Ansprache am 8. Mai 2005 zum 60. Jahrestag des 8. Mai 1945 Sehr geehrte Mitglieder der Gemeindevertretung und der Gemeindejugendvertretung, sehr geehrte Damen und Herren, herzlichen Dank, dass Sie heute hierher gekommen sind, um gemeinsam zu gedenken und zu erinnern. Heute vor 60 Jahren, am 8. Mai 1945, kapitulierte die Wehrmacht des nationalsozialistischen Deutschland bedingungslos. Im Namen Deutschlands war fast die ganze Welt in Brand gesetzt worden. Auf den totalen Krieg mit 55 Millionen Toten und unvorstellbaren Verwüstungen folgte die totale Kapitulation. Der Weltkrieg war in Europa zu Ende, in Asien noch nicht. Die Leiden der überlebenden Opfer und deren Nachkommen dauern bis heute an. Der 8. Mai 1945 war und ist der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Dieser Tag darf nicht losgelöst vom Tag der Machtübergabe am 30. Januar 1933 betrachtet werden. An diesem Tag der Machtübergabe an die NSDAP begannen die Gewaltherrschaft und der Weg in die Barbarei. Nationalsozialismus und Krieg sind keine unvermeidlichen Naturereignisse gewesen, sie wurden von Menschen gemacht. Der Krieg in den Köpfen begann schon am 30. Januar 1933. Wie konnte das geschehen? Wie konnte der Nationalsozialismus ein derart hohes Maß an innenpolitischer Integration erreichen? Warum entschieden sich bei Wahlen 1933 über 50% für die NSDAP – Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei und die DVP – Deutsche Volkspartei? Warum entschieden sich diese Wähler für einen autoritären Staat und gegen die Demokratie? Warum entschied sich die Bevölkerung des Saargebietes bei der Volksabstimmung 1935 für das nationalsozialistische Deutschland, für eine Diktatur? Warum bestätigte die Bevölkerung Österreichs in einer Volksabstimmung den sogenannten „Anschluss“ an das Deutsche Reich? Warum machte der Austritt aus dem Völkerbund den Nationalsozialismus populär? Warum gab es keinen Aufschrei als 1938 die Synagogen brannten? Folgende Worte eines Augenzeugen sind überliefert: „Dieses Feuer kehrt zurück. Es wird einen großen Bogen gehen und wieder zu uns kommen“. Warum jubelten die Menschen in ganz Deutschland nach dem Sieg der deutschen Wehrmacht über Polen und Frankreich? Ist der Nationalsozialismus eine mehrheitsfähige Zustimmungsdiktatur gewesen, auch wenn viele das nicht wahr haben möchten? Der 8. Mai 1945 markiert das Ende des verbrecherischen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion und gegen andere Länder sowie das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die von Deutschland aus Europa und die Welt mit Zerstörung und unsäglichen Verbrechen überzogen hat. Es war auch das Ende des Genozids. Mit dem Überfall auf die Tschechoslowakei im Jahr 1939 zeigte die deutsche Wehrmacht ihre bedingungslose Unterstützung der außenpolitischen Ziele der nationalsozialistischen Politik: „Eroberung von neuem Lebensraum“. Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 war ein Verbrechen, ebenso der Krieg gegen Luxemburg, Belgien, Niederlande, Frankreich, England, Dänemark, Norwegen und all die anderen Staaten. Ohne die Eroberung und Besetzung von Polen hätte es Auschwitz - Birkenau, Belcezc, Sobibor, Majdanek und Treblinka nie gegeben. Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war ein Verbrechen, es war ein rassistischer Raubkrieg. Ohne die Enteignung und Ermordung der europäischen Juden wäre die Aufrüstung nicht finanzierbar gewesen. Ohne den systematischen Raub in den überfallenen Ländern wäre der Krieg nicht finanzierbar gewesen. Die deutsche Wehrmacht trägt die Verantwortung für den Tod von 3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die systematisch dem Tod durch Hunger und Krankheit preis gegeben wurden. Der Generalquartiermeister des Heeres sagte am 13. November 1941: „Nicht arbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern.“ Die deutsche Wehrmacht trägt die Mitverantwortung für über 20 Millionen Zivilisten, die in den eroberten Gebieten durch den Lebensmittelraub für die Wehrmacht dem Tod durch Hunger und Krankheit preis gegeben wurden. Die deutsche Wehrmacht trägt die Verantwortung für 1 Million Menschen, die bei der Belagerung von Leningrad – St. Petersburg verhungert sind. Die deutsche Wehrmacht trägt die Mitverantwortung für die deutschen Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Die deutsche Wehrmacht trägt die Verantwortung für die Zerstörung von Guernica, Warschau, Rotterdam, Amsterdam, Coventry und alle anderen zerstörten Städte Europas. Die deutsche Wehrmacht trägt die Mitverantwortung für die Ausplünderung Europas. Die deutsche Wehrmacht hat nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 das Naziregime gerettet. Zwischen dem 20. Juli 1944 und dem 8. Mai 1945, in zehn Monaten, fielen dem Zweiten Weltkrieg noch einmal so viele Menschen zum Opfer wie in den ganzen Jahren zuvor. Die Wehrmacht folgte dem Ruf zum „totalen Krieg“. Zerstörung, Vernichtung und Leid dauerten bis zum letzten Moment an. Erst am 27. März 1945 fuhr der letzte Zug mit Juden nach Theresienstadt und auf den Todesmärschen wurden noch unzählige Menschen aus den Konzentrationslagern in den Tod gerieben. Erst am 5. Mai 1945 wurde Mauthausen erreicht, erst da endete das Morden. Der 8. Mai 1945 steht für den gemeinsamen Sieg der Anti-Hitler-Koalition - UdSSR, USA, Großbritannien und andere Länder der Welt - über das nationalsozialistische Deutschland. Noch heute sind wir den Soldaten der Alliierten dankbar für ihren gemeinsamen opferreichen Einsatz gegen das nationalsozialistische Deutschland. Der 8. Mai 1945 war der Tag der Befreiung. So haben das die Menschen bei den Siegesfeiern in Warschau, Moskau, Paris, London und New York empfunden – auch die im Exil lebenden Deutschen. So haben das auch die überlebenden Juden, die Entrechteten, die Verfolgten, die Zwangsarbeiter, die alliierten Kriegsgefangenen und die Widerstandskämpfer in Deutschland empfunden. Aber die Mehrheit in Deutschland hat diesen Tag damals nicht als Tag der Befreiung empfunden. Und auch heute noch – und leider schon wieder - gibt es Deutsche, die diesen Tag als Niederlage, Katastrophe, Zusammenbruch oder Untergang empfinden und bezeichnen. Diese Erkenntnis mag schmerzhaft sein, aber es ist eine Tatsache, die wir nicht schönreden können. Wollten die Deutschen überhaupt befreit werden oder mussten Sie von sich selbst befreit werden? Sicherlich, es gab keine Kollektivschuld der Deutschen, aber es gibt auch keine kollektive Unschuld. Hat nicht schon das gleichgültige Hinnehmen von brutalen Misshandlungen und Gewalt die Nationalsozialisten zu weiteren Untaten ermutigt? Wir würdigen den Mut und die Opferbereitschaft derjenigen, die dem Nationalsozialismus und dem Kriegsdienst widerstanden, gerade auch als Deserteure. Zum 60. Jahrestag der Befreiung gedenken wir aller Opfer des Nationalsozialismus und des Krieges Was wäre aus den Millionen jüdischen Kindern geworden, die im Namen Deutschlands ermordet wurden? Dies fragt im Jahr 2004 Simon Veil, die Frankreichs Sozialministerin war und der in einem deutschen Konzentrationslager die Nummer 78651 in den Arm tätowiert worden ist. Wie konnte das geschehen? Das Grauen wird niemals vollständig zu erklären ein, das wäre eine Illusion. Wenn eines Tages keine überlebenden Opfer mehr da sein werden, dann besteht die Gefahr, dass das Vergessen und Verdrängen gewinnen wird. Aber einen Schlussstrich unter die eigene Geschichte wird es nie geben. Gedenken und Erinnern an die eigene Vergangenheit ist Voraussetzung für eine menschenwürdige Gegenwart und Zukunft. Der 8. Mai 1945 war der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, auch wenn danach nicht überall Freiheit und oft nicht wirklich Friede war. Friede ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Es war auch ein Tag der Trauer. Albert Einstein hat einmal – sinngemäß – gesagt: Nicht das Böse bedroht oder zerstört eine Gesellschaft, sondern diejenigen, die das Böse zulassen, hinnehmen, die wegschauen. Das Vermächtnis der Opfer des Nationalsozialismus gebietet allen Menschen, sich einzusetzen für Frieden, Versöhnung, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit. Die Solidarität der Demokraten bleibt das Wichtigste, nicht nur am 8. Mai. Wir tragen jetzt die Verantwortung für unsere Demokratie, Tag für Tag. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Heinrich Jüttner Bürgermeister Schöneiche bei Berlin, 8. Mai 2005 (es gilt das gesprochene Wort)