Wissenschaft und Glaube, Widerspruch oder Ergaenzung

Werbung
Eduard Gries
Neunkirchen, im April 2010
Wissenschaft und Glaube
Widerspruch oder Ergänzung?
I. Einleitung
Wer den, zugegeben immer auch hybriden Versuch unternimmt, sich mit den
Beziehungen von Wissenschaft und Glaube auseinander zu setzen, kommt an
dem Hinweis nicht vorbei, dass die bisher wohl bedeutendste Vorlesung hierzu
1937 von Max Planck in Leipzig gehalten wurde. Sie ist zweifellos in die
Geschichte der Wissenschaft eingegangen und löst die Frage aus, ob es
überhaupt angezeigt ist, dieses Thema heute noch einmal zu besprechen.
Die Überlegungen von Max Planck gipfeln in der These, dass Photonen, kleinste
Teile des Atoms, welche das Licht bilden, sich wie vernünftige Wesen
verhalten, weil sie unter allen möglichen Kurven stets diejenige auswählen, die
sie am schnellsten zum Ziel führt. Zweifellos ist sein Aufsatz, der vom Wunder
des Naturgeschehens handelt, geschaut, während bei der Relativitätstheorie
Einsteins die Spekulation an die Stelle der Idee tritt.
Allerdings hält Max Planck seine Position nicht bis zum Ende durch. Zwar
versucht er darzutun, dass Wissenschaft und Glaube sich nicht ausschließen,
zugleich ein souveränes Bekenntnis zur Toleranz. Beides bleibt jedoch
nebeneinander bestehen, während es doch eigentlich um eine Frage des
Ineinander geht. Planck geht nicht wirklich über Descartes hinaus, der Geist und
Materie nicht miteinander verbunden sieht. Elemente und Verstand existieren
unabhängig voneinander. Aber er war an einer anderen Sicht der Dinge nahe
dran, als er zum Begriff der Ursächlichkeit (causa efficiens), die aus der
Gegenwart in die Zukunft wirkt, die causa finales hinzu fügte, die ein
bestimmtes Ziel zur Voraussetzung macht, um daraus den Verlauf der Vorgänge
abzuleiten, die zu diesem Ziel hinführen.
Diese eingeschränkte Verbindung von Wissenschaft und Glaube, eher also ihr
Widerspruch als ihre Ergänzung ist es, die mich ermuntert hat, Euch dieses
Thema heute erneut anzubieten. Aber natürlich ist es auch mein Thema, das im
ausgelaufenen Jahr der Geisteswissenschaften 2007 Eberhard Schockenholt in
Freiburg mit dem Satz zusammenfasste: „Die Gottesfrage wohnt dem Menschen
inne.“ Wem dies als ein schon an dieser Stelle zu frühes Bekenntnis und als
Verletzung des Neutralitätsgebots erscheint, den möchte ich auf ein immer noch
gültiges Zitat des englischen Physikers James Jeans aus dem Jahr 1931
hinweisen: „Vom physikalischen Standpunkt aus ist die heraus stechende
Leistung der Physik des 20. Jahrhunderts die allgemeine Erkenntnis, dass wir
2
noch nicht in Berührung mit der letzten Wirklichkeit sind.“ Demnach stimmt
noch immer die Erkenntnis Platons: „Wir sind noch in der Höhle
eingeschlossen, mit dem Rücken zum Licht und können nur die Schatten an der
Wand beobachten.“
Ordnen wir nach dieser Einleitung unsere Gedanken ein wenig und fragen:
Besteht das bisherige Credo der Moderne zu Recht fort, das Darwin in einem
Brief so formulierte: „Ich kann mich nicht überzeugen, dass ein gütiger
allmächtiger Gott planvoll die Welt erschaffen hat und von Steven Hawking,
meines Wissens ohne wesentlichen Widerspruch seiner Kollegen der Physik, mit
der Bemerkung fortgeschrieben wird, dass wir den Plan Gottes bald in den
Händen haben werden?
Nun, das sieht in der Tat zunächst so aus. In keinem Zeitalter der
Weltgeschichte hat man so viel gewusst und so wenig geglaubt, wie in unseren
Tagen. Auf Anhieb scheint es, dass das Wissen den Glauben verdrängt hat und
die Wissenschaft Teil der Religion geworden ist. In dem selben Maße, in der die
Wissenschaft die Welt auf so genannte natürliche Weise zu erklären glaubt und
sie mittels der Technik sinnvoll zu gestalten hilft, wird Gott als moralische,
politische und pragmatische Arbeitshypothese scheinbar überflüssig. An die
Stelle der göttlichen Vorsehung tritt die rationale Planung, an die Stelle der
Hilfe von oben der Katastrophenschutz und die Unterwelt wird durch die
Psychotherapie ersetzt. Je mehr wir von der unermesslichen Weite der
Milchstraße und unseres Sonnensystems erfahren, umso größer wird die
Wohnungsnot Gottes. Die Hinweise der Theologie weichen der Stratosphäre der
Astronomen. In einer Welt des scheinbar unbegrenzt Machbaren wird der Gott
der Bibel arbeitslos.
Auch die Rolle des Menschen selbst hat sich verändert. Nicht länger mehr ist er
die Krone der Schöpfung, sondern aus ihrem Mittelpunkt weg gerollt. Der
Psychoanalytiker Freud und der Philosoph Günther Anders sprechen von den
drei Kränkungen, die uns zugefügt werden. Wir können uns inzwischen als
Spezies selbst vernichten. Regelmäßig hält die Welt den Atem an, wenn ein
atomarer Konflikt näher rückt. Die Astronauten sehen die Erde nicht mehr als
unsere Welt, sondern als Planeten. Regelmäßig erfahren wir von BILD, dass
unser Planet wegen der herauf dämmernden Klimakatastrophe bald untergeht.
Slooterdijk, ohne den heute kaum noch etwas geht, wenn man aktiv und
erfolgreich an philosophischen Diskussionen teilnehmen will, setzt noch eins
drauf. Unter dem neuen Diktat der Hirnforschung, so sagen er und andere, ist
Vieles, ja sogar das meiste des heutigen Handelns unabänderlich programmiert,
in Genen begründet oder das Ergebnis frühkindlicher Einflüsse. Eine neue
Zeiteinteilung wird von ihm empfohlen. Nach dem Animismus und dem
Personalismus leben wir jetzt im Zeitalter des Maschinismus. „Man muss
3
Kybernetiker werden, um Mensch bleiben zu können“, so lautet die heutige
Form der uns überlieferten Versuchung von Christus vor zweitausend Jahren in
der Wüste. Das einst als autonom verherrlichte Ich kann sich also offenbar nicht
mehr oder nur noch bedingt frei entscheiden, wenn es ein sittlich gutes Leben
führen will.
Das Ende der Moral und der von Picht voraus geahnte Titanismus der
Zivilisation scheinen damit eingeläutet. Werden ist nicht mehr Unwägbarkeit.
Werden bedeutet nicht mehr ohne weiteres, dass sich etwas zum Guten ändert.
Person ist nach allem kein Seins-, sondern nur noch ein Sachverhalt des
Bewusstseins. Menschen werden auswechselbar, zählbar und vergleichbar.
II. Physikalische und philosophische Facetten der Wirklichkeit
In dieser Situation der spirituellen Verarmung bietet die moderne theoretische
Physik den Versuch an, geistig seelische Zustände über spezifische Modelle
erklären zu wollen. Der Geist hat dann seine Basis auf der materiellen Ebene.
Geistig seelische Zustände stellen lediglich sekundäre Zustände dar, die keine
fundamentalen Eigenschaften haben. Die aus der kontrollierten Manipulation
von Atomen entstandene Nanotechnologie, von der angenommen wird, dass es
darüber keine Entwicklungsebenen mehr gibt, will auf Gehirnfunktionen
dezidiert atomar einwirken. „Computional Neugenetics“ ist eine neue
Forschungsrichtung, die im Rahmen der Nanotechnologie Gehirnfunktionen
mathematisch untersucht, um aufzeigen zu können, was auf atomarer Ebene
getan werden muss, funktionelle Störungen des Gehirns beheben zu können. Der
geistig seelische Bereich ist darin ausdrücklich eingeschlossen.
Aus physikalischer Sicht können wir dazu feststellen, dass die Frage einer
Verbindung von Materie und Geist zu allen Zeiten in vielen möglichen Facetten
diskutiert und untersucht wurde. Eine alle überzeugende Lösung wurde dabei
bisher nicht gefunden. Sicher ist aber ggf. eine derartige Verbindung auf der
nanotechnologischen Ebene, wie wir gleich noch hören werden, zu vermuten.
Auch ist es gewiss dringlich, an dem Problem zu arbeiten, denn im Rahmen
moderner Technologien wird schon in naher Zukunft auf Ebenen operiert
werden, auf der wahrscheinlich auch geistig seelische Zustände eine Basis
haben. Um abschätzen zu können, was wir bei solchen neuartigen
experimentellen Aktivitäten überhaupt tun, müssen wir mehr über den Ursprung
und Stellenwert des Geistes wissen sowie seinen Bezug zur Materie.
Fraglich ist jedoch der Anspruch der Physik, bei diesem Tun die Welt in vollem
Umfang beschreiben zu können. Nicht selten wird suggeriert, dass ein solcher
Wunsch und Traum erfüllbar ist. Dies liefe auf eine Beschreibung der
Wirklichkeit hinaus.
4
Gleich aus zwei Gründen ist das bedenklich:
Die neueren Entwicklungen in der Physik, insbesondere im Zusammenhang mit
der Quantentheorie machen deutlich, dass sich die objektive Existenz einer vom
Beobachter unabhängigen Wirklichkeit nicht aufrechterhalten lässt. Überhaupt
gibt es in der Quantentheorie Phänomene, die sich in keiner Weise mehr mit
unserem gewohnten Alltagsdenken verstehen lassen. Zum Beispiel können zwei
Teilchen so miteinander verwoben werden, dass die lokale Wirkung auf das
eine Teilchen ohne jede Zeitverzögerung vom anderen Teilchen mitempfunden
wird, obwohl beide Teilchen beliebig weit voneinander entfernt sein können.
Das andere Teilchen könnte sich sogar am anderen Ende des Universums
befinden, und zwar ohne, dass die uns bekannten Wechselwirkungsarten im
Spiel wären. Das erinnert stark an das, was gewöhnlich mit Telephatie
bezeichnet wird.
Verfolgen wir dieses Phänomen mit einiger intellektueller Anstrengung noch
etwas weiter:
Auch nach der Vollendung ihrer mathematischen Formulierung sind die
Begriffe der Quantentheorie nicht leicht zu akzeptieren. Schon die Versuche von
Rutherfords hatten gezeigt, dass Atome keine unzerstörbaren Festkörper,
sondern leerer Raum sind, in dem sich kleinste Teilchen bewegen und jetzt
erklärte die Quantentheorie, dass auch diese Teilchen keine Festkörper im Sinne
der klassischen Physik sind. Die subatomaren Einheiten der Materie sind sehr
abstrakte Gebilde mit einer doppelten Natur. Je nachdem wie wir sie ansehen,
erscheinen sie manchmal als Teilchen, manchmal als Wellen. Diese Doppelnatur
zeigt auch das Licht, das als elektromagnetische Schwingung oder Teilchen
auftreten kann.
Diese Eigenschaft von Materie und Licht ist recht seltsam. Es erscheint
unmöglich zu akzeptieren, dass irgendetwas gleichzeitig als Teilchen, d.h. ein
auf kleinstem Raum beschränktes Gebilde und eine Welle sein können, die sich
über weite Räume ausdehnt. Dieser Widerspruch ließ die meisten der Koan
ähnlichen Paradoxa entstehen, die schließlich zur Formulierung der
Quantentheorie führten.
Der offensichtliche Widerspruch zwischen dem Bild der Teilchen und Wellen ist
auf völlig unerwartete Weise gelöst worden, die allerdings die Grundlagen des
auch heute immer noch favorisierten mechanistischen Weltbildes von Newton in
Frage stellt, nämlich durch den Begriff der Realität der Materie.
Auf der subatomaren Ebene existiert Materie nicht mit Sicherheit an bestimmten
Orten, sondern zeigt eher „eine Tendenz zu existieren“. Atomare Vorgänge
laufen nicht mit Sicherheit zu definierten Zeiten und auf bestimmte Weise ab,
sondern zeigen eher „Tendenzen zu erscheinen“. In der Formalsprache der
5
Quantentheorie werden diese Tendenzen als Wahrscheinlichkeit ausgedrückt
und hängen mit mathematischen Größen zusammen, die die Form von Wellen
aufweisen. Daher können Partikel gleichzeitig Wellen sein. Sie sind keine
wirklichen „dreidimensionalen“ wie Schall- oder Wasserwellen. Sie sind
„Wahrscheinlichkeitswellen“, abstrakte mathematische Größen, mit allen
charakteristischen Eigen- schaften von Wellen. Sie geben über die
Wahrscheinlichkeit Auskunft, mit welcher die Teilchen an bestimmten Orten
und zu bestimmten Zeiten anzutreffen sind. Alle Gesetze der Atomphysik sind
in der Form dieser Wahrscheinlichkeit ausgedrückt. Wir können niemals einen
atomaren Vorgang mit Sicherheit voraussagen. Wir können nur sagen wie
wahrscheinlich sein Auftreten ist.
Die Quantentheorie hat somit die klassischen Begriffe von festen Körpern
zerstört. Auf der subatomaren Ebene lösen sich die Festkörper der klassischen
Physik in wellenartige Wahrscheinlichkeiten auf. Die Bilder stellen nicht die
Wahrscheinlichkeit von Dingen dar, sondern von Zusammenhängen. Eine
sorgfältige Untersuchung der Beobachtungsprozesse in der Atomphysik zeigt,
dass subatomare Teilchen keine Bedeutung als isolierte Gebilde haben, sondern
nur als Zusammenhang zwischen der Vorbereitung eines Experiments und der
darauf folgenden Messung zu verstehen sind.
Die Quantentheorie enthält somit die grundsätzliche Einheit des Universums.
Wenn wir in die Materie eindringen, zeigt uns die Natur keine isolierten
„Grundbausteine“, sondern erscheint eher als ein kompliziertes Gewebe von
Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Teilchen des Ganzen. Diese
Zusammenhänge schließen immer den Beobachter mit ein. Der menschliche
Beobachter bildet immer das Schlussglied in der Kette von
Beobachtungsvorgängen. Die Eigenschaften eines atomaren Objekts können nur
in Begriffen der Wechselwirkung von Objekt und Beobachter verstanden
werden. Das heißt, dass die klassische Vorstellung einer objektiven
Beschreibung der Natur nicht mehr gilt. Die Cartesianische Trennung von Ich
und Welt, von Beobachter und Beobachtetem, kann im atomaren Bereich nicht
durchgeführt werden. In der Atomphysik können wir nicht über die Natur
sprechen, ohne gleichzeitig über uns selbst zu sprechen. Max Planck ahnte diese
Zusammenhänge bereit 1937, aber er wusste sie noch nicht.
Fassen wir unseren Versuch des Verstehens dieser Vorgänge so zusammen und
beschreiben wir die Situation der heutigen Physik wie folgt: Einerseits lässt sich
die objektive Existenz einer vom Beobachter unabhängigen Wirklichkeit nicht
aufrechterhalten. Andererseits wir dennoch suggeriert, dass wir die absolute
Wahrheit, also „die letzten Gesetze“, bald in den Händen haben werden.
Schwerer noch wirkt auf diesen Anspruch der Umstand ein, dass der Mensch
nicht dazu ausersehen scheint, die absolute Wahrheit erkennen zu können, denn
die Verhaltens- und Evolutionsforschung hat uns ein Faktum offenbart, das
6
ernüchternd wirkt: Es besagt, dass sich der Mensch nach dem
Zweckmäßigkeitsprinzip entwickelt hat. Danach ging es in der Evolution primär
nicht darum, dass der Mensch zwischen wahr und unwahr, sondern zwischen
lebensfreundlichen und lebensfeindlichen Situationen unterscheiden kann.
Jedenfalls sollte das für die ersten evolutionären Phasen zutreffend sein, auf
denen alles Weitere aufbaut. Durch diese Strategie der Natur wird dem
Menschen ein für alle Mal der Blick auf das, was wir als absolute Wahrheit
bezeichnen, versperrt. Neuere Forschungsergebnisse, unter anderem aus der
Verhaltensforschung, legen diesen Schluss ausdrücklich nahe.
Aber nicht nur in der Physik werden wir bezüglich unserer
Wirklichkeitsauffassung zum Umdenken gezwungen. Denn auch bei der
Bewältigung zwischenmenschlicher Probleme kommt offensichtlich unsere
Vorstellung von dem ins Spiel, was wir Wirklichkeit nennen. So jedenfalls
behauptet das der Philosoph und Psychologe Paul Watzlawick. Nach ihm
stolpern Menschen deshalb immer wieder in Konflikte, weil sie davon ausgehen,
sich in einer objektiven Wirklichkeit zu befinden. So glaubt jeder die
Vorstellung des anderen zu kennen. Watzlawick fordert deshalb dazu auf, diesen
absoluten Standpunkt fallen zu lassen, denn nach ihm gibt es keine objektiv
erfassbare Wirklichkeit, sondern „nur“ individuelle, also beobachterabhängige
Realitäten. Danach lebt jeder Mensch in seiner eigenen selbst konstruierten
Wirklichkeit, was bedeutet, dass der Mensch einer gewissen Situation eine
bestimmte Bedeutung zuordnet.
Nicht nur in der Physik haben wir es also mit einer beobachterabhängigen
Wirklichkeit zu tun, sondern ebenso in der Konfliktforschung. Es liegt deshalb
nahe, diese Situation als eine allgemeine Eigenschaft aufzufassen. Dennoch, so
lässt sich einwenden, gibt es Dinge und Vorgänge, die alle Menschen in
gleichem Maße erleben, wie zum Beispiel einen Baum oder einen Regenguss,
die somit beobachterunabhängig und damit absolut gegeben zu sein scheinen.
Nur stimmt das nach übereinstimmender wissenschaftlicher Auffassung nicht.
Solche Konstanzeffekte treten nur deshalb auf, weil diese Dinge und Vorgänge
für alle Menschen in gleichem Maße wichtig sind.
Natürlich werden die Einflüsse der Evolution laufend weiter untersucht. In der
Vergangenheit war es das so genannte Termitenexperiment des Naturforschers
Eugene Marais, der nachwies, dass Termiten, wie Menschen, im Kopf über
einen Plan zum Bau einer Termitenburg verfügen, der sogar erfolgreich
telepatisch vermittelt wird, wenn die beiden Seiten des Baus durch eine große
Stahlplatte getrennt werden und die so genannten Rhine’schen Experimente, die
im Ergebnis die Vermutung nahe legen, dass einige Menschen über stärker
ausgeprägte telepatische Fähigkeiten verfügen, die allerdings an die der
Termiten nicht heranreichen. Nach allem erscheint Wirklichkeit eher als das,
was sich dem Menschen im Handeln erschließt.
7
Inzwischen werden diese Ergebnisse der Verhaltensforschung auch von der
Physik wahrgenommen. Sie muss das trotz des in der Physik schwierig
verlaufenden Umgangs mit nicht physikalischen Forschungsdisziplinen auch
tun, weil sie beansprucht, Aussagen über die Welt als Ganzes machen zu
können. Immerhin ist die Kosmologie ein Feld der Physik. Allerdings gibt es
noch immer einen entscheidenden Unterschied. Zwar kommt auch in der
herkömmlichen Quantentheorie der Begriff des Beobachters ins Spiel, aber nicht
in seiner spezifischen biologischen Struktur.
Vor diesem Hintergrund sollte man deshalb dem Begriff der Synchronizität , so
wie er auf der Grundlage von vielfältigen Erfahrungen von dem Psychologen C.
G. Jung formuliert wurde, mehr Bedeutung zukommen lassen. Nach Jung
spiegeln Sychronizitäten sinnvolle Zusammenhänge zwischen geistigen und
materiellen Zuständen wider, einem Zustand, dem wir uns nach den vorher
gehenden Überlegungen nähern. Hiernach sollte ein physikalisches Weltbild,
mit dem die materiellen Zustände außerhalb beschrieben werden, nicht vom
biologischen System losgelöst sein, also auch nicht von seinen geistigen
Eigenheiten, denn das physikalische Weltbild selbst ist ein geistiges Produkt.
Somit wird durchaus vorstellbar, dass es sinnvolle Zusammenhänge zwischen
geistigen und materiellen Zuständen gibt.
In einen derartigen Zusammenhang lassen sich dann auch unsere Ideen, Träume
und Visionen unterbringen, denen wir uns nicht mit etablierten Methoden
nähern können, weil wir sie nicht messen können. So gesehen selektiert die
Physik das Objektive vom Ganzen. Das Subjektive wird eliminiert, obwohl es
sich bei dem Subjektiven um unsicher erkennbare Tatbestände der Außenwelt
handeln kann. Jedenfalls legen die Prinzipien der Evaluation einen solchen
Standpunkt nahe.
Dieser Meinung ist auch Jung. Im Rahmen seiner Psychologie wird den
Archetypen (Urbilder) ein hoher Stellenwert beigemessen. Archetypen stellen
nach Jung Bestandteile des so genannten „kollektiven Unbewussten“ dar.
Danach wird das kollektive Unbewusste als eine Schicht aufgefasst, die tiefer
liegt als das „persönliche Unbewusste“. Die Dispositionen des kollektiven
Unbewussten sind die Archetypen bzw. Urbilder, die nach Jung unabhängig von
den individuellen Erfahrungen in Träumen, Fantasien usw. auftreten können,
denen stattdessen das Statut von Menschheitserfahrungen zukommt. Jung ist der
Ansicht, dass jedes Zeitalter dem kollektiven Unbewussten Elemente, Ebenen
und Strukturen hinzufügt, dass mit anderen Worten der Vorrat an Archetypen im
Grunde sukzessiv erweitert wird.
So gesehen, ist das kollektive Unbewusste mehr als nur ein evolutionäres
Überbleibsel eines früheren Geistes. Wenn dies so ist, dann liegt die
Möglichkeit nahe, dass die Informationen über Archetypen unbewusst von
außen nach innen in das Individuum fließen. Die Inhalte des kollektiven
8
Unbewussten können so mit einem überindividuellen Etwas gleichgesetzt
werden. Synchronizitäten, Archetypen und archetypischen Vorstellungen
können wir uns nähern, wenn wir den Tatbestand mit einbeziehen, dass dem
Menschen die eigentliche Realität verborgen bleibt und dass wir diese lediglich
in transformierter Darstellung erfahren.
Mit der konventionellen physikalischen Ordnung lassen sich diese
Überlegungen C. G. Jungs nicht verbinden und werden als Rückfall in
vorwissenschaftliche Zeiten gesehen. Lediglich Pauli, dessen Hauptthese es ist,
dass in der Natur eine gewisse kollektive Bewegung stattfindet, die nicht das
Resultat irgendeiner Kraft ist, nähert sich in seinen Theorien den Überlegungen
C.G. Jungs. Allerdings versteht er unter dem Begriff der Bewegung auf
Quantenebene etwas anderes als in der klassischen Physik. Er teilt diese
kollektive Bewegung in zwei Gruppen auf. Eine Gruppe, zu denen unter
anderem Elektronen und Protonen gehören, vollführen asymmetrische kollektive
Bewegungen, währen die andere Gruppe, für die Mesonen und Photonen typisch
sind, einer streng symmetrischen kollektiven Bewegung folgt.
Pauli entwickelte hieraus das Ausschließlichkeitsprinzip. Es besagt, dass Elektronen, die für die chemischen Eigenschaften in der Natur verantwortlich sind
und die einer asymmetrischen kollektiven Bewegung folgen, immer räumlich
voneinander getrennt bleiben. Das wirkt sich auf alle beteiligten Teilchen
gleichzeitig aus, weshalb man hier auch von Synchronizität spricht. Interessant
ist, dass dieser Ausschluss nicht durch irgendwelche Kräfte zwischen den
Teilchen bewirkt wird und daher kausal nicht erklärt werden kann. Das
Ausschließlichkeitsprinzip ist daher abstrakt im Charakter, weil wir uns nicht
vorstellen können, dass etwas ohne Zug- und Schubkräfte vor sich gehen kann,
die wir theoretisch mit dem Begriff der Wechselwirkung in den Griff
bekommen, die aber eigentlich nur in den Vorstellungen des Alltags ihre
Wechselwirkung haben.
Auf der Quantenebene reichen diese Alltagsvorstellungen jedoch nicht mehr
aus, um das Wesen des Universums verstehen zu können. So stellt auch Paulis
Ausschließlichkeitsprinzip eine ganz neue Qualität dar, die das Verhalten der
Teilchen auf nicht kausale Weise wesentlich mitbestimmt. Ohne dieses Prinzip,
für das Pauli 1945 den Nobelpreis für theoretische Physik bekam, wäre der
Kosmos als Ganzes eigenschaftslos und ohne Leben in der uns bekannten Form.
Bilden wir aus den Überlegungen des zweiten Teils jetzt ein Resümee, ohne aus
Zeitgründen noch auf andere Phänomene in der Physik wie die Serialität, die
Vielwelttheorie und die Beziehung zwischen Raum, Zeit und Wirklichkeit
einzugehen.
Die Physik befasst sich ausschließlich mit Naturphänomenen, die eindeutig
reproduzierbar sind, und zwar ganz unabhängig vom Beobachter. Die Welt ist
9
zwar im Rahmen der zurzeit als Maßstab geltenden Kopenhagener Interpretation
der Quantentheorie vom Beobachter abhängig, aber „nur“ in der Eigenschaft des
Wirklichkeitsbeschaffers und nicht bezüglich der Messwerte selbst. Tatbestände,
wie Ideen, Visionen, Träume, „Zeit versetzte“ Beobachtungen oder auch
ungewöhnliche Informationsübertragungen genügen dem strengen Maßstab der
Physik nicht. Diese Aufteilung bedeutet letztlich nichts anderes als die
Aufteilung unseres Weltverständnisses in Materialismus und Aberlauben. Noch
immer sind es also die Auswirkungen der von Newton 1643 – 1727 entwickelten
mechanistischen Feldtheorien, der Einstein zwar mit seiner Relativitätstheorie
Grenzen aufzeigte, die trotzdem das heutige praktische Handeln der Physik zu
bestimmen scheinen.
Das ist eine erstaunliche Position, weil die Physik, wie dargestellt, keineswegs
frei von Metaphysik ist. Schon der Begriff der Elementarteilchen, mit dem man
die Vorstellung verbindet, dass sich Materie aus „letzten Bausteinen“
zusammensetzt, ist der physikalischen Erfahrung nicht zugänglich und muss
daher als metaphysisch eingestuft werden. Verstärken wir gedanklich diese
Tatsache mit der These, dass es wohl vermessen wäre zu behaupten, dass uns
die Physik jemals eine sichere und endgültige Vorstellung von der Welt
vermitteln wird. Dieser Glaube basiert auf der Annahme, dass es einen
kontinuierlichen Prozess gibt, in dem sich das endgültige physikalische Gesetz
entwickelt, dass aus grobkörnigen Strukturen besteht, die fortlaufend verfeinert
und aufgefüllt werden.
Diese Annahme einer sukzessiven Annäherung oder nach deterministischen
Prinzipien einer Differenzialgleichung ablaufenden Welt ist
wissenschaftstheoretisch nicht haltbar. Denn die Analyse von aufeinander
folgenden Theorien zeigt, dass in den jeweils späteren Theorien im Allgemeinen
nicht nur ergänzt bzw. verfeinert wird, sondern dass bis hin zu den ersten
Prinzipien Korrekturen vorgenommen werden. Das kann weitgehende
Konsequenzen haben, denn Dinge können kommen und gehen. Welche Dinge
vorliegen, hängt ganz von der gerade vorliegenden Theorie ab, die dann auch
das festlegt, was gemessen werden soll. Denn erst auf dieser Grundlage einer
physikalischen Theorie kann festgelegt werden, welche Entitäten existieren
können und welche nicht, und wie sich diese verhalten. Nach allem kann die
Physik nicht unbedingt als fester Maßstab dienen. Es ist zu empfehlen, zwischen
„realer Existenz“ und „subjektivem Eindruck“ zu unterscheiden. Eine Art
„Weltprinzip“ der Physik scheint es nicht zu geben. Physik in ihrem heutigen
Anliegen ist nur Partialwissenschaft.
Nach allem kann nicht ausgeschlossen werden, dass in Wirklichkeit die von uns
heute unterstellte Kluft zwischen Messbarem und Unmessbarem, zwischen
Geschaffenem und Erschaffenem, zwischen Physik und Metaphysik inexistent
ist. Es scheint, als sei bisher nur der physikalische Schlüssel nicht gefunden, der
10
nachweist, dass die fassbare und die unfassbare Natur, die reale und die ihr
immanente, transzendente Welt zusammen ein Ganzes bilden.
Unsere Untersuchung zeigt, dass wahrscheinlich doch alle Natur
Durchdringungsbereich von Physik und Metaphysik ist.
III. Physik und östliche Mystik
Folgen wir den heute wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen so entstammt
unser Universum vom Ursprung her dem Nichts und wird einst auch wieder in
dieses Nichts zurückkehren. Darum überrascht es nicht, dass die Energiebilanz
des Universums Null beträgt. Zwangsläufig löst dies die Frage aus, wie es dann
überhaupt möglich war, dass aus diesem Nichts die Realität unseres Universums
entstehen konnte, die sinnvoller Gesetzmäßigkeit folgt. Einstein empfiehlt aus
physikalischer Sicht, dieses Geschehen ablaufmäßig zu erfassen. Er wusste
schon, dass die Wirklichkeit, die unabhängig vom Beobachter existiert, nicht in
das Verhältnis von Raum und Zeit eingebettet ist, sondern auf dieses Verhältnis
projiziert ist.
Wir sollten jedoch vom Anliegen unseres Themas her auch fragen, ob wir nicht
auch von einem immateriellen Geschehen ausgehen müssen. Besteht doch
zwischen dem willensorientierten Ergreifen der Natur über Verstand und
Intellekt und ihrer Selbstoffenbarung ein wesensbedingter tiefer Unterschied.
Gleich drei bedeutende Physiker weisen in diesem Zusammenhang darauf hin,
dass die Begriffe der modernen Physik überraschende Parallelitäten zu den
Vorstellungen haben, die in den religiös-philosophischen Systemen des Fernen
Ostens zum Ausdruck kommen. Dafür drei Zitate als Beispiele:

Die allgemeinen Vorstellungen über die menschliche Erkenntnis…, wie sie durch die
Entdeckungen der Atomphysik anschaulich werden, sind nicht ganz fremd oder unerhört.
Sogar in unserer eigenen Kultur haben sie ihre Geschichte und im buddhistischen oder
hinduistischen Denken nehmen sie einen noch bedeutenderen Platz ein. Sie setzen Beispiele,
bestätigen und verfeinern die alte Weisheit.
Julius Robert Oppenheimer
1954

Um zur Lehre der Atomtheorie eine Parallele zu finden… müssen wir uns den Problemen der
schriftlichen Überlieferung zuwenden, mit denen sich Denker wie Buddha und Laotse
auseinandersetzen, wenn wir einen Ausgleich schaffen wollen zwischen unserer Position als
Zuschauer und Akteure im großen Drama des Dasein.
Niels Bohr 1958

Zum Beispiel könnte der große wissenschaftliche Beitrag in der theoretischen Physik, der seit
dem letzten Krieg von Japan geleistet worden ist, als Anzeichen für gewisse Beziehungen
11
zwischen den überlieferten Ideen des Fernen Ostens und der philosophischen Substanz der
Quantentheorie angesehen werden.
Werner Heisenberg 1973
Wir werden sehen, wie die beiden Fundamente der Physik des zwanzigsten
Jahrhunderts -Quantentheorie und Relativitätstheorie- uns zwingen, die Welt auf
sehr ähnliche Weise zu sehen, wie ein Hindu, Buddhist oder Taoist sie sieht, und
wie sich diese Ähnlichkeit noch verstärkt, wenn wir die Versuche betrachten,
diese beiden Theorien zu kombinieren: die Eigenschaften und
Wechselwirkungen subatomarer Teilchen, aus denen sich jede Materie
zusammensetzt. Hier sind die Parallelen zwischen moderner Physik und
östlicher Mystik am auffallendsten. Wir kennen Aussagen, die es fast unmöglich
machen zu sagen, ob sie von Physikern oder östlichen Mystikern gemacht
wurden.
Mit östlicher Mystik meine ich die religiösen Traditionen des Hinduismus,
Buddhismus und Taoismus. Obwohl diese eine große Anzahl subtil miteinander
verwobener geistiger Disziplinen und philosophischer Systeme umfassen, sind
die Grundzüge ihrer Weltanschauung die gleichen. Diese Ansicht ist nicht auf
den Osten beschränkt. Man findet sie bis zu einem gewissen Grad in allen
mystisch orientierten Philosophien.
Nur auf den ersten Blick ist diese Parallelität zwischen Physik und Mystik
erstaunlich. Die Wurzeln der Physik, wie die aller westlichen Wissenschaften,
reichen in die erste Periode der griechischen Philosophie im sechsten
Jahrhundert v. Chr. zurück, in eine Kultur, in der Naturwissenschaften,
Philosophie und Religion noch nicht getrennt waren. Die Weisen der
Milesischen Schule in Ionien kannten diese Unterschiede nicht. Ihr Ziel war die
Entdeckung des Urgrunds
oder der Urbeschaffenheit der Dinge, die sie „Physis“ nannten. Der Begriff
Physik ist von diesem griechischen Wort abgeleitet und bedeutet daher
ursprünglich das Bemühen, den Urgrund aller Dinge zu erkennen.
Dies ist natürlich auch das Hauptziel aller Mystiker. Die milesische Philosophie
hatte deshalb auch einen starken mystischen Einschlag. Die späteren Griechen
nannten die Mileter „Hylozoisten“ oder „jene“, die denken, dass Materie lebt, da
sie keinen Unterschied zwischen belebt und unbelebt oder Geist und Materie
sahen. Sie hatten nicht einmal ein Wort für Materie, da sie alle Daseinsformen
als Manifestation der Physis sahen, .ausgestattet mit Leben und Geist. So
erklärte Thales alle Dinge als voll von Göttern und Anaximander sah das
Universum als eine Art Organismus, der vom „Pneuma“, dem kosmischen
Atem, unterhalten wird, so wie der menschliche Körper von Luft unterhalten
wird.
Die monistische und organische Sicht der Mileter stand derjenigen der alten
indischen und chinesischen Philosophie sehr nahe. Die Parallelen zur östlichen
12
Gedankenwelt sind in der Philosophie des Heraklit von Ephesus sogar noch
stärker ausgeprägt. Heraklit glaubte an eine Welt ständigen Wandels, des ewigen
„Werdens“. Für ihn war alles statische Sein eine Täuschung. Sein
Universalprinzip war das Feuer, ein Symbol für den ständigen Fluss und Wandel
aller Dinge. Heraklit lehrte, dass aller Wandel in der Welt vom dynamischen
und zyklischen Zusammenspiel von Gegensätzen herrührt. Er sah jedes Paar von
Gegensätzen als Einheit. Diese Einheit, die alle entgegengesetzten Kräfte
durchdringt, nannte er „Logos“.
Die Spaltung dieser Einheit begann mit den Eleaten, die ein göttliches Prinzip
jenseits von Göttern und Menschen annahmen. Zuerst wurde dieses Prinzip mit
der Einheit des Universums identifiziert, später sah man es als Vernunft
begabten und persönlichen Gott, der über der Welt steht und sie lenkt. So
begann eine Tendenz, die schließlich zur Trennung von Geist und Materie und
damit zu dem für die westliche Philosophie charakteristischen Dualismus führte.
Im fünften Jahrhundert v. Chr. versuchten die griechischen Philosophen den
scharfen Kontrast zwischen Geist und Materie zu überwinden. Um der
Vorstellung des unverwandelbaren Seins mit der des ewigen Werdens in
Einklang zu bringen, nahmen sie an, dass sich das Sein in gewissen
unveränderlichen Substanzen manifestiert, deren Mischung und Trennung die
Veränderungen in der Welt hervorruft. Dies führte zum Begriff des Atoms, der
kleinsten unteilbaren Einheit der Materie, der am klarsten in der Philosophie des
Leukipp und des Demokritos zum Ausdruck kommt. Die griechischen
Atomisten zogen eine klare Trennungslinie zwischen Geist und Materie, in der
die Materie aus vielen Grundbausteinen aufgebaut ist. Diese bewegten sich
völlig passiv und durch tote Teilchen im leeren Raum. Der Grund für ihre
Bewegung wurde nicht erklärt, aber oft mit äußeren Kräften in Verbindung
gebracht, die geistigen Ursprungs und grundsätzlich verschieden von der
Materie seien. In folgenden Jahrhunderten wurde dieses Bild ein wesentliches
Element der westlichen Denkweise des Dualismus zwischen Geist und Materie,
zwischen Köper und Seele.
Wir wollen aus Zeitgründen die weitere historische Entwicklung bis Descartes
überspringen, nicht ohne den Hinweis, dass Galilei der erste war, der
empirisches Wissen mit Mathematik kombinierte und deshalb auch als Vater der
modernen Wissenschaft betrachtet wird. Descartes gründete seine Ansicht von
der Natur auf der grundsätzlichen Teilung in zwei getrennte unabhängige
Bereiche, dem des Geistes (res cogitans) und dem der Materie (res extensa).
Diese Cartesianische Teilung erlaubte den Wissenschaftlern, die Materie als tot
und völlig von ihnen selbst getrennt zu behandeln und die stoffliche Welt als
eine Ansammlung verschiedener, in einer gewaltigen Maschine
zusammengesetzten Objekte zu sehen. Dieser mechanistischen Weltbetrachtung
hing Isaac Newton an, der seine Mechanik auf dieser Basis entwickelte und zur
Grundlage der
13
klassischen Physik machte.
Descartes Philosophie war nicht nur für die Entwicklung der klassischen Physik
von Bedeutung. Sie hatte und hat bis zum heutigen Tag einen gewaltigen
Einfluss auf die westliche Denkweise im Allgemeinen. Descartes berühmter
Satz „Cogito ergo sum“ (ich denke, also bin ich), brachte den westlichen
Menschen dazu, die Identität mit seinem Geist gleichzusetzen anstatt mit seinem
gesamten Organismus. Als Folge der Cartesianischen Teilung empfinden sich
die meisten Individuen als isolierte, in ihrem Körper lebende Egos. Der Geist
wurde vom Körper getrennt und erhielt die vergebliche Aufgabe, diesen zu
steuern, wodurch ein Konflikt zwischen dem bewussten Willen und den
unbewussten Instinkten entstand. Jedes Individuum wurde weiter in eine große
Anzahl getrennter Abteilungen auf gespalten, entsprechend seinen Aktivitäten,
Talenten, Gefühlen, seinem Glauben usw., die in endlosem Konflikt stehen und
dauernd metaphysische
Konfusion und Frustrationen erzeugen.
Diese innere Zersplitterung des Menschen spiegelt seine Ansicht von der Welt
„draußen“ wider, die als Vielfalt verschiedener Objekte und Vorgänge gesehen
wird. Diese zersplitterte Ansicht wird auf die Gesellschaft ausgedehnt. Der
Glaube, dass ihre Teile von uns selbst völlig getrennt sind, kann als ein
wichtiger Grund für die gegenwärtige Folge sozialer, ökologischer und
kultureller Krisen gesehen werden. Die Cartesianische Teilung und die
mechanistische Weltauffassung waren somit gleichzeitig nützlich und schädlich.
Sie waren außerordentlich erfolgreich in der Entwicklung der klassischen Physik
und Technik aber hatten viele negative Folgen für unsere Zivilisation.
Im Gegensatz zur westlichen mechanistischen Ansicht ist die östliche Sicht der
Welt „organisch“. Für den östlichen Mystiker gehören alle von unseren Sinnen
wahr genommenen Dinge und Vorgänge zusammen und sind nur verschiedene
Aspekte oder Manifestationen derselben „letzten Realität“. Unsere Neigung, die
wahrgenommene Welt in einzelne verschiedene Dinge zu unterteilen und uns
selbst als davon verschieden zu erfahren, wird als eine aus unserer messenden
und kategorisierenden Mentalität entstandenen Illusion betrachtet. Sie wird in
der buddhistischen Philosophie „Avidya“ genannt und als Zustand eines
gestörten Geistes verstanden, der überwunden werden muss:
 Wenn der Geist gestört ist, wird die Vielfalt der Dinge produziert, aber wenn der Geist
beruhigt wird, verschwindet die Vielfalt der Dinge.
Ashvaghosha
Das höchste Ziel der verschiedenen Schulen der östlichen Mystik ist, der Einheit
und gegenseitigen Beziehung aller Dinge gewahr zu werden, den Begriff des
isolierten und individuellen Ichs zu überwinden und sich mit der „letzten
Realität“ zu identifizieren. Dieses Gewahrwerden ist bekannt als „Erleuchtung“,
die den ganzen Menschen erfasst und letztlich religiöser Natur ist. Daher sind
die meisten östlichen Philosophien im Wesentlichen religiöse Philosophien.
14
Nach östlicher Ansicht ist die Unterteilung der Natur in getrennte Objekte
unbegründet. Alle Objekte haben einen fließenden, ständig wechselnden
Charakter. Die östliche Weltsicht ist dynamisch, ihre wesentlichen Züge sind
„Zeit“ und „Wandel“. Der Kosmos wird als eine unteilbare Realität gesehen,
ständig in Bewegung, lebend, organisch, Geist und Materie zur gleichen Zeit.
Da Bewegung und Wandel wesentliche Eigenschaften der Dinge sind, liegen die
Bewegung verursachenden Kräfte nicht, wie in der klassischen griechischen
Sicht, außerhalb der Dinge, sondern sind eine innere Eigenschaft der Materie.
Entsprechend ist das östliche Bild vom Göttlichen nicht das eine Herrschers, der
die Welt von oben lenkt, sondern eines Prinzips, welches alles von innen steuert:
 Der, welcher in allen Wesen wohnend,
von allen Wesen verschieden ist,
den die Wesen alle nicht kennen,
dessen Leib alle Wesen sind,
der alle Wesen von innen lenkt,
der ist dein Atman (Seele),
der heimliche Lenker der Unsterbliche.
(altindische Weisheit Brahmans und Upanishaden)
Wir werden jetzt sehen, dass die Grundelemente der östlichen Weltsicht die
gleichen sind, die auch die moderne Physik prägen. Östliche, allgemeiner
gesagt, mystische Gedanken, haben einen folgerichtigen und relevanten
philosophischen Hintergrund zu den Theorien der modernen
Naturwissenschaften. Sie liefern ein Weltverständnis, in dem die
wissenschaftlichen Entdeckungen des Menschen zu seinen geistigen Zielen und
seinem religiösen Glauben völlig harmonieren. Die beiden Grundelemente
dieser Anschauung sind die Einheit und der Zusammenhang aller Phänomene
und die durch und durch dynamische Natur des Universums.
Dies drückt sich auch sehr einleuchtend in der Formulierung von Niels Bohr
aus: „Isolierte Materie-Teilchen sind Abstraktionen, ihre Eigenschaften sind nur
durch ihr Zusammenwirken mit anderen Systemen definierbar und
wahrnehmbar.“ Die Quantentheorie enthüllt so einen wesentlichen inneren
Zusammenhang des Universums. Ihre Beschreibung eines
Universalzusammenhangs der Dinge und Ereignisse scheint ein Grundzug der
Realität zu sein, der nicht von einer bestimmten Deutung der mathematischen
Theorie abhängt. Auf der atomaren Ebene lösen sich also die „festen“ Objekte
der klassischen Physik in Wahrscheinlichkeitsstrukturen auf. Die
Quantentheorie zwingt uns, das Universum nicht als eine Ansammlung
physikalischer Objekte zu sehen, sondern als kompliziertes Gewebe von
Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen eines vereinigten Ganzen. Dies
ist jedoch genau die Art, in der östliche Mystiker die Welt erfahren haben.
Einige von ihnen haben ihre Erfahrung in fast gleichen Worten ausgedrückt, die
Atomphysiker benutzen.
15
Zwei Beispiele:

Das stoffliche Objekt wird … etwas anderes, als wir es so jetzt sehen, nicht ein
selbständiges Objekt vor dem Hintergrund oder in der Umgebung der übrigen Natur,
sondern ein untrennbares Teil und auf subtile Art sogar ein Ausdruck der Einheit von
allem, was wir sehen.
S. Aurobindo

Dinge leiten ihre Natur und ihr Sein von gegenseitiger Abhängigkeit her und sind
nichts in sich selbst.
Nagarjuna
Wenn diese Aussagen als Beschreibung der Natur in der Atomphysik gelten
können, dann klingen die beiden folgenden Aussagen von Atomphysikern wie
eine Beschreibung der mystischen Erfahrung der Natur:
 Ein Elementarteilchen ist keine unabhängig existierende, analysierbare Einheit. Es ist
im Grunde eine Reihe von Zusammenhängen, die sich nach außen zu anderen Dingen
hin erstrecken.
H. P. Stapp

Die Welt erscheint in dieser Weise als ein kompliziertes Gewebe von Vorgängen, in
dem sehr verschiedenartige Verknüpfungen sich abwechseln, sich überschneiden und
zusammenwirken und in dieser Weise schließlich die Struktur des ganzen Gewebes
bestimmen.
W. Heisenberg
Das Bild dieser Verkettung gleicht einem kosmischen Netz, das aus der
modernen Physik aufsteigt. Es wird im Osten viel genutzt, um die mystische
Erfahrung der Natur mitzuteilen. Für den Hindu ist Brahman der bindende
Faden im kosmischen Gewebe, die letzte Ursache allen Seins.
Im Buddhismus spielt das Bild vom kosmischen Gewebe eine noch größere
Rolle. Der Kern des Avatamsaka-Sutra, eine der Hauptschriften des MahayanaBuddhismus ist eine Beschreibung der Welt als perfektes Netzwerk von
gegenseitigen Beziehungen, wo alle Dinge und Ereignisse miteinander auf
unendlich komplizierte Weise zusammenwirken.
In der östlichen Mystik schließt diese universelle Verwobenheit immer den
menschlichen Beobachter und dessen Bewusstsein ein. Das gleiche gilt in der
Atomphysik. Auf der atomaren Ebene können „Objekte“ nur in Begriffen der
Wechselwirkung zwischen den Vorbereitungs- und Messverfahren verstanden
werden. Das Ende dieser Kette von Vorgängen liegt immer im Bewusstsein des
menschlichen Beobachters, allerdings nicht in seiner biologischen Natur.
Messungen sind Vorgänge, die in unserem Bewusstsein „Empfindungen“
hervorrufen, z.B. die visuelle Wahrnehmung eines Lichtblitzes oder eines
16
dunklen Flecks auf einer Fotoplatte. Die Gesetze der Atomphysik sagen uns, mit
welcher Wahrscheinlichkeit ein atomares Objekt eine bestimmte Empfindung
hervorrufen wird, wenn wir es auf uns einwirken lassen. Heisenberg schreibt,
dass die Naturwissenschaft die Natur nicht einfach so beschreibt, wie sie an sich
ist, sondern als ein Teil des Wechselspiels zwischen der Natur und uns selbst.
Der entscheidende Zug der Atomphysik ist, dass der menschliche Beobachter
nicht nur für die Beobachtung der Eigenschaften eines Objekts notwendig ist,
sondern sogar, um diese Eigenschaft zu definieren. Mit Heisenbergs Worten
bedeutet das:
„Was wir beobachten, ist nicht die Natur selbst, sondern Natur, die unserer Art
der Fragestellung ausgesetzt ist. Der Beobachter entscheidet, wie er die
Messungen aufstellt und diese Anordnung entscheidet bis zu einem gewissen
Grad die Eigenschaften des beobachteten Objekts. Wird die Versuchsanordnung
verändert, ändern sich die Eigenschaften des beobachteten Objekts ebenfalls.
Dies kann mit dem einfachen Fall eines subatomaren Teilchens erläutert werden.
Beim Beobachten eines solchen Teilchens kann man beispielsweise unter
anderem seinen Ort und seinen Impuls (Impuls = Masse mal Geschwindigkeit
des Teilchens) messen. Aus der Heisenberg’schen Unschärferelation ergibt sich
nun aber, dass diese beiden Größen nie gleichzeitig genau gemessen werden
können. Wir können entweder genau den Ort des Teilchens feststellen und über
seinen Impuls (und damit seine Geschwindigkeit) nichts erfahren oder
umgekehrt, oder wir können sehr ungenaue Werte von beiden Größen erhalten.
Diese Einschränkungen haben nichts mit mangelhafter Messtechnik zu tun, sie
sind das Ergebnis der atomaren Realität. Wenn wir den Ort des Teilchens
messen, hat das Teilchen einfach keinen klar definierten Impuls. Wenn wir den
Impuls messen, hat es keinen klar definierten Ort.
In der Atomphysik kann also der Wissenschaftler nicht die Rolle eines
unbeteiligten objektiven Beobachters spielen, sondern er wird in die
beobachtende Welt mit einbezogen und beeinflusst die Eigenschaften des
beobachteten Objekts. Diese Einbeziehung des Beobachters in den
Versuchsvorgang sieht der Wissenschaftler John Wheeler als den wichtigsten
Zug der Quantentheorie an. Er empfiehlt, den Ausdruck „Beobachter“ durch
„Teilnehmer“ zu ersetzen. „In irgend- einem merkwürdigen Sinn ist das
Universum ein teilnehmendes Universum“, sagt er.
Was in der Quantenphysik noch immer relativ neu ist, ist in der Mystik stets
bekannt gewesen. Mystisches Wissen kann niemals nur durch Beobachtung
erlangt werden, sondern nur durch volle Teilnahme mit dem ganzen Wesen. Der
Begriff des Teilnehmers ist somit entscheidend für die östliche Weltanschauung.
Die östliche Mystik geht sogar noch weiter als die Atomphysik. In der
Meditation gelangen die östlichen Mystiker an einen Punkt, wo der Unterschied
zwischen Beobachter und Beobachtetem völlig zusammenbricht, wo Objekt und
17
Subjekt zu einem vereinigten, undifferenziertem Ganzen verschmelzen. So heißt
es in den Upanischaden:
 Wo es eine Dualität gibt, da sieht eins das andere; da riecht eins das andere, da
schmeckt eins das andere… Aber wo alles das eigene Selbst geworden ist, womit und
wen würde man sehen? Womit und was würde man riechen? Womit und wen würde
man schmecken?
Dies ist das endgültige Begreifen der Einheit aller Dinge. Nach dem Zeugnis des
Mystikers kann man es in einem Bewusstseinszustand erreichen, in dem die
Welt der Sinne und Vorstellungen von „Dingen“ überschritten wird. Mit den
Worten Chuang-tzus:
 Meine Verbindung zum Körper und seinen Teilen ist gelöst. Meine Sinnesorgane sind
abgeschafft. Indem ich so meine stoffliche Form und mein Wissen fahren lasse, werde
ich eins mit dem großen Durchdringer. Dies nenne ich sitzen und alle Dinge
vergessen.
Die moderne Physik arbeitet natürlich in einem anderen Rahmen, wie schon
dargestellt wurde und vollzieht die Einheit aller Dinge nicht in gleicher Weise
nach. Aber sie enthält einen großen Schritt in Richtung auf die Weltanschauung
der östlichen Mystiker. Die Quantentheorie hat den Begriff von grundsätzlich
selbständigen Objekten abgeschafft und hat den Begriff des Teilnehmers
eingeführt, der den Begriff des Beobachters ersetzen soll.
Der entscheidende Schritt nach vorn in der Quantenphysik wäre nun die
Bereitschaft, die Botschaft der östlichen Mystik für möglich zu halten, dass bei
allem in der Welt, Menschen, Tiere, Pflanzen, Mineralien, bis hin zum
Elementarteilchen, kein kausal bedingtes Handeln vorliegt, sondern alle diese
Dinge gleichermaßen aus sich selbst heraus handeln. Dies würde bedeuten, dass
es kein passiv ausgelöstes Tun gibt, so wie es die Zug- und Schubkräfte der
Newton’schen Mechanik suggerieren. Vielmehr wäre dann jedem Außen ein
immanentes Innen, das Transzendente, zugeordnet.
Dies setzt die Bereitschaft zu wissendem Glauben voraus, der, weil es um letzte
Wahrheiten geht, nicht durch den Intellekt gestützt werden kann. Aber auch die
Standardphysik leitet, wie dargestellt worden ist, ihre Gesetze nicht
ausschließlich aus dem logischen Denken ab. Am Anfang steht auch hier immer
ein spezifisches Bild, das gesetzt wird und das aus irgendeiner „höheren
Einsicht“ folgt. Hier berühren sich die theoretische Physik und die östliche
Mystik.
IV. Anmerkungen zum religiösen Menschen
18
Die Idee des Menschlichen kann durch ein immer tieferes Herabsteigen in den
Lebensgrund, als ein ständiges Bemühen um das innerste Wesen der Dinge
verstanden werden, das als ein umfassendes Ganzes hinter aller Mannigfaltigkeit
der äußeren Erscheinung liegt. Ihre Methode ist die Schau. Schau bedeutet das
Sehen mit den geistig-seelischen Augen. Goethe erschaute hinter der Vielfalt der
Pflanzenwelt die „Urpflanze“, diese wird ihm zum Ursprung aller Pflanzen.
Diese Urpflanze ist Idee, das eigentlich Wirkliche, das im Sein verharrt und
unverändert bleibt. Wenn Aussagen über die absolute Wahrheit möglich sein
sollen, dann wahrscheinlich nur so. Diese wäre dann erfahrbar, jedoch nicht
fassbar mit intellektuellen und messtechnischen Mitteln, auch nicht sprachlich,
insbesondere nicht mit den sinnlichen Mitteln des Alltags. Die absolute
Wahrheit wird für denjenigen Realität, der die Fähigkeit hat, sich der Schau zu
öffnen.
Die moderne Physik war hingegen mit dem umgekehrten Weg erfolgreich. Alle
geistigen und seelischen Elemente wurden aus dem Kalkül eliminiert, bzw. mit
diesem selbst erklärt. Diese Methode der Abstraktion hat ihren Preis. Mit
zunehmender Abstraktion wird das System der Konzepte immer mehr von der
realen Welt losgelöst. Dabei können gewisse Aspekte der Wirklichkeit verloren
gehen. So lässt sich zum Beispiel das befreiende Lachen nach einem geistvollen
Witz durch mathematische oder intellektuelle Analyse nicht erklären, sondern
nur durch sein ganzheitliches Verstehen. Im Bruchteil einer Sekunde erfährt
man eine gewisse Einsicht. Dieser Augenblick ereignet sich spontan und nicht
über eine intellektuelle Analyse. Ebenso verhält es sich beim Hören von Musik
oder beim Betrachten von Bildern, aber erst recht beim „Erleben“ von religiösen
und metaphysischen Phänomen.
Bonhoeffer, der bedeutende evangelische Theologe, sah dennoch als geistige
Situation unserer Zeit ein religionsloses Zeitalter auf uns zukommen. Er
befürchtete, dass das Vakuum, das durch Mangel an religiöser Erfahrung
entstanden ist, durch das menschliche Denken ausgefüllt wird. Seine Frage
lautete deshalb: „Wie kann Christus auch der Herr der Religionslosen werden?
Der Versuch hierauf, sich mit Hilfe des Handeln und des Denkens der
behaupteten Offenbarungswirklichkeit zu versichern, spielt gegenwärtig eine
große Rolle. Die dominierende Stellung der historisch-kritischen Forschung, das
Programm der Entmythologisierung und der nicht-religiösen Interpretation
sowie schließlich das Bemühen um eine Geschichtstheologie lassen erkennen,
dass das Evangelium auf dem Weg intellektueller Einsicht vermittelt werden
soll. Wenn in dieser Entwicklung auch das Gesetz des Handelns der Umwelt
entnommen ist, so bleibt doch die Frage, ob diese Umwelt nur so einseitig
angesprochen werden soll. Ist die Verstehensnot die eigentliche Not des
modernen Menschen?
19
Niemand wird bestreiten, dass im Licht der naturwissenschaftlichen Forschung
eine verständliche Darbietung der neutestamentlichen Berichte notwendig ist. Es
ist aber kein Geheimnis, dass trotz aller redlichen Interpretationen eine
Begegnung mit Christus ausbleiben kann. Hier wird dem logisch-diskursiven
Denken etwas zugemutet, was es nicht leisten kann. Da es wesenhaft analytisch
ist, hat es keinen Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit, zum tragenden Grund
unseres Seins. Wer deshalb mit dem Anspruch auf Rückbindung dem Denken
den Vorzug gibt, geht nicht vom Ganzen der Wirklichkeit aus. Diese Haltung
richtet sich konsequent gegen jeden ontologischen Ansatz in der Theologie. Sie
hat zur Voraussetzung, dass das Sein Gottes in lauter Akte aufgelöst ist, weil die
Veränderung das einzig Bleibende ist. Am Ende dieser Entwicklung stünde ein
religionsloses Christentum.
Hierzu kann man zunächst recht unstreitig feststellen, dass die damit verbundene
Vernachlässigung der Vertikalen nicht dem heutigen Lebensgefühl entspricht.
Denn die Menschen, die ihren letzten Kontakt mit dem Anders-Sein vor 40 oder
30 Jahren mit der „Kunst des Liebens“ und dem „Siddharta“ von Hermann
Hesse machten, tauchen nun nach Jahrzehnten des Desinteresses auf dem
Jacobsweg wieder auf. Sie fragen wie in einer Novelle des 19. Jahrhunderts:
Was haben wir angebetet all die Zeit? Hape Kerkeling ist der Major Vorwärts
einer neuen Sehnsucht nach Spiritualität. Seine als Erlebnisbericht verarbeitete
Wanderung auf dem Jacobsweg ist das meist verschenkte und meist verkaufte
Buch zu Weihnachten 2006 und 2007 gewesen. Wir erleben den ersten Akt oder
die Neuauflage der Frage nach dem Sinn unseres Lebens. Das Mindeste was hier
philosophisch geleistet werden muss, ist die Unterscheidung des Verstandes als
Fähigkeit, begrifflich zu denken, von der Vernunft, als der Wahrnehmung des
Ganzen.
Verdichtet man diese Wahrnehmung dann ist der Mensch religiös, der sich
liebevoll um etwas kümmert, der sich an etwas hingibt. Das woran ich mein
Herz hänge, worauf ich meine Existenz gründe, das ist Gegenstand und Inhalt
der Religion. Schleiermacher nennt dies „die befreiende Wirkung des
Unendlichen im Endlichen“. R. Otto nennt es „Erfahrung, die sowohl tiefes
Erschrecken als auch begeistertes Hingezogensein“ auslöst. Tillich spricht von
dem, was mich unbedingt angeht. Der entscheidende Schritt von der Philosophie
zur Theologie ist der Schritt von der Vernunft zum Ganzen, und damit zum
Heiligen, als Gegensatz zum Profanen.
Hier dürfte eine Verbindung zur wieder neu und offensichtlich dringlicher als
Jahrzehnte zuvor gestellten Sinnfrage unseres Lebens liegen, weil hierüber die
Erkenntnis wachsen kann, dass das Ganze nur erfahren werden kann. Diese
Erfahrung wäre dann die endgültige Abkehr von der Agnostik und die
entstehende Bereitschaft zu erleben, dass unsere Existenz außerhalb unseres
Selbst begründet ist. Der nur denkende Mensch geht an dieser Wirklichkeit
vorbei.
20
Religiosität, nicht als Element der Kultur, als Grund einer radikalen Ethik oder
als Theologie, sondern als innere Erfahrung ist in der westlichen Welt überschattet von einer Weise des Erfahrens und Denkens, die sich selbst nur als ein
Verhalten des Menschen angesichts einer göttlichen Wirklichkeit versteht.
Vielleicht liegt das daran, dass die Geschichte immer so verläuft, wie Gott es
wohl nicht will. Sie zeigt nicht die Macht, sondern die Ohnmacht Gottes. Jesus
erscheint nicht in der Gestalt des Königs, sondern des leidenden Gottesknechtes.
In der Theologie war das bisher eine unassimilierbare Wirklichkeit.
Der Moraltheologe Schockenhoff zeigt nun in seinem Buch „Theologie der
Freiheit“ einen neuen Weg auf: „Alles was der Mensch ist, ist ihm von Gott
gegeben. Er besitzt es im Modus der Freiheit, weil Gott es nicht anders gewollt
hat“. Carl Friedrich von Weizsäcker gab 1981 in seinen „Bemerkungen über das
Verhältnis von Theorie und Meditation“ noch eine andere Empfehlung: „Die
Theorie trennt zwischen Urteil und Handlung. Die Meditation trennt zwischen
Geschehenlassen und Tun. Das urteilende Denken ist noch ein Tun.
V. Begegnungen
Es ist zu vermuten, dass die Wissenschaft immer mehr auf den Wesenskern des
Menschen vorrückt. Positiv kann man in dieser Ernüchterung über das Ich
durchaus eine Annäherung an den Kern religiöser Erfahrung sehen.
Wissenschaft ist ohne Idee, die dem Gefühl und nicht dem Verstand entspringt,
nicht denkbar. Sie vermittelt die intuitive Deutung von Fakten, damit der
Verstand dann eingreifen und ihre Richtigkeit untersuchen und erproben kann.
Man kann eine wissenschaftliche Nachprüfung, aber nicht die Wissenschaft
selbst organisieren. In der ausschließlichen Definition liegt die Gefahr, dass sie
alles Benachbarte oder Querliegende ausgrenzt.
Dieser Prozess der Annäherung kann auch dann geschehen wenn es als
ausgemacht gilt, dass die Wissenschaft die Materie, die Energien, das schon
Gegebene, das Vorhandene in all seinen Erscheinungsformen und
Wirkungsweisen untersucht, während der Glaube Gott selbst sucht. Es ist keine
Schande, damit zuzugeben, dass die gedanklichen Probleme zwischen religiöser
Wahrheit und moderner Wissenschaft ungelöst sind. Naturwissenschaftler und
Christen können aber einander einen wichtigen Dienst tun, wenn sie einander
kritische Fragen stellen. Die Wissenschaft kann mit ihren modernsten
Erkenntnissen die Voraussetzungen dafür schaffen, um dann entscheidende
Antworten erwarten zu können.
Als eine hier zu erwähnende Einrichtung unternimmt das Internationale Institut
für Biophysik (IIB) auf der Kulturinsel Hombroich, das Vertreter der Natur- und
21
Geisteswissenschaften aus aller Welt zur Aufbereitung und Lösung solcher
Fragen zusammenführt, entsprechende Versuche zu einer interdisziplinären
Zusammenarbeit. Es fordert, dass die Forschung in einer Atmosphäre der
Toleranz und des gegenseitigen Verständnisses stattfindet.
Bereits 1998 fand in diesem Institut ein erster längerer Meinungsaustausch
zwischen Biologen, Physikern und Medizinern des IIB und renommierten
Wissenschaftlern deutscher Universitäten und Forschungsinstitute über
ungeklärte Fragen eines Phänomen statt, das wir als „Leben“ bezeichnen. Man
war sich einig, dass der rein molekularbiologische Ansatz den Blick verengt und
nicht unbedingt erweitern kann, dass die Reduktion auf die rein materielle
(klassisch- atomistische) Ebene das eigentliche „Wesen“ des Lebens
möglicherweise sogar eher aus dem Blickfeld entfernt, anstatt die Erkenntnisse
zu vertiefen. Mit dieser Kritik soll nicht verkündet werden, dass
„Ganzheitstheoretiker“ vom Leben mehr verstehen als Biochemiker. Der
Hinweis soll aber vor der Illusion schützen, dass die beeindruckenden
technischen Fortschritte der Molekularbiologie notwendigerweise zu einem
besseren Verständnis für „lebende Systeme“ führen.
Der “blinde Fleck“ der beim Übergang von „ganzheitlichen Ansätzen“ des
Altertums zur modernen atomistischen Deutung des Lebens unausweichlich
entstehen musste, könnte sich vielmehr als das eigentliche Gebiet erweisen, dem
verstärkte Aufmerksamkeit zuzuwenden ist. Entscheidende Erfolge in den
Lebenswissenschaften lassen sich in Zukunft vermutlich nur in symbiotischer
Kooperation von Molekularbiologen und integrativer Wissenschaft erzielen.
Dabei dürfen die Quantentheorie und die Elektrodynamik nicht ausgelassen
werden. Es sollte aber nicht der Eindruck entstehen, dass die zurzeit diskutierte
Form der Physik ausreicht, um Leben verstehen zu können. Denn
möglicherweise wird man bei der Analyse der komplexen Phänomene, die im
Zusammenhang mit lebenden Systemen beobachtet werden, auf
Unvollkommenheiten bzw. Unzulänglichkeiten im elementaren Bereich der
Physik selbst stoßen.
So stellte sich in den Veranstaltungen des IIB in den folgenden Jahren auch
immer deutlicher heraus, dass das Verständnis des Lebens die Kenntnis von
„langreichweitigen Wechselwirkungen“ in einer äußerst komplexen
dynamischen Organisation lebender Systeme ist und der Blick für das Ganze in
einem System, das als „Ganzheit“ imponiert, nicht verloren gehen darf. Diese
Sichtweise reicht von bisher unerklärten Phänomenen wie Zellteilung,
Differenzierung, Bio-Funktionalität, bis hin zu subjektiven Eigenschaften wie
„Wohlbefinden“, „Krankheit“, „Information“, „Bewusstsein“ und „Evolution“.
Bekennen wir deshalb, dass die Natur also nicht einfach „Rohmaterial“ für
Naturwissenschaft und Technik, das heißt nur Ablauf ist, sondern auch
Durchdrungenheit und Gestaltwerdung. In dieser Einsicht können sich
Wissenschaft und Glaube begegnen. Würde das im Sinne Kants von beiden
22
Seiten als notwendig anerkannt, könnte Erfahrung und damit ein Weg in die
Zukunft entstehen. Das von Descartes erzeugte Problem der „Zweiheit der
Substanzen“ (Carl Friedrich von Weizsäcker) würde überwindbar.
(Mit Erlaubnis des Verfassers ins Internet gestellt)
Herunterladen