommune /
Kommunalverwaltung verbessert werden – Erwartungen und
Möglichkeiten ?
- 39 -
10. POLITIKLEHRERTAG
I.
Einführung
Motive und Ziele, warum es aus städtischer Perspektive
wichtig und notwendig ist, sich stärker, gemeinsam für
das Thema zu engagieren
1.
„Die Demokratie ist die am wenigsten schlechte und damit
bestmögliche aller Lösungen“.
Es gibt kein ideales Gesellschaftssystem, ohne Fehler und
Schwächen, insbesondere wenn man auf das Verhalten der
Akteure schaut. Dies darf aber nicht den Blick dafür verstellen,
dass die Demokratie ein attraktives, humanes und
schützenswertes Gesellschaftssystem ist. Dies wird jedoch als
viel
zu
selbstverständlich,
naturgegeben
betrachtet.
Demokratische Teilhabe stabilisiert das System und nützt damit
jedem Einzelnen.
2.
„Ich bin 16 Jahre alt. Ich wähle zum ersten Mal. Es ist so viel,
Stadtrat, Bezirksrat und was weiß ich noch. Ich weiß überhaupt
nicht, was ich da wähle und wozu“.
Junge Menschen wollen von (lokaler) Demokratie und Politik
offenbar wenig wissen, sie wissen aber auch erschreckend
wenig, sind schlecht informiert. Dies gilt sowohl im Hinblick auf
den Wert, die Kultur und die Grundlagen von Demokratie als
auch im Hinblick auf die (lokal)demokratischen und -politischen
Aufgaben, Formen und Abläufe.
3.
„Die demokratische Wirklichkeit ist so kompliziert. Wir müssen
wieder lernen alles zu erklären, immer wieder aufs Neue“.
Die gesellschaftlichen Institutionen (Staat und Kommunen, Politik
und Verwaltung, Bildungseinrichtungen, Jugendorganisationen)
haben in diesem Zusammenhang eine besondere und
gemeinsame Verantwortung und Aufgabe. Sie besteht vor allem
darin, jungen Menschen verstärkt und kontinuierlich die
demokratischen sowie politischen Institutionen, Strukturen und
Prozesse zu vermitteln, Demokratiebewusstsein zu fördern,
Demokratielernen zu ermöglichen.
- 40 -
10. POLITIKLEHRERTAG
4.
„Die Kommune ist die Schule der Demokratie“.
Kommunale Demokratie gehört in die Schule. Denn besonders
verstehbar, erfahrbar und gestaltbar wird Demokratie,
demokratische Teilhabe in der Lebensumgebung der jungen
Menschen. Lokale Demokratie und Politik bieten vielfältige
Handlungsfelder und Anknüpfungspunkte. Schule bietet einen
geeigneten Lernort und Gestaltungsrahmen. Stadt(verwaltung)
und Schule sind sinnvolle und erforderliche Kooperationspartner,
um in einem Prozess der kleinen Schritte Demokratiekompetenz
zu vermitteln, Demokratielernen selbstverständlicher zu machen,
Partizipation zu fördern.
5.
„Die Gemeinde soll bei Planungen und Vorhaben, die die
Interessen von Kindern und Jugendlichen berühren, diese in
angemessener Weise beteiligen. Hierzu soll die Gemeinde über
die in diesem Gesetz vorgesehene Beteiligung der Einwohner
hinaus geeignete Verfahren entwickeln und durchführen“.
Nach der Neuformulierung des § 22e der Niedersächsischen
Gemeindeordnung (NGO) haben Verwaltung und Politik auch
einen besonderen Auftrag, die demokratische Teilhabe von
jungen Menschen zu ermöglichen, anzuregen und aktiv zu
fördern.
6.
„Auf jeden Fall sollte man ein solches Projekt (Planspiel) machen
und wiederholen. Weil es Spaß gemacht hat und man viel über
Demokratie und Politik gelernt hat“.
Es müsste das gemeinsame Ziel sein, konkrete praxisnahe
Konzepte und Projekte zu entwickeln und in die schulische
Lernorganisation zu integrieren. Wichtig ist, dass die Projekte
Spaß und Ernst, Erlebnis und Aktion, Wissens- und
Kompetenzerfahrung kreativ und konstruktiv miteinander
verbinden. Bei ‚richtiger Ansprache‘ haben viele junge Menschen
sehr wohl ein Interesse daran, sich mit Demokratie und Politik
auseinander zu setzen und mehr Informationen, Kenntnisse und
Fähigkeiten zu bekommen.
- 41 -
10. POLITIKLEHRERTAG
II.
Kurzdarstellung - Beispielhafte Projekte und Projektideen
Projekt / Projektidee
A
„Erste Wahl mit 16“ – Schülerinnen und Schüler fit
machen für die Kommunalwahl
Worum geht es bei diesem Projekt ?
Ziel des Projekts ist es, Schülerinnen und Schüler modellhaft die mit
einer Kommunalwahl verbundenen Bedingungen, Strukturen und
Abläufe so realistisch wie möglich zu vermitteln. Dazu übernehmen
verschiedene Schülergruppen oder -klassen unterschiedliche,
aufeinander bezogene Rollen und Aufgaben: Stadtteilprobleme
analysieren, mit Wahlprogrammen auseinandersetzen, Kandidaten für
fiktive Parteien aufstellen, Wahlwerbung gestalten, Diskussionen
organisieren, Wahlen vorbereiten, durchführen und auswerten.
An wen richtet sich das Projekt ?
Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 bis 10; klassen- bzw.
jahrgangsübergreifend.
Was lernen die jungen Menschen durch das Projekt ?
Die Schülerinnen und Schüler lernen vor allem demokratische
Prozesse und Regeln besser zu verstehen, ihr Interesse an Politik und
politische Wahlen wird geweckt oder gestärkt sowie ihre
Kommunikationsfähigkeit und soziale Handlungskompetenz werden
gefördert. Zudem regt das Projekt die Lernmotivation für verschiedene
Fächer an (Politik, Deutsch, Kunst, Informatik).
Welche wichtigen Voraussetzungen sind zu beachten ?
Das Projekt erfordert eine gezielte sächliche wie konzeptionelle
Vorbereitung und klare Organisation durch eine verantwortliche
Lehrkraft in Kooperation mit der Kommune. Wichtig ist dabei auch die
Bereitschaft
in
der
Schule
für
die
klassenund
jahrgangsübergreifende Kooperation. Das Projekt erstreckt sich
insgesamt über einen Zeitraum von drei Monaten. Das Projekt ist im
Prinzip auf andere Wahlen übertragbar. Dabei ist es auch möglich,
- 42 -
10. POLITIKLEHRERTAG
den Umfang des Projekts zu reduzieren und aus dem Projekt einzelne
Bausteine herauszugreifen.
- 43 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Projekt / Projektidee
B
Rathauserkundung
Worum geht es bei diesem Projekt ?
Im Mittelpunkt des Projekts steht das Anliegen, jungen Menschen das
Rathaus als den Ort näher zu bringen, an dem die Belange der
Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt behandelt und vertreten
werden. Je nach Ausgestaltung des Projekts können verschiedene
Elemente eingebaut und miteinander verzahnt werden, wie etwa ein
Quiz zum Thema ‚Unsere Stadt‘, kennen lernen der Räumlichkeiten
und Funktionen des Rathauses, Gespräche mit Politikern und
Verwaltung, themenorientierte Teilnahme an einer Rats- oder
Ausschusssitzung.
An wen richtet sich das Projekt ?
Schülerinnen und Schüler des Jahrgangsstufen 6 bis 10.
Was lernen die jungen Menschen durch das Projekt ?
Die jungen Menschen lernen, das Rathaus im Stadtbild einzuordnen
und es nicht nur als zu besichtigendes Bauwerk zu betrachten. Sie
erleben das Rathaus – viele zum ersten Mal – als lebendiges
Gebäude, in dem Verwaltungsmitarbeiter und Politiker arbeiten und
unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen. Zudem wird das Interesse
der jungen Menschen an bestimmte die Stadt betreffende Themen
und Fragen geweckt.
Welche wichtigen Voraussetzungen sind zu beachten ?
In Kooperation von Kommune und Schule ist es notwendig,
Vorinformationen zu vermitteln sowie die jeweiligen einzelnen Schritte
vor zu besprechen. Außerdem müssen geplante Termine im Rathaus
rechtzeitig mit der Verwaltung und Politik abgestimmt werden. Das
Projekt sollte von einer Moderationskraft (z.B. aus der Jugendarbeit)
vorbereitet, begleitet und abschließend ausgewertet werden.
- 44 -
10. POLITIKLEHRERTAG
Projekt / Projektidee
C
Planspiel Kommunalpolitik
Worum geht es bei diesem Projekt ?
Beim ‚Planspiel Kommunalpolitik‘ schlüpfen Schülerinnen und Schüler
in die Rolle von Politikerinnen und Politikern (in Hannover: in die Rolle
der Stadtbezirksräte). Ausgehend von Grundinformationen zur Arbeit
von Bezirksräten teilen sie sich in politische Fraktionen auf, erarbeiten
aktuelle politische Themen aus dem eigenen Lebensumfeld und
formulieren Anträge und Anfragen. Sie werden dabei von den ‚realen‘
Mandatsträgern unterstützt. Den Abschluss bildet eine möglichst eng
an der Wirklichkeit orientierte ‚simulierte‘ Bezirksratssitzung unter
Leitung des/der ‚realen‘ Bezirksbürgermeisters/Bezirksbürgermeisterin.
An wen richtet sich das Projekt ?
Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 10 und 11.
Was lernen die jungen Menschen durch das Projekt ?
Die Schülerinnen und Schüler lernen praxisnah die Aufgaben,
Arbeitsweisen und Abläufe der Bezirksratsarbeit kennen. Sie treten in
persönlichen Kontakt mit den Politikerinnen und Politikern und
erfahren, wie diese ‚Politik machen‘ und wie vielfältig ihre alltägliche
politische Arbeit ist. Dabei werden sie auch ermutigt und befähigt, sich
stärker am realen lokalpolitischen Geschehen zu beteiligen.
Welche wichtigen Voraussetzungen sind zu beachten ?
Die erforderliche inhaltliche Vorbereitung erfolgt im Rahmen des
zwischen Politik, Schule und Verwaltung verabredeten Planspiels. Das
Planspiel erstreckt sich auf einen Zeitraum von insgesamt etwa zwei
Monaten. Der überwiegende Zeiteinsatz (außer der simulierten
Sitzung) lässt sich in die Unterrichtsorganisation integrieren. Die
schulinterne Organisation übernimmt eine verantwortliche Lehrkraft;
die Koordination des Planspiels übernimmt die Stadtverwaltung (in
Hannover: Referat für Stadtentwicklung).
- 45 -
10. POLITIKLEHRERTAG
III.
Erfahrungsaustausch / Perspektivdiskussion
Wie kann dem Thema ‚lokale Demokratie und Politik‘ in der
schulischen Lernorganisation mehr Gewicht verliehen werden ?
Wie kann die Kooperation von Schule und Kommune bzw.
Kommunalverwaltung verbessert werden – Erwartungen und
Möglichkeiten ?
- 46 -
PALÄSTINATAGE
III
ZUM ZEITGESCHEHEN
Filistina 2002
Palästinatage in der Region Hannover
von Wilhelm Wortmann und Sami Hussein
Erschütternd, brisant und vor allem gleichbleibend aktuell:
das Thema „Palästina“ ist und bleibt ein Brennpunkt der politischen
Weltereignisse. Die eskalierenden Geschehnisse der vergangenen
Jahre, die anhaltende Gewalt in der Region, haben die Hoffnungen auf
eine baldige Lösung zunichte gemacht. Die Situation – nun auch noch
angesichts eines drohenden Angriffskrieges gegen den Irak – scheint
auswegloser als je, die Fronten sind verhärtet, von Frieden keine
Rede, die zahlreichen Vermittler verstummt.
Sind wir in Deutschland zu weit weg und indifferent, um aktiv die
verfahrene Situation zu beleuchten, um Fragen zu beantworten und
verworrene Situationen ein wenig klarer darzustellen?
Die „Initiative Palästina“, ein Zusammenschluss in Hannover
lebender Deutscher, Palästinenser und Israelis, hatte sich zum Ziel
gesetzt, die Palästinafrage deutlich und umfassend ins Bewusstsein
der Menschen zu rücken und dabei offene Fragen nicht auszusparen.
Die Initiative wurde ideell, wie auch zumeist sehr konkret - praktisch
wie finanziell - unterstützt von:
der Landeshauptstadt Hannover als Mitveranstalter – Palästinensische
Gemeinde Deutschland Hannover – Niedersächsische Landeszentrale
für politische Bildung – Region Hannover – NAJDEH, Soziale
Hilfsorganisation für die Palästinenser – Literaturbüro Hannover – Kino
im Künstlerhaus – Deutscher Gewerkschaftsbund – Friedrich-EbertStiftung (Bonn) – Institut für Politische Wissenschaft der Universität
Hannover – Evangelisch-Lutherische Kirche in der Region (Sprengel)
Hannover – Katholische Kirche Region Hannover – Deutsche
Vereinigung für politische Bildung Niedersachsen – Evangelisches
Missionswerk Berlin – Friedrich-Naumann-Stiftung – Verein zur
Förderung des interkulturellen Dialogs Göttingen.
- 47 -
PALÄSTINATAGE
Ein besonderes Signal setzte der Oberbürgermeister der
Landeshauptstadt, Herbert Schmalstieg, indem er bereit war, die
Schirmherrschaft zu übernehmen.
Die Palästinatage „Filistina 2002“ haben vom 18. bis 21. September
in Hannover stattgefunden und sind von erfreulich vielen interessierten
und diskussionsfreudigen Menschen besucht worden. Die
Veranstaltungen boten in vielfältiger Form die Gelegenheit, das
palästinensische Volk, sein Anliegen, seine Kultur und auch seine
Ängste und Hoffnungen näher kennen zu lernen. Im Freizeitzentrum
Vahrenwald, im Literaturbüro und im Kino des Künstlerhauses wurden
Ausstellungen, Vorträge, Seminare, Lesungen, Filmvorführungen und
Podiumsdiskussionen anschaulich und engagiert dargeboten.
Die FILISTINA 2002 setzte dort an, wo die Politik – auch in
Deutschland – überwiegend schweigt und auch versagt.
Zu wenig weiß man hierzulande über jenes „Volk ohne Land“, über
die Menschen, die in den Besetzten Gebieten leben und hilflos
zuschauen müssen, wie einerseits Zäune und Mauern unterschiedlichster Natur um sie herum entstehen, ihre Einrichtungen und
Lebensverhältnisse gezielt zerstört werden, ihr Selbstwertgefühl
missachtet wird und andererseits radikale „Landsleute“ weltweit ein
falsches und keinesfalls repräsentatives Bild von „dem Palästinenser“
entstehen lassen.
Dabei ist die Erwartung auf eine verständnisvollere Welt immer noch
eine der großen Hoffnungen des palästinensischen Volkes, das eine
ausgeprägte Kunst und Kultur, ein starkes Selbstverständnis und den
unerschütterlichen Glauben an ein völkerrechtlich gesichertes Existenzrecht und an gleichwertige Nachbarschaftlichkeit hat.
Es ist – so glauben wir – unserer Initiative gelungen zu verdeutlichen,
dass wir uns nicht gegen ein Volk und seinen Staat richten wollten (bei
nachvollziehbarer Kritik an seiner jetzigen Regierung), sondern dass
wir uns für ein besetztes, unterdrücktes und in Teilen vertriebenes
Volk, für sein Selbstbestimmungsrecht und für seinen eigenen Staat
eingesetzt haben.
- 48 -
PALÄSTINATAGE
Einige Impulsgedanken
zur
Eröffnung der Palästinatage 2002 in Hannover
von Dr. Wilhelm Wortmann
Hannover, den 18. September 2002
Meine Damen, meine Herren!
Sehr geehrter Herr Generaldelegierter Palästinas, Herr Abdallah
Frangi!
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister der Landeshauptstadt und
Schirmherr der Palästinatage 2002 in unserer Region, Herr Dr.
Herbert Schmalstieg!
Palästinatage! – In unserem Programmfaltblatt haben wir geschrieben:
Palästina – ein Land zwei Völker.
Mit dieser Formulierung kann der Streit schon anfangen. Lassen Sie
mich unsere Intention erläutern.
Seit Jahrhunderten trägt der geographisch-geschichtliche Raum
zwischen Mittelmeer und Jordantal, zwischen Libanon und Golf von
Elat /Akkaba die Bezeichnung „Palästina“. Das änderte sich mit dem
Ende der britischen Mandatszeit und der Ausrufung des Staates
Israel: für die arabische Bevölkerung ist der Name des Gebietes
„Palästina“ geblieben, für die jüdische Bevölkerung gilt: Israel – ja,
Erez Israel. Und für die arabische Bevölkerung mit israelischem Pass?
In unserer Initiativgruppe gab es am Anfang kurz die Diskussion, ob
wir die Veranstaltungsreihe nicht lieber israelisch-palästinensische
oder palästinensisch-israelische Tage benennen sollten?!
Wir waren sehr schnell der Auffassung, es ist an der Zeit, den Blick
Richtung Nahost nicht stets primär auf Israel zu richten, sondern auch
auf die andere dort vorhandene Bevölkerung, auf die arabischen
Palästinenser.
- 49 -
PALÄSTINATAGE
Wer sind sie heute – die Palästinenser?
Seit Jahrhunderten haben sie hier gelebt, zuletzt in einer osmanischen
Unterprovinz. Es hat nie ein palästinensisches Volk gegeben, das in
einem eigenen staatlichen Gebilde organisiert war. (Durchaus
vergleichbar mit den Juden in den letzten 2 ½ Jahrtausenden.)
Den etwa 5 Millionen Juden zwischen Mittelmeer und Jordan stehen
etwa 3 ½ Millionen Palästinenser gegenüber, wobei es sinnvoll ist, die
etwa 2,2 Millionen palästinensischen Flüchtlinge und ihre
Nachkommen im Libanon, in Syrien und Jordanien im Blick zu haben.
(Nicht zu vergessen: über 1 Million im weltweiten Exil.)
Alles in allem etwa 7 Millionen palästinensische Menschen, die seit
Jahrzehnten bemüht sind eine Identität, ihre Identität zu finden.
Es gab eine weitere Überlegung für unsere Entscheidung: die
kriegsähnliche Entwicklung der 2. Intifada seit 2000.
Was wir in Europa und in der Welt vorrangig über diesen Konflikt
erfahren, was medial – vergleichsweise leicht und anschaulich –
transportiert werden kann, sind die beidseitigen Anwendungen von
Gewalt, von direkter, personaler und brutaler Gewalt, die ihrerseits
wieder nach Rache und Vergeltung schreit.
Dabei heißt es dann immer sofort beflissentlich: von beiden Seiten
gleichermaßen! Trifft das zu – oder sind hier Schutzbehauptungen,
Formen von Tabuisierung im Kalkül? Sind beide Seiten in der Tat
gleichgewichtig?
Direkte Gewalt:
Welches Waffenpotential – quantitativ und qualitativ – steht im Einsatz
auf der einen Seite und welches auf der anderen Seite?
Welche Verlustzahlen an Toten und Verletzten muss die Bevölkerung
in Israel erleiden und welche die Bevölkerung in den
Besatzungsgebieten?
Welche
Zerstörungsschäden
an
Häusern,
Infrastrukturen und sozialen Einrichtungen?
Verkehrswegen,
Es ist offensichtlich: Überlegenheit und Übergewicht der israelischen
Seite gegenüber der Seite der Palästinenser sind eklatant und
ungleichgewichtig.
- 50 -
PALÄSTINATAGE
Es gibt aber noch eine andere Form von Gewalt, die wesentlich
tiefgründiger, weil ursächlich ist – auch ursächlich für das Entstehen
direkter Gewalt:
die strukturelle Gewalt!
Strukturelle Gewalt wirkt nicht direkt, personal verletzend auf
Menschen, sondern eher mittelbar auf die Lebensbedingungen, die
Umstände des Alltags und die seelisch-biologischen Verhältnisse der
Menschen.
Auf israelischer Seite wirken hier die generellen Unsicherheiten wegen
der staatlichen und damit der kollektiven Existenzbedrohung aus den
sechziger und siebziger Jahren durch das arabische Umfeld. Aktuell
sind es die Ängste vor punktuellen, nicht einschätzbaren Attentaten
palästinensischer Selbstmörder im eigenen Staat.
Welches Ausmaß die strukturelle Gewalt der israelischen Besatzer im
palästinensischen
Bereich
seit
Jahren
angenommen
hat,
verdeutlichen die geostrategischen Abriegelungen der besetzten
Gebiete:
 die Segmentierung der unter palästinensischer Autonomie
stehenden Städte (z.Z. wieder überwiegend besetzt wie vor dem
Oslo-Prozess),
 die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung
(Ausgangssperren, Abschneiden der Wege zu Arbeit, Schule,
Universität und Märkten), die Straßensperren und Kontrollstellen,
benutzt werden darf,
 die Konfiskation von Land der eingeborenen Bevölkerung für
israelische Siedlungen, das dichte Straßennetzes zwischen den
jüdischen Siedlungen, das von Palästinensern nicht benutzt
werden darf, Schutzstreifen und Militäranlagen;
... die Aufzählung muss hier nicht vollständig sein.
 Verdeutlicht werden muss aber, dass es sich bei all diesen
Maßnahmen um eine permanente und flächendeckende
Behandlung aller Palästinenserinnen und Palästinenser handelt.
Das alles führt im Sozio-Psychischen zu Ohnmachtgefühlen, Wut
und schließlich zu Verzweiflungstaten, Demütigung und
Verletzbarkeiten des Selbstwertgefühls eines ganzen Volkes und
letztlich zu Hass.
- 51 -
PALÄSTINATAGE
Ursache und Wirkung sind bei dieser Asymmetrie sorgfältig zu
analysieren und zu werten:
Auf der einen Seite ein rechtstaatlich geordneter, demokratisch
legitimierter Staat, der sich zum „Westen“ gehörend empfiehlt, mit
voller Souveränität, Polizei- und Militärgewalt, international anerkannt.
Auf der anderen Seite Menschen, die seit Jahrzehnten unter
Besatzungs- und Militärverwaltung existieren müssen, wirtschaftlich
abhängig und in jeder Weise unfrei gehalten werden, mit einer auf
wenige Prozente des noch verbliebenen Landes begrenzten
autonomen Selbstverwaltung.
Was sagt das Völkerrecht dazu?
Warum werden in diesem Konflikt UN-Resolutionen zwar zahlreich
(28) beschlossen, aber niemals durchgesetzt und von Israel schlicht
missachtet?
Wie weit werden die Menschenrechte respektiert?
Zu den wichtigsten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts gehört das
Recht auf Selbstbestimmung von Menschen, Gruppen und Völkern!
Warum wird dieses Recht den Palästinensern vorenthalten? Nicht nur
von der israelischen Regierung, auch von der Weltgemeinschaft und
faktisch ebenso von den arabischen – sogenannten – Bruderländern ?
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat den Menschen jüdischen
Glaubens einen Jahrhunderte alten Traum erfüllt: ein unbegrenztes
Rückkehrrecht nach Palästina und in einen jüdisch definierten,
selbstbestimmten Staat – von der UNO sanktioniert.
Wir wissen über die Widerstände, die verzweifelten Umstände von
Flucht und Vertreibung, über die Aggressionen und Explosionen in
dieser Region.
Um so unerbittlicher stellt sich die Frage nach dem gleichen Recht für
beide Gesellschaften, für beide Völker, für beide Nationen, nach dem
Recht, die eigenen Lebensverhältnisse selbst regeln und bestimmen
zu dürfen und bestimmen zu können.
Die Welt schaut zu – obwohl die Lösung klar ist. Die Umsetzung
sicherlich nicht ganz so einfach.
- 52 -
PALÄSTINATAGE
Wir wollen mit unserer Initiative und mit diesen Palästinatagen im
Jahre 2002 anregen, die intensiven, jahrzehntelangen Bemühungen
um ideell und materiell gute Beziehungen zwischen Deutschen und
Israelis, um eine vergleichbare Aktivität zwischen Deutschen und
Palästinensern zu erweitern, zu vervollständigen.
Unsere Intentionen:
 Für die deutschen Bürger wollen wir die Palästinenser ins Blickfeld
rücken: die Menschen, ihr Land, ihre Lebensverhältnisse und ihre
Kultur. Das uns Fremde soll uns vertrauter werden.
 Den Palästinensern in Deutschland möchten wir das Gefühl
vermitteln, dass sie für uns als Angehörige eines Volkes wie
andere angesehen und geschätzt werden. Wir möchten ihnen die
Möglichkeit geben, ihre Nationalität, ihre arabische Kultur, ihre
Ziele und Hoffnungen darzustellen; m.a.W. ihrem Selbstwertgefühl
gleichberechtigt Ausdruck zu verleihen.
 Indem wir mit unserer Initiative den sozialen und den geistigkulturellen Dialog anstreben, wollen wir als Fernziel versuchen,
einen Beitrag zu leisten, die verhängnisvolle Asymmetrie zwischen
Israel und den Palästinensern zu verringern, zu relativieren in der Hoffnung, die Kräfte in jener Mittelmeerregion zu stärken, die
sich in der Lage sehen, eine wirklich politische, eine gerechte und eine
menschenwürdige Lösung zu finden.
Ich knüpfe an unser Motto an:
Palästina – ein Land, zwei Völker – und füge hinzu: zwei Staaten.
Lassen Sie es mich abschließend und noch konkreter so formulieren:
„Klar ist, dass es keine Lösung geben wird, auch nicht für die Israelis,
solange die Palästinenser im Elend und ohne Würde leben.
Die Israelis werden in keiner glaubwürdigen und endgültigen Art und
Weise Ruhe und Sicherheit erzielen können, solange ihre
Nachbarbevölkerung unter ihrer Besatzung lebt und deren Kinder nicht
dieselben Zukunftschancen bekommen, die ihre eigenen Kinder
haben.
Klar ist aber auch, dass weder die Palästinenser noch die Israelis ihr
Ziel durch Gewalt erreichen können.
- 53 -
PALÄSTINATAGE
Die Palästinenser sind nicht mächtig genug, die Israelis zu vertreiben,
und die Israelis sind nicht mächtig genug, langfristig über eine andere
Bevölkerung zu herrschen.
Napoleon sagte einmal, man könne mit Bajonetten vieles erreichen,
nur auf ihnen sitzen könne man nicht.
Wir sitzen schon allzu lange auf Bajonetten und brauchen dringend
eine Leiter, um herunterzuklettern.
Diese Leiter können wir aber nur von unseren Nachbarn bekommen.“
Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich Ihnen erst jetzt sage, dass
diese letzten Aussagen nicht von mir stammen, sondern ein
vollständiges Zitat von Avi Primor 1 sind – nicht viel älter als 2 Monate.
Ich wünsche den Palästinatagen „Filistina 2002“ in Hannover Erfolg
und verständnisbereite Teilnehmerinnen und Teilnehmer !
1
Avi Primor (früherer Botschafter Israels in Deutschland), Keine Lösung durch
Gewalt; in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B35-36/2002, S.15 (2.9.)
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POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
Politische Bildung und religiöse Orientierung –
Plädoyer für einen Dialog mit den Religionen über
Politik und Gesellschaft
von Fritz Erich Anhelm
Das terroristische Verbrechen in den USA hat die ganze Welt
erschüttert. Die Täter werden dem extremistischen politischen
Islamismus zugerechnet. Das hat das Verhältnis von Politik und
Religion plötzlich wieder in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses
gerückt. Zu normalen Zeiten kommt ihm in Gesellschaften, die sich
weithin als säkularisierte verstehen, kaum besondere Aufmerksamkeit
zu.
Nun aber ist die Huntington’sche Formel vom “Clash of Civilisations”
erneut in aller Munde. Sie meinte insbesondere die Religionskulturen.
Manche Kommentatoren reden ohne jede Scheu vom “Krieg der
Kulturen”. Die Hoffnung auf einen “Dialog der Kulturen und Religionen”
scheint in weite Ferne gerückt.
Wer dieser Hoffnung eine Chance lassen will, muss zwischen
Religionskulturen und ihrem Missbrauch durch politischen
Extremismus unterscheiden. Solche Differenzierung ist äußerst
wichtig. Sie ermöglicht den Religionen, sich von der politischen
Funktionalisierung ihrer Glaubenstraditionen durch organisierte
Gewalttäter zu distanzieren und an Begegnung und Dialog
festzuhalten. Und sie ermöglicht es der Politik, dem sich
religionsideologisch begründenden Terrorismus das rechtstaatliche
Gewaltmonopol
entgegenzusetzen,
ohne
damit
ganze
Religionsgemeinschaften pauschal zu treffen.
Die Religionskulturen sind in allen großen Weltreligionen äußerst
vielfältig ausgeprägt. Das gilt auch für das in ihnen jeweils entwickelte
Verhältnis von Religion und Politik. Diese Komplexität kann nur im
Dialog miteinander erschlossen werden. Er ist Voraussetzung für das
friedliche Zusammenleben in pluralen Gesellschaften.
Er muss allerdings vom Vertrauen der ganzen Gesellschaft in die
Perspektive
gelingender
Koexistenz
unterschiedlicher
Religionskulturen getragen werden. Hier ist auch die politische Bildung
- 55 -
POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
gefragt. Welchen Beitrag sie zur Entwicklung dieses Grundvertrauens
leisten kann, ist Gegenstand des folgenden Artikels.
Zwei Fragestellungen sollen den Artikel leiten: Worauf muss sich
Politische Bildung einstellen, die die religiösen Orientierungen und
Habitusformen ihrer Adressatinnen und Adressaten ernst nimmt? Und:
Was hat das mit ihrem Bildungsauftrag in der demokratischpluralistischen Gesellschaft zu tun, die sich doch weithin als
säkularisiert begreift?
Beide Fragen werden aus einer christlich-protestantischen Sichtweise
in der Perspektive des interreligiösen Dialogs und im Hinblick auf die
mündige Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung des
Gemeinwesens erörtert.
1. Religion als Störfaktor?
Wir befinden uns auf einem der vielen Seminare zur politischen
Bildung. Die veranstaltende Trägerorganisation versteht sich als eine
säkulare. Am Ende des Tagesprogramms lädt eine Teilnehmerin zur
christlichen Abendandacht ein. “Auf freiwilliger Basis”, sagt sie.
Dennoch entwickelt sich eine ausgedehnte Diskussion. Manche
kritisieren die “verrückte” Idee, die weder “ins Programm passt”, noch
“etwas mit dem zu tun hat, weshalb man hergekommen ist”. Andere
unterstützen den Vorschlag und verteidigen ihn. Die Sache ist plötzlich
emotional weit höher besetzt als alles, was im Laufe des Tages
diskutiert wurde. Die Gruppe droht, sich zu polarisieren. Da beendet
der Leiter die Debatte – vordergündig – damit, dass er erklärt, man
befinde sich nicht auf einer kirchlichen Rüstzeit, sondern in einem
Seminar zur politischen Bildung.
Szenenwechsel: Kurz vor der Mittagspause verlassen drei Teilnehmer
den Seminarraum und erscheinen zu spät oder gar nicht zum Essen.
Das wiederholt sich am Abend und wird von anderen Teilnehmenden
wie auch vom Leiter ärgerlich vermerkt. Er geht der Sache nach und
stellt die drei zur Rede. Es wird klar, dass es sich um Muslime handelt,
die auf einem der Zimmer ihre Gebete verrichten. Auf seine Frage, ob
sie das nicht außerhalb des gemeinsamen Programms tun könnten,
erntet er erstauntes Kopfschütteln. Dabei stellt sich heraus, dass sie
auch mit dem Fleisch im Essen Probleme haben.
- 56 -
POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
Erneuter Szenenwechsel: Am Freitag Abend ist ein Teilnehmer
plötzlich verschwunden und taucht auch zum geselligen
Beisammensein nicht mehr auf. Als der Seminarleiter ihn am nächsten
Vormittag darum bittet, etwas auf das Flipchart zu schreiben,
verweigert er dies mit der Bemerkung, er wolle die Sabbatruhe
einhalten. Nun ist das erstaunte Kopfschütteln auf Seiten des Leiters,
der es jetzt aber genau wissen will. Er erkundigt sich nach der
Abwesenheit am Vorabend. Da habe er für sich allein den
Sabbatbeginn gefeiert, ist die Antwort.
So dick muss es ja nicht immer gleich kommen. Und sicher gibt es
sensiblere Vertreter der politischen Bildung. Was aber wohl kaum zu
bestreiten ist: All dies wird in der Regel eher als Störung, denn als
Bereicherung des Seminars empfunden. Politische Bildung und
religiöser Habitus sind zwei klar voneinander geschiedene Welten. Wo
das eine stattfindet, ist das andere eher fehl am Platz. Solche
Trennung reicht bis in die Förderungskriterien. Taucht “Religiöses” im
Programm auf, fällt es unter das Ausschlussverdikt trägerspezifischen
Eigeninteresses.
Die mit der Moderne – zu beider Vorteil – vollzogene Trennung von
Staat und Kirche scheint dies letztinstanzlich zu stützen. Und für das
Selbstverständnis eines säkularen Trägers politischer Bildung ist
selbstverständlich: Religion ist Privatsache.
In diesem Sinne ist das Politische Bildung aber ebenso, jedenfalls
solange sie auf Freiwilligkeit beruht und nicht zwangsweise auf
staatliche Anordnung hin geschieht. Wo Politische Bildung wie
Religion Orientierung erzwingen wollen, haben beide schon verloren.
Sie werden zur Ideologie. In einer demokratisch verfassten,
pluralistischen Gesellschaft regiert dagegen die Freiheit der Wahl.
Das bedeutet aber nicht, dass Religion wie Politische Bildung ohne
gesellschaftliche Relevanz wären.
2. Religion und politische Pluralität. Eine protestantische
Sicht
Am Grunde jeder politischen Kultur wirken Glaubenssätze. Sie
müssen nicht unbedingt als religiöse verstanden werden. Oft aber sind
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POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
sie auch im säkularen Gewande religiösen Ursprungs. Trotz aller
Rede über ihren öffentlichen Bedeutungsverlust, ist Religion ein
starker gesellschaftlicher Faktor, politisch wie kulturell. Als solcher
kann er über Bekenntnisorientierungen als Konfession, individuell
vagabundierend und auch säkularisiert als Zivilreligion (1) wirksam
werden.
Politische Bildung, die sich dem verschließt, kommt ihren
Möglichkeiten und Aufgaben allenfalls oberflächlich nahe. An die
Motive politischen Handelns reicht sie nicht heran, bleibt sozusagen
auf der Ebene kognitiver Kälte. Diese Feststellung ist jedoch kein
Plädoyer dafür, dass sie zur religiösen Bildung mutieren müsste, um
das, was in der Gesellschaft geglaubt wird, kritisch-konstruktiv zur
Geltung zu bringen.
Eine christlich-protestantische Sichtweise weiß sehr wohl zwischen
Religion und Politik zu unterscheiden. Religion geht in Politik nicht auf.
Und konkrete Politik lässt sich nicht aus Glaubensbekenntnissen
ableiten. Die Verantwortung vor Gott, auf die sich das Grundgesetz
bezieht, öffnet den Raum der Politik im evangelischen Verständnis für
verantwortete Freiheit. In ihm haben unterschiedliche bis kontroverse
politische Optionen Platz. Die aber sind eben vor Gott und den
Menschen zu verantworten, also begründungs- und dialogpflichtig.
Gott als letzte Instanz macht deutlich, dass nicht Politik selbst diesen
Platz besetzen darf, wenn sie fähig zur Alternative bleiben will. Das
Unverfügbare schützt sie davor, sich selbst für absolut zu halten. Der
Gottesbezug verweist Politik auf ihr menschliches Maß. Und dass alle
Menschen an den Entscheidungen über politische Optionen teilhaben
sollen, ist die daraus zu ziehende Konsequenz. Insofern hat das
christlich-protestantische Selbstverständnis eine- in seiner Geschichte
allerdings nicht immer genügend beachtete – Affinität zu
demokratischen Lebensformen. (2)
3. Glaubenswahrheit und Dialog
Wie aber wirkt sich die Selbstbindung von Individuen und
gesellschaftlichen Gruppen an ein bestimmtes religiöses Bekenntnis
im Verhältnis zu anderen Religionen und Glaubensgemeinschaften
aus? Da geht es schließlich um “letzte Dinge”, um
- 58 -
POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
Glaubenswahrheiten. Es handelt sich nicht mehr – wie im Bereich des
Politischen – um vorletzte Entscheidungen, alternative Optionen, die
sich aus der vor Gott verantworteten Freiheit begründen, sondern um
das Bekenntnis. Auch in der jüdisch-christlichen Tradition gilt das erste
Gebot als Axiom: “Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen
Götter haben neben mir”. (3) Das schließt alle anderen Berufungen
auf ein Absolutes aus, die säkularen (in Politik, Wirtschaft,
Wissenschaft, Kunst usw.), wie die religiösen.
Gegen einen religiösen Rigorismus, der im schlimmsten Fall
gewalthaltige Feindbilder produziert und in der Geschichte der
Religionen immer wieder produziert hat, setzte sich in der zweiten
Hälfte des letzten Jahrhunderts in den christlichen Kirchen eine
ökumenische Sichtweise durch, die der Interpretation des
Evangeliums für das Zusammenleben der Menschen selbst
dialogischen Charakter zuschreibt. Sie lässt das Axiom bestehen,
öffnet sich aber zugleich in hermeneutischer Sensibilität gegenüber
Andersgläubigen. Dies meint, den anderen verstehen lernen zu
wollen, ohne die eigene Glaubensüberzeugung und das öffentliche
Zeugnis für sie aufgeben zu müssen. Damit ist die Voraussetzung für
einen interreligiösen Dialog geschaffen, der über das Toleranzgebot
hinausgeht und zur Begegnung motiviert. (4)
An sich ist das zunächst nichts Politisches. Aber es hat große
gesellschaftspolitische Auswirkungen. Denn dieser interreligiöse
Dialog setzt friedensstiftende und -fördernde Impulse frei, die dem
vernünftigen,
konfliktfreieren
Zusammenleben
dienen.
Zum
Gegenstand politischer Bildung wird er aber erst, wenn er die Formen
dieses Zusammenlebens auch bewusst reflektiert.
Der Dialog zwischen den Religionen richtet sich unmittelbar auf deren
Glaubenszeugnisse und -traditionen. Als solcher muss er noch nicht
zum Thema politischer Bildung werden. Der Dialog der Religionen
über die Entwicklungen in Staat und Gesellschaft – so er denn geführt
wird – hat dagegen eminent politische Qualität. An ihm kann und darf
politische Bildung nicht vorbeigehen. (5)
Diese Unterscheidung ist in doppelter Hinsicht wichtig: Zum einen
belässt sie den Religionen die Freiheit, ihr Verhältnis zueinander auf
der Basis ihrer jeweiligen Bekenntnisse zu klären. Zum anderen nimmt
sie religiöse Überzeugungen als Motiv in politischen und
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POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen ernst. Ausdruck dafür ist
etwa die Anerkennung von Kirchen und religiösen Gemeinschaften als
Träger (gerade auch im institutionellen Sinne) von politischer
Bildungsarbeit.
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POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
4. Dialog der Religionen über gesellschaftliche Entwicklungen
Im Juli 2001 hat die Evangelische Akademie Loccum zum dritten Mal
innerhalb von sechs Jahren eine Interreligiöse Sommeruniversität
durchgeführt. Neun Tage lang lebten, diskutierten und feierten etwa
110 Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen, Muslima und
Muslime miteinander. Das Programm wurde von einem aus den drei
Religionen besetzten Vorbereitungsausschuss entwickelt.
Es hatte sehr unterschiedliche inhaltliche und methodische Elemente:
Schriftenauslegungsgruppen mit Expertinnen und Experten jeweils
aus allen drei Religionen zum Menschenbild, Workshops mit
Elementen des gegenseitigen Erfahrungslernens, Biographische
Abendgespräche mit einzelnen Repräsentanten. Der Freitag bis
Sonntag war dem gegenseitigen Miterleben des muslimischen
Freitagsgebetes, des jüdischen Sabbatbeginnes, -gottesdienstes und
–ausgangs und dem christlichen Gottesdienst und Stundengebeten
vorbehalten.
Koranauslegung,
Talmudschule
und
Gottesdienstnachbesprechungen
fanden
mit
gemeinsamen
Reflexionen des Erlebten statt. Alle drei Religionen verfügten über
einen eigenen Gottesdienstraum, in den gegenseitig eingeladen
werden konnte.
Was hier geschah, war ein Dialog zwischen den Religionen mit hohem
Erfahrungswert, der dem Kennenlernen und dem Verstehen bis hin in
den Ablauf religiöser Rituale und Versammlungsformen diente. Im
strengen Sinne enthielt er keine Elemente politischer Bildung. Aber er
brachte natürlich Gottesverständnisse zum Ausdruck, die auch
religiöse Weltdeutungsmuster in sich tragen. Jüdische, christliche oder
muslimische Anthropologien sind ohne die jeweiligen Bekenntnisse
nicht
denkbar.
Dies
in
seinen
Unterschiedlichkeiten,
ja
Unvereinbarkeiten und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, legt erst
den Grund, auf dem gegenseitiges Verstehen wachsen kann.
Thema der Sommeruniversität war: Was macht den Menschen ganz
und heil? Dieses Thema ist zwischen Religion und Gesellschaft
angesiedelt. Es verbindet den Dialog von Religion zu Religion mit dem
Dialog der Religionen über gesellschaftliche Entwicklungen. Der war
focussiert
auf
die
aktuellen
Diskussionen
um
Präimplantationsdiagnostik (PID) und Stammzellenforschung. Auf drei
Podien ging es sowohl um die damit aufgeworfenen theologisch- 61 -
POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
ethischen Fragen als auch die politisch-rechtlichen Konsequenzen, die
sozialen Auswirkungen und die ökonomischen Verwertungsinteressen.
Aus allen drei Religionen waren Expertinnen und Experten zum
Thema in interdisziplinärer Zusammensetzung beteiligt, aus den
Bereichen der Medizin, der Theologie, der Philosophie, der Biologie,
der Wirtschaft, Politik und Soziologie. So diskutierte ein Vertreter des
Nationalen Ethikrates mit einer Vertreterin der jüdischen
Ärzteorganisation, ein Ökonom mit dem Repräsentanten eines
Wohlfahrtsverbandes, ein Hirnforscher mit einer muslimischen
Theologin.
Die Gespräche auf den Podien und im Plenum machten die
unterschiedlichen Zugänge der Religionen wie die kontroversen
Positionen in der Gesellschaft deutlich. Während z.B. aus jüdischer
Perspektive menschliches Leben mit der Einnistung des Embryos im
Mutterleib beginnt und von da an unbedingten Schutz genießt, nahm
die christliche Position diesen Schutz bereits mit der Verschmelzung
von Ei und Samenzelle in Anspruch, was dann auch für die In-VitroFertilisation gilt. Aus muslimischer Sicht wurde stärker der
Verantwortungsaspekt sowohl für das werdende wie das existierende
Leben gleichermaßen in die Diskussion eingebracht. Leben wird hier
als “Vertrauenspfand” Gottes verstanden, während die jüdische
Tradition von einer “Leihgabe” spricht und die christliche aus der
Gottebenbildlichkeit des Menschen seine Würde und die “Ehrfurcht vor
dem Leben” ableitet. Leben in seiner Beziehung zu Gott zu sehen,
bedeutet für alle drei Religionen, dass es weder auf biologisches
“Material” noch auf eine im menschlichen Ermessen liegende Würde
reduziert werden darf. Die ethische Frage, welche Eingriffe dennoch
verantwortbar erscheinen (z.B. bei erwiesenen therapeutischen
Möglichkeiten) muss auf der Ebene politisch zu setzender
Rahmenbedingungen (gesetzlicher Regelungen) beantwortet werden.
Davor steht die Güterabwägung im gesellschaftlichen Diskurs.
Dieser Diskurs wird ebenso von nicht-religiösen Positionen aus geführt
und reflektiert die ganze Pluralität gesellschaftlicher Optionen. Er
spiegelt vielerlei Motive und Interessen. In ihm müssen sich die
religiösen Menschenbilder neben anderen bewähren. Hier wird eine
klassische Debatte politischer Meinungsbildung geführt, die auf
Wertorientierungen beruht und daher zentraler Gegenstand auch einer
- 62 -
POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
politischen Bildung sein muss, die sich nicht in Institutionen – und
Prozesskunde erschöpft.
5. Politik und religiöse Weltdeutung
Fragen von Leben und Tod (wie z.B. Embryonenschutz, Sterbehilfe
und Hirntoddefinitionen) sind originäre religiöse Themenfelder mit
politischen Bezügen. Politikfelder mit religiösen Bezügen sind aber
auch alle diejenigen, die die Art des Zusammenlebens in einer
Gesellschaft betreffen und die Strukturen, die dieses Zusammenleben
regeln.
Aus christlicher Perspektive sind “Liebe” und “Gerechtigkeit” zentrale
theologische wie ethische Kategorien, Maßstäbe für individuelles wie
gesellschaftlich-politisches Verhalten. Wirtschafts- und Sozialethik in
unserer Gesellschaft haben der jüdisch-christlichen Tradition viele der
Grundfiguren (Ligaturen) ihres Argumentationshorizontes zu
verdanken. Das reicht von Solidarität über Subsidiarität bis hin zu den
(rechtlich
verbindlichen)
Beurteilungskriterien
für
gerechte
Sozialbeziehungen, so säkularisiert diese Politikfelder heute auch
erscheinen mögen. (6)
Angesichts industriellen Raubbaus und neuer Risikotechnologien ist
das Verhältnis von Mensch und Natur in den letzten dreißig Jahren
wieder stärker in die Wahrnehmung theologischer Weltdeutung
gerückt (Schöpfungstheologie). (7) Schließlich beginnt gerade der
Protestantismus sein traditionell stark ausgeprägtes Verhältnis zur
Kultur wiederzuentdecken. (8)
Der “Konziliare Prozess zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der
Schöpfung” bestimmte in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts
die ökumenische Orientierung der christlichen Kirchen (9). Noch mehr
kann er aber als Vorläufer zur Herausbildung einer internationalen
Zivilgesellschaft angesehen werden, die mit den 1992 (Rio de Janeiro)
beginnenden UN-Konferenzen durch Netzwerkbildungen von
Nichtregierungsorganisationen
Gestalt
gewann.
Zivile
Konfliktbearbeitung, Nachhaltigkeit und Nord-Süd-Gerechtigkeit sind
Konzepte, zu deren Entwicklung die Ökumenische Bewegung Anstöße
gab. In Menschenrechtsgruppen, bei Aktivitäten zur lokalen Agenda
21
(Nachhaltige
Entwicklung),
bei
Bürgerund
Bürgerinnenbeteiligungsprozessen u.v.a.m. kooperieren kirchliche auf
lokalen und kommunalen Ebenen mit säkularen Akteuren. Die aus
- 63 -
POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
dem Raum der Kirchen heraus agierenden Gruppen verstehen sich
dabei als glaubensgegründeter Teil der Zivilgesellschaft. (9)
Der wirtschaftliche und technologisch forcierte Globalisierungsprozess
wird vor allem von den Religionen kritisch wahrgenommen, die sich wie die christliche – von jeher als universalistisch verstehen. Ökumene
(die bewohnte Erde) geht auf das gleiche griechische Wort zurück wie
Ökonomie (gutes Haushalten) und Ökologie (Bewohnbarkeit erhalten):
Oikos (das Haus). Es geht um den Lebenszusammenhang all derer,
die das Haus bewohnen. Wenn sich daher christliche Kirchen und
Gruppen gegen einen Globalismus wenden, der finanz- und
wirtschaftsbezogene Dynamiken gesamtgesellschaftlich verabsolutiert,
reklamieren sie eben jenen umfassenderen Lebenszusammenhang,
der die Freiheit zu Wahl von Alternativen offen hält insbesondere im
Interesse derer, die unter Ausgeschlossensein und ungerechten
Beziehungen zu leiden haben (Option für die Armen).
Aus christlicher Sicht kann es prinzipiell keine säkulare,
gesellschaftliche, wirtschaftliche, wissenschaftliche, soziale, kulturelle
wie politische Entwicklung geben, auf die sich das religiös motivierte
Interesse an Mitgestaltung nicht richten könnte. Solches Interesse
bündelt sich jedoch vor allem dort, wo grundlegende
Orientierungsfragen zum Gegenstand öffentlicher Diskussion und
politischer Entscheidungsfindung werden.
6. Politische Bildung als institutionalisierte Wahrnehmungsverengung
Einer sich selbst als säkularisiert verstehenden Politischen Bildung
stellt sich von hier aus die Frage nach der eigenen Pluralität. Wie ist
es um ihre Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber religiös motivierten
Lebensformen und Orientierungen bestellt? Vermag sie in ihnen
überhaupt einen Beitrag zu politisch geforderten Problemlösungen zu
erkennen? Wie geht sie mit menschlichem Verhalten zur
Transzendenz, mit Glaubensorientierungen um?
Angesichts solcher Fragen ist es nicht damit getan, dass es neben
“säkularen” arbeitsteilig auch ”religiöse” Träger politischer Bildung gibt.
Interessanter ist die Frage nach der gegenseitigen Offenheit für den
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POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
trägerübergreifenden Diskurs in Sachen “Religion und Politik”. Wo wird
er geführt und wer hat Zugang zu ihm?
Noch interessanter ist jedoch, die alltägliche Praxisebene politischer
Bildungsangebote und -prozesse in Augenschein zu nehmen. Da erst
kommen die Habitusformen der verschiedenen gesellschaftlichen
Milieus gegenüber Religion und Kirchen zum Ausdruck. Eine gerade
abgeschlossene Untersuchung zu “Kirche und Milieu” (10) zeigt, dass
in unserer Gesellschaft religiöse Grundorientierungen selbst da
wirken, wo sie sich kirchenfern oder -kritisch äußern oder gar im
säkularen Gewand daherkommen. Sie geistlich und geistig
aufzuklären, verbindet Religionen und Politische Bildung in einem
Projekt.
Dazu müsste Politische Bildung allerdings die Formalisierung ihrer
Inhalte, Methoden, Strukturen und Förderungsmechanismen
überprüfen und soweit überwinden, dass trägerübergreifende Ansätze
überhaupt praxisrelevant werden können. Sicher muss sie der
demokratischen Lebensform und der Mündigkeit ihrer Adressatinnen
und Adressaten verpflichtet bleiben. Sie müsste sich aber zugleich
den politikbezogenen Glaubensüberzeugungen in der Gesellschaft
soweit öffnen, dass diese zum Gegenstand des Diskurses werden
können.
Wohlverstanden: Es geht nicht darum, Politische Bildung zum
Religionsunterricht zu machen. Worum es geht, ist, dem Dialog mit
den Religionen über ihre Weltverantwortung Platz in der Politischen
Bildung zu schaffen, religiösen Handlungsmotiven Raum zu ihrer
kritischen Reflexion im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang
anzubieten. Dieses Projekt ist an der Zeit und ihm dient der folgende
Vorschlag.
7. Dialog mit den Religionen über Respekt und Toleranz in
der politischen Kultur
Will Politische Bildung religiöse Orientierungen wirklich ernst nehmen,
wird sie nicht einfach Veranstaltungen über dieses ihr fremd
gewordene Phänomen inszenieren können. Sie muss in einen Diskurs
mit denen eintreten, die religiöse Bindungen für sich in Anspruch
nehmen, in all der Diffusität, die solche Bindungen in der “säkularen”
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POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
Gesellschaft aufweisen. Ein solcher Diskurs kommt nicht von selbst
zustande. Er bedarf der Organisation und der professionellen
Begleitung. Er bedarf keiner neuen Trägerstrukturen, wohl aber der
Öffnung der existierenden. Und er bedarf des Anreizes.
Eine Stiftung, aus öffentlichen und privaten Mitteln finanziert, könnte
solche Anreize in die Politische Bildung hinein vermitteln. Sie wäre ein
geeignetes Instrument, um den Dialog zwischen Religionen und
Zivilgesellschaft
über
politische
Problembearbeitungen
und
Transformationsprozesse und insbesondere die in ihnen wirkenden
normativen Orientierungen zu fördern.
Dabei ginge es sowohl um das Verhältnis der Religionen zu Staat und
Gesellschaft,
ihr
Selbstverständnis
hinsichtlich
des
Grundrechtekatalogs der Verfassung und zur Grundrechtscharta der
Europäischen Union, um Religion und Menschenrechte, als auch um
ethische Fragen in der Entwicklung moderner Technologien, um
Bildung und Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, die
Religionen in der Bürgerbeteiligungsgesellschaft und ihren Beitrag
zum kulturellen Leben der Gemeinschaft, um nur einige Themen zu
nennen.
In diesen Dialog muss die entsprechende politische, wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Expertise einbezogen werden, d.h. er ist
gesamtgesellschaftlich angelegt. In einem Gemeinwesen, das in
zunehmenden Maße ethnisch, kulturell und religiös pluraler wird, in
dem
unterschiedliche
Identitäten,
Lebensformen
und
Glaubenüberzeugungen daher auf gelingende Interaktion angewiesen
sind, spielen Respekt und Toleranz eine zentrale Rolle. Ein auf
Kontinuität gestellter Dialog, der dies zu seinem Gegenstand macht,
wird zu einem bedeutenden Faktor der politischen Kultur.
Politische Bildung, die sich dem öffnet, erwirbt neue hermeneutische
Kompetenz, mit der sie sich gegenüber anwachsenden
Zuwanderungs- und notwendigen Modernisierungsprozessen inhaltlich
und methodisch profilieren und positionieren kann. Denn wer den
Prozess der Globalisierung als politische Herausforderung begreift,
wird sich der mit ihm ausgelösten Mobilität und den mit ihm
einhergehenden exklusiven und inklusiven Dynamiken stellen müssen,
und dies nicht nur in ihren ökonomisch vorteilhaften Dimensionen.
- 66 -
POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
Einer bewussten Schwerpunktsetzung in dieser Richtung käme eine
positive Signalwirkung zu, für die Politische Bildung wie für die Politik.
- 67 -
POLITISCHE BILDUNG UND RELIGIÖSE ORIENTIERUNG
Anmerkungen
(1)
Wolfgang Vögele: Zivilreligionen in der Bundesrepublik Deutschland.
Öffentliche Theologie 5, Gütersloh 1994
(2)
Dazu noch immer einschlägig die Denkschrift der Evangelischen
Kirche in Deutschland “Der Staat des Grundgesetzes als Angebot
und
Aufgabe”,
Gütersloh
1985,
die
sogenannte
Demokratiedenkschrift
(3)
Hans May: Das erste Gebot als Axiom der Theologie. In: Ders.:
Glauben und Handeln. Vorträge und Aufsätze. Reihe “Loccumer
Protokolle” 29/01, Rehburg-Loccum, 2001 S. 57 ff.
(4)
Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland. Gestaltung der
christlichen Begegnung mit Muslimen. Eine Handreichung des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh, 2000
(5)
Sibylle Fritsch-Oppermann (Hg): Islam in Deutschland. Eine Religion
sucht ihre Einbürgerung. Loccumer Protokolle 19/99, RehburgLoccum, 2000 / Dazu: Sibylle Fritsch-Oppermann (Hg): Politik mit der
Religion. Instrumente des Konflikts, Instrumente zur Mediation.
Loccumer Protokolle 65/99, Rehburg-Loccum 2001
(6)
Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der
EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und
sozialen Lage in Deutschland. Gemeinsame Texte 9, Hannover,
Bonn 1997 / Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland.
Niedersächsischer Konsultationsprozess über ein gemeinsames
Wort der Kirchen. Hrsg.: Fritz Erich Anhelm, Christoph Hüttig.
Loccumer Protokoll 25/96, Rehburg-Loccum 1997
(7)
Jürgen Moltmann (Hg): Versöhnung mit der Natur, Kaiser Verlag,
München, 1986
(8)
Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und
Kultur im neuen Jahrhundert, EKD Texte Nr. 64, Hannover 1999
(9)
Zu Kirche und Zivilgesellschaft in Europa s. Fritz Erich Anhelm in
“Zeitzeichen” Evgl. Kommentare zu Religion und Gesellschaft
10/2001 / Fritz Erich Anhelm (Hg): Stiftungen und NGO’s als
Architekten des Wandels. Wertekonflikte und Kooperationen über
Ländergrenzen hinweg. Loccumer Protokoll 69/98, Rehburg-Loccum
1999
(10) Wolfgang Vögele, Michael Vester (Hg): Kirche und die Milieus der
Gesellschaft, Bd I, Vorläufiger Abschlussbericht, Loccumer
Protokolle 56/99 und dies.: Kirche und die Milieus der Gesellschaft.
Ergon Verlag, Würzburg, 2001.
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RELIGION UND POLITIK ALS ZWILLINGE
Religion und Politik als Zwillinge.
Der Islam: eine Religion ohne funktionale
Ausdifferenzierung
von Behrouz Khosrozadeh
Im islamischen Rechtssystem sind zwei Begriffe von zentraler
Bedeutung: Schari'a und Fiqh. Die Schari'a ist das islamische Gesetz.
Dieses Gesetz ist göttlich und hat seine wichtigste Quelle im Koran.
Fiqh bezeichnet das menschliche Wissen sowie das Verständnis der
Gesetze Allahs. Kurzum: Die Schari'a ist Gottes Gesetz und Fiqh ist
das Wissen und das Denken über die Schari'a. 1 Wenn im Islam von
der engen Verquickung von Staat (Politik) und Religion die Rede ist,
dann meint man in der Regel die von der Schari'a geleitete bzw.
beeinflusste Politik.
"Religion und weltliche Macht sind Zwillinge. (...) Deshalb sagt man,
dass die Religion die Grundlage und Macht der Schützer ist." 2 Diese
Aussage von Al-Ghazali (1058-1111), einem der bedeutendsten
mittelalterlichen islamischen Theologen, spiegelt das scheinbar stets
gültige Prinzip des Islam wider, der auch in seinen Anfängen
keineswegs nur eine bloße Ansammlung religiöser Glaubenssätze
darstellte. In ihm sind zumindest nach herrschender Meinung
anerkannter Theologen drei Dimensionen miteinander vereint: die
religiöse, die kulturelle und die politische. Dieses einzigartige
Phänomen ist den Augen der westlichen Klassiker des politischen
Denkens nicht verborgen geblieben. Alexis de Tocqueville (18051859) nimmt es zum Anlass eines vernichtenden Urteils über den
Islam: "Der Mohammedanismus ist diejenige Religion, welche die
beiden Machtbereiche am vollständigsten miteinander vermengt und
vermischt hat, (...), so dass alles Handeln im bürgerlichen und
1
2
Vgl. Bassam Tibi: Der wahre Imam. Der Islam von Mohammad bis zur
Gegenwart. München 1996, S. 116. Gudrun Krämer: "Kritik und Selbstkritik:
Reformistisches Denken im Islam." In: Michael Lüders (Hrsg.): Der Islam im
Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt. München 1992 S. 209 - 227,
hier S. 221.
Al-Ghazali zit. nach: Sigrid Faath/Hans-Peter Mattes (Hrsg.): "Demokratie
und Menschenrechte im islamisch-politischen Denken." In: ders.: Demokratie
und Menschenrechte in Nordafrika. Hamburg 1992, S. 19-48, hier S. 19.
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RELIGION UND POLITIK ALS ZWILLINGE
politischen Leben mehr oder minder vom religiösen Gesetz geregelt
wird."3 Selbst heute könnte Tocqueville seine Aussage noch bestätigt
sehen, denn nicht nur in den Gottesstaaten sondern in den meisten
islamischen Ländern ist die Schari‘a als nicht kodifiziertes und nicht
säkulares Gesetz die offizielle Quelle der Gesetzgebung. Der
amerikanische Politologe Hair Dekmejian bezeichnet im Rahmen
dieser offenbar folgerichtigen Argumentationskette das islamische
System als "all encompassing system", 4 da es die drei wichtigsten
Komponenten einer Gesellschaftsordnung, nämlich din (Religion),
dawla (Staat/Regierung) und Schari‘a (das islamische Gesetz)
umfasst. Der herrschenden, aus der historischen Praxis und der
geschichtlichen Realität erwachsenen Meinung über die enge
Verquickung von Religion (Islam) und Politik steht eine
Mindermeinung gegenüber, die sich auf die Lektüre der Heiligen Texte
(Koran und Sunna) bezieht. Sie argumentiert, dass die Einheit von
Religion und Politik (Staat) an keiner Stelle in der Heiligen Schrift
festgeschrieben ist. Die herrschende Meinung stützt sich
demgegenüber auf die jahrhundertealte Praxis der islamischen
Herrscher, die sowohl die weltliche als auch die sakrale Macht in ihrer
Person zu vereinigen. Ältestes historisches Beispiel hierfür wäre der
vom Propheten Mohammad geleitete Stadtstaat Medina. Dort
verkörperte
der
Prophet
den
„Staatsmann“
und
den
„Oberbefehlshaber“, sprach Recht, erhob Steuern und schloss
Friedensverträge ab.
Der Islam sei die gottgewollte Ordnung schlechthin, beteuert der
Göttinger Arabist Tilman Nagel.5 Politik als ein auf die Gesamtheit der
Gemeinschaft bezogenes Handeln ist daher im Islam stets
gleichbedeutend mit dem Vollzug des göttlichen Willens, und ist
insofern religiöse Pflicht. Demnach sind sowohl das gesamte Leben
des Individuums als auch die Geschichte der Gemeinschaft nach dem
göttlichen Gesetz zu gestalten. Da der Islam aber die gottgewollte
Ordnung verkörpert, kann sich die Politik
allein innerhalb der
3
4
5
Alexis de Tocqueville zit. nach: Faath/Mattes: Demokratie und
Menschenrechte ..., ebd.
R. Hrair Dekmejian: Islam in Revolution. Fundamentalism in the Arab World.
Syracuse 1985.
Vgl. Tilman Nagel: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam. Geschichte
der politischen Ordnungsvorstellungen der Muslime. München 1981, S. 13.
- 70 -
RELIGION UND POLITIK ALS ZWILLINGE
muslimischen Gemeinschaft vollziehen.6 Der Koran fordert die
Muslime auf, dem Gesandten Gottes und seinem Nachfolger zum
Zwecke der Erhaltung der göttlichen Ordnung Folge zu leisten: "Oh ihr
Gläubigen, gehorcht Gott und dem Gesandten und denen unter Euch,
die zu befehlen haben." (Koran 4/59).
Diejenigen, die der Einheit von Religion und Staat kritisch
gegenüberstehen, beziehen sich in erster Linie direkt auf den Koran.
"The Qur'an clearly confirms the opinion that the Prophet had no connection with political royality. (...) The authority of Muhammad over the
believers was the authority of apostleship, it had nothing in common
with temporal power."7 Auch andere Islamwissenschaftler haben
darauf hingewiesen, dass die vorherrschende diesbezügliche Meinung
durch die göttliche Offenbarung nicht untermauert wird. Es "findet sich
nirgends ein Dogma, dass die Einheit von Religion und Staat
festschreibt. Selbst die dogmatischen Lehrbücher der frühislamischen
Zeit geben über eine solche politische Identität des Islam keine
Auskunft."8 Auch der islamische Intellektuelle Husain Fawzi an-Naggar
bekräftigt die kritische Position von al-Raziq. Naggar beruft sich auf
die islamische Maxime, die sich auf die gesamte Menschheit bezieht
und nicht wie eine politische Organisationseinheit (der Staat) auf
bestimmte Menschengruppen (Nationen) zugeschnitten ist.9 Der
wortgewandte Naggar fragt seine Kontrahenten: "Wenn der Islam
dazu bestimmt war, eine politische Ordnung zu sein, warum hat dann
der Koran jede weitere Klärung dieser Frage unterlassen?"10
6
Vgl. ebd.
Ali Abd al-Raziq: "The Caliphate and the Bases of Power." In: John J.
Donohue and John L. Esposito: Islam in Transition. Muslim Perspectives.
New York, Oxford. Oxford University Press 1987, S. 29-37, hier S. 32.
Man beruft sich in diesem Zusammenhang auch gerne auf folgenden
Koranvers: "Wenn einer dem Gesandten gehorcht, gehorcht er (damit) Gott.
Und wenn einer sich abwendet (und keinen Gehorsam leistet, ist das seine
Sache). Wir haben dich nicht als Hüter über sie gesandt." Koran 4/80. Zitiert
nach: Rudi Paret: Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret. Stuttgart, Berlin,
Köln, Mainz 1983, S. 68.
8
Reinhard
Schulze:
„Islam
und
Herrschaft.
Zur
politischen
Instrumentalisierung einer Religion.“ In: Michael Lüders (Hrsg.): Der Islam im
Aufbruch. Perspektiven der arabischen Welt. München 1992, S. 94-129, hier
S. 97 f.
9
al-Naggar zit. nach Tibi: Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam
und die Weltpolitik. München, 19932, S. 157 f.
10
al-Naggar zit. nach Tibi, ebd. S. 158 f.
7
- 71 -
RELIGION UND POLITIK ALS ZWILLINGE
Die gegenwärtige Realität der islamischen Gesellschaften spiegelt
jedoch eher die Position der zahlreichen Theoretiker und
Intellektuellen wider, die von einer "Zwillingsbeziehung" zwischen
Religion und Politik ausgehen, obgleich zahlreiche islamische Staaten
von "weltlichen Herrschern" regiert werden. Diese Sichtweise wird
insbesondere von den Fundamentalisten vertreten, von jenen
machtgierigen Theoretikern, Theologen, Laien, Predigern und
Politikern also, die das Ziel der Errichtung eines Gottesstaates
verfolgen. Auch wenn Theoretiker und Denker vom Schlage al-Raziq
und al-Naggar auf die "historischen Umstände" hinweisen, die den
Propheten Mohammad gezwungen haben, "politisch zu handeln und in
einer vorstaatlichen Gesellschaft politische Funktionen zu
übernehmen"11, so kann dies nicht das Faktum verdrängen, dass die
vierzehn
Jahrhunderte
währende
islamische
Historie
ein
unverkennbares Bündnis von Religion und Politik eingegangen ist, das
die Kultur und die moralischen Grundlagen der islamischorientalischen Gesellschaften zutiefst geprägt hat. Trotz alledem muss
dies keineswegs richtungsweisend für die Zukunft der islamischen
Gesellschaften sein. Der bedeutende Islamwissenschaftler Gustav E.
von Grunebaum weist darauf hin, dass das Faktum der engen
Verquickung von Islam und Politik nicht bedeutet, "dass Religion und
Staat nicht getrennt werden können oder dass sie nicht, in der Tat, im
Denken des mittelalterlichen Muslims getrennt waren."12 Der frühere
Direktor des Near Eastern Center an der University of California
bezieht sich argumentativ auf den vorstaatlichen und imaginären
Begriff der Umma (Gemeinschaft aller Muslime) und hebt hervor, dass
dieser mit dem modernen Konzept des Nationalstaates keinesfalls
vergleichbar ist.
Der heutige intra-religiöse Diskurs im Islam kreist um die Beziehung
zwischen Religion und politischer Herrschaft (Staat). Die moderne
Doktrin der durch religiöse Texte und Überlieferungen (Koran / Sunna
/ Hadith) begründeten Herrschaft geht auf den Pakistani Abu Ala
Mawdudi (1904 - 1979) zurück. Mawdudis Konzept der "Hakimiya"
(göttliche Herrschaft auf Erden) wurde von einem Ägypter, dem
Muslimbruder Seyyed Qutb (1906 - 1966) übernommen und erweitert.
11
12
al-Raziq und al-Naggar zit. nach: Tibi, ebd. S. 158.
Gustav E. von Grunebaum: Studien zum Kulturbild und Selbstverständnis
des Islam. Zürich 1969, S. 23.
- 72 -
RELIGION UND POLITIK ALS ZWILLINGE
In der Lehre der hakimiya bilden die religiösen Texte die Grundlage
der Herrschaft. Diese Texte seien die ideale Herrschaftslegitimation,
da der Koran die abschließende und absolute Wahrheit darstelle. Der
ägyptische Literatur- und Koranwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid
setzt genau an der von Qutb propagierten These an. Seiner Ansicht
nach, lässt Qutbs Konzept der hakimiya die Tatsache außer acht,
dass der religiöse Text sich nicht selbst verwirkliche. Es seien
Menschen, die den Koran interpretieren, wodurch die Herrschaft des
Textes zu einer Herrschaft eines einer bestimmten Gruppe eigenen
spezifischen Textverständnisses werden würde.13 Nasr Abu Zaid sucht
in seinem Buch "Islam und Politik" eine historisch-kritische
Annäherung an den Koran und kritisiert dabei die Monopolisierung der
Koran-Interpretation insbesondere durch das religiöse Establishment.
Der Fall Abu Zaid machte jedoch ein Mal mehr deutlich, dass auch
eine relativ offene und moderne arabische Gesellschaft wie die
ägyptische noch nicht bereit ist für einen derartigen kritischen
religiösen Diskurs. Nasr Abu Zaid musste nach einem langen Prozess,
bei dem er unter anderem der Apostasie bezichtigt wurde, 1995
Ägypten ins holländische Exil verlassen.
Im schiitischen Islam gibt es ebenfallsheftige kontroverse
Diskussionen über das Verhältnis zwischen Religion, Politik und
Gesellschaft. Einer der prominentesten Kritiker einer Symbiose von
Religion und Politik ist der iranische Philosoph Abdulkarim Soroush .
Die Propheten seien nicht gesandt worden, um den Lebensunterhalt
oder die Kenntnisse der Menschheit konstitutiv zu verändern. Kein
Prophet habe die Menschen Medizin, Philosophie oder Mathematik
gelehrt, noch habe er deren Lebensweise grundlegend revolutioniert.
Sie hätten weder das Nomadenleben urbanisiert noch moderne
Architektur, Technologie oder Hygiene gebracht. "Sie wollten dem
Leben der Menschen einen neuen Sinn verleihen und nicht eine neue
Methode des Lebens schaffen."14 Wenn der Prophet Mohammad
13
14
Abu Zaid zit. nach: Annette Heilmann: "Die Affäre Abu Zayd und der Begriff
der Ethik der Toleranz in der heutigen politischen Diskussion in Ägypten."
in: Ferhad Ibrahim (Hrsg.): Staat und Zivilgesellschaft in Ägypten. Hamburg
1995, S. 145 - 168, hier S. 155 f.
Abdulkarim Soroush: "aya nabarabarihay-e huqhuqhi joz-e zatiate
islamand? Ja joz-e arziat? (Sind die Rechtsungleichheiten Elemente des
Wesens des Islam oder die der Nebensächlichkeiten?)". In: Mohammad
Basteh Neghar: hughugh-e baschar as manzar-e andischmandan
- 73 -
RELIGION UND POLITIK ALS ZWILLINGE
diesseitige und gesellschaftliche Anweisungen und Vorschriften
brachte, so gehörten diese zur Kategorie "orfiat" (zivilrechtliche
Bestimmungen). "Historiker und fuqaha (Rechtsgelehrte) haben
gezeigt, dass 99 % der zivilrechtlichen Bestimmungen im Islam ihren
Ursprung in der arabischen Halbinsel der pre-islamischen Zeit
besitzen."15 Soroush versucht sich vorzustellen, wie der Prophet
handeln würde, wenn er in das heutige Zeitalter gesandt worden
wäre.16 Es bestehe überhaupt kein Grund zu der Annahme, dass die
Lebensweise und die orfiat des Zeitalter des Propheten die besten
gewesen wären und dass die arabische Sprache die schönste
Sprache gewesen wäre. Sollten nun aber deswegen die
Ungleichheiten der damaligen Zeit für ewige Zeiten Bestand haben?
Soroush beteuert abschließend, dass gerade diese von ihm als
"arziat" (Nebensächlichkeiten) bezeichneten Sachverhalte nicht mehr
zeitgemäß und durchaus wandelbar seien.
Im letzten Jahrhundert jedoch ging der Kampf um eine nicht von der
Religion beeinflusste Politik im islamischen Orient zunächst einmal
verloren. In manch wichtigen islamischen Staaten, wie der Türkei und
Ägypten, droht gar eine islamische Unterwanderung der ohnehin
schwachen Zivilgesellschaft.17
Diplom-Sozialwirt Behrouz Khosrozadeh ist
deutsch-iranischer Staatsbürger. Er promoviert an
der Abteilung für Internationale Beziehungen der
Universität Göttingen.
Behrouz Khosrozadeh ist Mitbegründer und
Wissenschaftskoordinator des Vereins zur
Förderung des interkulturellen Dialogs (vfidialog)
e.V.
15
16
17
(Menschenrechte aus der Sicht von Experten). Teheran, 2001. S. 341 343, hier S. 342.
Ebd.
Vgl. ebd.
Vgl. Mark Krieger: Menschenrechte in arabo-islamischen Staaten. Am
Beispiel Ägypten und Sudan. Frankfurt am Main 1999, das Kapitel über
Ägypten.
Bassam Tibi: Aufbruch am Bosporus: Die Türkei zwischen Europa und
dem Islamismus. München und Zürich 1998.
- 74 -
ZIVILRELIGION
Zivilreligion - einige Anmerkungen aus
muslimischer Sicht
von Wolf D. Ahmed Aries
Die Worte Zivilreligion, Säkularität und Laicité (Laizismus) sind
Begriffe, die die jüngere europäische Entwicklungen des Verhältnisses
von Religion und Staat kennzeichnen, so dass sich Vorsicht empfiehlt,
wenn jemand diese Begriffe auf andere religiöse Verhältnisse
anwendet, ohne deutlich zu machen, ob dieselben oder welche
anderen Faktoren die Geistesgeschichte dort bestimmten. Dies gilt
insbesondere dann, wenn die wesentlichen Charakteristika der
europäischen Struktur nicht vorhanden sind: die Elemente der
Hierarchie, die mit dem Lehramt verbunden sind, und der
Territorialität, nach der jeder Pfarrer seine Pfarrkirche hat, zu der ein
bestimmter geographischer Sprengel und innerhalb dessen Grenzen
eine zählbare Menge von Gläubigen gehören. Hinzu kommt, dass der
gegenwärtige Diskussionsstand, den wir unwillkürlich mit allen drei
Begriffen verbinden, nicht nur historisch bedingt ist, sondern zugleich
auch „nur“ den heutigen Diskussionsstand widerspiegelt. Im
interkulturellen Dialog sollte daher nachgefragt werden, ob und in wie
weit unsere europäischen Begriffe die anderen Strukturen und deren
innere Entwicklungsfragen in adäquater Weise beschreiben. Dabei ist
es ausgesprochen reizvoll, sich zu fragen, was die Bedingtheit der
anderen Ausgangslage z.B. bei den Muslimen für die eigene
Geistesgeschichte hätten bedeuten können; wenn also die
Christenheit keine Kirche und kein Lehramt entwickelt hätte, so wie die
Muslime beide Möglichkeiten nicht entwickelten: Der germanische
König wäre nicht als römischer Caesar gekrönt worden. Es hätte den
Investiturstreit nie gegeben. Die lutherischen Fürsten wären keine
Landesbischöfe geworden. Mit Recht hat daher Hermann Lübbe in
seiner Arbeit „Religion nach der Aufklärung“  darauf hingewiesen,
dass die Europäer sich fragen müssen, ob unsere Begriffe nicht allein
unsere Sorgen und Nöte beschreiben. Allerdings zeigt die Diskussion
um die Menschenrechte gleichzeitig, dass es unabhängig von
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die für den gesamten Globus
gelten, es ebenso geisteswissenschaftliche Gewinne gibt, die für den

Hermann Lübbe; Religion nach der Aufklärung, Graz, 1986
- 75 -
ZIVILRELIGION
Menschen schlechthin als allgemein gültig betrachtet werden dürfen ,
deren Begründungen jedoch in der je eigenen Sprache und aus den
eigenen denkerischen Bedingtheiten zu leisten sind. Ein solcher
interkultureller Diskurs führt die Betreffenden immer wieder in die als
längst überholt betrachteten Gefilde der eigenen Theologie- und
Geistesgeschichte, deren Häresien bzw. nicht genutzten Optionen.
So entstanden die beiden Modelle der deutschen partnerschaftlichen
Säkularität einerseits und der romanischen Laicité (Laizismus)
andererseits auf der Grundlage einer Regelung, die auf dem
Verhältnis von politischen und religiösen Institutionen
des
ausgehenden römischen Reiches aufbaute sowie der Spannung
zwischen Rom und den Ansprüchen der mittelalterliche
Ordnungskräfte, in denen Glaube im Institut der Kirche und Macht
zueinander fanden. Gleichzeitig wurde das Recht durch eben diese
Konstruktion bestimmt. Wer die Macht hatte, so lautete die
Überzeugung, konnte und durfte das Recht bestimmen.
Die Gemeinschaft der Muslime hatte beim Tode ihres Gründers (632)
eine andere Ausgangslage. Im Gegensatz zur Christenheit, die erst
Jahrhunderte nach ihrer Entstehung zur Mehrheitsgesellschaft werden
konnte, waren es die Muslime bereits zu Lebzeiten Mohammeds
geworden. Er hinterließ allerdings für die Mehrheit der Muslime, d.h.
die Sunniten, keinen designierten Nachfolger, sondern allein die von
ihm im Verlauf von 23 Jahren gesprochenen Aussagen, den Koran,
sowie die von ihm vorgelebte Religiosität, die schon der Koran als
vorbildlich bezeichnete. So stand die Gemeinschaft aus heutiger Sicht
vor vier Optionen, um die Führungsfrage zu lösen :
(a) die genealogische Lösung, d.h. jemanden aus der Familie
Mohammeds zu wählen;
(b) eine religiöse Lösung hätte zur Wahl des Frömmsten geführt;
(c) die politische Lösung hätte bedeutet, dass sich seine
Zeitgenossen für den politisch Fähigsten entschieden hätten;


Heiner Bielefeldt; Philosophie der Menschenrechte; Darmstadt, 1998
Wolf D. Ahmed Aries; Diskurs Zivilreligion; in Rolf Schieder (Hrsg.);
Religionspolitik und Zivilreligion; baden- Baden, 2002
- 76 -
ZIVILRELIGION
(d) und die koranische Lösung hätte nach der shura, der
Beratung aller verlangt.
Die Gemeinschaft entschied sich für ein „weiter so“, indem sie eine
Persönlichkeit aus der direkten Umgebung Mohammeds wählte, d.h.
der Gründergeneration. Erst 25 Jahre später setzte sich im Zuge der
Schlacht von Siffin (657) die politische Lösung mit dem ersten
Umaiyaden Herrscher Muawiya durch. Aus der Distanz heutiger
Betrachtung ließe sich behaupten, dass die Gemeinschaft einerseits
die Entscheidung auf dem Schlachtfeld akzeptierte und andererseits
dagegen durch die allmähliche Herausbildung zweier neuer
Rollenbilder protestierte. Es waren die Rollen des Religionsgelehrten
(alim s.; ulema pl.) und des Rechtsgelehrten (faqih s.; fuquha pl.). Seit
jenen Tagen sehen die Muslime eine feste Beziehung zwischen
Glauben und Recht, das „eine Sammlung von Präzedenzfällen,
Rechtsentscheidungen und allgemeinen Prinzipien, nebst einem
Corpus hochentwickelter ... Verfahrenweisen“  ist
An der Spitze der islamischen Mehrheitsgesellschaften standen zwar
die Nachfolger des ehrwürdigen Propheten, die Khalifen, aber im
Alltag lösten die einzelnen Gelehrten und die örtlichen Richter die
Probleme der Menschen. Eine charakteristische Folge dieses Weges
war, dass in diesen Mehrheitsgesellschaften den Machthabern immer
wieder das (koranische, göttliche) Recht entgegengehalten wurde.
Auch die historisch junge Herausbildung eines vom Glauben
unabhängigen Rechtssystemes, hat in keiner islamischen
Mehrheitsgesellschaft diese Grundbeziehung aufgelöst.
Nun ist gerade in Bezug auf diesen Weg argumentiert worden, es sei
ein früher Schritt in die europäische Entwicklung gewesen. Dabei wird
übersehen, wie Rotraud Wieland einst anmerkte, dass das „göttliche
Gesetz“ stets dominant blieb, also eine gewisse Art von „Gottesstaatlichkeit“ etablierte. Einer der Gründe lag darin, dass die ummah,
die Weltgemeinschaft der Muslime, zu keinem Zeitpunkt den Tauhid
aufgab, dessen Grundannahme die Einzigkeit eines schöpfenden

Aziz Al-Azmeh; Die Islamisierung des Islam; Frankfurt/New York, 1996; S. 30
- 77 -
ZIVILRELIGION
transzendentalen Seins ist, das durch seine Propheten im Dialog mit
seiner Schöpfung steht, weswegen Muslime die Welt immer in ihrer
Ganzheitlichkeit sahen. Während Muslime aus ihrem Glauben nach
Wissen strebten, um ihr Gotteslob durch ein besseres Verständnis der
Schöpfung zu vertiefen, diente den Europäern der Neuzeit das Wissen
zur zielgenauen Vorhersage eines Phänomenes, auf dass die Natur
mit Gewinn, Profit manipulierte werden konnte. Die methodische
Grundlage
hierfür
bildete
der
in
den
experimentellen
Naturwissenschaften entwickelte methodische Atheismus, der heute
zum Lebensstil zahlreicher Menschen geworden ist. So gesellte sich
zur allmählichen Trennung von Staat und Kirche in der jüngeren
Geschichte, die Marginalisierung der Gläubigkeit oder, wie man auch
gerne sagt, die Verdrängung der Kirche aus der Öffentlichkeit. Die
Gemeinschaft der Muslime erhielt sich hingegen nicht nur die
ganzheitliche Betrachtungsweise der Welt, sondern auch den Aspekt
der Spiritualität, der in Europa erst im Zuge der Umweltdiskurse
wieder aufzukommen scheint.
Aus den Erfahrungen der europäischen Auseinandersetzungen
zwischen religiösen und politischen Kräften sowie dem Scheitern der
cromwellschen Revolution schufen die englischen Auswanderer auf
dem nordamerikanischen Kontinent einen Staat und eine Gesellschaft,
die den Staat auf Distanz zu den Religionsgemeinschaften setzte,
aber zugleich den Bürger an die Religion band, worunter man vor
allem die Vielfalt der protestantischen Denominationen verstand.
Diese Konstruktion schien solange problemlos, wie die das Land
führenden Eliten vor allem aus jenen Denominationen stammten. Die
ersten emotionalen Bedenken kamen auf, als der erste römisch
katholische Präsidentschaftsanwärter die politische Bühne betrat. Die
Idee des „melting pot“, in dem die christliche Vielfalt sich
zusammenfinden sollte, zerbrach aber bereits an den japanischen
Einwanderern während des Zweiten Weltkrieges und danach mit den
wachsenden Zahlen von Einwanderern aus orientalischen bzw.
asiatischen. Regionen. Hinzu kam, dass ein Teil der einst
afrikanischen Zwangseinwanderer sich des Islams als dem Glauben
ihrer Vorfahren erinnerte und zu ihm zurück fand. Das Motto jener
Tage hieß: „Back to the roots.“ Andere Bürger gingen auf die Suche
nach ihren europäischen Wurzeln. Die wachsende Pluralisierung nicht
allein
der
amerikanischen
Gesell-
- 78 -
ZIVILRELIGION
schaft, sondern moderner Gesellschaften im allgemeinen ließ
Theoretiker wie Verantwortliche danach fragen, was denn moderne
Gesellschaften zusammenhielte. In den 70er Jahren meinten einige
Sozialwissenschaftler die Antwort in der Idee einer Zivilreligion
gefunden zu haben. Sie sollte die neue über das Christentum
hinausgehende Vielfalt zu einer nationalen Einheit zusammenfinden
lassen. Im amerikanischen Lebensstil boten sich dem Betrachter dafür
eine Reihe unterschiedlichster Rituale an: der morgendliche
Fahnenappell in den Schulen, bestimmte Passagen in den Texten der
Verfassungen der Mitgliedsstaaten, die vocatio dei in politischen
Ansprachen, der geradezu rituelle Ablauf medialer Erscheinungen
gleich den Fernsehnachrichten etc. Für den deutschen Sprachraum
lieferte
übrigens
Hermann
Lübbe
die
umfassendste
Begriffsbestimmung .
Die theoretischen Fragen an den Begriff der Zivilreligion ließen nicht
auf sich warten: So fragte man nach dem Verhältnis zu kirchlichen
Traditionsbeständen, aus denen zivilreligiöse Verhaltensweisen
durchaus abgeleitet werden konnten, nach der Abgrenzung zum
Begriff der Ideologie oder der Legitimation von Zivilreligion. Im Grunde
genommen ging es stets um die Präsenz des Religiösen und deren
Symbole in der Öffentlichkeit, was sich für Deutschland am Streit um
das Kruzifix, Minarett, Glockengeläut oder den Gebetsruf fixieren ließ.
Hier meinten manche angesichts der öffentlich sichtbaren Gläubigkeit
der Muslime, die Gespenster von Gestern beträten wider die Bühne.
Hingegen empfand die islamische Minderheit die Diskrimination ihres
religiösen Verhaltens als Bruch der Verfassungsnormen der
Religionsfreiheit und der Würde. Das Konstrukt der Zivilreligion als
einem gesellschaftlichen minimal Konsens löste zumindest nicht
sämtliche die Konflikte in einer modernen Gesamtgesellschaft vor
allem dann, wenn diese zwischen Minderheiten und ihren
Mehrheitsgesellschaften auftraten.
Im deutschen Diskurs zur Zivilreligion, hierauf machte Wolfgang
Vögele in einem Beitrag aufmerksam , wurde bisher kaum
thematisiert, in welcher Weise die öffentliche Erinnerungs- und



Hermann Lübbe; a.a.O., Seite 321
Wolfgang Vögele; Zivilreligion, Kirchen und Milieu der Gesellschaft; in Rolf
Schieder (Hrsg.); a.a.O., Seite 184
a.a.O.
- 79 -
ZIVILRELIGION
Gedenkkultur zur zivilen Religion beiträgt. In ihrem Kontext zeigen sich
zudem deutlich die Grenzen hinsichtlich der Integration der
gesellschaftlichen Pluralität, was sich insbesondere am Beispiel des
Holocaust demonstrieren ließe, mit dem die islamo-türkischstämmige
Minderheit in Deutschland nichts verbindet. Für sie stellt der
einschlägige schulische Lernstoff eher ein Beitrag zur Selbstfindung
dar, an dem sie erfahren, in welcher Weise die Mehrheitsgesellschaft
in der Vergangenheit mit ihren Minderheiten umging. So war nach den
Bränden in Solingen und Mölln von den damaligen Jugendlichen
zuhören, dass sie zwar keine Unruhen verursachen wollten, weil sie
auf den Rechtsstaat vertrauten. „Aber,“ so war vielfach zu hören,
„nach Auschwitz gehen wir nicht.“ Solche Konflikte der Gedächtnisse
lassen sich an vielen Stellen auffinden. Sie stellen eine
Herausforderung dar, die bisher weder in der Gesellschaft noch in der
Schule nicht thematisiert wurden. Die Lösung blieb dem individuellen
Wollen und Können der Schüler überlassen.
In der europäischen Geschichte trugen die Kirchen als politische
Handlungseinheiten stets zur Bearbeitung solcher bedeutenden
historischen Ereignisse bei. Den kirchenlosen Minderheiten
insbesondere den Muslimen ist es bisher nicht gelungen für den
Diskurs adäquate Strukturen zu schaffen. Ihre Verbände sind viel zu
sehr
damit
beschäftigt konkrete
Interessen
gleich
dem
Religionsunterricht bzw. der inzwischen zugestandenen Form des
Schlachtens durchzusetzen. So wächst in Deutschland in den
Minderheiten eine junge Generation heran, die keinerlei Beziehung zur
shoa hat, wodurch dem Konzept der Zivilreligion ein wesentliches
integratives Moment entfällt, an dessen Stelle, so scheint es, der
interreligiöse Dialog getreten ist. Sein Diskurs impliziert jedoch die
Auseinandersetzung um die Frage der Transzendenz, die das
Konstrukt
der
Zivilreligion
um
der
Pazifizierung
der
Gesamtgesellschaft Willen ausblendete.
- 80 -
ZIVILRELIGION
- 81 -
FREIHEITSRECHTE UND NS-JUSTIZ
„... sind mit dem Prinzip
des völkischen Reiches
nicht vereinbar!“
Freiheitsrechte und die NS-Justiz in
einer Wanderausstellung des Niedersächsischen Justizministeriums
von Stefan Weigand, Referent für
Öffentlichkeitsarbeit, Niedersächsisches
Justizministerium
I.
Nach dem Aufsehen erregenden Huppenkothen-Prozess in der Mitte
der 50er Jahre und einer Reihe von Veröffentlichungen in den 60er
Jahren sollte es weitere zwanzig Jahre dauern, bis eine intensivere
Erforschung der Geschichte der Justiz im Nationalsozialismus
einsetzte. Zentrale Gründe dafür sind sicherlich die personelle
Restauration der Justiz nach 1945 und die Generationen-Schichtung
in der Justiz1. Inzwischen – mit Veröffentlichungsdatum 2000 –
umfasst eine Auswahl-Bibliographie fast 1.200 Veröffentlichungen2.
Nicht nur bei bekannten Juristen der Bundesrepublik wie Heinrich
Schoenfelder, Otto Palandt3 oder Theodor Maunz4 wurden deren
„braune Jahre“ erst spät öffentlich bekannt. Das gilt auch für die
Schriften von bis in die Gegenwart hoch angesehenen
Wissenschaftlern wie Karl Larenz (geb. 1903)5, oder Ernst Rudolf
Huber (geb. 1903). Gerade für die Geburtsjahrgänge 1895 bis 1905,
also der „Jahrhundertwende-Generation“ brachte das Jahr 1933 einen
1
2
3
4
5
Ulrich Herbert, Best, Bonn 1996
Viktoria Pollmann, NS-Justiz, Nürnberger Prozesse, NSG-Verfahren,
Frankfurt 2000 (= Verzeichnisse No. 4 des Fritz-Bauer-Instituts)
s. Hans Wrobel, Otto Palandt. Ein deutsches Juristenleben, in: Redaktion
Kritische Justiz, Hg., Der Unrechts-Staat, Bd. II, Baden-Baden 1984, S. 137154
s. Michael Stolleis, Theodor Maunz – ein Staatsrechtslehrerleben, in:
Redaktion Kritische Justiz, Hg., Die juristische Aufarbeitung des UnrechtsStaates, Baden-Baden 1998, S. 323-332
zu Larenz Schweigen: Ralf Dreier, Karl Larenz über seine Haltung im „Dritten
Reich“, in: Juristische Zeitung, 1993, S. 454-457
- 82 -
FREIHEITSRECHTE UND NS-JUSTIZ
enormen Karriereschub. Sie gelangten auf berufliche Positionen und
konnten nach 1945 mit oft nur kurzfristiger Unterbrechung ihre
Laufbahn fortsetzen. Dazu trugen auch der Korpsgeist unter den
Juristen bei und die Tatsache, dass Juristen, anders als bei allen
anderen
Berufsgruppen,
über
Angehörige
ihres
eigenen
Berufsstandes zu urteilen hatten. Beispiele, vom früheren
Staatssekretär Prof. Dr. Dr. Franz Schlegelberger6 bis zum
Braunschweiger geschäftsführenden Generalstaatsanwalt Dr. Wilhelm
Hirte (geb. 1905) oder dem Hannoveraner Landgerichtsdirektor Dr.
Wilhelm Schmedes (geb. 1899), sind zahlreich zu finden.
II.
Das Niedersächsische Justizministerium hat gemeinsam mit der
Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung die
Wanderausstellung „Justiz im Nationalsozialismus – Über Verbrechen
im Namen des Deutschen Volkes“ erarbeitet. Am 27. Januar 2001
eröffnete der Niedersächsische Justizminister Prof. Dr. Christian
Pfeiffer im Amtsgericht Hannover, dem früheren Sitz des
Sondergerichts Hannover, die erste Station der Ausstellung. Es folgten
Oldenburg, Celle, Göttingen, Verden, Braunschweig, die nds.
Landesvertretung in Berlin, ab dem 8. November 2002 Osnabrück und
bis Ende 2004 flächendeckend weitere Gerichten in ganz
Niedersachsen.
Die Ausstellung zeigt anhand überwiegend niedersächsischer
Beispiele, wie Juristen mit hoher fachlicher Kompetenz und
persönlichem Engagement am NS-Unrecht mitgewirkt haben. In
sieben Blöcken werden – unter Ausschluss der Wehrmachtsjustiz und
illustriert mit Biografien von Opfern und Tätern – die folgenden
Themen dargestellt:
1. „Die Freiheitsrechte des Individuums gegenüber der Staatsgewalt
mussten
verschwinden“
–
Prinzip
des
NS-Rechts,
Ergebenheitsadressen der Juristen im März 1933, Entlassung der
jüdischen Juristen, Ausschaltung des politischen Gegners
6
Michael Förster, Jurist im Dienste des Unrechts. Leben und Werk des
ehemaligen
Staatssekretärs
im
Reichsjustizministeriums
Franz
Schlegelberger (1876-1970), Baden-Baden 1995; Redaktion Kritische Justiz
(Hg.), Der Unrechts-Staat, Bd. III: Eli Nathans: Franz Schlegelberger, BadenBaden 1990
- 83 -
FREIHEITSRECHTE UND NS-JUSTIZ
2. „Bessern oder Vernichten“ als Prinzip des nationalsozialistischen
Strafvollzugs. Haft in der Strafanstalt Wolfenbüttel, der zentralen
Hinrichtungsstätte für Norddeutschland; Verschärfung der
Haftbedingungen, Zunahme der Häftlinge und der Todesstrafen im
Verlauf des Krieges; in hohem Maße hochqualifizierte
Zwangsarbeit für Rüstungsbetriebe; Kooperation von Justiz und
Polizei.
3. „Sondergerichte ... eine Panzertruppe der Rechtspflege“:
Sonderstrafrechtsverordnungen
gegen
„Schwarzhören“,
„Volksschädlinge“, Polen und Juden, „Wirtschaftsschädlinge“ sowie
im
Ausland.
Kreative
Anwendungspraxis
und
Abschreckungswirkung
4. Regionalteile Hannover (Das Sondergericht Hannover7), Oldenburg, Celle, Göttingen, Verden, Braunschweig und der weiteren
Ausstellungsorte mit lokalen Beispielen und weiteren Facetten der
NS-Justizgeschichte und dem Umgang mit der NS-Justiz in der
Bundesrepublik Deutschland.
5. Aufarbeitung nach 1945. Nürnberger Prozess, Restauration,
Gegenpositionen, Wiederaufnahmeverfahren. Mit Täterbiografien.
6. Abkehr vom „liberalistischen Grundsatz“ von der Gleichheit der
Menschen: Juden, Zeugen Jehovas, Euthanasieopfer und
Homosexuelle als Opfergruppen, mit Biografien.
Den Schlussstein „Späte Einsicht“ bildet das BGH-Urteil vom 15.
November 1995 anlässlich der Verurteilung eines früheren DDRRichters wegen Rechtsbeugung, in der die Richter erstmals
höchstinstanzlich
ausführten:
„Die
nationalsozialistische
Gewaltherrschaft hatte eine ‚Perversion der Rechtsordnung‘
bewirkt, wie sie schlimmer kaum vorstellbar war, und die damalige
Rechtsprechung ist angesichts exzessiver Verhängung von
Todesstrafen nicht zu Unrecht als ‚Blutjustiz‘ bezeichnet worden.“
7. Ein siebenter Baustein wird seit September 2002 präsentiert. Hier
werden detailliert herausgearbeitet, wie in der Bundesrepublik mit
7
Erarbeitet von Dr. Wolf-Dieter Mechler aufbauend auf: ders., Kriegsalltag an
der „Heimatfront“. Das Sondergericht Hannover 1939-1945, Hannover 1997
- 84 -
FREIHEITSRECHTE UND NS-JUSTIZ
der NS-Justiz umgegangen wurde: die Re-Legitimierung der NS-
- 85 -
FREIHEITSRECHTE UND NS-JUSTIZ
Justiz, die Position von Gustav Radbruch und die vereinzelt
vorgetragenen Gegenpositionen (etwa Fritz Bauer oder die frühe
Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“), Karrieren vor und nach 1945
in der sog. Politischen Justiz, die Entwicklung seit 1990 bis hin zur
Rede des neuen BGH-Präsidenten im Jahre 2002.8
III.
In mehrfacher Hinsicht ist die Wanderausstellung „Justiz im
Nationalsozialismus – Über Verbrechen im Namen des Deutschen
Volkes“ durch einzigartige Merkmale gekennzeichnet.

Nach der großen Wanderausstellung „Im Namen des Deutschen
Volkes.
Justiz
und
Nationalsozialismus“
des
Bundesjustizministeriums in den frühen Neunziger Jahren ist dies
die erste größere Ausstellung zu diesem Thema.

Kein anderes Bundesland setzt sich so intensiv, mit einer
Dauerausstellung und einer umfangreichen Wanderausstellung
einschließlich
Begleitprogramm,
Führungsangeboten,
Lehrerfortbildung und umfangreichem Service, mit der eigenen
Justizgeschichte auseinander.

An jedem Standort wird ein Sonderteil zur NS-Justizgeschichte der
jeweiligen Region erarbeitet und präsentiert, in Hannover zum
Thema Sondergericht Hannover. Diese lokalgeschichtlichen Teile
fügen sich zu einer neuen, eigenen Ausstellung zusammen:
Niedersachsens Justiz erforscht ihre NS-Vergangenheit.

Vor allem aber wird die Ausstellung dort gezeigt, wo die Anklagen
vorgetragen und die Urteile gesprochen wurden: in den Gerichten.
NS-Geschichte wird nicht an entlegenen Orten wie KZGedenkstätten, sondern mitten in den Städten verlebendigt, an
Orten also, die für viele Menschen leicht zu erreichen sind und –
wie beim Amtsgericht Hannover – ohnehin einen regen
Besucherstrom verzeichnen.
8
Günter Hirsch, Die deutsche Justiz im Unrechtssystem und bei der
Aufarbeitung von Justizunrecht. Ansprache aus Anlass des 100.
Geburtstages von Hans von Dohnahyi, in: Deutsche Richterzeitung, Juni
22002, S. 228-230
- 86 -
FREIHEITSRECHTE UND NS-JUSTIZ
Schließlich
ermöglichen
die
lokalgeschichtlichen
Bausteine,
thematische Lücken der Basisausstellung zu schließen, etwa der
Anteil der Rechtsanwälte an der NS-Justiz-Geschichte, das Schicksal
ihrer
jüdischen
Kollegen
oder
die
Tätigkeit
der
Erbgesundheitsgerichte. Außerdem können in den kommenden
Jahren sehr flexibel kleine Ausstellungen für Amtsgerichte und andere
Institutionen zusammenzustellen, die schon kurz nach der ersten
Eröffnung der Wanderausstellung am 27. Januar 2001 Ihren Bedarf
angemeldet haben. Inzwischen liegen mehr als 20 weitere
Bewerbungen um die Ausstellung vor, darunter vier aus anderen
Bundesländern und eine aus dem Ausland
Erfreulich sind auch zwei Ereignisse, für die die Wanderausstellung
„Justiz im Nationalsozialismus“ Anregung war. Die Justizakademie
Recklinghausen des Landes Nordrhein Westfalen hat Ende Januar
2002 eine leicht bearbeitete Kopie der niedersächsischen Ausstellung
in ihren Räumen eröffnet. Und fünf Wochen später wurde die
Wanderausstellung des Bundesjustizministeriums nach mehrjähriger
Pause wieder eröffnet – nun in einem Gerichtsgebäude, und es
werden Führungen angeboten.
IV.
Die nächsten Stationen der Wanderausstellungen sind:
27. Januar bis 23. März 2003
28. März bis 16. Mai 2003
23. Mai bis 13. Juli 2003
23. August bis 13. Oktober 2003
8. Nov. 2003 bis 16. Jan. 2004
ab 27. Januar 2004
Landgericht Lüneburg
Landgericht Bückeburg
Landgericht Aurich
Amtsgericht Papenburg
Landgericht Stade
Amtsgericht Nordenham
Für Interessierte hält das Niedersächsische Justizministerium eine
Begleitbroschüre und inzwischen 50 verschiedene kostenlose
Information- und Begleitmaterialien bereit. Ein Verzeichnis wird auf
Anfrage zugeschickt oder kann, wie viele Broschüren auch, aus dem
Internet runtergeladen werden.
Kontakt:
Niedersächsisches Justizministerium, Referat Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit, Am Waterlooplatz 1, 30169 Hannover
- 87 -
FREIHEITSRECHTE UND NS-JUSTIZ
Tel. (0511) 120 50 43, Mobil (0179) 41 90 337, Fax (0511) 120 51 81
www.mj.niedersachsen.de | wir über uns | Ausstellung ...
e-Mail: [email protected]
- 88 -
FREIHEITSRECHTE UND NS-JUSTIZ
http://www.mj.niedersachsen.de
von Hagen Weiler,
19. Juni 2002
Die bemerkenswerte Rede des Niedersächsischen Justizministers
Prof. Dr. Christian Pfeiffer zur Eröffnung der Wanderausstellung
"Justiz im Nationalsozialismus - Über Verbrechen im Namen des
deutschen Volkes" am 27. Juli 2001 im OLG Celle (vgl. Politik
unterrichten, Heft 1/2002, S. 50 - 71) verdient aus rechtshistorischer,
rechtslogischer und politikwissenschaftlich-didaktischer Perspektive
sieben Nachfragen:
1.
Warum differenziert Pfeiffer nicht zwischen "unpolitischen
Experten" (Erste These, S. 51) und der "weitgehenden
Beibehaltung der traditionellen juristischen Handlungsmuster, der
vertrauten Argumentationstechnik ..." (Zweite These, S. 52) ?
2.
Warum distanziert sich Pfeiffer nicht eindeutig und konsequent
von der (von den Nationalsozialisten selbst propagierten)
Geschichts-Legende, sie seien "legal an die Macht gekommen" ?
3.
Warum macht Pfeiffer nicht klar, dass gerade die politisch
parteilichen, sich nicht an die traditionellen Kategorien, Kriterien
und Regeln rechtslogischer Auslegung der geltenden Gesetze
haltenden Richter, Staatsanwälte, Verwaltungsbeamten den
Nationalsozialisten vor und nach 1933 zu Diensten waren ?
- 89 -
FREIHEITSRECHTE UND NS-JUSTIZ
4.
Warum verkennt Pfeiffer den (teilweise verborgenen)
Selbstwiderspruch zwischen seinen beiden Zitaten (S. 50) ?
5.
Warum zieht Pfeiffer nicht die entsprechenden Konsequenzen
aus dem Zitat des Richters Kreyssig (S. 53 f) ?
6.
Warum erwähnt Pfeiffer nicht die zahlreichen rechtsstaatlichen
Fehler und Versäumnisse der Justiz in den ostdeutschen
Ländern gegenüber rechtsextremen Gewalttätern? (Vgl. zuletzt,
am 18.6.2002, die Justiz in Rostock, die zehn ! Jahre brauchte,
um die drei Brandwerfer wegen "versuchten Mordes" zu
"Bewährungsstrafen" zu verurteilen.)
Resümee:
7.
Warum sagt der Justizminister nicht ohne Einschränkungen:
Der gewaltenteilige Rechtsstaat braucht gesetzestreue, gerade
nicht
politisch
parteiliche
Richter,
Staatsanwälte,
Verwaltungsbeamte. Die politische (Haupt-) Verantwortung liegt
bei dem Gesetzgeber und der Regierung. Erst danach beginnt
die publizistische Verantwortung der Medien, der Wähler. Erst auf
diesen Grundlagen beruht politische Jugendbildung.
- 90 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
IV
AUS UNTERRICHTSPRAXIS; AUS- UND FORTBILDUNG
Wirtschaftskunde in der Berufsschule für
gewerblich-technische Berufe
MUSS – SOLL – IST
von Hans-Dietrich Zeuschner, Juli 2002
Zum Muss
In Politik unterrichten Nr.1/2002 lese ich: „Ansätze zu mehr
ökonomischer Bildung gibt es schon seit langem. Die Verbände der
Wirtschaft haben dies gefordert und unterstützt, als Industrie- und
Handelskammern wie als Unternehmerverbände. Speziell durch das
Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft gibt es vielfältige
Angebote, und auch viele Unternehmer engagieren sich persönlich im
Bereich Schule/Wirtschaft.“
„Aufgrund der Erkenntnis, dass Wirtschaft nicht zur schulischen
Allgemeinbildung gehört, sondern auch als eigenes Fach unterrichtet
werden muss, haben BOA und DGB zusammen mit Eltern- und
Lehrerverbänden und der Wissenschaft ein Grundsatzpapier erarbeitet
und vor einem Jahr veröffentlicht. Wenn hier so große Einigkeit
zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, zwischen Eltern und
Lehrerverbänden besteht, dann muss an der Forderung wohl etwas
dran sein.“
(Reinicke, W.-R.: Mehr ökonomische Bildung in der Schule!?)
Zum Soll
Der wirtschaftende Mensch befindet sich ständig in Problem- bzw.
Konfliktsituationen, die den von ihm getroffenen Entscheidungen
vorausgehen. Er steht sowohl im Rahmen des beruflichen als auch
des außerberuflichen Wirtschaftens in der Gefahr, von der Wirtschaft
bedrückt, ggf. sogar erdrückt zu werden, Stichwörter: Konsumterror,
Kontoüberziehung,
Mängelrüge,
Schulden,
Räumungsklage,
Gerichtsvollzieher, Zwangsversteigerung. Dagegen steht, dass
Wirtschaft nicht einengen, sondern dass sie vielmehr frei machen soll.
- 91 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
„Wirtschaft hat keinen Selbstzweck. Der Mensch muss immer Subjekt
und Ziel der Wirtschaft sein.“1
„Der Mensch ist das, was er ist, immer nur im Bezug und in der
Auseinandersetzung mit der Welt in der er lebt und zu der er sich
verhält.“2 „Wirtschaftliches Handeln ist immer ein Handeln mit anderen
und für andere und oft zugleich ein Handeln gegen andere, und daher
besitzt der Einzelne in Wirklichkeit nur dann wirtschaftliche Mündigkeit,
wenn er auch soziale Mündigkeit besitzt.“3
Ökonomische Bildung - verstanden sowohl als wirtschaftsberufliche
Ausbildung
als
auch
als
Bildung
des
allgemeinen
Wirtschaftsverständnisses - muss das Heraustreten aus der reinen
Zwangsteilnahme am Wirtschaftsgeschehen zugunsten einer
reflektierten,
distanzierten
Teilhabe
und
Gestaltung
am
Wirtschaftsprozess ermöglichen und kann einen Beitrag zu humaner
Lebensbewältigung leisten. 4
Der Jugendliche wächst insbesondere im Berufsschulalter in das
Wirtschaftsgeschehen hinein. „Wirtschaftliche Fragen betreffen
nahezu sämtliche Bereiche unseres Lebens. Das macht es so
interessant und auch notwendig, sich mit Wirtschaft zu beschäftigen.
Aber ohne Kenntnis der Zusammenhänge sind gerade auf diesem
Gebiet sachgerechte, fundierte Urteile nicht möglich.“5 Die „Bildung
des allgemeinen Wirtschaftsverständnisses“ hat für Berufsschüler in
der Regel bereits in der Hauptschule begonnen. Die Berufsschule
muss die Aufgabe wahrnehmen, die in der Hauptschule im Fach
Arbeit/Wirtschaft-Technik begonnene Einführung in die Ökonomie
(siehe Tabelle 1), fortzusetzen, zu vertiefen und zu erweitern.
1
2
3
4
5
Marx, A.: Normen des wirtschaftpolitischen Geschehens in Zeitschrift für
Betriebswirtschaft, 22Jg. 1952, S. 554
Lersch, Ph.: Der Mensch als Schnittpunkt, München 1969, S. 17
Abraham, K.: Die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Erziehung in
christlicher Sicht in Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 37
Jg. 1961, S. 9
vgl. Schanz, H.: Ökonomische Bildung als Beitrag zu humaner
Lebensbewältigung , Hrg. Schanz, H. a.a.O. S. 79
Lippens, W.: Im Kreislauf der Wirtschaft, Hrg. Bundesverband deutscher
Banken e.V. Köln 1994, Vorwort
- 92 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
Tabelle 1
Themen und Zeitvorgaben in den A/W-T-Rahmenrichtlinien
für die Hauptschule
Quelle: Hrg. Nds. Kultusministerium :
Rahmenrichtlinien für die Hauptschule
Arbeit / Wirtschaft - Technik, Hannover 1997
Schuljahrgänge 7/8
Arbeiten und Wirtschaften (12 Std.)
Verbraucherinnen und Verbraucher
im Wirtschaftsgeschehen (10 Std. )
Der regionale Wirtschaftsraum (12 Std.)
Entscheiden für einen Startberuf (12 Std.)
Schuljahrgänge 9/10
Markt- und Wirtschaftsgeschehen (10 Std.)
Wirtschaftliches und soziales Handeln
im Betrieb (12 Std.)
Soziale Marktwirtschaft (12 Std.)
Die Europäische Union (12 Std.)
Zeitvorgabe: 92 Stunden insgesamt
Formale Zielvorgaben
Der Wirtschaftskundeunterricht in Berufsbildenden Schulen,
gewerblich-technischer Fachrichtungen, soll
dem Lernenden
diejenigen Einsichten und Kenntnisse vermitteln, die ihn befähigen,
das wirtschaftliche Gesamtgeschehen in seinen Grundlagen zu
erkennen und zu verstehen und
ihn damit zu denjenigen
Qualifikationen bringen, die zum rationalen und verantwortlichen
Handeln innerhalb der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung
notwendig sind.6
Im einzelnen geht es formal um die Ziele
6
Schanz, H. ebenda, S. 73 ff
- 93 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
- Interesse an und Verständnis für Ökonomie wecken / erweitern,
- Einsichten in ökonomische Zusammenhänge ermöglichen,
- Voraussetzungen für eine selbständige ökonomische Analyse- und
Urteilsfähigkeit schaffen,
bzw. um die Aufgaben
- an grundlegende ökonomische Erfahrungen und das Vorwissen der
Schüler anknüpfen,
- das Vorhandene ordnen und
- ins Bewusstsein heben,
- es vorsichtig erweitern und
- für das Verständnis komplexer Zusammenhänge nutzbar machen. 7
In den Rahmenrichtlinien für das Unterrichtsfach Politik in berufsbildenden Schulen, Stand Juni 1994 8, (nachfolgend RRL Pol ’94
genannt) liest man: „Deshalb gilt es,
- die bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten auf aktuelle
lebens- und arbeitsweltliche Erfahrungszusammenhänge zu
beziehen und damit abzusichern,
- neue Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die ein
selbstverantwortliches Handeln in Lebens- und Arbeitswelt
ermöglichen,
- Vorurteile durch neue Erfahrungen aufzubrechen.“
Globale Zielvorgaben
Die RRL Pol ´94 verstehen ‘Politische Gestaltungskompetenz’ als
leitendes Prinzip der politischen Bildung an berufsbildenden Schulen.
Reduziert man die Ausdifferenzierung dieses Prinzips auf das rein
Ökonomische, so kommt man zu der Zielformulierung: ‘die Fähigkeit
und
Bereitschaft
unter
den
gegebenen
ökonomischen
Voraussetzungen, in Wirtschaft Lebenssituationen verantwortlich zu
gestalten’. Demgegenüber ist in §2, NSchG v. 1994 - Bildungsauftrag
7
8
vgl. Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung: Politik - kurzgefasst, Bonn,
1995, S.17 f.
Anmerkung: Diese RRL enthalten ein eigenständiges Handlungsfeld
Wirtschaft (s. nächstes Kapitel)
- 94 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
der Schule - unter dem gleichen Aspekt gesehen, lediglich von
‘ökonomische Zusammenhänge erfassen’ die Rede.
Die RRL Pol ’94 - speziell die sieben angeführten Qualifikationen und
die nachgeordneten Lernziele 9 - sagen wenig zur ökonomischen
Bildung,
speziell
zur
‘Bildung
des
allgemeinen
Wirtschaftsverständnisses’ aus. Inhaltlich dagegen ist Wirtschaft als
eigenständiges politisches Handlungsfeld neben fünf anderen
berücksichtigt worden (vgl. Tabelle 2). In der Berufsschule soll
Wirtschaft im dritten Halbjahr – d.h. unter Berücksichtigung der
herkömmlichen Stundenverteilung in 40 Stunden – unterrichtet
werden.
Tabelle 2
Das politische Handlungsfeld Wirtschaft in den RRL Pol ´94
Wirtschaftsordnungen
- Soziale Marktwirtschaft
- Steuerungsmöglichkeiten der Sozialen Marktwirtschaft
- Wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von Betrieben und
Unternehmen
- Ökologische Umgestaltung der sozialen Marktwirtschaft zur
„ökosozialen Marktwirtschaft“
- Wirtschaftsstandort Deutschland
Konjunktur und Krisen
- Wirtschaftsstruktur und Merkmale des regionalen und sektoralen
Strukturwandels usw.
- Zielkonflikte der Wirtschaftspolitik
Konsumenteninteresse - Produzenteninteresse
- Produktkennzeichnung und Produzentenhaftung
- Produktivität und Rentabilität, Umwelt- und Sozialverträglichkeit
- Rechten und Pflichten aus Verträgen
Ökonomie und Ökologie
- Spannungsverhalten zwischen Ökonomie und Ökologie
9
Hrg. Nds. Kultusministerium: Rahmenrichtlinien für das Unterrichtsfach
Politik in berufsbildenden Schulen, Hannover 1994
- 95 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
- Wege zu einer ökologischen Ökonomie .
Am Schluss folgt der Hinweis ‘und/oder andere gleichwertige Themenbereiche’
Daneben existiert in den RRL Pol ´94 ein Kanon von Lerngebieten,
Lernzielen und Lerninhalten. Diese „Elemente für den Unterricht der
Berufsschule im Bereich Wirtschafts- und Sozialkunde gewerblichtechnischer Ausbildungsberufe“ beruhen auf einem KMK-Beschluss
vom 18.05.84. Sie sind für die Berufsschule verbindlich
vorgeschrieben und in den RRL Pol ´94 konsequenterweise mit einem
eigenen Kontingent von 40 Stunden ausgestattet.
Neben den sozial- und rechtskundlichen Lerngebieten

Berufsbildung (5 Themenbereiche)

Arbeits- und Tarifrecht, Arbeitsschutz (14)

Sozialversicherung (4)

Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit (2)
und einem juristisch ausgerichteten Komplex:

Betriebliche Mitbestimmung (2)
ist ein ökonomisches Lerngebiet eingearbeitet (vgl. Tabelle 3)
Tabelle 3
Auszug aus der KMK-Vereinbarung für gewerblich-technische
Ausbildungsberufe, Beschluss vom 18.05.84 in den RRL Pol´94
2. Lerngebiet: Betrieb in Wirtschaft und Gesellschaft
Lernziele:
2.1
Aufbau, Aufgaben und Unternehmensformen eines Betriebes
sowie seine Stellung in Wirtschaft und Gesellschaft erläutern
Lerninhalte:
2.1.1 Aufbau eines Handwerks-/Industriebetriebes
2.1.2 Wesentliche Aufgaben eines Betriebes (Beschaffung,
Produktion, Absatz)
2.1.3 Die Stellung des Handwerks-/Industriebetriebes in der
Wirtschaft
2.1.4 Wesentliche Ziele erwerbswirtschaftlicher und öffentlicher
Betriebe: Gewinnerzielung, Kostendeckung, Marktversorgung
- 96 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
2.1.5 Betriebliche Kenngrößen: Produktivität, Wirtschaftlichkeit,
Rentabilität
2.1.6 Wesentliche Unternehmensformen und deren Bedeutung:
Einzelunternehmen, Personengesellschaften: OHG; KG,
Kapitalgesellschaften: AG, GmbH, Genossenschaften
2.1.7 Wirtschaftliche Verflechtungen
2.1.8 Wirtschafts- und arbeitsweltbezogene Grundaussagen der
Verfassung
2.1.9 Wirtschaftliche, rechtliche und soziale Zusammenhänge
zwischen Betrieb, Wirtschaft, verbänden, Parteien, Gesellschaft
und Staat
Lernziele:
2.2
Aufgaben von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen
beschreiben
Lerninhalte:
2.2.1 Interessenwahrnehmung durch Organisationen der Arbeitgeber
und Arbeitnehmer
Zur Relativierung
Nach den Angaben der Herausgeber ist „Wirtschaft Deutschland
Daten – Analysen – Fakten“ 10 „das erste Wirtschaftsbuch, das die
Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland umfassend darstellt“.
„Dieses Buch richtet sich an Leser und Leserinnen, die als
Verbraucher,
Arbeitnehmer,
Auszubildende,
Unternehmer,
Staatsbürger und Politiker – wie immer man sie in ihren Rollen
benennen mag – Entscheidungen treffen, mit denen sie das
wirtschaftliche Geschehen in der Sozialen Marktwirtschaft durch
aktives und passives Verhalten beeinflussen. Hinter diesen durch
unterschiedliche Interessen geprägten Rollen stehen einflussreiche
Interessenorganisationen wie Gewerkschaften, Arbeitgeber- und
Berufsverbände, Verbraucherorganisationen, Parteien, Ministerien,
Behörden usw., die das marktwirtschaftliche Geschehen prägen und
mitbestimmen.“
10
Hrg. Keim, H. und Steffens, H., Köln 2000
- 97 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
Ein Vergleich im Hinblick auf die berücksichtigten wirtschaftskundlichen Themen in den Vorschriften für den Politikunterricht in der
Berufsschule für gewerblich-technische Berufe (Tabelle 2 und 3) mit
dem Inhaltsverzeichnis des genannten Wirtschaftsbuches, das nach
eigener Einschätzung „die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland
umfassend darstellt, und zwar - in ihren volks- und
betriebswirtschaftlichen sowie sozialpolitischen Dimensionen“ zeigt
auf, dass die „Bildung des allgemeinen Wirtschaftsverständnisses“ im
Rahmen des Politikunterrichts lediglich relativ „schmalspurig“
betrieben wird.
Tabelle 4
Das Inhaltsverzeichnis von „Wirtschaft Deutschland – Daten –
Analysen – Fakten“
Verbraucher und Markt
-
Konsumfreiheit als Grundlage der Marktwirtschaft
Entwicklungen des Verbraucherverhaltens
Probleme des Wettbewerbs
Probleme der Einkommensverwendung
Marktmodell und Realität
Verbraucherpolitik
Rückblick und Ausblick
Arbeitnehmer und Betrieb
-
Wirtschafts-, Arbeits- und Berufswelt im Wandel
Bildung und Betrieb
Arbeit und Betrieb
Soziale Gestaltung der Arbeitswelt
Grundelemente der Betriebswirtschaft
Mitbestimmung und Vermögensbeteiligung
Lohn- und Tarifpolitik
Interessenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer
1
1
15
37
51
63
65
89
93
93
119
147
169
179
217
233
271
Gesamtwirtschaftliche Entwicklung und Wirtschaftspolitik
291
-
291
315
329
339
Wirtschaftsentwicklung als Stabilisationsproblem
Konzeption und Instrumente der Stabilisierungspolitik
Strukturwandel und Strukturpolitik
Ansätze und Perspektiven der Wachstumspolitik
Internationale Wirtschaftsbeziehungen und Weltwirtschaft
357
- Grundlagen der Weltwirtschaft
- Entwicklung des Welthandels
- Zahlungsbilanz der Bundesrepublik Deutschland
357
385
335
- 98 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
- Grundlagen der Weltwährungsordnung
- Kapital und Arbeit aus Weltwirtschaftlicher Sicht
- Entwicklungsländer und Industrieländer
399
427
439
- 99 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
Zum IST

Spätestens nach dem eben angeführten Vergleich ist die
Notwendigkeit eines eigenständigen Faches Wirtschaft für
niedersächsische
Berufsschulen,
gewerblich-technische
Fachrichtungen und darüber hinaus, für alle Formen der
Berufsbildenden Schule deutlich sichtbar geworden. Starke Zweifel
an der 2. These von Hans-Hermann Hartwich, nachzulesen in
Politik unterrichten 1/2002: „Ökonomische Bildung in der Schule
bedarf nicht des neuerlichen Vorstoßes für ein eigenes
Schulfaches. Vielmehr ist sie bereits in den meisten
Bundesländern Teil der curricular vorgegebenen Lernfelder in den
sozialwissenschaftlichen
Schulfächern
bzw.
in
„Gemeinschaftskunde“, werden zumindest für die Berufsbildenden
Schulen wach.

Für eine Situationsanalyse im Hinblick auf BS-Lehrkräfte,
gewerblich-technische Fachrichtungen, mit dem Unterrichtsfach
Wirtschaftskunde fehlen aktuelle Daten. Die Möglichkeit, im
Rahmen des LbS-Studiums z.B. an der Universität Hannover
Wirtschaftswissenschaften
als
Schwerpunktbereich
im
Unterrichtsfach Gemeinschaftskunde/ Wirtschaftskunde11 zu
wählen, ist durch eine Änderung der Ausbildungs- und
Prüfungsordnung seit dem Sommersemester 2001 nicht mehr
gegeben. Die PVO-Lehr vom 15. April 1998 bietet u.a. Politik als
Unterrichtsfach
an,
mit
den
Schwerpunktbereichen
Sozialwissenschaften und Geschichtswissenschaften. Als eine
Zulassungsvoraussetzung für die Prüfung ist lediglich der
Nachweis der erfolgreichen Teilnahme an einer Lehrveranstaltung
zur
Einführung
in
die
Betriebswirtschaftslehre
oder
Volkswirtschaftslehre aufgeführt. Die sich hieraus ergebenden
Konsequenzen in fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer
Hinsicht liegen auf der Hand. Sie werden das bereits heute
herrschende Problem – die wirtschaftskundlichen Themen werden,
wenn überhaupt, dann häufig von fachfremden Lehrkräften
sozusagen von „Lehrbuchrezitatoren“ abgehandelt – verstärken.

Wirtschaftskundliche Inhalte haben Prüfungsrelevanz und sind
daher im Berufsschulunterricht zu vermitteln. Durch die
11
vgl. Hrg.Nds Min Kult: Verordnung über die Ersten Staatsprüfungen für
Lehrämter im Lande Niedersachsen (PVO-Lehr I) vom 27.Juni 1986
- 100 -
W IRTSCHAFTSKUNDE IN DER BERUFSSCHULE
Facharbeiter- bzw. Gesellenprüfung ist festzustellen, ob der
Prüfling u.a. mit dem ihm im Berufsschulunterricht vermittelten, für
die Berufsausbildung wesentlichen Lehrstoff vertraut ist12. Die
Kultusministerkonferenz hat zur Konkretisierung dieser BBiG- bzw.
HWO-Vorschrift den in Tabelle 3 berücksichtigten Lernziel- und
Lerninhaltskanon
festgelegt.
Untersuchungen
von
Aufgabenblöcken
verschiedener
Handwerksinnungen
bzw.
Innungsverbände für das Prüfungsfach Wirtschafts- und
Sozialkunde aus dem gewerblich-technischen Bereich haben
ergeben, dass eine größere Anzahl Prüfungsfragen außerhalb der
Reichweite der RRL Pol ´94 sowie des KMK-Beschlusses vom
18.05.84 liegt. Im Klartext: Die Prüflinge werden nicht bzw. nicht
hinreichend auf die Abschlussprüfung vorbereitet.
Schlussbemerkung
Das Fach Wirtschaftskunde ist für niedersächsische Berufsschulen,
gewerbliche Fachrichtungen13, erstmalig nach dem 2. Weltkrieg, im
Jahre 1966 in der Stundentafel mit einer Wochenstunde berücksichtigt
worden. Das Stundenkontingent wurde im Jahre 1982 auf ½
Wochenstunde gekürzt14 und drei Jahre danach war das Fach in den
Stundentafeln für Klassen der gewerblich-technischen Fachrichtungen
nicht mehr zu finden.15 Seither habe ich wiederholt und mit Nachdruck
für die Wiedereinführung des Faches Wirtschaft in der Berufsschule
u.a. in Politik unterrichten geworben, zu meinem Bedauern bisher
ohne Erfolg. Die Konsequenzen haben die Schwächsten zu tragen,
kurzfristig und längerfristig: die Berufsschüler!
12
13
14
15
vgl. § 35 Berufsbildungsgesetz vom 14.Aug. 1969, letzte Änderung: 25.
Sept. 1996 bzw. §32 Handwerksordnung vom 28. Dezember 1965, letzte
Änderung: 20. Dezember 1993
vgl. Hrg. Nds. Kultusministerium: Richtlinien für den Unterricht an
Gewerblichen Berufsschulen im Lande Niedersachsen, Hannover 1966
vgl. Hrg. Nds. Kultusministerium: BbS-VO, Hannover 1982
vgl. Hrg. Nds. Kultusministerium: BbS-VO, Hannover 1985
- 101 -
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE
V
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN,
TERMINE
Mehr Demokratie wagen ...
Kurt-Peter Merk
Die Dritte Generation
Generationenvertrag und Demokratie - Mythos und Begriff
Aachen 2002 (Shaker-Verlag), 190 Seiten, 24,80 € (ISBN 3-8322-0575-6)
Rezension von Hans-Joachim Fichtner
Ist es politisch geboten und verfassungsrechtlich zulässig, die
gesellschaftliche Gruppe der Kinder und Jugendlichen, die „Dritte
Generation“, durch die Einräumung des aktiven Wahlrechts in die
politische Partizipation und damit in die demokratische Repräsentation
aufzunehmen?
Dieser spannenden, facettenreichen und zukunftsrelevanten
Problemfrage geht der Rechtsanwalt und Privatdozent am
Geschwister-Scholl-Institut der Universität München, Kurt-Peter Merk,
in seiner im September in gekürzter Fassung erschienenen, sehr
lesenswerten Habilitationsschrift nach. Der Autor, der nach der
vorletzten Bundestagswahl vor dem Bundesverfassungsgericht
Berliner Jugendliche bei einer Wahlprüfungsbeschwerde wegen der
von ihnen als verfassungswidrig eingestuften Ausgrenzung von
Minderjährigen von der politischen Teilnahme bei der Bundestagswahl
vertreten hat, kommt zu einer klaren Antwort: Ja! Die pluralistische
Demokratie sei – ebenso wie der 1957 in Kraft gesetzte
Generationenvertrag – nur ein Mythos, da die in der BRD etablierte
repräsentative Demokratie auf die Herrschaft von nur zwei statt der
drei Generationen des Zeitgenossenkontingents reduziert sei.
Daraus ergibt sich für Merk die These, „dass die strukturelle Ursache
des
Generationsegoismus
in
den
sozialpolitischen
Verteilungsentscheidungen
zu
Lasten
der
nachfolgenden
- 102 -
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE
Generation(en)
ein
Repräsentationsdefizit
im
bestehenden
demokratischen Herrschaftssystem ist, das darauf beruht, dass die
dritte zeitgenössische Generation weder funktional wahrgenommen
wird noch Teil des Entscheidungssystems ist“ (S. 9f).
Die Begründung seiner These entfaltet der Autor durch eine klar
gegliederte Systemdiagnose im ersten Teil seiner Schrift sowie eine
plausibel begründete Systemtherapie im zweiten Teil seiner
Überlegungen.
Von
der
Theorie
und
Praxis
des
Generationenvertrages kommend, geht er detailliert auf Ursachen und
Folgen des Generationsegoismus in der politischen Praxis ein. Dabei
überprüft er die Politikbereiche Finanz-, Renten-, Umwelt- sowie
Familienpolitik und konstatiert gravierende Störungen hinsichtlich der
Verteilungsgerechtigkeit.
Kurt-Peter Merk weist nach, dass zukunftsorientierte Entscheidungen,
die nach der Sachrationalität des Generationenvertrages dringend
erforderlich sind, immer wieder an der Systemrationalität der
bestehenden demokratischen Herrschaftsstruktur scheitern. In diesem
Zusammenhang spricht er gar von einem Selbstzerstörungspotenzial
der real existierenden Demokratie.
Therapieren möchte der Autor das System – bevor es zu spät ist! –
durch eine zukunftsfähige Auslegung der Staatsfundamentalnorm
Artikel 20 (2) des Grundgesetzes. So plädiert er dafür, die
vorherrschende Differenzierung zwischen dem das ganze Volk
umfassenden „sozialen Staatsvolk“ als Träger der Staatsgewalt
(Artikel 20, Abs. 2, Satz 1 GG) und dem „politischen Staatsvolk“ der
Wahlberechtigten (Artikel 20, Abs. 2, Satz 2 GG) aufzuheben. Diese
Differenzierung führe nämlich zu dem nicht zu rechtfertigenden
Repräsentationsdefizit in unserer Demokratie. Die Ausübung des
politischen Grundrechts auf allgemeine Wahl nach dem
demokratischen Prinzip „one man – one vote“ könnte nach den
Vorstellungen des Autors im Kindesalter indirekt über die
Erziehungsberechtigten, also im Auftrage, geschehen. Jugendliche ab
14 Jahre sollen direkt wählen können.
Merk setzt darauf, dass durch die Aufhebung der Altersdiskriminierung
im Wahlrecht dem „elektoralen Drohpotenzial“ der Senioren das
„elektorale Drohpotenzial“ der Kinder und Jugendlichen gegenüber
tritt. Von der Verwirklichung der vollständigen Repräsentation im Sinne
- 103 -
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE
von
„mehr Demokratie wagen“ verspricht er sich eine Eindämmung des
Generationsegoismus der Alten und damit einen wesentlichen Beitrag
zur Herstellung von Nachhaltigkeit, Chancengleichheit und
Zukunftsfähigkeit in unserer Gesellschaft.
Die überzeugenden Therapievorschläge des Autors, die sich freilich
mit ernstzunehmenden kritischen Einwänden auseinander zu setzen
haben, sind ein Schritt in die richtige Richtung. Die Umsetzung der
konkreten Utopie „Minderjährigen-Wahlrecht“ in der von Merk
postulierten Weise lässt sich angesichts der demographischen
Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland bestimmt nicht auf
den St. Nimmerleinstag verschieben. Auch wenn die Zeit einer
Grundgesetzänderung in Richtung „Wahlalter Null“ noch nicht reif ist,
so scheint zumindest die Erkenntnis stetig zu wachsen, dass die
Interessen der nachrückenden Generationen nachhaltig und viel
konsequenter als bisher beachtet werden müssen. „Anderenfalls wird
sich eine andere Einsicht Bahn brechen, nämlich die, dass eine
Generation, die keine Vor-Sicht walten ließ, später auch keine RückSicht erwarten darf“ (S. 183). Die Lektüre der gut lesbaren
Habilitationsschrift dürfte zu wichtigen Ein-Sichten führen. Ein
zeitgemäßer Politikunterricht kann davon sehr profitieren.
- 104 -
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE
Siegfried Grillmeyer /
Zeno Ackermann (Hrsg.):
Erinnern für die Zukunft
Die nationalsozialistische Vergangenheit als Lernfeld der
politischen Jugendbildung.
Wochenschau Verlag 2002, kart. 230 Seiten
Rezension von Hagen Weiler
Dem prägnanten Obertitel werden nach meiner Kritik nur vier der
insgesamt 15 Beiträge gerecht. Zunächst ist deren insgesamt
thematisch verbindendes Konzept dem "Einstieg" des ersten
Herausgebers Grillmeyer nicht zu entnehmen. Bereits die Gliederung
in fünf Abteilungen überzeugt mich nicht: Warum z.B.
"Erfahrungsberichte aus der Praxis" und "Erfahrungsberichte und
Praxisvorschläge" unterschieden werden, wird nicht erklärt. Nach
meiner Kritik wäre eine Dreiteilung angemessener gewesen, nämlich:

"Allgemeine Fragen und Hintergründe"

"Erfahrungsberichte aus der Praxis"

"Zugänge im Archiv".
Weiter zu kritisieren habe ich die mehr als nur graduellen NiveauUnterschiede der einzelnen Beiträge, d.h. vor allem deren
überwiegende thematische Konzentrationsmängel. Nach diesem
Maßstab habe ich nur vier Aufsätze - uneingeschränkt - zu loben:
1.
Alexander Schmidt: "Sind Sie der Führer?" - Nationalsozialismus
als Thema von Stadtrundgängen (z.B. in Nürnberg).
2.
Zeno Ackermann: "Meine Schulzeit ist insgesamt eine gute
Erziehung zu Auschwitz gewesen". Schule im "Dritten Reich" als
Thema der außerschulischen Jugendbildung.
- 105 -
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE
3.
Harald Stockert: "Im Archiv der staubigen Akten wühlen" - Ein
lohnenswerter Weg für Schüler- und Jugendprojekte zum
Nationalsozialismus.
4.
Axel Hof: "Hitler im Schwimmbad" - Ein Seminarkonzept zur
Aufarbeitung
der
Opfer-Täter-Problematik
während
der
konsolidierten NS-Gewaltherrschaft in den Jahren 1933 - 1938.
In diesen Beiträgen spiegeln sich repräsentativ souveräne
Quellenverarbeitung,
Verdichtung
und
Vertiefung
geschichtswissenschaftlicher und -didaktischer Diskussionen sowie
instruktiv weiterführende Veranschaulichungen.
Im Vergleich dazu erscheinen die sonstigen Beiträge tendenziell als
negative Gegenbeispiele. Diese lassen sich unter zwei Aspekten
pointiert gliedern:
a) Bereits von ihrem Ansatz her verfehlte Versuche, aus heutiger
Perspektive "gruppendynamisch" Jugendliche danach zu befragen,
wie sie sich im Nationalsozialismus verhalten hätten bzw. hätten
verhalten sollen. Ein signifikantes Beispiel präsentiert - ohne
irgendeine kritische Distanz - Markus Köster: "Aus der Geschichte
lernen?! - Ein historisch-politisches Seminarprojekt mit Besuch
einer KZ-Gedenkstätte" (S. 70-88, 75), der den Teilnehmern im
Anschluss an den Film "Schindlers Liste" die "Frage" bzw.
"Sehhilfe" an die Hand gibt: "Wie hätte ich an Schindlers / Göths (=
Kommandant des Konzentrationslagers) Stelle gehandelt?"
b) Erfahrungsaustausch und Praxisvorschläge, die kaum über
berichtende,
mehr
oder
weniger
gegenständlich-formale
Schematisierungen von Unterrichtsmodellen hinauskommen.
Ein
signifikantes
Beispiel
für
deren
schuladministrative
Beurteilungskriterien präsentiert der "Fachbetreuer" (= Seminarleiter?)
und führendes (?) Mitglied im Bayerischen Philologenverband (vgl. S.
227) Claus Zernetschky: "Kooperation
von
Schule und
außerschulischen Einrichtungen - Harmonisierung von Lehrplänen und
Seminarprojekten" (S. 40-59, 48f., 52f.):
- 106 -
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE

"... Geschichte ... soll zum Aufbau eines Wertebewusstseins
beitragen ..."

"... die eingesetzten Methoden müssen eine ... möglichst
mathematisch berechenbare Beurteilung des Schülers möglich
machen ..."

"Am Ende muss dann doch die Ausfrage, das Extemporale oder
eben die Schulaufgabe entscheiden ..."
Leider hat der erste Herausgeber Grillmeyer in seinem Einstieg (S. 36)
keinen namentlichen Bezug vorgenommen:
"Muss also grundsätzlich festgehalten werden, dass der Ausstieg aus
rein lehrerzentrierten Unterrichtsmodellen und die Einführung "offener"
Formen der Vermittlung selbst Teil jenes umfassenden "Programms"
sind, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten ..."
Zwar hält der Rezensent selbst einen derartigen Bezug für völlig
inadäquat. Dennoch sollte als Resümee festgehalten werden:
"Gruppendynamische Rollenspiele" und "mathematisch berechenbare
Beurteilungen ... wertebewusst ausgefragter Schüler" verfehlen
gleichermaßen das notwendige geschichtliche "Erinnern der
nationalsozialistischen Vergangenheit" für die Zukunft der Schüler.
http://www.wochenschau-verlag.de
- 107 -
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE
Uta Klein / Dietrich Thränhardt (Hrsg.):
Gewaltspirale ohne Ende?
Konfliktstrukturen und Friedenschancen im Nahen
Osten.
Schwalbach 2002, Wochenschauverlag, 250 S.
Rezension von Wilhelm Wortmann
Wer immer für den Unterricht, ein Einführungsseminar oder einen
Volkshochschulkurs prägnante und informationsreiche erste
Orientierungen im verwirrenden und widerstreitenden Feld des
Nahostkonfliktes sucht, wird mit diesen Beiträgen einer Ringvorlesung
der Universität Münster hervorragend bedient.
Erschienen ist das Buch als 37. Band in der Schriftenreihe des
Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten
(DIAK), der sich aber in gleicher Weise auch für die palästinensischarabische Perspektive verpflichtet fühlt.
Bei aller unterschiedlichen Herkunft der Autorinnen und Autoren, sind
sie sich über die Friedenslösung in dieser Region im wesentlichen
einig: die gesicherte Existenz des Nebeneinanders eines israelischen
und eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967.
Dass diese klare Sicht zum einen nicht von den extremistischen
Gruppierungen beider Seiten geteilt wird und zum anderen nicht die
logische und konsequente Umsetzung in Realität gewährleistet, ist
den einzelnen Artikeln und ihren Themenbereichen zu entnehmen.
Welche Rolle in dem gesamten Konflikt der verhängnisvollen
„Symbolischen Aufladung“ immer wieder zukommt, wird vor allem am
Paradefall der verunglückten Camp David Verhandlungen
erschreckend deutlich.
Auf Hintergründe des Nahostkonfliktes verweisen Karin Aggestam
(Oslo-Verhandlungen),
Mosche
Zimmermann
(zionistisches
Selbstverständnis in der israelischen Gesellschaft), Uta Klein (Militär in
- 108 -
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE
Israel), sowie Margret Johannsen (Rüstung) und Alexander Flores
(Islam, Islamismus, Nationalismus).
Welche Interessen und welche (unklaren) Politiken die USA und die
Europäische Union verfolgen, stellen Volker Perthes und Christian
Sterzing dar.
Von Helga Baumgarten kommt eine Auseinandersetzung um
Demokratie und autoritärer Herrschaft im palästinensischen Bereich
unter dem Stichwort: Transformationsforschung.
Neben Beiträgen über die Funktion des palästinensischen
Filmschaffens und dem immer wieder „Trotzdem“ – Dialog zwischen
Israelis (Peace Now) und Arabern wird in kundiger Weise auf die
Bevölkerungsproblematik
(D.
Thränhardt),
die
Landund
Siedlungssituation und die Frage der Verteilung der Ressource
Wasser (R. Robert) eingegangen.
Literaturangaben, Graphiken und Skizzen veranschaulichen die
Ausführungen.
Auf diesen Grundlagen lassen sich sachliche Vertiefungen,
Problemerörterungen und Verständnis für die regionale, aber auch die
globale Konfliktbewältigungssituation sehr solide aufbauen und
entwickeln.
- 109 -
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE
Fatima Mernissi:
Islam und Demokratie. Die Angst vor der
Moderne.
Verlag Herder, Freiburg 2002, 254 S.
Rezension von Wilhelm Wortmann
Es geht in dieser so lesenswerten Abhandlung der marokkanischen
Soziologin um das Problem, welcher Art die Grundlage islamischer
Identität in der Moderne sein kann.
An zentraler Stelle schreibt Fatima Mernissi in ihrer nicht nur
wissenschaftlichen, sondern auch essayistisch temperamentvollen
Weise: Die Demokratie ähnelt dem ... Schiff, das auf dem Fluss der
Zeit schwimmt und uns zwingt, dem ins Auge zu schauen, was bisher
in unserer muslimischen Kultur scheinbar das Undenkbare war: ...
Vernunft und individuelle Meinung. Von Anfang an haben Muslime ihr
Leben geopfert, um die bis heute ungelöste Frage zu beantworten:
gehorchen oder überlegen, glauben oder denken" (S. 44).
Das Konzept des Individuums und seiner Freiheit sei nicht das
alleinige Eigentum des Westens, es gehöre auch zur muslimischarabischen Tradition, „nur ging dies immer wieder in Blutbädern unter“.
Ausgehend vom 11. September beobachtet Fatima Mernissi auf der
einen Seite die wachsende Unsicherheit, das Misstrauen des Westen
gegenüber der muslimisch-arabischen Welt bis hin zur Vermischung
mit den Ängsten vor dem Terrorismus und auf der anderen Seite weiß
sie von den Ängsten, den Vorbehalten und den Abneigungen der
Araber gegenüber der westlichen, säkularen, der „unmoralischen“
Moderne.
In ihrem Buch ist daher das Wort „Angst“ der Schlüsselbegriff. Die
Kapitel lauten: die Angst vor dem fremden Westen, ... vor der
Demokratie, ... vor der Gedankenfreiheit, ... vor Vergangenheit und
Gegenwart. Für sie gibt es zwei Texte, die gegenwärtig den
Antagonismus Demokratie - Islam ausmachen: die Charta der
- 110 -
REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE
Vereinten Nationen (von der Mehrheit der islamischen Staaten
unterschrieben) und den Koran (die Wahrheit, das Gebot schlechthin).
Beide haben für die muslimische Welt Gesetzescharakter, die
einander aber widersprechen. „Ein Gesetz, das den Bürgern
Gedankenfreiheit verspricht und eine Scharia, die sie verurteilt
...“(S.95).
Wie und auf welchem Wege wird die arabisch-muslimische Welt
diesen inneren Konflikt meistern: einerseits eine unausweichliche
Moderne, die nicht nur technologisch zu verstehen ist, Mernissi spricht
vom unumkehrbaren Trend zur Demokratisierung (S.21), andererseits
eine unverwechselbare eigengeartete kulturelle und gesellschaftliche
Identität.
Ihre Hoffnung setzt die Professorin an der Universität Rabat auf die
junge und aufbegehrende Generation in Verbindung mit der
„satanischen Satellitenschüssel“ und auf die Frauen in ihrem
„Aufbruch in die Freiheit“, wie es herausfordernd in ihrem
Abschlusskapitel heißt.
Letztlich geht es ihr um die Auseinandersetzung, um den Kampf mit
der traditional bis fundamentalistisch besetzten Angst der Männer vor
den Frauen, die es ja auch in anderen Kulturbereichen geben soll.
Wer sich mit der arabischen und überwiegend islamisch geprägten
Geschichte und Gesellschaft des Orients befasst hat, wird mit Hilfe der
Lektüre dieses Buches sehr wertvolle und vielschichtige Einsichten in
Denken, Fühlen, Ängste und Hoffnungen der arabischen Welt und
einer Araberin gewinnen.
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REZENSIONEN, NACHRICHTEN, VERANSTALTUNGEN, TERMINE
9. Bundeskongress für politische Bildung
Vom 6. bis 8. März 2003 findet in Braunschweig der 9. Bundeskongress für politische Bildung statt, den die Bundeszentrale für
politische Bildung mit der Deutschen Vereinigung für politische Bildung
gemeinsam veranstaltet. Das Thema lautet "Dialog der Kulturen –
Politik, Gerechtigkeit, Menschenrechte".
Das Programm kann unter www.bpb.de eingesehen werden.
Anmeldungen sind zu richten an
CTS text-line
Agentur für Kommunikation in Wissenschaft und Politik
z. H. Frau Christiane Toyka-Seid
Königswinterer Straße 5
53639 Königswinter
Fax: (0 22 44) 92 27 35
E-mail: [email protected]
Lehrkräfte aus Niedersachsen, die
rechtzeitig Sonderurlaub beantragen.
teilnehmen
wollen,
sollten
11. Politiklehrertag des Landesverbandes Niedersachsen
Am 24. September 2003 findet in Hannover der 11. Politiklehrertag
statt mit dem Thema "Methoden im Politikunterricht". In bewährter
Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung wird es
am Vormittag eine Podiumsdiskussion geben, für die Frau Prof. Sibylle
Reinhardt, Halle, Herr Prof. Gotthard Breit, Magdeburg, Herr Prof.
Georg Weißeno, Karlsruhe, und Herr Prof. Grammes, Hamburg, ihre
Teilnahme bereits zugesagt haben.
Am Nachmittag werden zehn Arbeitsgruppen angeboten.
Das genaue Programm wird rechtzeitig vor den Sommerferien
veröffentlicht.
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NACHRUF
Nachruf
Wolfgang Hilligen
* 13. Mai 1916
13. Januar 2003
Wolfgang Hilligen ist, fast 87-jährig, am 13. Januar gestorben.
Wie kein anderer hat er die Entwicklung der politischen Bildung in der
Bundesrepublik geprägt: Als Verfasser didaktischer Werke hat er uns
gezeigt, "worauf es ankommt" (1961), als Autor eines inzwischen
legendären Schulbuches lernten Generationen von Schülerinnen und
Schülern "sehen - beurteilen - handeln" (Kl. 5/6: 1. Aufl. 1957, Kl. 79/10: 1. Aufl. 1960), als Hochschullehrer an der Universität Gießen
bildete er über Jahrzehnte Politiklehrerinnen und Politiklehrer aus und
inspirierte so die Praxis des Politikunterrichts - der allerdings lange
Zeit Sozialkunde oder - in der gymnasialen Oberstufe Gemeinschaftskunde hieß.
Diese eher unpolitische Kunde war Wolfgang Hilligens Anliegen nicht,
er sprach vielmehr von Herausforderungen, von "existentiellen
Fragestellungen", von denen der politische Unterricht ausgehen
müsse. Sie bilden die Kriterien für die Auswahl der Inhalte, sie
erschließen den Zugang zum Verstehen der Wirklichkeit und sie
enthalten sowohl Gefahren als auch Chancen. Unter anderem diese
Ambivalenz zeigt die möglichen Alternativen im politischen Handeln,
zeigt die Notwendigkeit zielgeleiteten politischen Handelns für ein
"menschenwürdiges Zusammenleben". Für Hilligen zielt die Didaktik
folglich "auf Existentielles; sie ist die Spezialwissenschaft für das, was
von so allgemeiner Bedeutung für das Leben ist, dass man es lernen
muss" (Zur Didaktik des politischen Unterrichts, erstmals 1975, 1985
in 4., völlig überarbeiteter Auflage erschienen, hier S. 23).
Schon früh hat sich Wolfgang Hilligen in der Diskussion um die
Politische Bildung zu Wort gemeldet - in einer Zeit, als noch
überwiegend mit "Partnerschaft" im Sinne Friedrich Oetingers (d.i.
Theodor Wilhelm) einer unpolitischen politischen Bildung das Wort
geredet wurde. In "Plan und Wirklichkeit" (1955) konstatierte er, dass
nur die Diagnose der pädagogischen Wirklichkeit den Ansatz zur
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NACHRUF
Fortentwicklung geben könne, hatte er doch zuvor diese Wirklichkeit
an hessischen Schulen empirisch erforscht. Seine Folgerungen für
einen
Lehrplan
deuteten
schon
die
später
formulierten
Herausforderungen an: etwa, wenn er auf die gesellschaftlichen
Faktoren verweist, die das Handeln des Einzelnen beeinflussen.
Als sich in der Curriculum-Debatte der 70er Jahre die Gestaltung des
Verhältnisses der Schulfächer Geographie, Geschichte und
Sozialkunde (Politik) als ein ungelöstes Problem erwies, plädierte
Hilligen dafür, dass "von jedem und in jedem der beiden Fächer
(Sozialkunde und Geschichte) [...] auch die Sicht- und Frageweise des
anderen vermittelt und gepflegt werden" müsse. "Ohne historische
Methoden und Fragestellungen können Lernende nicht die
Einzigartigkeit von Personen und Ereignissen erfahren und nicht
verstehen, warum Menschen je verschieden sind; ohne systematische
synchronische (die Zeiten zusammenschauende) Methoden und
Betrachtungen können sie nicht erkennen, was an den Menschen
menschlich ist und welchen vergleichbaren Aufgaben sie sich trotz
aller Andersartigkeit der Bedingungen je gegenübergestellt sehen" (im
Lehrerhandbuch zu: Sehen - Beurteilen - Handeln, Frankfurt/M. 1979;
S. 18).
Hilligens didaktische Positionen oder Zugänge, wie er selbst sie nennt,
fanden
Eingang
in
die
verschiedenen
niedersächsischen
Rahmenrichtlinien der 90er Jahre und in Schulbücher für den
Politikunterricht wie das dreibändige "Politikbuch", das Mitte der 90er
Jahre die Nachfolge von "Sehen - Beurteilen - Handeln" antrat und
von ihm ausdrücklich begrüßt wurde.
Auch die "Politische Bildung nach der Vereinigung der beiden
deutschen Staaten" hat ihn beschäftigt und zum Engagement
herausgefordert, wie seine "Didaktischen Zugänge", ein Band in der
"Kleinen Reihe" zur Didaktik und Methodik der politischen Bildung"
(1991) zeigen. Und nicht zuletzt mit seinen Vorträgen half er den
Lehrerinnen und Lehrern der ehemaligen DDR, den Wechsel von der
Staatsbürgerkunde zum Politikunterricht sinnvoll gestalten zu können.
Sie haben, wie wir alle, Wolfgang Hilligen viel zu verdanken.
Renate Fricke-Finkelnburg
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NACHRUF
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DVPB-INTERN
VI
DVPB-INTERN
Bericht über die Mitgliederversammlung
am 4. September 2002
Der Vorsitzende, Dr. Hans-Joachim Fichtner, berichtete wie folgt über
die Aktivitäten des Vorstandes:
1. Bundesvorstand: Niedersachsen war bei den erweiterten
Bundesvorstandssitzungen
durch
den
Landesvorsitzenden
vertreten (28.10.2000 in Erfurt, 24./25.11.2001 in Berlin)
2. Landesvorstand: 9 Sitzungen; von ursprünglich 18 Mitgliedern
sind i.d.R. 10 - 12 Mitglieder anwesend. Prof. Dr. Janssen und
Frau Thiele haben sich im Herbst 2001 aus der Vorstandsarbeit
zurückgezogen.
3. Kontakte
im
politischen
Raum:
Gespräche
mit
Landtagspräsident Prof. Wernstedt (31.10.00, 11.5.01, 6.8.02),
Kultusministerin
Jürgens-Pieper
(22.11.00),
CDUFraktionsvorsitzendem Wulff (10.5.01), Dr. Domröse, MdL (SPD),
Frau Litfin, MdL (B'90/Die Grünen), Frau Vogelsang, MdL (CDU)
am 11.5.01. - Diverse Besprechungen mit Mitarbeitern der
Landeszentrale für politische Bildung und der Landtagsverwaltung.
4. Politiklehrertage: 9. Politiklehrertag am 12.9.2001 in der
Universität Hannover (Thema: "Mehr ökonomische Bildung in der
Schule!?"); 10. Politiklehrertag am 4.9.2002 im Niedersächsischen
Landtag (Thema: "Schülerinnen und Schüler machen Politik").
Ideelle und materielle Unterstützung durch den Niedersächsischen
Landtag, die Niedersächsische Landeszentrale für politische
Bildung, die Zentrale Einrichtung für Weiterbildung der Universität
Hannover, "n-21: Schulen in Niedersachsen online".
5. Veranstaltungen (z.T. auf regionaler Ebene und mit
Kooperationspartnern):
Landtags-Workshop
am
11.5.01,
Arbeitstagung "Neue Wege für den Politikunterricht" am 30.10.01 in
der Leibnizschule Hannover, Arbeitstagung "Implementierung
multimedialer Methoden im Fach Gesellschaftslehre" am 14.2.02 in
Garbsen
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DVPB-INTERN
(Hans-Rudi Bratschke), Beteiligung an der Podiumsdiskussion
"Erinnerung bedeutet Zukunft - die junge Generation und der
Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus" am 3.2.02 in
Hannover (Hans-Joachim Fichtner), Beteiligung an der Tagung zur
Fachdidaktik Politik am 14.2.2002 im Leibnizhaus (Wilhelm
Wortmann), Veranstaltungsreihe über Rechtsextremismus im
Frühjahr
2002
in
Lingen
(Stefan
Nolting),
regionale
Lehrerfortbildungen mit DVPB-Beteiligung.
6. DVPB-Homepage
(www.dvpb-nds.de):
Gestaltung
durch
Webmaster Jürgen Westphal. Seit dem Start im März 2001 mehr
als 6.500 Besuche; die Zahl der Hits, also Auflistung von
Suchvorgängen, liegt bei 120.000.
7. "POLITIK
UNTERRICHTEN":
Unsere
niedersächsische
Verbandszeitschrift erscheint i.d.R. zweimal im Jahr. Redaktion:
Albrecht Pohle.
8. Mitgliedschaft: Die Zahl der Mitglieder liegt weiterhin bei 300. Der
Mitgliedsbeitrag beträgt 30 € / Kalenderjahr; Schüler/innen,
Auszubildende, Studierende sowie Referendarinnen und
Referendare zahlen 6 € / Kalenderjahr.
Nach einer Aussprache und der Entlastung des alten Vorstandes
wurde ein neuer gewählt:
1. Vorsitzender: Dr. Hans-Joachim Fichtner, Burgwedel
Stellvertreter:
Dr. Michael Bax, Hannover
Schatzmeister:
Roland Freitag, Hagenburg
Beisitzer:
Bernhard Bock, Hannover
Hans-Rudi Bratschke, Hannover
Bernd Lange, MdEP, Burgdorf
Bernd Leithold, Bad Münder
Stefan Nolting, Lingen
Henrik Peitsch, Hagen
Albrecht Pohle, Gehrden
Hans-Ulrich Reinke, Braunschweig
Hans-Joachim Rödiger-Usselmann, Burgwedel
Jürgen Westphal, Melle
Dr. Peter Wollenweber, Braunschweig
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DVPB-INTERN
Dr. Wilhelm Wortmann, Barsinghausen
Einen Geschäftsführer wählte die Mitgliederversammlung nicht.
Ein Antrag aus dem Kreis des Vorstandes, die DVPB möge beim
Kultusministerium vorstellig werden, damit der Erlass über den Besuch
von Politikerinnen und Politikern während des Wahlkampfes in
Schulen geändert werde, Schulen sollten selbst über solche
Veranstaltungen entscheiden können, wurde mit großer Mehrheit
angenommen.
Inzwischen liegt die Antwort aus dem Kultusministerium vor. Die
Initiative wird begrüßt, man wolle den Erlass nach der Landtagswahl
ändern.
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DVPB-INTERN
Beitrittserklärung
Hiermit erkläre ich meinen Beitritt zur Deutschen Vereinigung für
Politische Bildung e.V. Sie ist widerruflich ermächtigt, den
Jahresbeitrag von meinem Konto mittels Lastschrift einzuziehen.
Wenn mein Konto keine Deckung aufweist, besteht seitens des
kontoführenden Kreditinstituts keine Verpflichtung zur Einlösung.
Name:
Vorname:
Dienstbez.:
Interesse am
Bildungstyp:
GS
HS
RS
GY
BS
Primar
Sek. I
Sek. II
Erw.-Bildung
Straße:
PLZ / Ort:
Telefon:
Konto-Nr.:
BLZ:
bei:
30 Euro / Kalenderjahr
6 Euro / Kalenderjahr (Auszubildende, Schüler,
Referendare, Studenten)
Vorsitzender: Dr. Hans-Joachim Fichtner, Bahnhofstraße 4 b, 30938
Burgwedel,  05139 / 2233
DVPB-Niedersachsen, NordLB Braunschweig, BLZ 250 502 00,
Kto.-Nr. 1 583 970
- 119 -
VERZEICHNIS DER AUTOREN

Dr. Fritz Erich Anhelm
Direktor der Ev. Akademie
Loccum
31547 Rehburg-Loccum

Wolf D. Ahmed Aries
Mitglied des wissenschaftlichen
Beirats des Islamrates
Zum Hagenhor 13
33330 Gütersloh

Dr. Hans-Joachim Fichtner
Bahnhofstraße 4 b
30938 Burgwedel
 0 51 39 / 22 33

Prof. Dr. med Sami Hussein
Medizinische Hochschule
Hannover

Behrouz Khosrozadeh
Georg-August-Universität
Baurat-Gerber-Straße 4/6
37037 Göttingen

Albrecht Pohle
Moltkestraße 24
30989 Gehrden

Stefan Weigand
Referent für Öffentlichkeitsarbeit
Nds. Justizministerium
Am Waterlooplatz 1
30169 Hannover
Tel. (0511) 120 50 43

Dr. Dr. Hagen Weiler
Pädagogisches Seminar der
Georg-August-Universität
Baurat-Gerber-Straße 4/6
37073 Göttingen
 05 51 / 3994-61

Prof. Rolf Wernstedt
Präsident des Nds. Landtages

Dr. Wilhelm Wortmann
An der Krumbeeke 15
30890 Barsinghausen
 0 51 05 / 8 38 37

Hans-Dietrich Zeuschner
Ritterstraße 19
21335 Lüneburg
- 120 -
- 121 -
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