laesio enormis

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Europäische Zivilrechtstradition, Teil 4
Von den Naturrechtslehren bis zum BGB (17.-20. Jh.)
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Naturrecht
Naturrecht = fundamentales, der besonderen Natur und Existenz des
Menschen innewohnendes Recht; Versuch, aus der „Natur des Menschen“
unabänderbare und zeitlose Grundsätze abzuleiten
Antike
Ulpian († 223): ius naturale est, quod natura omnia animalia docuit – „Naturrecht ist
das, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat.“ [Dig. 1.1.1.3]
Mittelalter
Thomas von Aquin (13.Jh.): Gott hat die Welt geschaffen und durch seine Vernunft
geordnet (lex aeterna, ewiges göttliches Gesetz), von der lex aeterna erfährt der
Mensch zum einen durch die Offenbarung Gottes (lex divina), zum anderen durch den
Gebrauch seiner eigenen Vernunft bei der Betrachtung der Schöpfung (lex naturalis);
das menschliche positive Recht darf der lex naturalis nicht widersprechen
Spanische Spätscholastik (16. Jh.)
Francisco de Vitoria (Theologe, Philosoph, † 1546), Diego de Covarruvias y Leyva
(Kanonist, Richter, Präsident des Rates von Kastilien und Bischof von Segovia, 15121577), Luis de Molina (Jurist, Philosoph, Theologe,1535-1600): Neuinterpretation des
Naturrechts durch Ableitung detaillierter Naturrechtssätze (conclusiones) aus obersten
formalen Prinzipen
Schaffung allgemein verbindlicher Naturrechtsnormen
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Rationalistisches Naturrecht (17. Jh.)
Ziel: Ableiten allgemein gültiger Regeln für das menschliche
Zusammenleben aus der Natur des Menschen (natura conditioque
hominis)
Ausgangspunkt: „Naturzustand“, in dem sich der Mensch vor der
Bildung einer organisierten Gesellschaft befunden hat
aus ihm
werden Grundregeln als natürliche Rechte und Pflichten abgeleitet
Hugo Grotius (1583-1645)
Hauptwerk: „De Jure Belli ac Pacis “ (Über das
Recht des Krieges und des Friedens), 1625
zentrale Rechtsfigur: Vertrag
- regelt die Beziehungen zwischen
Individuen (Privatrecht) und zwischen
Staaten (Völkerrecht)
- beruht auf Willenskonsens der Parteien
und bindet moralisch: pacta sunt servanda
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Samuel von Pufendorf (1632-1694)
erster bedeutender deutscher Vertreter des
rationalistischen Naturrechts
Professor für Natur- und Völkerrecht in Heidelberg
und Lund
Hauptwerk: „De iure naturae et gentium libri octo“
(Acht Bücher über das Natur- und Völkerrecht), 1672
Ausgangspunkt: der Mensch ist angelegt einerseits
auf Selbstentwicklung und Selbsterhaltung,
andererseits auf Geselligkeit, und er ist auf Normen
angewiesen, die sein Verhalten lenken
Daraus leitet Pufendorf ein rationales, bis ins Detail
entwickeltes System von sog. Vernunftwahrheiten
ab.
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Christian Thomasius (1655-1728)
Professor für Naturrecht in Leipzig und Halle
Hauptwerk: „Fundamenta juris naturae et
gentium“ (Grundlagen des Natur- und
Völkerrechts), 1711
Naturrecht nach Thomasius: unerzwingbares,
allein das Gewissen bindendes ethisches Gebot
(endgültige Trennung von Theologie und Moral)
Verhältnis zum römischen Recht:
• Keine allgemeine Gültigkeit des römischen
Rechts
• Einzelne römische Rechtssätze können aber
naturrechtlich geboten sein, sofern sie
nachweisbar noch praktische Bedeutung
haben
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Christian Wolff (1679-1754)
Professor für Naturrecht in Leipzig und Halle
Hauptwerk: „Jus naturae methodo scientifica
pertractatum“ (Naturrecht nach wissenschaftlicher
Methode behandelt), 8 Bände, 1740-1748
• erschöpfende Behandlung des gesamten
Zivilrechts
• gilt als Höhepunkt und Abschluß der
Naturrechtslehre in Deutschland
Ziel: Entwurf eines homogenen, rational
begründeten, vollkommenen Rechtssystems nach
logisch-mathematischen Gesetzlichkeiten und für
sämtliche Rechtsmaterien
entwickelt das Verfahren, die juristische
Entscheidung eines Einzelfalls aus einem lückenlosen,
widerspruchsfreien System von Obersätzen,
allgemeinen Begriffen und konkreten Regeln
abzuleiten
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Kodifikationsbewegung und
Naturrechtsgesetzbücher (18. Jh.)
Alle von den Naturrechtsphilosophen entworfenen Rechtssysteme sind
letztlich Aufforderungen an den Gesetzgeber, die Rechtsregeln in
Gesetzesform zu bringen und so die Gesellschaft im Geist der Aufklärung
und Vernunft zu gestalten.
Wichtigster Zweck des Rechts: Sicherung der Freiheit des einzelnen
kann nicht unbeschränkt sein (Zusammenleben in der Gesellschaft!)
Grenzen müssen in klarer, dem Bürger erkennbarer Weise festgelegt
sein
Das kann aber ein Recht, das auf Rechtsprechung und
Rechtswissenschaft beruht (wie es das Gemeines Recht tut), nicht leisten
(zu unübersichtlich). Gefordert werden einfache und klar gefaßte Gesetze.
Kodifikation (Code) = systematisch aufgebautes, in klaren Prinzipien
sprechendes, umfassendes Gesetz, welches mindestens einen ganzen
Lebensbereich, wenn nicht das gesamte Leben einer Gesellschaft umfaßt
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Naturrechtsgesetzbücher
Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, 1756
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR),
1794
Code Civil, Frankreich, 1804
Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die gesamten
Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie (ABGB),
1811
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Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis
(1756)
Kurfürst Maximilian III. Joseph (1745-1777): überzeugter Anhänger
des Naturrechtlers Christian Wolff; erklärt die Verwirklichung der
Aufklärungsideen zum Staatsziel; beauftragt seinen Staatskanzler
Wiguläus Xaver Aloys Freiher von Kreittmayr mit der Neuordnung
und Kodifizierung des bayerischen Rechts
Kreittmayr entwirft ein Strafgesetzbuch (Codex juris Bavarici
criminalis, 1751), eine Zivilprozeßordnung (Codex juris Bavarici
judiciarii, 1753) und schließlich als Privatrechtskodifikation den
„Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis“ (1756)
der CMBC blieb bis 1900 (BGB) in Kraft (mit Ergänzungen)
eine „echte“ Naturrechtskodifikation ist der CMBC nicht: es gibt
einige naturrechtliche Gemeinplätze in der Einleitung, inhaltlich aber
orientiert sich das Gesetzbuch noch ganz am traditionellen ius
commune und der Literatur des usus modernus
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Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten
Historisch einziger Versuch einer „Gesamtkodifikation“: das
gesamte Leben in seiner rechtlichen Bedeutung sollte kodifiziert
werden
Keine hohe rechtssprachliche Abstraktion, sondern
allgemeinverständliche Sprache
Aufklärerischer Erziehungsauftrag: das Volk muß über das Recht
aufgeklärt und zu einem Leben in Vernunft angeleitet werden
paternalistische Einmischung in alle Lebensbereiche
Ziel: weitgehende Ausschaltung von Juristen
(Anwälten, Richtern, Rechtslehrern)
kein Entscheidungsspielraum für den Richter
Regelungen bis ins letzte Detail werden
versucht
Kommentierungs- und Auslegungsverbot
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Code Civil (1804)
Ziele: Praktikabilität, widerspruchsfreies und lückenloses
Regelungswerk
• Keine Entscheidung jeder Einzelfrage im Gesetz
• Aufstellen von Regeln, die der Richter im Einzelfall entwickeln
kann
Gliederung in 3 Bücher:
1. De Personnes (Familien-, Ehe-, Vormundschaftsrecht)
2. Des Biens et des différentes Modifications de la Proprieté
(Sachenrecht)
3. Des différentes Manières dont on acquiert la Proprieté (Arten des
Eigentumserwerbs: Erbrecht, Vertragsrecht, Pfandrecht,
Hypotheken, Verjährung)
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Rechtsgebiete im Alten Reich:
ALR und Code Civil
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Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch
(Österreich, 1812)
erste Pläne zur Vereinheitlichen des Rechts der Länder und Nationen der Habsburgischen
Monarchie schon im 17. Jh.
1753 Maria Theresia setzt Kommission, die das Privatrecht vereinheitlichen soll: das geltende
Landesrecht soll mit dem Naturrecht als dem „allgemeinen Recht der Vernunft“ unter
Beachtung des gemeinen Rechts des Usus modernus verbunden werden; aber die
Kommissionsarbeit kam zu keinem befriedigenden Ergebnis
ab 1790 erneut Arbeiten an einem einheitlichen Gesetzbuch; Resultat schließlich:
„Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der
Österreichischen Monarchie“ (also nicht für Ungarn), 1812 in Kraft getreten und bis heute in
Kraft (natürlich mit zahlreichen Änderungen im Laufe der Zeit)
Gliederung:
Von den bürgerlichen Gesetzen überhaupt, §§ 1-14
Erster Teil: Personen- und Sachenrecht (in einem weiteren Sinn)
Zweiter Teil: dingliche Rechte und ihr Erwerb, Erbrecht, Schuldverhältnisse
Dritter Teil: gemeinschaftliche Bestimmungen
Charakteristika:
Beschränkung auf flexible allgemeine Grundsätze (keine ausufernde Kasuistik wie im ALR)
ermöglicht spätere Rechtsfortbildungen durch Rechtsprechung oder Wissenschaft
Ende der Gesetzgebungsaktivitäten der späteren Naturrechtsepoche
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SEITE 13
Inhaltliches: Naturrecht und
Naturrechtskodifikationen (18./19. Jh. Jh.)
Naturrechtliche Vertragslehre: Einheitlicher Vertragsbegriff
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Deliktsrecht
Eigentumsübertragung: Traditionsprinzip und Konsensprinzip,
Erwerb vom Nichtberechtigten
Eherecht
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SEITE 14
Naturrechtliche Vertragslehre
Basiselement: promissio = vom Willen zur Forderungsentstehung
getragenes Versprechen des Schuldners
Inhaltliche neutral
Formfrei
Beurteilung nach bona fides
Verstanden als Übertragung des Rechts auf die eigene
(Handlungs-)Freiheit
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Naturrechtliche Vertragslehre:
Hugo Grotius 1
… ich [komme] nun zu den Verbindlichkeiten, die aus den Versprechen
entstehen. … Zur richtigen Einsicht müssen … hier drei Arten des
Sprechens über künftige Dinge unterschieden werden, welche in
unserer Gewalt sind oder dahin kommen werden.
Die erste Art ist die Erklärung des jetzt vorhandenen Willens über
etwas Zukünftiges. [unverbindlich und kann jederzeit geändert werden]
Die zweite Art ist, wenn der Wille sich selbst für die kommende Zeit
entscheidet und deutlich zu erkennen gibt, daß es ihm ernst sei, dabei
zu verharren. … [Verpflichtung nach dem Naturrecht, aber kein
klagbarer Anspruch auf Erfüllung, d.h. keine Rechtsverbindlichkeit nach
positivem Recht]
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SEITE 16
Naturrechtliche Vertragslehre:
Hugo Grotius 2
Die dritte Art ist, wo zu der Willensäußerung noch ein Zeichen
hinzutritt, daß man dem anderen ein Recht gewähren wolle. Dies ist
das vollkommene Versprechen (perfecta promissio) und hat eine
ähnliche Wirkung wie die Veräußerung des Eigentums. Denn es ist
entweder der Weg zur Veräußerung des Eigentums oder die
Veräußerung eines Teiles unserer Freiheit. Dorthin gehören die
Versprechen, etwas zu geben, hierher die, etwas zu leisten. …
Damit aber ein Versprechen ein Recht gewähre, ist ebenso wie bei der
Eigentumsübertragung die Annahme notwendig. …
Hieraus folgt, daß ein Versprechen vor der Annahme, solange noch
kein Recht übertragen ist, widerrufen werden kann, ohne daß man
sich dem Vorwurf des Unrechts … aussetzt ….
De jure belli ac pacis, 2.11 (De Promissis)
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SEITE 17
Naturrechtliche Vertragslehre:
ALR
§ 1. Wechselseitige Einwilligung zur Erwerbung oder Veräusserung
eines Rechts, wird Vertrag genannt.
§ 2. Die Erklärung, einem Andern ein Recht übertragen, oder eine
Verbindlichkeit gegen denselben übernehmen zu wollen, heisst
Versprechen.
§ 3. Dagegen ist die blosse Aeusserung, etwas thun zu wollen, noch
für kein Versprechen anzusehen.
§ 4. Zur Wirklichkeit eines Vertrages wird wesentlich erfordert, dass
das Versprechen gültig angenommen wurde.
§ 5. Blosse Gelübde haben, als bloss einseitige Versprechen, nach
bürgerlichen Gesetzen keine Verbindlichkeit.
ALR I 5 §§ 1-5
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SEITE 18
Naturrechtliche Vertragslehre:
ABGB
§ 861 ABGB
„Wer sich erkläret, daß er jemanden sein Recht übertragen, das heißt,
daß er ihm etwas gestatten, etwas geben, daß er für ihn etwas thun,
oder seinetwegen etwas unterlassen wolle, macht ein Versprechen;
nimmt aber der Andere das Versprechen gültig an, so kommt durch
den übereinstimmenden Willen beyder Theile ein Vertrag zu Stande.
So lange die Unterhandlungen dauern, und das Versprechen noch
nicht gemacht, oder weder zum voraus, noch nachher angenommen
ist, entsteht kein Vertrag.“
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SEITE 19
Naturrechtliche Vertragslehre:
Code Civil
Art. 1101.
Ein Vertrag ist die Uebereinkunft, wodurch eine oder mehrere
Personen sich gegen eine oder mehrere andere verbindlich machen,
etwas zu geben, zu thun, oder nicht zu thun.
Art. 1134.
Gesetzlich abgeschlossene Verträge gelten für die, welche sie
eingegangen haben, als Gesetze. … Sie müssen redlich und ohne
Gefährde vollzogen werden.
Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810
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SEITE 20
Inhaltliches: Naturrecht und
Naturrechtskodifikationen (18./19. Jh. Jh.)
Naturrechtliche Vertragslehre: Einheitlicher Vertragsbegriff
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Deliktsrecht
Eigentumsübertragung: Traditionsprinzip und Konsensprinzip,
Erwerb vom Nichtberechtigten
Eherecht
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SEITE 21
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis):
Hugo Grotius
„Es bleibt noch die Gleichheit in bezug auf den Gegenstand des
Vertrages zu erörtern. Sie besteht darin, daß, … eine sich in den
Gegenständen etwa zeigende Ungleichheit auszugleichen ist, selbst
wenn keine Schuld der Parteien dabei vorliegt, weil ihnen z.B. der Fehler
nicht bekannt war oder sie sich über den Wert irrten. [gemeint:
versteckter Sachmangel und Irrtum über den Preis] Es muß dann der,
welcher zuviel bekommen hat, dies an den herausgeben, der zu wenig
erhalten hat. Denn die beiderseitige Absicht ging dahin oder hätte dahin
gehen sollen, daß der eine so viel wie der andere erhielt.
Das römische Gesetz hat dies nicht für jede Unausgewogenheit
festgelegt, weil Kleinigkeiten nicht verfolgt werden, um eine
Prozesswelle zu vermeiden. Nur einer erheblichen [Unausgewogenheit],
die die Hälfte des Wertes übersteigt, wird die Verfolgung gestattet.“
De jure belli ac pacis, 2.12.12.1 und 2
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SEITE 22
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis):
ABGB
§ 934 ABGB.
Hat bey zweyseitig verbindlichen
Geschäften ein Theil nicht einmal die
Hälfte dessen, was er dem andern
gegeben hat, von diesem an dem
gemeinen Werthe erhalten, so
räumet das Gesetz dem verletzten
Theile das Recht ein, die Aufhebung
und die Herstellung in den vorigen
Stand zu fordern. Dem andern Theile
stehet aber bevor, das Geschäft
dadurch aufrecht zu erhalten, daß er
den Abgang bis zum gemeinen
Werthe zu ersetzen bereit ist. Das
Mißverhältniß des Werthes wird nach
dem Zeitpuncte des geschlossenen
Geschäftes bestimmt.
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§ 935 ABGB.
Dieses Rechtsmittel findet nicht Statt,
wenn jemand ausdrücklich darauf
Verzicht gethan, oder sich erkläret
hat, die Sache aus besonderer
Vorliebe um einen außerordentlichen
Werth zu übernehmen; wenn er,
obgleich ihm der wahre Werth bekannt
war, sich dennoch zu dem
unverhältnißmäßigen Werthe
verstanden hat; ferner, wenn aus dem
Verhältnisse der Personen zu
vermuthen ist, daß sie einen, aus
einem entgeltlichen und
unentgeltlichen vermischten Vertrag
schließen wollten; wenn sich der
eigentliche Werth nicht mehr erheben
läßt; endlich,wenn die Sache von dem
Gerichte versteigert worden ist.
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SEITE 23
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis):
Christian Wolff
„Hat der Käufer einen überhöhten Preis, den er für den wahren hielt,
an den Verkäufer bezahlt, ist dieser verpflichtet, entweder den
gesamten empfangenen Preis zurückzuzahlen und die Kaufsache
zurückzunehmen, oder den Teil des Preises, um den der gezahlte den
wahren übersteigt, zurückzugewähren.
Denn beim Kauf scheint die Absicht der Vertragsparteien zu sein, dass
Gleichheit gewahrt ist, wenn es nicht starke Anhaltspunkte für das
Gegenteil gibt ... .
Daher kann ein Kaufvertrag, wenn der Käufer einen höheren als den
gewöhnlichen oder wahren Preis gezahlt hat, den er für den wahren
hielt, nicht zum wahren Preis bestehen, da der Käufer nicht anders
zuzustimmen scheint als zum wahren Preis.“
Jus naturae, 4.1052
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SEITE 24
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis):
ALR
ALR I 11 § 58. „Der Einwand, daß der Kaufpreis mit dem Werthe der
Sache in keinem Verhältnisse stehe, ist für sich allein den Vertrag zu
entkräften nicht hinreichend.“
ALR I 11 § 59. „Ist jedoch dieses Mißverhältniß so groß, das der Kaufpreis
den doppelten Betrag des Werths der Sache übersteigt, so begründet
dieses Mißverhältniß, zum Besten des Käufers, die rechtliche Vermutung
eines den Vertrag entkräftenden Irrthums.“
ALR I 11 § 60. „Wird diese Vermuthung durch die übrigen, bey den
Unterhandlungen und bey Abschliessung des Vertrages vorgefallenen
Umstände nicht gehoben, so ist der Käufer die Aufhebung des Vertrages
zu suchen berechtigt.“
ALR I 11 § 69. „Der Verkäufer kann den Kauf aus dem Grunde, dass der
Werth der Sache den Betrag des Kaufpreises selbst mehr als doppelt
übersteige, nicht anfechten.“
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SEITE 25
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis):
Code Civil
Art. 1674. Ist der Verkäufer um mehr als sieben Zwölftel bey dem Preise
einer unbeweglichen Sache verletzt worden, so ist er berechtigt, die
Aufhebung des Verkaufes zu fordern, selbst wenn er in dem Contracte
der Befugniß, diese Aufhebung zu verlangen, entsagt und erklärt hätte,
das, was die Sache mehr werth sey, schenken zu wollen.
Art. 1681. Im Falle die Aufhebungsklage zugelassen wird, hat der Käufer
die Wahl, entweder die Sache zurückzugeben, und den dafür bezahlten
Preis wieder anzunehmen, oder, gegen Nachzahlung der Summe, welche
an dem wahren Preise fehlt, jedoch mit Abzug eines Zehntels des vollen
Werthes, das Grundstück zu behalten.
Art. 1683. Zum Vortheile des Käufers findet die Aufhebung wegen
Verletzung nicht statt.
Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810
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SEITE 26
Inhaltliches: Naturrecht und
Naturrechtskodifikationen (18./19. Jh. Jh.)
Naturrechtliche Vertragslehre: Einheitlicher Vertragsbegriff
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Deliktsrecht
Eigentumsübertragung: Traditionsprinzip und Konsensprinzip,
Erwerb vom Nichtberechtigten
Eherecht
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SEITE 27
Hugo Grotius: allgemeiner Anspruch aus schuldhafter
Schadenszufügung
„Delikt nennen wir … jede Schuld, bestehe sie im Handeln oder
Unterlassen, die dem widerspricht, was die Menschen überhaupt oder
nach ihrer besonderen Eigenschaft zu tun haben. Aus einer solchen
Schuld entspringt naturrechtlich die Verbindlichkeit, den verursachten
Schaden zu ersetzen.
Der Begriff Schaden kommt aber von dem Wort ‚wegnehmen‘, und ist
das zu Wenige, d.h. was jemand weniger hat, als ihm entweder nach
der reinen Natur oder infolge einer vorhergehenden menschlichen
Einrichtung wie des Eigentums oder Vertrages oder nach dem Gesetz
gebührt.
Von Natur gehört dem Menschen sein Leben, nicht um es zu
verlieren, sondern um es erhalten; sein Körper, seine Glieder, sein
guter Ruf, seine Ehre, sein eigenes Handeln.“
De jure belli ac pacis, 2.17.1 und 2
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SEITE 28
Christian Thomasius:
Verschuldensunabhängige Haftung
„Daher spricht die Vernunft dafür, dass ich nicht nur jeden Schaden
wiedergutmache, den ich vorsätzlich zugefügt habe, sondern auch, wenn
es ohne meine Schuld, durch bloßen Zufall geschehen ist. …
Nehmen wir an: Ich bin bei einem Freund. Ich betrachte ein wertvolles
Glas und drehe es in meiner Hand. Plötzlich geschieht etwas, das nicht nur
mich, sondern auch den Eigentümer sehr erschreckt. Der Schrecken erfasst
mich derart, dass ich das Glas fallen lasse. Wer muß also diesen Schaden
tragen? … Aber der Eigentümer des Glases wird erwidern: Auch ich hatte
keine Absicht, das Glas zu zerstören; und mir kann auch keine
Nachlässigkeit zugeschrieben werden. Und im Hinblick auf mich liegt reiner
Zufall vor. Was ist also zu tun? … Wie unschuldig meine Neugier auch sein
mag, es ist meine Neugier, nicht die des Eigentümers des Glases. …“
Larva legis Aquiliae detracta actioni de damno dato („Die Maske des aquilischen Gesetzes von
der Deliktshaftung heruntergerissen“) § 4
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SEITE 29
Deliktsrecht:
ALR
ALR I 6 § 1. „Schaden heisst jede Verschlimmerung des Zustandes
eines Menschen, in Absicht seines Körpers, seiner Freyheit, oder
Ehre, oder seines Vermögens.“
ALR I 6 § 8. „ Wer jemanden ohne Recht Schaden zufügt, der kränkt
oder beleidigt denselben.“
ALR I 6 § 10. „Wer einen Andern aus Vorsatz oder grobem Versehen
beleidigt, muß demselben vollständige Genugthuung leisten.“
ALR I 6 § 12. „Wer aus mäßigem Versehen den Andern durch eine
Handlung oder eine Unterlassung beleidigt, der haftet nur für den
daraus entstandnen wirklichen Schaden.
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SEITE 30
Deliktsrecht:
ABGB
§ 1295 ABGB.
„Jedermann ist berechtigt, von dem Beschädiger den Ersatz des
Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu
fordern; der Schade mag durch Uebertretung einer Vertragspflicht,
oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursacht worden sein.“
§ 1324 ABGB.
„In dem Falle eines aus böser Absicht oder aus einer auffallenden
Sorglosigkeit verursachten Schadens ist der Beschädigte volle
Genugthuung; in den übrigen Fällen aber nur die eigentliche
Schadloshaltung zu fordern berechtigt.“
§ 1311 ABGB.
„Der bloße Zufall trifft denjenigen, in dessen Vermögen oder Person
er sich ereignet.“
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SEITE 31
Deliktsrecht:
Code Civil
Art. 1382.
Jede Handlung eines Menschen, von welcher Art sie auch sey,
verbindet, wenn sie einem andern Schaden verursacht, denjenigen,
durch dessen Verschulden dies geschah, zur Entschädigung.
Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810
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SEITE 32
Inhaltliches: Naturrecht und
Naturrechtskodifikationen (18./19. Jh. Jh.)
Naturrechtliche Vertragslehre: Einheitlicher Vertragsbegriff
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Deliktsrecht
Eigentumsübertragung: Traditionsprinzip und Konsensprinzip,
Erwerb vom Nichtberechtigten
Eherecht
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SEITE 33
Eigentumsübertragung nach dem Traditionsprinzip:
ALR und ABGB
ALR I 10 § 1. „Die mittelbare Erwerbung des Eigenthums einer Sache
erfordert, außer den dazu nötigen Titel, auch die wirkliche Übergabe
derselben.“
§ 423 ABGB. „Sachen, die schon einen Eigenthümer haben, werden
mittelbar erworben, indem sie auf eine rechtliche Art von dem
Eigenthümer auf einen Anderen übergehen.“
§ 424 ABGB. „Der Titel der mittelbaren Erwerbung liegt in einem
Vertrage; in einer Verfügung auf den Todesfall; ….“
§ 425 ABGB. „Der bloße Titel gibt noch kein Eigentum. Das Eigentum
und alle dinglichen Rechte überhaupt können, außer den in dem
Gesetze bestimmten Fällen, nur durch die rechtliche Übergabe und
Übernahme erworben werden.“
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SEITE 34
Eigentumsübertragung nach dem Konsensprinzip:
Hugo Grotius
„… Daß der Eigentümer sein Recht ganz oder zum Teil übertragen kann,
ist Naturrecht, nachdem einmal das Eigentum eingeführt ist; denn das
liegt in der Natur des Eigentums …. Bei dem Geber genügt nicht der
bloße Wille, sondern es sind auch Worte oder äußere Zeichen nötig, weil
ein innerliches Wollen sich … mit der Natur der menschlichen
Gesellschaft nicht verträgt.
Daß aber auch die Übergabe hinzukommen muß, ist positives Recht. Es
gilt dies zwar bei vielen Völkern, aber es kann nicht eigentlich zum
Völkerrecht gezählt werden. …
Ferner bedarf es … auf Seiten des Empfangenden naturrechtlich des
Willens zu nehmen und einer entsprechenden Willenserklärung. …
De jure belli ac pacis 2.6.1 und 2
„Beim Kauf kann das Eigentum schon mit dem Zeitpunkt des
Vertragsschlusses übergehen, und dies ist das einfachste. …“
De jure belli ac pacis 2.12.5
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Eigentumsübertragung nach dem Konsensprinzip:
Code Civil
Art. 1138. Die Verbindlichkeit, eine Sache zu überliefern, wird
vollkommen begründet durch die bloße Einwilligung der
contrahirenden Theile. Sie macht den Gläubiger zum Eigenthümer,
und überträgt auf ihn die Gefahr der Sache von dem Augenblicke an,
wo sie überliefert werden sollte, wenn gleich die Uebergabe nicht
erfolgt ist ….
Art. 1583. Er [der Kaufvertrag] ist unter den Parteyen vollkommen,
und das Eigenthum wird, kraft des Gesetzes, dem Käufer in
Beziehung auf den Verkäufer erworben, so bald man über die Sache
und den Preis übereingekommen ist, wenn gleich die Sache noch
nicht überliefert und der Preis noch nicht gezahlt worden ist.
Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810
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Problem: Erwerb vom Nichtberechtigten
Gemeines Recht
Grundsatz des ius commune:
Nemo plus iuris ad alium transferre potest, quam ipse haberet. –
Niemand kann ein Recht auf einen anderen übertragen, das er selbst
nicht hatte.
Dig. 50.17.54
Konsequenz: kein Erwerb vom Nichtberechtigten möglich; traditio
mußte vom Eigentümer oder seinem Beauftragten vorgenommen
werden
Lösung des gemeinen Rechts: Ersitzung, d.h. der redliche Erwerber
vom Nichtberechtigten erlangt nach Ablauf einer gesetzlich
vorgeschriebenen Zeit (idR 3 Jahre für Mobilien) Eigentum, sofern
nicht der wahre Eigentümer Anspruch auf die Sache erhoben hat
Problem dieser Lösung: kein sofortiger Eigentumserwerb mit
Übergabe; Rechtsunsicherheit während der Ersitzungsfrist
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Problem: Erwerb vom Nichtberechtigten
ALR
ALR I 15 § 42. „Sachen, die von dem Fisko, oder bey öffentlichen
Versteigerungen erkauft worden, sind keiner Vindikation
unterworfen.“
ALR I 15 § 43. „Ein Gleiches gilt von Sachen, die in den Läden solcher
Kaufleute, welche die Gilde gewonnen haben, erkauft worden.“
ALR I 15 § 44. „Wer außerdem eine Sache auf Messen und Märkten,
oder sonst von Leuten, welche Sachen dieser Art unter obrigkeitlicher
Erlaubniß öffentlich feil haben, erkauft hat, dem kommen, wegen der
nur gegen Ersatz zu leistenden Rückgabe, die Rechte eines redlichen
Besitzers zu.“
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Problem: Erwerb vom Nichtberechtigten
ABGB
§ 367 ABGB.
„Die Eigentumsklage findet gegen den redlichen Besitzer einer
beweglichen Sache nicht statt, wenn er beweist, daß er diese Sache
entweder in einer öffentlichen Versteigerung, oder von einem zu
diesem Verkehre befugten Gewerbsmanne, oder gegen Entgelt von
jemandem an sich gebracht hat, dem sie der Kläger selbst zum
Gebrauche, zur Verwahrung, oder in was immer für einer andern
Absicht anvertraut hatte. In diesen Fällen wird von den redlichen
Besitzern das Eigentum erworben, und dem vorigen Eigentümer steht
nur gegen jene, die ihm dafür verantwortlich sind, das Recht der
Schadloshaltung zu.“
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SEITE 39
Problem: Erwerb vom Nichtberechtigten
Code Civil
Art. 2279. Bey Mobilien gilt der Besitz als Rechtsgrund. Gleich wohl
kann der, welcher eine Sache verloren hat, oder dem sie entwendet
worden ist, während dreyer Jahre von dem Tage des Verlustes oder
der Entwendung an gerechnet, das Eigenthum gegen einen jeden, in
dessen Händen er sie findet, in Anspruch nehmen; doch bleibt diesem
wider den, von welchem er die Sache erhielt, der Entschädigungsanspruch vorbehalten.
Art. 2280. „Wenn der gegenwärtige Besitzer der entwendeten oder
verlorenen Sache dieselbe auf einer Messe, einem Markte oder in
einer öffentlichen Versteigerung, oder auch von einem Kaufmanne,
der mit dergleichen Sachen handelt, gekauft hat: so kann der
ursprüngliche Eigenthümer dieselbe nur, wenn er dem Besitzer den
dafür gezahlten Preis erstattet, zurückfordern.“
Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810
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Inhaltliches: Naturrecht und
Naturrechtskodifikationen (18./19. Jh. Jh.)
Naturrechtliche Vertragslehre: Einheitlicher Vertragsbegriff
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Deliktsrecht
Eigentumsübertragung: Traditionsprinzip und Konsensprinzip,
Erwerb vom Nichtberechtigten
Eherecht
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Eherecht: ALR
Eheschließung:
ALR II 1 § 136. Eine vollgültige Ehe wird durch die priesterliche Trauung vollzogen.
ALR II 1 § 138. Das Aufgebot muß vor der Trauung hergehn.
ALR II 1 § 151. Es [das Aufgebot] muß Drey Sonntage hinter einander von der Kanzel
verlesen werden.
Eheliche Rechte und Pflichten:
ALR II 1 § 174. Eheleute sind schuldig, sich in allen Vorfallenheiten nach ihren Kräften
wechselseitigen Beystand zu leisten.
ALR II 1 § 175. Sie müssen vereint mit einander leben, und dürfen ihre Verbindung
eigenmächtig nicht aufheben.
ALR II 1 § 176. Auch wegen Widerwärtigkeiten dürfen sie einander nicht verlassen.
ALR II 1 § 178. Eheleute dürfen einander die eheliche Pflicht anhaltend nicht versagen.
ALR II 1 § 179. Wenn deren Leistung der Gesundheit des einen oder des anderen
Ehegatten nachtheilig seyn würde, kann sie nicht gefordert werden.
ALR II 1 § 180. Auch säugende Ehefrauen verweigern die Beywohnung mit Recht.
ALR II 1 § 181. Zur ehelichen Treue sind beyde Ehegatten wechselseitig verpflichtet.
ALR II 1 § 182. Die Verletzung derselben von Seiten des einen Ehegatten berechtigt den
anderen nicht zu gleichen Vergehungen.
ALR II 1 § 184. Der Mann ist das Haupt der ehelichen Gesellschaft; und sein Entschluß
giebt in gemeinschaftlichen Angelegenheiten den Ausschlag.
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Eherecht: ALR
Ehescheidung
ALR II 1 § 668. Eine an sich gültige Ehe kann durch richterlichen
Ausspruch wieder getrennt werden.
ALR II 1 § 669. Doch sollen Ehescheidungen nicht anders als aus sehr
erheblichen Ursachen stattfinden.
Bspe.: Ehebruch, Impotenz, Anwendung empfängnisverhütender Mittel gegen den Willen des
Ehepartners, Geisteskrankheiten, gewaltsame Übergriffe auf den Partner, Alkoholismus,
Verschwendung und Mangel an Unterhalt
ALR II 1 § 716. Ganz kinderlose Ehen können auf den Grund gegenseitiger
Einwilligung getrennt werden, sobald weder Leichtsinn oder Uebereilung,
noch heimlicher Zwang an einer oder der andern Seite zu besorgen ist.
Für alle Ehen (ob mit oder ohne Kinder) gilt:
ALR II 1 § 718. Doch soll dem Richter erlaubt seyn, in besonderen Fällen,
wo nach dem Inhalte der Akten der Widerwille so heftig und tief
eingewurzelt ist, daß zu einer Aussöhnung und zur Erreichung der Zwecke
des Ehestandes gar keine Hoffnung mehr übrig bleibt, eine solch
unglückliche Ehe zu trennen.
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Eherecht: Code Civil
Eheschließung:
Art. 165. Die Ehe soll öffentlich vor dem Beamten des Personenstandes
an dem Orte, wo einer von beyden Theilen seinen Wohnsitz hat,
abgeschlossen werden. Zivilehe!
Ehescheidung:
Art. 227. Die Ehe wird aufgelöst: 1) Durch den Tod eines der beyden
Ehegatten; 2) Durch eine gesetzlich ausgesprochene Ehescheidung; … .
Scheidungsgründe: Ehebruch, „harte und grausame Mißhandlung“, Verurteilung des Partners
zu einer „entehrenden Strafe“
Einverständliche Scheidung bei zerrütteter Ehe:
Art. 233. Die beyderseitige und beharrliche … Einwilligung der
Ehegatten, soll als ein hinlänglicher Beweis angenommen werden, daß
das Zusammenleben ihnen unerträglich und in Ansehung ihrer eine
vollgültige Ursache zur Trennung der Ehe vorhanden sey.
Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810
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Das 19. Jahrhundert
Historische Rechtsschule
Pandektenwissenschaft (Pandektistik)
Interessenjurisprudenz
Das BGB von 1900
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Historische Rechtsschule
Friedrich Carl von Savigny (1779-1861)
Professor für römisches Recht in Marburg und Landshut, ab
1810 an der neugegründeten Berliner Universität
Ab 1842 preußischer Minister für Gesetzgebung
Zentrale These: Recht läßt sich nur aus seiner Geschichte
verstehen
Grundwerte, auf denen das Recht beruht, leben im
Bewußtsein des Volkes (sog. Volksgeist)
Recht wächst
„organisch“ aus dem „gemeinsamen Bewußtsein des
Volkes“ wie die Sprache
Gesetz soll nur eingreifen, wo es für Regelungen von
Einzelfragen notwendig ist, im übrigen Fortentwicklung des
Rechts durch die Juristen
Grundlage der Rechtswissenschaft ist das Verstehen der
vorhandenen Rechtssätze aus ihrer Geschichte
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Pandektenwissenschaft (Pandektistik)
Ziel: durch Interpretation der Digesten ein dogmatisch widerspruchsfreies Rechtssystem zu formen, das den rechtspolitischen Programmen
und Bedürfnissen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung des 19. Jh.
vollkommen entspricht
Methode: historische Betrachtung + systematisierende Interpretation
(Suche nach der „inneren Vernünftigkeit“)
der schwer überschaubare Stoff der Digesten soll durch ein System von
juristischen Begriffen beherrschbar gemacht werden (sog.
Begriffsjurisprudenz)
starke Abstrahierung des Rechtsstoffes
Errichtung eines Systems von Begriffen, die das Wesen der
Rechtsinstitute erfassen sollen, Herausarbeiten von allgemeinen
Rechtsgrundsätzen und -prinzipien
1850er Jahre: Hinwendung zur modernen Praxis, Abwendung von rein
historischen Untersuchungen
logische Erfassung des Rechts (nicht mehr historisch), nach dem
Vorbild der Naturwissenschaften: Suche nach „Grundformen und
Grundtypen der Rechtswelt“
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SEITE 47
Pandektenwissenschaft (Pandektistik) 2
Bernhard Windscheid (1817-1892)
Professor für römisches Recht in Leipzig
einer der bedeutendsten Systematiker der Pandektistik
Hauptwerk: „Lehrbuch des Pandektenrechts“, 1862
Abschluß der ganzen bisherigen Wissenschaft von dem in
Deutschland gültigen römischen Recht, zugleich Schlüssel zu
dem neuen Recht des BGB
Mitglied der Ersten Kommission für die Ausarbeitung des
Entwurfs des BGB
Merksatz: „Jurisprudenz, das heißt Pandekten, Pandekten,
das heißt Windscheid.“
Ergebnis der Pandektistik: geschlossenes System
abstrakter Rechtsbegriffe, -prinzipien und –institute, das als
Rechtsdogmatik bis heute den Kern der Rechtswissenschaft
bildet
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SEITE 48
Interessenjurisprudenz
Rudolf von Jhering (1818-1892)
Professor für römisches Recht in Basel, Rostock, Kiel,
Gießen, Wien und Göttingen
zunächst Pandektist (Werk: „Der Geist des römischen
Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung“,
4 Bde., 1852-1865),
später Abkehr und Begründer der Interessenjurisprudenz
(Werke: „Der Kampf ums Recht“, 1872; „Der Zweck im
Recht“, 2 Bde., 1877-1884)
Grundgedanke der Interessenjurisprudenz: der Gesetzgeber verfolgt
den Zweck, Interessenkonflikte zu regeln und mit den Geboten des Rechts
auszugleichen
bei der Auslegung von Gesetzen ist vom Richter
„denkender Gehorsam“ gefordert, d.h. er muß die sich in den Gesetzen
niederschlagenden Wertungen der verschiedenen Interessen durch den
Gesetzgeber nachvollziehen und auf seinen konkreten Fall anwenden
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SEITE 49
BGB von 1900: Entstehung
späte Frucht der europäischen Kodifikationsbewegung
entsteht im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Gesetzen,
welche fördernde Rahmenbedingungen für den Handel und freien
Warenverkehr im Deutschen Zollverein (1834) und späteren
Deutschen Reich (1871) bieten sollten, insbes. Wechselrecht (1848)
und Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch (1861)
1873: Einsetzung einer Gesetzgebungskommission des Reiches
1887: Vorlage des sog. Ersten Entwurfs
heftige Kritik in der juristischen Fachwelt: zu starker Einfluß des römischen
Rechts, daher zu „undeutsch“, zu komplizierte Sprache, zu wenig Rücksicht
auf die soziale Frage usw.
1895: Vorlage eines zweiten Entwurfs; Reichstag und Bundesrat
stimmen zu
1896: am 18.8. promulgiert Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) das BGB
1.1.1900: Inkrafttreten des BGB
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SEITE 50
Inhaltliches im BGB
Schuldvertragsrecht
Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.)
Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB
Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip
Eherecht
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SEITE 51
Schuldvertragsrecht
Klagbarkeit aller Verträge war im älteren gemeinen Recht erreicht
worden (pacta sunt servanda) und wird seit dem Code civil in die
Kodifikationen übernommen, so auch ins BGB
einheitlicher Begriff des Vertrags, der
• durch bloßen Konsens der Parteien geschlossen wird (§§ 145ff.
BGB).
• beliebigen Inhalt haben kann (Gestaltungsfreiheit)
§ 305 BGB aF (= § 311 Abs. 1 BGB nF).
„Zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft
sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ist ein
Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich, soweit nicht das Gesetz
ein anderes vorschreibt.“
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SEITE 52
Inhaltliches im BGB
Schuldvertragsrecht
Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.)
Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB
Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip
Eherecht
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SEITE 53
Vertragsrecht:
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Für den BGB-Gesetzgeber entscheidend: Schutz der freien
Willensbildung bei Vertragsschluß; bloßes objektives Mißverhältnis
zwischen Leistung und Gegenleistung genügt nicht, um die
Wirksamkeit des Vertrags in Frage zu stellen
deshalb keine Verkürzungsanfechtung im BGB, sondern
Wuchertatbestand (§138 Abs. 2): Nichtigkeit des Vertrags nur noch für
den Fall, daß eine Partei bei Eingehung des Vertrags in ihrer
Entschlußfähigkeit beeinträchtigt war
§ 138 Abs. 2 BGB.
„Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter
Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an
Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen
sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen
oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der
Leistung stehen.“
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SEITE 54
Vertragsrecht:
Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) 2
Aber: im 20. Jh. wird nach der Rspr. des BGH Sittenwidrigkeit i.S.d.
§ 138 I (und damit Nichtigkeit des Vertrags) dann vermutet, wenn
der Preis einer Leistung doppelt so hoch ist wie ihr Marktwert
(Verhältnis 1:2)
Vermutung, daß die begünstigte Partei eine
Verhandlungsschwäche der anderen Seite in vorwerfbarer Weise
ausgenutzt hat
begünstigte Partei hat die Beweislast für die Entschlußfreiheit
des anderen Teils, um die Vermutung zu entkräften:
ausgesprochen schwierig
außerdem: stehen Leistung und Gegenleistung in einem Verhältnis
von 1:3, wird die Sittenwidrigkeit des Geschäfts iSd § 138 I
unwiderlegbar vermutet
im Ergebnis: Rückkehr zum Verbot der laesio enormis
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SEITE 55
Inhaltliches im BGB
Schuldvertragsrecht
Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.)
Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB
Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip
Eherecht
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SEITE 56
Vertragsrecht:
Wegfall der Geschäftsgrundlage
Vorläufer: Windscheids Lehre von der „Voraussetzung“
• jede Willenserklärung kann eine sog. „unentwickelte Bedingung“
enthalten
• eine unentwickelte Bedingung liegt vor, wenn eine Vertragspartei
bei Vertragsabschluß zu erkennen gibt, daß sie von bestimmten
Umständen ausgeht, die für ihren Entschluß, den Vertrag zu
schließen, ausschlaggebend sind
• wurde nicht h.M. und auch nicht ins BGB von 1900
aufgenommen: Gesetzgeber lehnte Vertragsänderung infolge
anders vorgestellter oder veränderter Umstände ab
Aber: von der Rspr. angewendet, um die Auswirkungen der Inflation
nach dem Ersten Weltkrieg zu bewältigen (Geldwertschwund) –
Ableitung nicht aus dem Willen einer Partei, sondern aus dem
objektiven Grds. von Treu und Glauben
Seit 2002 (Schuldrechtsreform) kodifiziert: § 313 BGB
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SEITE 57
Inhaltliches im BGB
Schuldvertragsrecht
Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.)
Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB
Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip
Eherecht
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SEITE 58
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen
Haftung (pVV und c.i.c.)
Deliktische Haftung nach §§ 823, 826 BGB
BGB sollte nach seinem ersten Entwurf eine Generalklausel enthalten:
Ersatzpflicht bei jeder Verletzung subjektiver Rechte, jedem Verstoß
gegen Gesetze oder die guten Sitten
wurde als zu große Ausweitung der außervertraglichen Haftung (weil
auch Haftung für reine Vermögensschäden) angesehen und
eingeschränkt:
• Schadensersatz nur bei Verletzung absoluter Rechte (Leben,
Gesundheit, Freiheit, Eigentum: § 823 I) oder bei vorsätzlicher
Schädigung (§ 826)
• also keine Haftung nach dem BGB 1900 für fahrlässige
Herbeiführung reiner Vermögensschäden, die vor allem im
Geschäftsverkehr entstehen
Reiner Vermögensschaden: Schaden, der ohne Eingriff in ein absolut geschütztes Rechtsgut
(Leben, körperliche Integrität, Eigentum, Freiheit) des Geschädigten erfolgt (z.B.
entgangener Gewinn, Umsatzeinbußen, Fehlinvestitionen)
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SEITE 59
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen
Haftung (pVV und c.i.c.)
Konsequenz aus der Einschränkung außervertraglicher (deliktischer)
Haftung: Ausweitung der vertraglichen Haftung, um
Vermögensschäden zu erfassen
Rechtsinstitute der pVV und c.i.c.
pVV (positive Vertragsverletzung):
kurz nach 1900 durch Rspr. eingeführt
gewährt Schadensersatz für jede Pflichtverletzung unter
Vertragsparteien außerhalb der Beeinträchtigung des
Leistungsinteresses (denn bei Leistungsverzögerung,
Schlechtleistung usw.: gesetzliche Regelungen im Allgemeinen und
Besonderen Schuldrecht)
Grundlage für die heutige Haftung für Verletzung der
Rücksichtspflicht gem. §§ 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB nF
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SEITE 60
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen
Haftung (pVV und c.i.c.)
c.i.c. (culpa in contrahendo = Verschulden bei Vertragsschluß)
Geht zurück auf Jhering: Parteien eines Vertrags sollen vor dessen
Abschluß dieselbe Sorgfalt walten lassen, die sie auch danach anwenden
müssen
„Nicht bloß die bestehenden, sondern bereits die entstehenden
Contractsverhältnisse müssen unter dem Schutz der Regeln über die
culpa stehen, wenn nicht der contractliche Verkehr nach dieser Seite hin
empfindlichster Weise bloß gestellt, jeder Contrahent der Gefahr Preis
gegeben werden soll, das Opfer fremder Nachlässigkeit zu werden. Um
ihn dagegen zu sichern, braucht man ihm nicht zuzumuthen, sich die
Abwesenheit der culpa oder specieller das Vorhandensein der
Erfordernisse des Contracts ausdrücklich garantieren zu lassen, das
Gesetz kann und soll ihn dieser Mühe überheben, indem es in das
Contrahiren selbst die stillschweigende Übernahme dieser Garantie
verlegt.“
Jherings Jahrbücher 4 (1861), S. 41f.
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SEITE 61
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen
Haftung (pVV und c.i.c.)
Culpa in contrahendo:
Jhering wollte seine Figur der c.i.c. für die Fälle nutzen, in denen der
Vertragsschluß scheitert (Irrtum, fehlende Vertretungsmacht,
anfängliche Unmöglichkeit)
BGB-Gesetzgeber: diese Fälle sind schon geregelt in §§ 122, 179
(Vertretungsrecht) und § 306 BGB aF (Haftung für anfängliche
Unmöglichkeit)
Rspr.: nutzte die Figur der c.i.c., um die strengeren Regeln der
vertraglichen Haftung auch für Fälle vorvertraglicher
Rechtsgutverletzung anwenden zu können (z.B. Gefährdungshaftung
für Gehilfen, § 278 BGB; längere Verjährungsfrist, § 195 BGB aF: 30
Jahre, statt § 852 BGB aF: 3 Jahre)
Seit 2002 (Schuldrechtsreform) kodifiziert in § 311 Abs. 2 Nr. 1,3:
„Ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 entsteht auch
durch 1. die Aufnahme von Vertragsverhandlungen … oder 3. ähnliche
geschäftliche Kontakte.“
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SEITE 62
Inhaltliches im BGB
Schuldvertragsrecht
Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.)
Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB
Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip
Eherecht
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SEITE 63
Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht
des BGB
Schadensersatz hat im BGB grds. keine Straffunktion, daher auch keine
Differenzierung nach Verschuldensgraden
Problem: Ersatz immaterieller Schäden, insbes. Schmerzensgeld
Schmerzensgeld hat zwangsläufig Straffunktion, weil es einen nicht in
Geld zu bemessenden Nachteil wettmachen soll und deshalb
gleichermaßen der Genugtuung und der Abschreckung dient (BGH)
grds. kein Ersatz immaterieller Schäden
§ 253 Abs. 1: „… nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen“
Einziger im BGB 1900 vorgesehener Fall: Schmerzensgeld
§ 847 I BGB aF. „Im Falle der Verletzung des Körpers oder der
Gesundheit sowie im Falle der Freiheitsentziehung kann der Verletzte
auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine
billige Entschädigung in Geld verlangen.“
Heute: Erweiterung
• für alle Arten der Haftung (nicht nur deliktische): § 253 Abs. 2
• über den Wortlaut des § 253 Abs. 2 hinaus auch bei Verletzung des
allg. Persönlichkeitsrechts (Rspr. unter Berufung auf Art. 1,2 GG)
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SEITE 64
Inhaltliches im BGB
Schuldvertragsrecht
Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.)
Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB
Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip
Eherecht
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SEITE 65
Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip
Besonderheit des BGB (§§ 398, 873, 929)
geht auf Savigny zurück: Verträge gibt es in allen Bereichen des Rechts,
nicht nur im Schuldrecht
„So ist die Tradition ein wahrer Vertrag, da alle Merkmale des Vertragsbegriffs
darin wahrgenommen werden: denn sie enthält von beiden Seiten die auf
gegenwärtige Übertragung des Besitzes und des Eigenthums gerichtete
Willenserklärung, und es werden die Rechtsverhältnisse der Handelnden dadurch
neu bestimmt; daß diese Willenserklärung für sich allein nicht hinreicht zur
vollständigen Tradition, sondern die wirkliche Erwerbung des Besitzes, als äußere
Handlung hinzukommen muß, hebt das Wesen des zum Grund liegenden Vertrags
nicht auf.“
System des heutigen römischen Rechts Bd. 3, S. 312
also: Eigentum wird durch einen selbständigen Vertrag übertragen
• Inhalt: nur die Eigentumsübertragung selbst ist
• Form: Übergabe (traditio)
• auf den zugrundeliegenden schuldrechtlichen Vertrag kommt es nicht an
diese neue Lehre wird von Windscheid übernommen, schließlich ins BGB
(§§ 929 ff.)
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SEITE 66
Inhaltliches im BGB
Schuldvertragsrecht
Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis)
Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage
Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.)
Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB
Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip
Eherecht
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SEITE 67
Eherecht 1
Eheschließung
im BGB nach dem Muster des Code civil: zivile Eheschließung durch den
Standesbeamten (§§ 1310, 1312 BGB)
ursprünglich auch staatliches Aufgebotsverfahren, 1998 abgeschafft
Ehewirkungen nach BGB 1900
Ehemann als Haupt der Familie: Leitung der ehelichen Gemeinschaft,
Entscheidungsgewalt in den gemeinsamen Angelegenheiten
Ehefrau hat innerhalb der Lebensgemeinschaft bestimmte Rechte und
Pflichten: sie führt den Haushalt und hat, um diese Aufgabe zu erfüllen,
ein gesetzliches Vertretungsrecht für den Mann: sog. Schlüsselgewalt
§ 1357 I BGB 1900. „Die Frau ist berechtigt, innerhalb ihres häuslichen
Wirkungskreises die Geschäfte des Mannes für ihn zu besorgen und ihn
zu vertreten. Rechtsgeschäfte, die sie innerhalb dieses Wirkungskreises
vornimmt, gelten als im Namen des Mannes vorgenommen, wenn nicht
aus den Umständen sich ein Anderes ergiebt.“
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Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013
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Eherecht 2
Ehescheidung
ursprünglich: strenges Scheidungsregime gekennzeichnet, das die
Auflösung der Ehe nur bei schwerer Verfehlung eines Ehegatten
gestattet (Verschuldensprinzip)
1970er Jahre: Abschaffung des Verschuldensprinzips, wird durch
das Zerrüttungsprinzip ersetzt
Voraussetzung der Scheidung: Scheitern der Ehe und eine
Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft nicht zu erwarten
(§ 1565 BGB)
wird durch den Richter festgestellt, wenn
• die Ehegatten ein Jahr getrennt leben und beide der Scheidung
zustimmen oder
• die Ehegatten drei Jahre getrennt leben und einer die Scheidung
betreibt (§ 1566 BGB)
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