Sexualität im Zeichen der Verhandlungsmoral oder die Verleugnung

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Sexualität und Bindung im Spätkapitalismus:
Von der Normalneurose zur Normalperversion
Franz Oberlehner
Spätmoderne, Postmoderne, zweite Moderne; Spätkapitalismus, postindustrielles Zeitalter;
solche und ähnliche Bezeichnungen wählen Soziologen und Ökonomen, Philosophen und
Historiker, um die Zeitspanne zu charakterisieren, die ungefähr mit den Umbrüchen von 1968
beginnt und zumindest bis zum Ende des Jahrhunderts dauert.
Der Soziologe Reinhard Sieder beschreibt in seinen Veröffentlichungen, wie in diesen
Jahrzehnten zunehmend skeptisch von der Liebe gesprochen wird und die dabei imaginierten
Bindungen schwächer werden. Dem kann man kaum widersprechen. Ich werde in einem
ersten Teil die Bedeutung der Entwicklung des Kapitalismus für die kulturellen Wandlungen
der Sexualität und die zunehmende Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung
herausstreichen. Ergänzend werde ich dabei auch zu den Fragen kommen, wie bzw. ob sich
das veränderte Sprechen über Liebe (die Soziologen nennen dies „sich ändernde Codes“) in
der praktizierten Sexualität auswirkt und ob man eine zentrale neue Art des Sprechens, einen
„übergeordneten Code“ definieren kann. In einem zweiten Teil werde ich über die
beschriebene Entwicklung einige psychoanalytische Überlegungen anstellen.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts schreibt Robert Musil im ersten Band von „Der Mann ohne
Eigenschaften“: „... wie man sich vor ungefähr zwei Menschenaltern noch in Geschäftsbriefen
mit blauen Redeblümlein geschmückt hat, könnte man heute schon alle Beziehungen von der
Liebe bis zur reinen Logik in der Sprache von Angebot und Nachfrage, Deckung und
Eskompte ausdrücken, jedenfalls ebenso gut wie man sie psychologisch oder religiös
ausdrücken kann, aber man tut es doch nicht. Der Grund liegt darin, daß die neue Sprache
noch zu unsicher ist.“ (Musil 1930, S. 432).
Einige Jahrzehnte später ist die Sicherheit der ökonomischen Sprache so selbstverständlich,
dass wir meistens gar nicht mehr merken, wie sehr wir gewohnt sind, auch Liebe in
ökonomischen Metaphern zu denken. Nicht nur die Begriffe Markt, Angebot und Nachfrage
werden im Zusammenhang mit Partnersuche selbstverständlich gebraucht. Betrachten wir das
Wort Partnersuche selbst. Es entspringt der in der westlichen Welt sehr gebräuchlichen
Metapher Liebe ist Partnerschaft. Der Linguist George Lakoff (Lakoff und Johnson 1980)
nennt solche Metaphern konzeptuell, weil sie unser Denken grundlegend bestimmen. Bei der
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Verwendung konzeptueller Metaphern wird jeweils die Logik eines Ursprungsbereiches auf
einen Zielbereich übertragen.
Es ist uns meistens nicht bewusst, wenn wir von Liebe als Partnerschaft reden, dass der
Ursprungsbereich dieser Metapher, der das Denken im Zielbereich strukturiert, das
Geschäftsleben ist: Die Liebenden sind Partner, die Liebesbeziehung ist eine Partnerschaft.
Aus der ökonomischen Partnerschaft kann Reichtum erwachsen, aus der Liebespartnerschaft
Wohlfühlen, wie von einem Geschäft kann man von der Liebe profitieren, aber wie in ein
Geschäft muss man auch in die Liebe Arbeit investieren. Arbeit und Profit aus der
Partnerschaft können dann in der Liebe gerade wie in einer geschäftlichen Partnerschaft
geteilt werden.
Die treffendste Aussage der Soziologen über die Liebe in der zweiten Moderne ist meines
Erachtens, dass die verfügbaren Codes mehr denn je zur Verhandlung stehen. Jedoch sind
Liebende, die sich ihr Verhältnis „aushandeln“, nur im Rahmen der beschriebenen
konzeptuellen Metapher von Liebe als Partnerschaft denkbar.
Umgekehrt werden auch in der Sprache der Ökonomie erotische Metaphern verwendet. Die
Verschränkung von Eros und Marktwirtschaft ist vor allem in der Werbung unübersehbar.
Dass der Begriff Werbung ein ursprünglich erotischer ist und als konzeptuelle Metapher aus
diesem Bereich her das Denken des Marktes strukturiert, merken wir meist gar nicht mehr.
Wie sehr fortgeschrittene Marktwirtschaft bzw. Spätkapitalismus und sexuelle Liberalisierung
einander bedingen ist ja schon mit unterschiedlichsten Voraussetzungen analysiert worden.
Stellvertretend sei nur an Herbert Marcuse und Michel Foucault erinnert. Mit Volkmar
Sigusch kann man auf das Stichwort „Kultureller Wandel der Sexualität in der Spätmoderne“
sagen: „Alles unterliegt einem Wandel, damit alles so bleibt, wie es ist“ (Sigusch 2001b, S.
11). Keine bisherige Gesellschaftsordnung war so wandlungsfähig, flexibel und gerade
dadurch stabil wie der Kapitalismus vor allem der letzten Jahrzehnte, und eben jene
Wandlungsfähigkeit wird auch dem Individuum bis in’s Intimste abverlangt.
Ist dieser Wandel in erster Linie einer der Diskurse, der Art des drüber Redens und des
Bewertens, oder erfasst er die praktizierte Sexualität in gleichem Ausmaß?
Werden durch diese Entwicklung Bindungen schwächer, wird die Liebe skeptischer?
Wenn heute, wie es z. B. Zygmunt Baumann (2001, S. 32) formuliert, „die Freiheit, das
sexuelle Vergnügen um seiner selbst willen zu suchen, den Status einer kulturellen Norm
erreicht“, dann stellt sich die Frage, ob diese postulierte Ungebundenheit postmoderner Erotik
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vor allem in den Texten der Theoretiker und der Lifestilemagazine blüht oder auch
entsprechenden Niederschlag in den alltäglichen Beziehungen findet. Wie hat sich in den
letzten Jahrzehnten die praktizierte Sexualität der Menschen in den westlichen
Industriegesellschaften verändert? Anhand von Befragungen kann man das recht genau
beschreiben. Darauf will ich hier anhand des Sexualverhaltens westdeutscher Studenten
eingehen, für das es repräsentative Studien der Abteilung für Sexualforschung der Universität
Hamburg aus den Jahren 1966, 1981 und 1996 gibt (vgl. Schmidt 2000). Das Sexualleben von
Studenten bietet sich für die Fragestellung an, da sie meist eine Vorreiterrolle in
gesellschaftlichen Wandlungsprozessen haben, neue Codes also besonders schnell in die
Praxis umsetzen.
Bemerkenswert eindeutig kann man dabei sehen, dass sich die wesentlichen Änderungen
zwischen 1966 und 1981 abgespielt haben. Die Studentengeneration von 1996 unterscheidet
sich wenig von jener 15 Jahre davor, manche Entwicklungen sind sogar leicht rückläufig.
Wahrscheinlich ist es so, dass 1966 die Veränderungen voll im Gange waren und bis Mitte
der 70er Jahre im Großen und Ganzen abgeschlossen waren.
Was sind die wesentlichsten Änderungen im Übergang von der Moderne zur zweiten
Moderne, um in der Diktion Sieders zu bleiben?
Am beeindruckendsten ist wohl, in welchem Ausmaß und welcher Geschwindigkeit sich die
Geschlechtsunterschiede einebneten. Hatten Männer 1966 noch mehr Sexualpartnerinnen als
Frauen, ist dieser Unterschied später nicht mehr zu finden. Im Hinblick auf das Alter beim
ersten Geschlechtsverkehr, das sich generell um einige Jahre vorverlegte, dreht sich das
Verhältnis zwischen den Geschlechtern sogar um: Frauen fangen nun früher an.
Weisen die Daten darauf hin, dass Bindungen schwächer geworden sind?
Ja und Nein. Ja, weil der Geschlechtsverkehr viel weniger an die Institution der Ehe gebunden
ist. Nein, weil Sexualität nach wie vor, bei Männern sogar mehr als 1966, an eine feste
Beziehung gebunden ist, Männer somit sogar „romantischer“ geworden sind. In der
nüchternen Sprache der Studien: „Über 90% aller heterosexuellen Geschlechtsakte von
Studentinnen und Studenten finden in festen Beziehungen statt, für das Drittel der Singles
bleiben nicht einmal 10% der Liebesakte.“ (Schmidt und Dekker 2000, S. 132). Die
Partnermobilität bei den koitusaktiven Männern ist in den letzten drei Jahrzehnten
unverändert, bei den Frauen hingegen ist sie stärker geworden und erreicht nun das Niveau
der Männer. (Vgl. Schmidt, Dekker und Matthiesen 2000, S. 44). Die Partnermobilität war bei
Frauen 1981 sogar etwas höher als 1996. Wir haben es also mit einer De-Institutionalisierung
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und Intimisierung von Beziehungen und einer Romantisierung der Männer zu tun.
Die De-Institutionalisierung entspricht, wie auch Sieder hervorhebt, nur bei den Frauen
schwächer werdenden Bindungen bzw. einem Anwachsen der Skepsis.
Die skeptische Liebe zeigt sich aber vielleicht stärker in einem anderen Trend:
Wenn man davon ausgeht, dass Befragte unter „Geschlechtsverkehr“ über die Jahrzehnte das
gleiche verstehen, ist ein bemerkenswerter Rückgang in der Häufigkeit heterosexueller
Aktivität zu konstatieren. Dem steht eine deutliche Zunahme der Bedeutung der Masturbation
gegenüber. Sie hat es zur eigenständigen Sexualform gebracht, d.h. sie kann sich auch bei
Studierenden in festen Beziehungen gut behaupten, ist keineswegs nur Ersatz für die fehlende
Möglichkeit interpersoneller sexueller Betätigung. Allerdings besteht hier noch ein deutlicher
Unterschied zwischen den Geschlechtern: die Frauen haben zwar „aufgeholt“, masturbieren
aber noch immer deutlich seltener als Männer. Dieser Trend ist obendrein ungebrochen, d.h.
er setzt sich auch zwischen 1981 und 1996 fort.(Vgl. Schmidt et al 2000).
Die Sexualpraktiken haben sich also vom interpersonellen hin zum autoerotischen Pol
verschoben. Darin zeigt sich vielleicht am ehesten die Lockerung der Beziehungen, wie
Sieder sie meint.
Dieser Bedeutungszuwachs der Onanie, um die früher gebräuchlichere Bezeichnung zu
verwenden, steht darüber hinaus für einen tiefgreifenden Wertewandel.
Die Stichworte dazu sind „Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung“ und „sexuelle
Demokratie“.
Galt die Onanie zu Beginn der Moderne noch als auszurottende Krankheit (vgl. Hegener
2001), wohl weil sie der Prototyp fortpflanzungsungebundener Sexualität ist, so entspricht
deren nunmehrige volle Akzeptanz der endgültigen Entkoppelung von Sexualität und
Fortpflanzung. War im 19. Jahrhundert die autoerotische Betätigung des Kindes im Visier
elterlicher Überwachung, so löst heute das sexuelle Begehren vor allem der Väter, aber auch
der Mütter Ängste aus. Die Zärtlichkeit der Eltern hat also ihre Unschuld verloren, und damit
einher geht, so meint es jedenfalls Zygmunt Baumann (2001, S. 45), eine Lockerung der
Bindungen zwischen Eltern und Kindern.
André Bejin (1984) spricht in diesem Zusammenhang von „sexueller Demokratie“, in der die
Onanie zur „kanonischen Form“ des Orgasmus wird. Eine Analyse der Schriften von Masters
und Johnson bringt ihn zum Ergebnis, dass die darin propagierte „partnerschaftliche
Sexualität“ gleichsam zu einer „onanie à deux“ mutiere. Die „sexuelle Demokratie“ gipfelt, so
Bejin, in eine Art „libidinösem Quasi-Solipsismus von Buchhaltern der Onanie“. Und wie in
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der Wirtschaft gehören auch in der Sexualität Demokratie und freier Markt zusammen.
Folgt man Bejin und einem im gleichen Buch veröffentlichten Aufsatz von Michael Pollak, so
verkörpert die vormals verpönte Homosexualität, insbesondere in ihrer männlichen Form,
nunmehr die Merkmale sexueller Demokratie in Reinform. Ich zitiere Pollak (1984, S. 58f):
„Von allen Formen der Sexualität bietet die männliche Homosexualität in ihrem
Funktionieren gewiss noch am ehesten das Bild eines Marktes, auf dem es – im Grenzfall –
nur den Tausch <Orgasmus gegen Orgasmus> gibt“. Die Onanie als „Zentraleinheit sexueller
Demokratie“ (Bejin) ist folgerichtig in der Gruppe der Homosexuellen, die ja die Avantgarde
der sexuellen Entwicklung der letzten Jahrzehnte darstellt, was durchschnittliche Häufigkeit
und Spitzenwerte betrifft, am stärksten vertreten. (Vgl. Dannecker 1991, S. 52f)
Ich möchte daher vorschlagen, einen zentralen Code der zweiten Moderne zu benennen, der
die anderen (z.B. von Sieder) beschriebenen Beziehungscodes im Sinne von deren
Verhandelbarkeit überlagert. Man könnte ihn als den Code der partnerschaftlichen Liebe, oder
allgemeiner mit Bejin (1984, S. 261f) als „sexuelle Demokratie“ bezeichnen. Deren
wichtigste Merkmale wären:

vernunftgeleitete Kosten-Nutzen-Abschätzung der Liebesbeziehung – welche Form der
Befriedigung möchte ich gewinnen und was muss ich dafür in Kauf nehmen;

gleiche Rechte zwischen den Partnern, größtmögliche Freiheit und Toleranz: jedes
Individuum bzw. jedes Paar möge tun was immer es will, wenn nur beide Partner bzw.
alle Beteiligten damit einverstanden sind und niemand dadurch geschädigt wird.
Solange diese Merkmale zutreffen ist es einerlei, ob sich jemand in passionierter,
romantischer oder skeptischer Liebe verwirklichen will, ob die Partner sich in zärtlicher
Zweisamkeit Orgasmen schenken oder einen sadomasochistischen Swingerclub aufsuchen.
Gunter Schmidt (2004) nennt es „Verhandlungsmoral“, Volkmar Sigusch (2001a)
„Konsensmoral“. Michele Houellebecq spricht in seinem Roman „Elementarteilchen“
verächtlich von „sozialdemokratischer Sexualität“.
Wie stellt sich die so beschriebene Entwicklung psychoanalytisch betrachtet dar?
Bleiben wir zunächst noch etwas an der Oberfläche, bei den manifesten Phänomenen: Gehen
wir wiederum einige Jahrzehnte zurück und lassen uns Karl-Markus Gauß (1998, S. 11) den
Alltag eines außergewöhnlichen Menschen eine Generation nach Musil schildern: „Sonntags
hat der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer oft die innigsten Erlebnisse der
Woche gehabt. Und als zugleich sinnlicher und bürokratischer Charakter, der er war, wollte er
in seinem Notizbuch stets getreu verzeichnen, was ihm widerfuhr. Da findet sich etwa zuerst
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das Kürzel >a. s. m.< und darauf ein zweites, nämlich >d. ex. m.< >A. s. m.< steht für >apud
sanctam missam<, also für die heilige Messe, die der getreue Katholik selten versäumte und
der fleißige Alltagsneurotiker niemals vergaß, als absolviert in eines seiner Schreibhefte
einzutragen. >D. ex. M.< aber bedeutet >dies excellentis martirii<, also >Tag der
vorzüglichen Folterung<, und meinte nichts anderes, als dass der biedere Ehemann nach dem
Kirchgang bei einem seiner zahlreichen Geliebten beiderlei Geschlechts vorbeischaute, um
ihm eine excellente sexuelle Bestrafung angedeihen zu lassen. Zeitlebens hat es Doderer nun
einmal größte Lust bedeutet, strafend den Hintern seiner Partner und Partnerinnen zu
bedenken ...“.
Der fleißige Alltagsneurotiker frönte also zugleich etwas, das man als Alltagsperversion
bezeichnen könnte, „einer alle gesellschaftlichen Schichten durchpflügenden sadistischen
Neigung“ (Gauß 1998, S. 11).
Hätte er einige Jahrzehnte später gelebt, Doderer hätte es wohl kaum mehr für nötig befunden,
seine Vorliebe hinter lateinischen Kürzeln zu verbergen. Auf der Ebene manifest gelebter
Sexualität gelten viele Praktiken, die zuvor den Perversionen zugeordnet waren, mittlerweile
als normal. Nicht nur dass Oral- und Analverkehr allein durch die von Kinsey konstatierte
Häufigkeit des Vorkommens aus der Verbotszone entkamen. Fetischismus und
Sadomasochismus werden nicht mehr grundsätzlich als Krankheiten betrachtet,
Transsexualismus sei sogar ein höchstrichterlich anerkanntes „Neogeschlecht“, so Volkmar
Sigusch (2005, S. 7f) in seinem zuletzt erschienenem Buch „Neosexualitäten“.
Kurzum: die Alltagsperversion hat mittlerweile den Sanktus der Normalität. Ich finde es daher
treffender, in Anlehnung an den Begriff Normalneurose von Normalperversion zu sprechen.
Wenn wir psychoanalytisch forschen als Suche nach einem abgewehrten Unbewussten hinter
einem manifesten Phänomen verstehen, ergeben sich in unserem Zusammenhang folgende
Fragen:
Was wird mit der Ökonomisierung der Sprache, was mit dem Einebnen der
Geschlechtsunterschiede, was mit der Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung und
der Zunahme der Bedeutung der Masturbation abgewehrt? Was hat das mit der zeitgleich
entstehenden Normalperversion zu tun?
Es sind unangenehme Fragen, die die Psychoanalyse zu stellen hat, aber das ist ja wohl ihre
ureigenste Aufgabe. Affirmative Rezensenten postmoderner Entwicklung wie Gunter Schmid
versuchen solche Fragen als „Das bürgerliche Drama der Sexualität, das die Psychoanalyse
noch immer unverdrossen aufführt ...“ zu diffamieren. Und schon findet sich die
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Psychoanalyse in überraschender Gesellschaft auf ein Abstellgleis verschoben: „Und so
scheint es, als sei die Sexualität zu Beginn des Jahrhunderts gründlich entrümpelt: vom
Katholizismus, vom Patriarchat (fast) und von der Psychoanalyse. Das ist nicht wenig für 50
Jahre, fast schon eine Erfolgsgeschichte“ (Schmidt 2000, S. 14). Ich muss also die Gefahr in
Kauf nehmen, als katholisch patriarchalisch hingestellt zu werden, wenn ich den
postmodernen Diskurs über Sexualität psychoanalytisch interpretiere.
Die Frage, was mit Phänomenen, die man als „sexueller Befreiung“ bezeichnet, abgewehrt
wird, erscheint auf den ersten Blick denn auch allzu paradox, geht es doch manifest um das
Gegenteil von Abwehr. Gesellschaftspolitisch handelt es sich um Folgen emanzipatorischer
Entwicklungen, deren positive Errungenschaften ich keineswegs in Frage stellen möchte.
Psychoanalytisch gesehen gibt es natürlich auch andere Abwehrformen als jene der
Unterdrückung, der Verdrängung. Besonders interessant ist hier jene der Verleugnung.
Was wir beobachten können ist meines Erachtens, dass tendenziell ein Abwehrmodus durch
einen anderen abgelöst wird. Mit „Modus der Konfliktverarbeitung“ ist nach Mentzos (1982,
S. 109) die jeweilige Gesamtheit der Abwehr- Ersatzbefriedigungs- und Reperaturvorgänge
inklusive des Umganges mit äußeren und inneren Objekten gemeint. Die Verbreitung der
Normalperversion kann man so interpretieren, dass zunehmend ein perverser an die Stelle
eines neurotischen Abwehrmodus tritt.
Es findet eine Gewichtsverlagerung von der Normalneurose zu einer Normalperversion statt.
Dies sind unterschiedliche Lösungen zur Bewältigung eines Traumas, mit dem jedes
Menschenkind konfrontiert ist: der Wahrnehmung des Geschlechtsunterschiedes. Der
Grundkonflikt stellt sich natürlich nach wie vor so dar, wie Freud es beschrieben hat. Die
verschiedenen Bewältigungsstrategien waren auch schon immer vorhanden. Aber bei den
Normalen im Sinne der statistischen Norm hat sich die „Lösung“ vom neurotischen zum
perversen Pol (zur „geschickten Lösung“, wie Freud in „Ich-Spaltung im Abwehrvorgang“
schreibt) hin verschoben. Ausdrücklich sei nochmals festgestellt, dass ich damit keine
Bewertung im Sinne einer Gesundheitsnorm verbinde. Ich halte die „normalperverse Lösung“
nicht von vorne herein für kränker, schädlicher oder gefährlicher in ihren Folgen als die
„normalneurotische Lösung“, aber auch nicht für von vorne herein gesünder, freier oder
harmloser. Trotzdem muss ich (nicht ganz überraschend) konstatieren, dass es schwierig ist,
diese Fragen tendenzlos darzustellen, also ohne einen implizit entwertenden Ton gegenüber
einer der beiden Lösungen.
Wie man sich diese Verschiebung in typischen Abwehrkonstellationen vorstellen kann
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möchte ich anhand eines Wandels in der Inszenierungspraxis des „Bühnenweihfestspieles“
Parzifal von Richard Wagner illustrieren, einem, wie aus der Bezeichnung schon hervorgeht,
christlich patriarchalen Machwerk in wunderschöner Opernkomposition. Aus
psychoanalytischer Perspektive kann man das Libretto dieses Dramas als Gegenüberstellung
der neurotischen und der perversen Lösung des Traumas der Geschlechterdifferenz lesen, vor
allem wie sie sich aus männlicher Sicht darstellen.
Die Ritter der Gralsburg flüchten sich vor den Anfechtungen des Weiblichen in den latent
homosexuellen Männerbund. Für Freud gibt es bekanntermaßen zwei „Felsen“, die als Folge
der Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz das unbewusst psychische Leben dominieren
und nicht selten der Analyse trotzen: den Penisneid bei der Frau und die homosexuelle Angst,
penetriert zu werden, beim Mann.
Die traditionelle männliche Lösung besteht vereinfacht gesagt in der Überakzentuierung der
Geschlechterdifferenz, als Mittel dazu dient oft die ritterliche bzw. später soldatische Stählung
des eigenen Körpers. Passiv weibliche Wünsche werden verdrängt und kehren als Symptom
wieder, letztendlich also ein typisch neurotischer Vorgang. In Parzifal leidet Amfortas, König
der Gralsritter, an einer Wunde, die sich nicht schließt und periodisch (immer am Karfreitag)
besonders unerträgliche Schmerzen bereitet. Eine solche Wunde kann natürlich nur mit
einem besonderen Speer (oder Schwert) geschlagen werden, in diesem Fall durch die
gleichsam göttliche Lanze (mit der Jesus die Seite geöffnet wurde), die in die Hände des
bösen Gegenspielers Klingsor gefallen war. Ähnliche Konstellationen haben wir in den Sagen
von Achill oder Siegfried: stahlharte Helden, nur verwundbar an einer Stelle hinten am
Körper (Rücken, Ferse), in die der Speer oder Pfeil eindringen kann.
Auf der anderen Seite steht Klingsor. Einst wollte er auch in die Gralsgemeinschaft, allerdings
ausgestattet mit einer Lösung des Geschlechterverhältnisses, die für die Ritter nicht
annehmbar war: er hatte sich entmannt. Die Verleugnung des Unterschiedes, das GleichMachen, beschreiben Freud und in der Folge andere Psychoanalytiker wie Janine ChasseguetSmirgel (1984, S.9) als Grundlage perverser Entwicklung. Entsprechend ist das Verhältnis
Klingsor’s zu den Frauen das eines Kontraktes. Er zwingt sie, speziell die weibliche
Hauptfigur Kundry, ihm zu Diensten zu sein. Mit der so in Fesseln geschlagenen Sexualität
kann er die gehassten Ritter, die im Gegensatz zu ihm durch die Liebe affizierbar und somit
verführbar sind, vernichten.
Erlösend kann nur Parzifal wirken, der „reine Tor“, der gar nichts weiß, nicht wer und was er
ist, nicht einmal, wie er heißt, ohne Vater, Geschwister oder menschliche Gefährten
aufgewachsen, die reine Natur sozusagen, die nichts von Geschlechter-, geschweige denn von
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Generationendifferenz weiß.
In der Wiener Staatsoper war bis 2003 eine traditionell-moderne Inszenierung von August
Everding in Gebrauch: Die Gralsritter nicht verherrlicht, aber doch würdevoll in ihrer
Schlichtheit, Klingsor ein diabolischer Bösewicht, zu fürchten zwar, aber am Ende des
zweiten Aufzuges in der Niederlage gegen Parzifal der Lächerlichkeit preisgegeben.
In der Regie von Christine Mielitz, die Ostern 2004 Prämiere hatte, stellen sich die
Verhältnisse umgekehrt dar: die Ritter ein lächerlicher Haufen, die Degenbewährt, aber
sichtlich orientierungslos zwischen Aggressions- und Fluchtimpulsen um ihren verwundeten
König herumtänzeln; der Männerbund ist unterwandert, Frauen in Männerkleidung sind
dabei; die „Rüstungen“ schlaffe Bodies über unvorteilhaft faltigen Overalls. Erzielt wird
damit der Eindruck hoffnungslos gestriger Erscheinungen. Assoziativ begründet dies die
Regisseurin, indem sie die Ritter im dritten Aufzug in einer Weise aufmarschieren lässt, wie
wir es von Bildern endloser Kolonnen zerlumpter deutscher Soldaten kennen: eine
geschlagene Armee am Weg in die Gefangenschaft.
Ganz anders Klingsor und sein Reich: ein postmodern in Leder gekleideter Glatzkopf, den die
Regie zwar auch zwingt, den unvorteilhaft fettleibigen Oberkörper nackt zu präsentieren; aber
in Auftreten und Ambiente seiner Burg sehr zeitgemäß, einer, dem man, im Gegensatz zu den
Rittern, in unserer heutigen Gesellschaft Erfolg und Anerkennung zutrauen würde.
Was wird damit illustriert?
Der Zugang zur Geschlechterdifferenz ist immer konflikthaft. Er konfrontiert uns, wie Freud
in „Die endliche und unendliche Analyse“ ausführt, mit dem Kastrationskomplex, also der
Angst vor der eigenen passiv-homosexuellen Einstellung beim Mann und dem Penisneid bei
der Frau: Männer müssen ihre aktiv-phallische Überlegenheit ständig beweisen, Frauen
kämpfen auf unterschiedlichste Weise mit dem Gefühl von Minderwertigkeit und fehlender
Anerkennung ihrer hervorragenden Leistungen. Diese Konflikte kann man sich scheinbar
ersparen. Man muss nur so tun, als gäbe es gar keinen existentiellen Unterschied zwischen
Mann und Frau. Der konfliktreiche Zugang wäre der „neurotische Weg“, gekennzeichnet
durch mehr oder weniger starke Verdrängung der eigenen bisexuellen Anlage. Dem wäre der
perverse Abwehrmodus gegenüberzustellen, die mehr oder weniger starke Verleugnung der
Differenz, die Identifizierung mit der bisexuellen Anlage. Folgt man Chasseguet-Smirgel
(1984), so kommen noch die Verleugnung des Unterschiedes zwischen den Generationen
sowie der natürlichen Beschränktheit des Menschen dazu.
Wenn man sich die möglichen Abwehrmodi auf einem Kontinuum zwischen neurotischem
und perversem Pol aufgereiht denkt, dann geht es bei der Normalperversion um eine graduelle
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Verschiebung im statistischen Normbereich. Ebenso wenig, wie wir es bei Normalneurotikern
mit Neurosen im klinischen Sinn zu tun haben, dürfen wir hier klinische Kriterien für
Perversioni anlegen, sondern werden charakteristische Züge davon in minder starker
Ausprägung finden.
Die heikle Frage, die sich konsequenterweise anschließt, lautet: wie weit lassen sich die oben
beschriebenen manifesten Phänomene im Sinne eines perversen Abwehrmodus interpretieren?
Ökonomisierung der Sprache
Es gibt viele konzeptuelle Metaphern der Liebe, die oben erläuterte von Liebe ist
Partnerschaft ist nur eine davon. Wenn wir zum Beispiel von einem Funken, der überspringt,
von „wie elektrisiert sein“ reden, denken wir Liebe als elektrische Spannung, die uns ergreift.
Wenn wir uns von jemandem angezogen oder abgestoßen fühlen, verstehen wir die
„Attraktivität“ zwischen Menschen am Modell physikalischer Kräfte wie Magnetismus, und
ebenso wenig wie diesen Kräften der äußeren Natur können wir uns dann den Wirkungen der
Liebe entziehen. Da gibt es nichts vertraglich auszuhandeln.
Schicksal in Geschick umzuwandeln ist das Ziel der Aufklärung im Allgemeinen und jeder
Psychoanalyse im individuell Besonderen. Die Umwandlung von Liebe und Sexualität von
bedrohlich roher Kraft innerer Natur in planbares Vertragswerk mit beschränktem Risiko ist
seit der Mitte des letzten Jahrhunderts ein Projekt der Aufklärung. Aber wie jede Aufklärung
hat auch diese ihre Dialektik, die nach Horkheimer und Adorno darin besteht, dass „die
Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der
Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen gipfelt“. (Horkheimer und Adorno 1944, S. 6).
Die schmerzhafte Konfrontation mit der Realität lehrt uns, dem eigenen Narzissmus zu
misstrauen und von Allmachtsvorstellungen Abschied zu nehmen. Die Konfrontation mit dem
Entweder-oder des Geschlechtes stellt auf jeden Fall auch eine narzisstische Kränkung dar,
verlangt sie uns doch ab zu akzeptieren, dass wir nicht beides sein können. Die Verleugnung
dieser Differenz bzw. die Verwandlung in eine Frage der Rolle, des Gender, erlaubt mehr
vom kindlichen Allmachtsgefühl aufrecht zu erhalten. Es ist nicht mehr eine Frage des
Schicksals, welchem Geschlecht wir angehören, wir können es wählen, nach Wunsch
verändern, damit spielen. Die Ökonomisierung der Sprache und die damit eng verbundene
Etablierung der Sexuellen Demokratie inklusive Verhandlungsmoral gehören für sich
genommen nicht zu einem perversen Abwehrmodus, begünstigen aber viele Aspekte davon.
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Alles ist nur eine Frage des Aushandelns, wie ein großes Rollenspiel, man kann alles
„machen“. Oder wie Zizek meint: „Perversion kann als Verteidigung gegen das Motiv ‚Tod
und Sexualität‘ verstanden werden, gegen die Gefahr der Sterblichkeit ebenso wie gegen die
zufällige Verhängung sexueller Unterschiede. Der Perverse schafft sich eine Welt, in der, wie
in Cartoons, ein Mensch jegliche Katastrophe überleben kann, in der die erwachsene
Sexualität zu einem kindlichen Spiel reduziert worden ist; in der niemand gezwungen ist, zu
sterben oder zwischen den beiden Geschlechtern zu wählen.“ Das ist sehr treffend
beschrieben, nur die unüberhörbare Geringschätzung erscheint überflüssig. Auch die
normalneurotischen Welt aus Gottvertrauen und Schicksalsergebenheit ist nicht gerade arm an
(produzierten) Katastrophen.
Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung, Etablierung der Masturbation als
eigenständige Sexualform
Für die Frage des perversen Abwehrmodus ist nicht das manifeste Phänomen das Kriterium,
also ob jemand ehedem oder noch immer gesellschaftlich als pervers eingestufte Praktiken
durchführt, sondern ob er/sie den Unterschied zum heterosexuellen Koitus wahrnehmen und
anerkennen kann. Entscheidend ist, ob die unbewusst arrangierte Szene diesen Unterschied
verleugnet.
In der New York Times-Beilage des Standard vom 13. Juni 2005 wird Leonore Tiefer zitiert,
eine auf Sexualität spezialisierte Psychologin und „associate professor of psychiatry“ an der
Universität New York: „You can have a perfectly good sex life even if you don’t have any
genitalia, if you have a good relationship and you feel good about yourself.“ Man braucht also
keine Genitalien für ein perfektes Sexuallaben. Nach Auffassung der Psychoanalyse steht ein
Kind mit ca. 5 Jahren vor der schmerzhaften Aufgabe anzuerkennen, dass seine kindlichen
Genitalien es niemals gestatten werden, das sexuelle Begehren nach der Mutter/dem Vater zu
konkretisieren. Eine unbewusste gesellschaftliche Inszenierung, die zunehmend an Dominanz
gewinnt, lautet in etwa: alles ist gleichwertig, nichts darf wertend unterschieden werden,
deshalb hat jeder auch ein Anrecht auf alle Möglichkeiten.
Es klingt ja schon hausbacken altmodisch oder katholisch, überhaupt die Frage zu stellen, ob
es nicht einen Unterschied zwischen Sexualität, die auf Fortpflanzung ausgerichtet ist, und
solcher, bei der man (phantasiert) kinderlos bleibt, gibt. Das ist nur all zu verständlich aus der
noch nicht lange vergangenen Pönalisierung jeder nicht auf Fortpflanzung ausgerichteten
Sexualität. Aber sie nicht zu stellen, so zu tun, als ob es da keinen Unterschied gäbe, kommt
einer Verleugnung der Differenz zwischen polymorph perverser Kindersexualität und auf
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Fortpflanzung ausgerichteter Erwachsenen-Sexualität gleich. Das ist, wie Juliet Mitchell (vgl.
Artikel in diesem Heft) ausführt, eng mit der Verleugnung der Geschlechterdifferenz
verbunden: In der „Gender-Sexualität“ unterscheiden wir uns alle so wie keine Schneeflocke
der anderen gleicht. Wenn es der Sexualität am normalneurotischen Pol oft an Verspieltheit
mangelt, so kommt am normalperversen Abwehrpol die Fähigkeit zur Realisierung des
Mangels abhanden.
Angleichung der Geschlechter in der praktizierten Sexualität, Einebnung der Unterschiede
Die Verleugnung des Geschlechtsunterschiedes wird von Freud in der Arbeit über den
Fetischismus beschrieben. Verleugnung führt zur Ich-Spaltung: ein Teil des Ich nimmt wahr,
ein anderer verweigert der wahrgenommenen Realität die Anerkennung. Phyllis Greenacre
(1969, zitiert nach Reiche 1990, S. 110) schreibt: „Der Fetisch ist deutlich ein bisexuelles
Symbol und dient auch als Brücke, die die Geschlechtsunterschiede zugleich verleugnet und
bestätigt.“
Der Kampf um gleiche Rechte für Frauen und Männer hat für sich genommen nichts mit der
Verleugnung des Unterschiedes zu tun, ebenso wenig die Angleichung von Koitus- oder
Masturbationsfrequenzen. Aber wenn die Differenz der Geschlechter auf eine Gender-Frage,
d.h. auf unterschiedliche Rollen und Zuschreibungen, reduziert wird, kommt das einer
Verleugnung des anatomischen Unterschiedes doch sehr nahe. Der Begriff Gender erlaubt
etwas sehr ähnliches wie der Fetisch: den Geschlechtsunterschied zugleich zu bestätigen und
zu verleugnen. Ein zehnjähriger Patient von Robert Stoller namens John sagt über einen von
ihm gezeichnetes „Tom-girl“: „Er weiß nicht, dass sein Penis ihn zu einem Knaben macht. Er
wusste, dass er einen Penis hatte. Er glaubt, dass jeder verschieden geboren ist, so wie alle
Schneeflocken verschieden sind.“ Juliet Mitchell (vgl. Artikel in diesem Heft) illustriert
Gender-Sexualität an diesem Beispiel: „... John beanspruchte für sich, den Unterschied
zwischen den Geschlechtern zu kennen, nur mochte er ihn nicht. Er wusste, dass die
Geschlechter verschieden wie Schneeflocken waren.“ 2003 fand in Hamburg eine Tagung der
deutschen Gesellschaft für Sexualforschung zum Thema „Geschlecht zwischen Spiel und
Zwang“ statt (Richter-Appelt und Hill 2004). Der Soziologe Stefan Hirschauer hielt das
Eröffnungsreferat. In Anschluss an Judith Buttlerii weicht er den von Stoller eingeführten
Unterschied von Sex und Gender dahingehend auf, dass es kein Sex im Sinne eines
biologischen Geschlechtes gibt, dass Sex ebenso wie Gender ein Produkt gesellschaftlicher
Zwänge ist. „Körperliche Geschlechtszeichen“ werden als eine von vielen „Verankerungen
der Geschlechtszugehörigkeit“ einmal erwähnt. Aber es bleibt völlig offen, ob damit die
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Körperbehaarung, Muskulösität, Brüste, oder eben doch auch Penis und Vagina, Hoden und
Uterus gemeint sind. Er sieht denn auch die Gesellschaft auf dem Weg zu einem „undoing
gender“, ein mehr oder weniger aktives Absehen von der Geschlechterdifferenz. „So wie es
also eine starke institutionelle Infrastruktur der Geschlechtsdifferenzierung gibt, so gibt es
auch eine (wachsende) institutionelle Infrastruktur der Geschlechtsneutralisierung. Historisch
alte Einrichtungen, die uns an unser Geschlecht erinnern, stehen gegenwärtig in einer
massiven Konkurrenz zu jüngeren Einrichtungen, die es vergessen machen wollen.“
(Hirschauer 2004, S. 30) Es gehe um einen entspannteren Willen zum Wissen, die „höfliche
oder habituelle Unaufmerksamkeit fürs Geschlecht könnte nun bis zu einer
Anonymitätszusicherung ausgedehnt werden...“ (ebenda S. 34).
Hier scheint der Fall zu sein, worauf mich vor allem Robert Pfaller in einer Diskussion des
Themas bei der „Forschungsgruppe Stuzzicadenti“iii hingewiesen hat: man kann die
Geschlechterdifferenz leugnen, indem man die Geschlechtlichkeit schlechthin leugnet – eine
Variante, bei der der Narzissmus völlig die Oberhand bekommt. Zur „perversen Lösung“
gehört die unbewusste Überzeugung, dass auch die Mutter einen Penis besitzt. Pfaller
verweist in diesem Zusammenhang auf Lacan, der die männliche Identifikation mit dem
imaginären Phallus der Frau als konstitutiv für die Perversion erklärt. Wäre die Entwicklung
doch treffender mit „Normalnarzissmus“ denn mit „Normalperverion“ zu beschreiben, wie er
folgerichtig meint, hätten wir es mehr mit einer Nullgeschlechtlichkeit denn mit einer
phantasierten Doppelgeschlechtlichkeit zu tun? Bei Hirschauer kann man aus einem
Nebensatz erschließen, dass sich hinter der praktizierten Geschlechterindifferenz des
„undoing gender“ doch der nicht aufgegebene Anspruch auf Doppelgeschlechtlichkeit
verbirgt: bedauernd stellt er fest, dass „das Recht insgesamt weiter von der Anerkennung
einer <doppelten Geschlechtszugehörigkeit> entfernt (ist) als von der einer doppelten
Staatsbürgerschaft.“ (Hirschauer 2004, S. 35).
Wenn der Zwang zur Geschlechtlichkeit nur ein gesellschaftlicher ist gibt es keine
biologische Festlegung. Die „Gesellschaft“ ist dann die allmächtige phallische Mutter, die
bestimmen kann, wem ein Penis wächst, bei Bedarf kann jeder und jede einen haben oder ihn
in der Vagina verstecken.
Wie unverkennbar narzisstischer die Menschen der postindustriellen Gesellschaft auch
geworden sind, so ist mit „Normalperversion“ vom mir doch ein Phänomen gemeint, das nicht
nur ein „Normalnarzissmus“ ist. Allerdings ist es wohl so, dass ich das „Dienstverhältnis“
dabei umkehrt, in der Perversion also der Trieb dem Narzissmus dient (wie Morgenthaler in
seiner Plombentheorie beschreibt), während in der Neurose der Objekt-suchende Trieb alle
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Funktionen seinen (geheimen) Absichten unterwirft. Die Form des Narzissmus bestimmt eher,
ob wir es mit einer Normalperversion oder mit klinischen Ausformungen zu tun haben. Für
den perversen Abwehrmodus bleiben die Verleugnung von Geschlechts- und
Generationendifferenz und der natürlichen Beschränktheit charakterisierend.
Sexualität im Zeichen der Verhandlungsmoral oder die Verleugnung des Zwanges
„Besonders zeitgemäß und durch nichts anderes ersetzbar ist eine Perversion, wenn sich ihre
Inszenierung und damit das schaudernde Entzücken ohne große Umstände, leicht, schnell und
ohne Gefahren herstellen lässt. Damit kann, einmal so betrachtet, die sehr viel umständlichere
und riskantere Heterosexualität nicht konkurrieren.“(Sigusch 2005, S. 79).
Wie oben ausgeführt, ist „Liebe“ unter dem Zeichen „sexueller Demokratie“ von
Verhandlungsmoral geleitet. Im sexuellen Verhältnis handelt es sich tendenziell eher um
einen „Kontrakt“ denn um eine Verbindung. Die Beziehung in diesem „partnerschaftlichen
Verhältnis“ ist der Einhaltung des Vertrages untergeordnet. Das scheint etwas anderes zu sein
als Liebe im Sinn von konstant aufrechterhaltenem Begehren. Es geht um Selbstoptimierung,
Beziehungsoptimierung, bestes Ausnutzen der Ressourcen zu gemeinsamen Nutzen. Auf
diesem Weg, „den Körper warenästhetisch zu erschließen oder dem bisherigen tumben
Sexualleben (einen) Hauch von Perversion einzublasen“ (Sigusch 2005, S 102) wird das
ehemals Kranke zum Vorreiter. So kann man schon im Fernsehen erfahren, „dass es einen
Reparaturbetrieb für Dildi gibt und auch ein ordentliches Dienstleistungsgewerbe, das gerufen
werden kann, wenn der Sadist die Kette oder den Käfig nicht mehr zu öffnen vermag.“
(ebenda S. 102). Mit einem Wort: Die „Mega-Lust der gesunden Perversion“, wie Sigusch sie
affirmativ nennt, passt viel besser zur ökonomisierten Verhandlungsmoral der sexuellen
Demokratie als zu den Zwängen des Gesetzes der väterlichen Welt (Chasseguet-Smirgel
1984, S. 23) in der normalneurotischen heterosexuellen Beziehung.
Wenn man also nach der möglichen Abwehrfunktion der manifesten Veränderungen des
Sprechens über Liebe und des sexuellen Verhaltnes fragt, kann man zusammenfassend
feststellen:
Der eigentliche „Skandal des Sexuellen“, dass man nur entweder weiblich oder männlich sein
kann, nicht beides, war immer schon eine Herausforderung für die Realitätsfunktion des Ich.
Vieles in der Diskussion des Geschlechterverhältnisses scheint diese Herausforderung zu
relativieren, den Skandal weniger brisant zu machen: irgendwie können wir ja doch beides
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sein.
Mit der Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung wird ein anderer Unterschied
verwischt, nämlich die Differenz zwischen polimorph-perverser Kindersexualität und auf
Fortpflanzung ausgerichteter Erwachsenensexualität.
Die Ökonomisierung der Sprache dient auch der Abwehr des Schicksalhaften unseres
(geschlechtlichen) Lebens.
Es ist also der „Skandal des Sexuellen“, der wie eh und je abgewehrt wird, nur das Wie dieser
Abwehr folgt dem Zeitgeist.
Literatur:
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Freud, Sigmund (1931): Über die weibliche Sexualität. GW XIV, 517-537.
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Sieder, Reinhard: Skeptische Liebe. Verflüchtigung und schwache Beziehungen in der zweiten Moderne.
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Zizek, Slavoj: Die zwei Seiten der Perversion. Die Philosophie der Matrix. In:
http://www.schnitt.de/themen/artikel/philosophie_der_matrix__die_-_die_zwei_seiten_der_perversion.shtml
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Reimut Reiche (1990, S. 107) führt folgende vier klinischen Kriterien für eine Perversion an:
„1. Es werden unbelebte Objekte und / oder Handlungen sexuell (und nicht nur libidinös) so besetzt wie sonst
lebendige Partner (Kriterium der Ubiquität des Fetischs).
2. Diese Objekte und Handlungen werden, zusammen mit einem Partner oder allein, in eine Szene eingebaut,
deren Darstellung für die Erlangung sexueller Erregung obligat ist (Kriterium der perversen Szene).
3. Die an diese Szene gebundene Erregung fürht zur sexuellen Entladung im Orgasmus (Kriterium das
Orgasmus).
4. Die periodische Wiederholung der zumOrgasmus führenden Szene ist zwingend und wird wie eine körperliche
Sucht erlebt; der Entzug der Möglichkeit zur Inszenierung führt zu Entzugserscheinungen (Kriterium der
suchtartigen Unaufschiebbarkeit).“
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Eva Waniek von der Gruppe Stuzzicadenti gibt in einem unveröffentlichten Vortrag mit dem Titel „Sex und
Gender – Zur sozialen Konstruktion des Geschlechts und seiner individuellen Annahme“ einen guten Überblick
über die Arbeit Butlers.
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Ich möchte mich bei den „Stuzzicadenti“ für die engagierte Diskussion herzlich bedanken
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