Europäische Zivilrechtstradition, Teil 4 Von den Naturrechtslehren bis zum BGB (17.-20. Jh.) MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 1 Naturrecht Naturrecht = fundamentales, der besonderen Natur und Existenz des Menschen innewohnendes Recht; Versuch, aus der „Natur des Menschen“ unabänderbare und zeitlose Grundsätze abzuleiten Antike Ulpian († 223): ius naturale est, quod natura omnia animalia docuit – „Naturrecht ist das, was die Natur alle Lebewesen gelehrt hat.“ [Dig. 1.1.1.3] Mittelalter Thomas von Aquin (13.Jh.): Gott hat die Welt geschaffen und durch seine Vernunft geordnet (lex aeterna, ewiges göttliches Gesetz), von der lex aeterna erfährt der Mensch zum einen durch die Offenbarung Gottes (lex divina), zum anderen durch den Gebrauch seiner eigenen Vernunft bei der Betrachtung der Schöpfung (lex naturalis); das menschliche positive Recht darf der lex naturalis nicht widersprechen Spanische Spätscholastik (16. Jh.) Francisco de Vitoria (Theologe, Philosoph, † 1546), Diego de Covarruvias y Leyva (Kanonist, Richter, Präsident des Rates von Kastilien und Bischof von Segovia, 15121577), Luis de Molina (Jurist, Philosoph, Theologe,1535-1600): Neuinterpretation des Naturrechts durch Ableitung detaillierter Naturrechtssätze (conclusiones) aus obersten formalen Prinzipen Schaffung allgemein verbindlicher Naturrechtsnormen MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 2 Rationalistisches Naturrecht (17. Jh.) Ziel: Ableiten allgemein gültiger Regeln für das menschliche Zusammenleben aus der Natur des Menschen (natura conditioque hominis) Ausgangspunkt: „Naturzustand“, in dem sich der Mensch vor der Bildung einer organisierten Gesellschaft befunden hat aus ihm werden Grundregeln als natürliche Rechte und Pflichten abgeleitet Hugo Grotius (1583-1645) Hauptwerk: „De Jure Belli ac Pacis “ (Über das Recht des Krieges und des Friedens), 1625 zentrale Rechtsfigur: Vertrag - regelt die Beziehungen zwischen Individuen (Privatrecht) und zwischen Staaten (Völkerrecht) - beruht auf Willenskonsens der Parteien und bindet moralisch: pacta sunt servanda MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 3 Samuel von Pufendorf (1632-1694) erster bedeutender deutscher Vertreter des rationalistischen Naturrechts Professor für Natur- und Völkerrecht in Heidelberg und Lund Hauptwerk: „De iure naturae et gentium libri octo“ (Acht Bücher über das Natur- und Völkerrecht), 1672 Ausgangspunkt: der Mensch ist angelegt einerseits auf Selbstentwicklung und Selbsterhaltung, andererseits auf Geselligkeit, und er ist auf Normen angewiesen, die sein Verhalten lenken Daraus leitet Pufendorf ein rationales, bis ins Detail entwickeltes System von sog. Vernunftwahrheiten ab. MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 4 Christian Thomasius (1655-1728) Professor für Naturrecht in Leipzig und Halle Hauptwerk: „Fundamenta juris naturae et gentium“ (Grundlagen des Natur- und Völkerrechts), 1711 Naturrecht nach Thomasius: unerzwingbares, allein das Gewissen bindendes ethisches Gebot (endgültige Trennung von Theologie und Moral) Verhältnis zum römischen Recht: • Keine allgemeine Gültigkeit des römischen Rechts • Einzelne römische Rechtssätze können aber naturrechtlich geboten sein, sofern sie nachweisbar noch praktische Bedeutung haben MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 5 Christian Wolff (1679-1754) Professor für Naturrecht in Leipzig und Halle Hauptwerk: „Jus naturae methodo scientifica pertractatum“ (Naturrecht nach wissenschaftlicher Methode behandelt), 8 Bände, 1740-1748 • erschöpfende Behandlung des gesamten Zivilrechts • gilt als Höhepunkt und Abschluß der Naturrechtslehre in Deutschland Ziel: Entwurf eines homogenen, rational begründeten, vollkommenen Rechtssystems nach logisch-mathematischen Gesetzlichkeiten und für sämtliche Rechtsmaterien entwickelt das Verfahren, die juristische Entscheidung eines Einzelfalls aus einem lückenlosen, widerspruchsfreien System von Obersätzen, allgemeinen Begriffen und konkreten Regeln abzuleiten MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 6 Kodifikationsbewegung und Naturrechtsgesetzbücher (18. Jh.) Alle von den Naturrechtsphilosophen entworfenen Rechtssysteme sind letztlich Aufforderungen an den Gesetzgeber, die Rechtsregeln in Gesetzesform zu bringen und so die Gesellschaft im Geist der Aufklärung und Vernunft zu gestalten. Wichtigster Zweck des Rechts: Sicherung der Freiheit des einzelnen kann nicht unbeschränkt sein (Zusammenleben in der Gesellschaft!) Grenzen müssen in klarer, dem Bürger erkennbarer Weise festgelegt sein Das kann aber ein Recht, das auf Rechtsprechung und Rechtswissenschaft beruht (wie es das Gemeines Recht tut), nicht leisten (zu unübersichtlich). Gefordert werden einfache und klar gefaßte Gesetze. Kodifikation (Code) = systematisch aufgebautes, in klaren Prinzipien sprechendes, umfassendes Gesetz, welches mindestens einen ganzen Lebensbereich, wenn nicht das gesamte Leben einer Gesellschaft umfaßt MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 7 Naturrechtsgesetzbücher Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, 1756 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR), 1794 Code Civil, Frankreich, 1804 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie (ABGB), 1811 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 8 Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis (1756) Kurfürst Maximilian III. Joseph (1745-1777): überzeugter Anhänger des Naturrechtlers Christian Wolff; erklärt die Verwirklichung der Aufklärungsideen zum Staatsziel; beauftragt seinen Staatskanzler Wiguläus Xaver Aloys Freiher von Kreittmayr mit der Neuordnung und Kodifizierung des bayerischen Rechts Kreittmayr entwirft ein Strafgesetzbuch (Codex juris Bavarici criminalis, 1751), eine Zivilprozeßordnung (Codex juris Bavarici judiciarii, 1753) und schließlich als Privatrechtskodifikation den „Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis“ (1756) der CMBC blieb bis 1900 (BGB) in Kraft (mit Ergänzungen) eine „echte“ Naturrechtskodifikation ist der CMBC nicht: es gibt einige naturrechtliche Gemeinplätze in der Einleitung, inhaltlich aber orientiert sich das Gesetzbuch noch ganz am traditionellen ius commune und der Literatur des usus modernus MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 9 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Historisch einziger Versuch einer „Gesamtkodifikation“: das gesamte Leben in seiner rechtlichen Bedeutung sollte kodifiziert werden Keine hohe rechtssprachliche Abstraktion, sondern allgemeinverständliche Sprache Aufklärerischer Erziehungsauftrag: das Volk muß über das Recht aufgeklärt und zu einem Leben in Vernunft angeleitet werden paternalistische Einmischung in alle Lebensbereiche Ziel: weitgehende Ausschaltung von Juristen (Anwälten, Richtern, Rechtslehrern) kein Entscheidungsspielraum für den Richter Regelungen bis ins letzte Detail werden versucht Kommentierungs- und Auslegungsverbot MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 10 Code Civil (1804) Ziele: Praktikabilität, widerspruchsfreies und lückenloses Regelungswerk • Keine Entscheidung jeder Einzelfrage im Gesetz • Aufstellen von Regeln, die der Richter im Einzelfall entwickeln kann Gliederung in 3 Bücher: 1. De Personnes (Familien-, Ehe-, Vormundschaftsrecht) 2. Des Biens et des différentes Modifications de la Proprieté (Sachenrecht) 3. Des différentes Manières dont on acquiert la Proprieté (Arten des Eigentumserwerbs: Erbrecht, Vertragsrecht, Pfandrecht, Hypotheken, Verjährung) MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 11 Rechtsgebiete im Alten Reich: ALR und Code Civil MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 12 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Österreich, 1812) erste Pläne zur Vereinheitlichen des Rechts der Länder und Nationen der Habsburgischen Monarchie schon im 17. Jh. 1753 Maria Theresia setzt Kommission, die das Privatrecht vereinheitlichen soll: das geltende Landesrecht soll mit dem Naturrecht als dem „allgemeinen Recht der Vernunft“ unter Beachtung des gemeinen Rechts des Usus modernus verbunden werden; aber die Kommissionsarbeit kam zu keinem befriedigenden Ergebnis ab 1790 erneut Arbeiten an einem einheitlichen Gesetzbuch; Resultat schließlich: „Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie“ (also nicht für Ungarn), 1812 in Kraft getreten und bis heute in Kraft (natürlich mit zahlreichen Änderungen im Laufe der Zeit) Gliederung: Von den bürgerlichen Gesetzen überhaupt, §§ 1-14 Erster Teil: Personen- und Sachenrecht (in einem weiteren Sinn) Zweiter Teil: dingliche Rechte und ihr Erwerb, Erbrecht, Schuldverhältnisse Dritter Teil: gemeinschaftliche Bestimmungen Charakteristika: Beschränkung auf flexible allgemeine Grundsätze (keine ausufernde Kasuistik wie im ALR) ermöglicht spätere Rechtsfortbildungen durch Rechtsprechung oder Wissenschaft Ende der Gesetzgebungsaktivitäten der späteren Naturrechtsepoche MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 13 Inhaltliches: Naturrecht und Naturrechtskodifikationen (18./19. Jh. Jh.) Naturrechtliche Vertragslehre: Einheitlicher Vertragsbegriff Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Deliktsrecht Eigentumsübertragung: Traditionsprinzip und Konsensprinzip, Erwerb vom Nichtberechtigten Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 14 Naturrechtliche Vertragslehre Basiselement: promissio = vom Willen zur Forderungsentstehung getragenes Versprechen des Schuldners Inhaltliche neutral Formfrei Beurteilung nach bona fides Verstanden als Übertragung des Rechts auf die eigene (Handlungs-)Freiheit MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 15 Naturrechtliche Vertragslehre: Hugo Grotius 1 … ich [komme] nun zu den Verbindlichkeiten, die aus den Versprechen entstehen. … Zur richtigen Einsicht müssen … hier drei Arten des Sprechens über künftige Dinge unterschieden werden, welche in unserer Gewalt sind oder dahin kommen werden. Die erste Art ist die Erklärung des jetzt vorhandenen Willens über etwas Zukünftiges. [unverbindlich und kann jederzeit geändert werden] Die zweite Art ist, wenn der Wille sich selbst für die kommende Zeit entscheidet und deutlich zu erkennen gibt, daß es ihm ernst sei, dabei zu verharren. … [Verpflichtung nach dem Naturrecht, aber kein klagbarer Anspruch auf Erfüllung, d.h. keine Rechtsverbindlichkeit nach positivem Recht] MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 16 Naturrechtliche Vertragslehre: Hugo Grotius 2 Die dritte Art ist, wo zu der Willensäußerung noch ein Zeichen hinzutritt, daß man dem anderen ein Recht gewähren wolle. Dies ist das vollkommene Versprechen (perfecta promissio) und hat eine ähnliche Wirkung wie die Veräußerung des Eigentums. Denn es ist entweder der Weg zur Veräußerung des Eigentums oder die Veräußerung eines Teiles unserer Freiheit. Dorthin gehören die Versprechen, etwas zu geben, hierher die, etwas zu leisten. … Damit aber ein Versprechen ein Recht gewähre, ist ebenso wie bei der Eigentumsübertragung die Annahme notwendig. … Hieraus folgt, daß ein Versprechen vor der Annahme, solange noch kein Recht übertragen ist, widerrufen werden kann, ohne daß man sich dem Vorwurf des Unrechts … aussetzt …. De jure belli ac pacis, 2.11 (De Promissis) MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 17 Naturrechtliche Vertragslehre: ALR § 1. Wechselseitige Einwilligung zur Erwerbung oder Veräusserung eines Rechts, wird Vertrag genannt. § 2. Die Erklärung, einem Andern ein Recht übertragen, oder eine Verbindlichkeit gegen denselben übernehmen zu wollen, heisst Versprechen. § 3. Dagegen ist die blosse Aeusserung, etwas thun zu wollen, noch für kein Versprechen anzusehen. § 4. Zur Wirklichkeit eines Vertrages wird wesentlich erfordert, dass das Versprechen gültig angenommen wurde. § 5. Blosse Gelübde haben, als bloss einseitige Versprechen, nach bürgerlichen Gesetzen keine Verbindlichkeit. ALR I 5 §§ 1-5 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 18 Naturrechtliche Vertragslehre: ABGB § 861 ABGB „Wer sich erkläret, daß er jemanden sein Recht übertragen, das heißt, daß er ihm etwas gestatten, etwas geben, daß er für ihn etwas thun, oder seinetwegen etwas unterlassen wolle, macht ein Versprechen; nimmt aber der Andere das Versprechen gültig an, so kommt durch den übereinstimmenden Willen beyder Theile ein Vertrag zu Stande. So lange die Unterhandlungen dauern, und das Versprechen noch nicht gemacht, oder weder zum voraus, noch nachher angenommen ist, entsteht kein Vertrag.“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 19 Naturrechtliche Vertragslehre: Code Civil Art. 1101. Ein Vertrag ist die Uebereinkunft, wodurch eine oder mehrere Personen sich gegen eine oder mehrere andere verbindlich machen, etwas zu geben, zu thun, oder nicht zu thun. Art. 1134. Gesetzlich abgeschlossene Verträge gelten für die, welche sie eingegangen haben, als Gesetze. … Sie müssen redlich und ohne Gefährde vollzogen werden. Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 20 Inhaltliches: Naturrecht und Naturrechtskodifikationen (18./19. Jh. Jh.) Naturrechtliche Vertragslehre: Einheitlicher Vertragsbegriff Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Deliktsrecht Eigentumsübertragung: Traditionsprinzip und Konsensprinzip, Erwerb vom Nichtberechtigten Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 21 Verkürzungsanfechtung (laesio enormis): Hugo Grotius „Es bleibt noch die Gleichheit in bezug auf den Gegenstand des Vertrages zu erörtern. Sie besteht darin, daß, … eine sich in den Gegenständen etwa zeigende Ungleichheit auszugleichen ist, selbst wenn keine Schuld der Parteien dabei vorliegt, weil ihnen z.B. der Fehler nicht bekannt war oder sie sich über den Wert irrten. [gemeint: versteckter Sachmangel und Irrtum über den Preis] Es muß dann der, welcher zuviel bekommen hat, dies an den herausgeben, der zu wenig erhalten hat. Denn die beiderseitige Absicht ging dahin oder hätte dahin gehen sollen, daß der eine so viel wie der andere erhielt. Das römische Gesetz hat dies nicht für jede Unausgewogenheit festgelegt, weil Kleinigkeiten nicht verfolgt werden, um eine Prozesswelle zu vermeiden. Nur einer erheblichen [Unausgewogenheit], die die Hälfte des Wertes übersteigt, wird die Verfolgung gestattet.“ De jure belli ac pacis, 2.12.12.1 und 2 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 22 Verkürzungsanfechtung (laesio enormis): ABGB § 934 ABGB. Hat bey zweyseitig verbindlichen Geschäften ein Theil nicht einmal die Hälfte dessen, was er dem andern gegeben hat, von diesem an dem gemeinen Werthe erhalten, so räumet das Gesetz dem verletzten Theile das Recht ein, die Aufhebung und die Herstellung in den vorigen Stand zu fordern. Dem andern Theile stehet aber bevor, das Geschäft dadurch aufrecht zu erhalten, daß er den Abgang bis zum gemeinen Werthe zu ersetzen bereit ist. Das Mißverhältniß des Werthes wird nach dem Zeitpuncte des geschlossenen Geschäftes bestimmt. MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE § 935 ABGB. Dieses Rechtsmittel findet nicht Statt, wenn jemand ausdrücklich darauf Verzicht gethan, oder sich erkläret hat, die Sache aus besonderer Vorliebe um einen außerordentlichen Werth zu übernehmen; wenn er, obgleich ihm der wahre Werth bekannt war, sich dennoch zu dem unverhältnißmäßigen Werthe verstanden hat; ferner, wenn aus dem Verhältnisse der Personen zu vermuthen ist, daß sie einen, aus einem entgeltlichen und unentgeltlichen vermischten Vertrag schließen wollten; wenn sich der eigentliche Werth nicht mehr erheben läßt; endlich,wenn die Sache von dem Gerichte versteigert worden ist. | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 23 Verkürzungsanfechtung (laesio enormis): Christian Wolff „Hat der Käufer einen überhöhten Preis, den er für den wahren hielt, an den Verkäufer bezahlt, ist dieser verpflichtet, entweder den gesamten empfangenen Preis zurückzuzahlen und die Kaufsache zurückzunehmen, oder den Teil des Preises, um den der gezahlte den wahren übersteigt, zurückzugewähren. Denn beim Kauf scheint die Absicht der Vertragsparteien zu sein, dass Gleichheit gewahrt ist, wenn es nicht starke Anhaltspunkte für das Gegenteil gibt ... . Daher kann ein Kaufvertrag, wenn der Käufer einen höheren als den gewöhnlichen oder wahren Preis gezahlt hat, den er für den wahren hielt, nicht zum wahren Preis bestehen, da der Käufer nicht anders zuzustimmen scheint als zum wahren Preis.“ Jus naturae, 4.1052 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 24 Verkürzungsanfechtung (laesio enormis): ALR ALR I 11 § 58. „Der Einwand, daß der Kaufpreis mit dem Werthe der Sache in keinem Verhältnisse stehe, ist für sich allein den Vertrag zu entkräften nicht hinreichend.“ ALR I 11 § 59. „Ist jedoch dieses Mißverhältniß so groß, das der Kaufpreis den doppelten Betrag des Werths der Sache übersteigt, so begründet dieses Mißverhältniß, zum Besten des Käufers, die rechtliche Vermutung eines den Vertrag entkräftenden Irrthums.“ ALR I 11 § 60. „Wird diese Vermuthung durch die übrigen, bey den Unterhandlungen und bey Abschliessung des Vertrages vorgefallenen Umstände nicht gehoben, so ist der Käufer die Aufhebung des Vertrages zu suchen berechtigt.“ ALR I 11 § 69. „Der Verkäufer kann den Kauf aus dem Grunde, dass der Werth der Sache den Betrag des Kaufpreises selbst mehr als doppelt übersteige, nicht anfechten.“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 25 Verkürzungsanfechtung (laesio enormis): Code Civil Art. 1674. Ist der Verkäufer um mehr als sieben Zwölftel bey dem Preise einer unbeweglichen Sache verletzt worden, so ist er berechtigt, die Aufhebung des Verkaufes zu fordern, selbst wenn er in dem Contracte der Befugniß, diese Aufhebung zu verlangen, entsagt und erklärt hätte, das, was die Sache mehr werth sey, schenken zu wollen. Art. 1681. Im Falle die Aufhebungsklage zugelassen wird, hat der Käufer die Wahl, entweder die Sache zurückzugeben, und den dafür bezahlten Preis wieder anzunehmen, oder, gegen Nachzahlung der Summe, welche an dem wahren Preise fehlt, jedoch mit Abzug eines Zehntels des vollen Werthes, das Grundstück zu behalten. Art. 1683. Zum Vortheile des Käufers findet die Aufhebung wegen Verletzung nicht statt. Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 26 Inhaltliches: Naturrecht und Naturrechtskodifikationen (18./19. Jh. Jh.) Naturrechtliche Vertragslehre: Einheitlicher Vertragsbegriff Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Deliktsrecht Eigentumsübertragung: Traditionsprinzip und Konsensprinzip, Erwerb vom Nichtberechtigten Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 27 Hugo Grotius: allgemeiner Anspruch aus schuldhafter Schadenszufügung „Delikt nennen wir … jede Schuld, bestehe sie im Handeln oder Unterlassen, die dem widerspricht, was die Menschen überhaupt oder nach ihrer besonderen Eigenschaft zu tun haben. Aus einer solchen Schuld entspringt naturrechtlich die Verbindlichkeit, den verursachten Schaden zu ersetzen. Der Begriff Schaden kommt aber von dem Wort ‚wegnehmen‘, und ist das zu Wenige, d.h. was jemand weniger hat, als ihm entweder nach der reinen Natur oder infolge einer vorhergehenden menschlichen Einrichtung wie des Eigentums oder Vertrages oder nach dem Gesetz gebührt. Von Natur gehört dem Menschen sein Leben, nicht um es zu verlieren, sondern um es erhalten; sein Körper, seine Glieder, sein guter Ruf, seine Ehre, sein eigenes Handeln.“ De jure belli ac pacis, 2.17.1 und 2 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 28 Christian Thomasius: Verschuldensunabhängige Haftung „Daher spricht die Vernunft dafür, dass ich nicht nur jeden Schaden wiedergutmache, den ich vorsätzlich zugefügt habe, sondern auch, wenn es ohne meine Schuld, durch bloßen Zufall geschehen ist. … Nehmen wir an: Ich bin bei einem Freund. Ich betrachte ein wertvolles Glas und drehe es in meiner Hand. Plötzlich geschieht etwas, das nicht nur mich, sondern auch den Eigentümer sehr erschreckt. Der Schrecken erfasst mich derart, dass ich das Glas fallen lasse. Wer muß also diesen Schaden tragen? … Aber der Eigentümer des Glases wird erwidern: Auch ich hatte keine Absicht, das Glas zu zerstören; und mir kann auch keine Nachlässigkeit zugeschrieben werden. Und im Hinblick auf mich liegt reiner Zufall vor. Was ist also zu tun? … Wie unschuldig meine Neugier auch sein mag, es ist meine Neugier, nicht die des Eigentümers des Glases. …“ Larva legis Aquiliae detracta actioni de damno dato („Die Maske des aquilischen Gesetzes von der Deliktshaftung heruntergerissen“) § 4 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 29 Deliktsrecht: ALR ALR I 6 § 1. „Schaden heisst jede Verschlimmerung des Zustandes eines Menschen, in Absicht seines Körpers, seiner Freyheit, oder Ehre, oder seines Vermögens.“ ALR I 6 § 8. „ Wer jemanden ohne Recht Schaden zufügt, der kränkt oder beleidigt denselben.“ ALR I 6 § 10. „Wer einen Andern aus Vorsatz oder grobem Versehen beleidigt, muß demselben vollständige Genugthuung leisten.“ ALR I 6 § 12. „Wer aus mäßigem Versehen den Andern durch eine Handlung oder eine Unterlassung beleidigt, der haftet nur für den daraus entstandnen wirklichen Schaden. MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 30 Deliktsrecht: ABGB § 1295 ABGB. „Jedermann ist berechtigt, von dem Beschädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu fordern; der Schade mag durch Uebertretung einer Vertragspflicht, oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursacht worden sein.“ § 1324 ABGB. „In dem Falle eines aus böser Absicht oder aus einer auffallenden Sorglosigkeit verursachten Schadens ist der Beschädigte volle Genugthuung; in den übrigen Fällen aber nur die eigentliche Schadloshaltung zu fordern berechtigt.“ § 1311 ABGB. „Der bloße Zufall trifft denjenigen, in dessen Vermögen oder Person er sich ereignet.“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 31 Deliktsrecht: Code Civil Art. 1382. Jede Handlung eines Menschen, von welcher Art sie auch sey, verbindet, wenn sie einem andern Schaden verursacht, denjenigen, durch dessen Verschulden dies geschah, zur Entschädigung. Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 32 Inhaltliches: Naturrecht und Naturrechtskodifikationen (18./19. Jh. Jh.) Naturrechtliche Vertragslehre: Einheitlicher Vertragsbegriff Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Deliktsrecht Eigentumsübertragung: Traditionsprinzip und Konsensprinzip, Erwerb vom Nichtberechtigten Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 33 Eigentumsübertragung nach dem Traditionsprinzip: ALR und ABGB ALR I 10 § 1. „Die mittelbare Erwerbung des Eigenthums einer Sache erfordert, außer den dazu nötigen Titel, auch die wirkliche Übergabe derselben.“ § 423 ABGB. „Sachen, die schon einen Eigenthümer haben, werden mittelbar erworben, indem sie auf eine rechtliche Art von dem Eigenthümer auf einen Anderen übergehen.“ § 424 ABGB. „Der Titel der mittelbaren Erwerbung liegt in einem Vertrage; in einer Verfügung auf den Todesfall; ….“ § 425 ABGB. „Der bloße Titel gibt noch kein Eigentum. Das Eigentum und alle dinglichen Rechte überhaupt können, außer den in dem Gesetze bestimmten Fällen, nur durch die rechtliche Übergabe und Übernahme erworben werden.“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 34 Eigentumsübertragung nach dem Konsensprinzip: Hugo Grotius „… Daß der Eigentümer sein Recht ganz oder zum Teil übertragen kann, ist Naturrecht, nachdem einmal das Eigentum eingeführt ist; denn das liegt in der Natur des Eigentums …. Bei dem Geber genügt nicht der bloße Wille, sondern es sind auch Worte oder äußere Zeichen nötig, weil ein innerliches Wollen sich … mit der Natur der menschlichen Gesellschaft nicht verträgt. Daß aber auch die Übergabe hinzukommen muß, ist positives Recht. Es gilt dies zwar bei vielen Völkern, aber es kann nicht eigentlich zum Völkerrecht gezählt werden. … Ferner bedarf es … auf Seiten des Empfangenden naturrechtlich des Willens zu nehmen und einer entsprechenden Willenserklärung. … De jure belli ac pacis 2.6.1 und 2 „Beim Kauf kann das Eigentum schon mit dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses übergehen, und dies ist das einfachste. …“ De jure belli ac pacis 2.12.5 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 35 Eigentumsübertragung nach dem Konsensprinzip: Code Civil Art. 1138. Die Verbindlichkeit, eine Sache zu überliefern, wird vollkommen begründet durch die bloße Einwilligung der contrahirenden Theile. Sie macht den Gläubiger zum Eigenthümer, und überträgt auf ihn die Gefahr der Sache von dem Augenblicke an, wo sie überliefert werden sollte, wenn gleich die Uebergabe nicht erfolgt ist …. Art. 1583. Er [der Kaufvertrag] ist unter den Parteyen vollkommen, und das Eigenthum wird, kraft des Gesetzes, dem Käufer in Beziehung auf den Verkäufer erworben, so bald man über die Sache und den Preis übereingekommen ist, wenn gleich die Sache noch nicht überliefert und der Preis noch nicht gezahlt worden ist. Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 36 Problem: Erwerb vom Nichtberechtigten Gemeines Recht Grundsatz des ius commune: Nemo plus iuris ad alium transferre potest, quam ipse haberet. – Niemand kann ein Recht auf einen anderen übertragen, das er selbst nicht hatte. Dig. 50.17.54 Konsequenz: kein Erwerb vom Nichtberechtigten möglich; traditio mußte vom Eigentümer oder seinem Beauftragten vorgenommen werden Lösung des gemeinen Rechts: Ersitzung, d.h. der redliche Erwerber vom Nichtberechtigten erlangt nach Ablauf einer gesetzlich vorgeschriebenen Zeit (idR 3 Jahre für Mobilien) Eigentum, sofern nicht der wahre Eigentümer Anspruch auf die Sache erhoben hat Problem dieser Lösung: kein sofortiger Eigentumserwerb mit Übergabe; Rechtsunsicherheit während der Ersitzungsfrist MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 37 Problem: Erwerb vom Nichtberechtigten ALR ALR I 15 § 42. „Sachen, die von dem Fisko, oder bey öffentlichen Versteigerungen erkauft worden, sind keiner Vindikation unterworfen.“ ALR I 15 § 43. „Ein Gleiches gilt von Sachen, die in den Läden solcher Kaufleute, welche die Gilde gewonnen haben, erkauft worden.“ ALR I 15 § 44. „Wer außerdem eine Sache auf Messen und Märkten, oder sonst von Leuten, welche Sachen dieser Art unter obrigkeitlicher Erlaubniß öffentlich feil haben, erkauft hat, dem kommen, wegen der nur gegen Ersatz zu leistenden Rückgabe, die Rechte eines redlichen Besitzers zu.“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 38 Problem: Erwerb vom Nichtberechtigten ABGB § 367 ABGB. „Die Eigentumsklage findet gegen den redlichen Besitzer einer beweglichen Sache nicht statt, wenn er beweist, daß er diese Sache entweder in einer öffentlichen Versteigerung, oder von einem zu diesem Verkehre befugten Gewerbsmanne, oder gegen Entgelt von jemandem an sich gebracht hat, dem sie der Kläger selbst zum Gebrauche, zur Verwahrung, oder in was immer für einer andern Absicht anvertraut hatte. In diesen Fällen wird von den redlichen Besitzern das Eigentum erworben, und dem vorigen Eigentümer steht nur gegen jene, die ihm dafür verantwortlich sind, das Recht der Schadloshaltung zu.“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 39 Problem: Erwerb vom Nichtberechtigten Code Civil Art. 2279. Bey Mobilien gilt der Besitz als Rechtsgrund. Gleich wohl kann der, welcher eine Sache verloren hat, oder dem sie entwendet worden ist, während dreyer Jahre von dem Tage des Verlustes oder der Entwendung an gerechnet, das Eigenthum gegen einen jeden, in dessen Händen er sie findet, in Anspruch nehmen; doch bleibt diesem wider den, von welchem er die Sache erhielt, der Entschädigungsanspruch vorbehalten. Art. 2280. „Wenn der gegenwärtige Besitzer der entwendeten oder verlorenen Sache dieselbe auf einer Messe, einem Markte oder in einer öffentlichen Versteigerung, oder auch von einem Kaufmanne, der mit dergleichen Sachen handelt, gekauft hat: so kann der ursprüngliche Eigenthümer dieselbe nur, wenn er dem Besitzer den dafür gezahlten Preis erstattet, zurückfordern.“ Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 40 Inhaltliches: Naturrecht und Naturrechtskodifikationen (18./19. Jh. Jh.) Naturrechtliche Vertragslehre: Einheitlicher Vertragsbegriff Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Deliktsrecht Eigentumsübertragung: Traditionsprinzip und Konsensprinzip, Erwerb vom Nichtberechtigten Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 41 Eherecht: ALR Eheschließung: ALR II 1 § 136. Eine vollgültige Ehe wird durch die priesterliche Trauung vollzogen. ALR II 1 § 138. Das Aufgebot muß vor der Trauung hergehn. ALR II 1 § 151. Es [das Aufgebot] muß Drey Sonntage hinter einander von der Kanzel verlesen werden. Eheliche Rechte und Pflichten: ALR II 1 § 174. Eheleute sind schuldig, sich in allen Vorfallenheiten nach ihren Kräften wechselseitigen Beystand zu leisten. ALR II 1 § 175. Sie müssen vereint mit einander leben, und dürfen ihre Verbindung eigenmächtig nicht aufheben. ALR II 1 § 176. Auch wegen Widerwärtigkeiten dürfen sie einander nicht verlassen. ALR II 1 § 178. Eheleute dürfen einander die eheliche Pflicht anhaltend nicht versagen. ALR II 1 § 179. Wenn deren Leistung der Gesundheit des einen oder des anderen Ehegatten nachtheilig seyn würde, kann sie nicht gefordert werden. ALR II 1 § 180. Auch säugende Ehefrauen verweigern die Beywohnung mit Recht. ALR II 1 § 181. Zur ehelichen Treue sind beyde Ehegatten wechselseitig verpflichtet. ALR II 1 § 182. Die Verletzung derselben von Seiten des einen Ehegatten berechtigt den anderen nicht zu gleichen Vergehungen. ALR II 1 § 184. Der Mann ist das Haupt der ehelichen Gesellschaft; und sein Entschluß giebt in gemeinschaftlichen Angelegenheiten den Ausschlag. MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 42 Eherecht: ALR Ehescheidung ALR II 1 § 668. Eine an sich gültige Ehe kann durch richterlichen Ausspruch wieder getrennt werden. ALR II 1 § 669. Doch sollen Ehescheidungen nicht anders als aus sehr erheblichen Ursachen stattfinden. Bspe.: Ehebruch, Impotenz, Anwendung empfängnisverhütender Mittel gegen den Willen des Ehepartners, Geisteskrankheiten, gewaltsame Übergriffe auf den Partner, Alkoholismus, Verschwendung und Mangel an Unterhalt ALR II 1 § 716. Ganz kinderlose Ehen können auf den Grund gegenseitiger Einwilligung getrennt werden, sobald weder Leichtsinn oder Uebereilung, noch heimlicher Zwang an einer oder der andern Seite zu besorgen ist. Für alle Ehen (ob mit oder ohne Kinder) gilt: ALR II 1 § 718. Doch soll dem Richter erlaubt seyn, in besonderen Fällen, wo nach dem Inhalte der Akten der Widerwille so heftig und tief eingewurzelt ist, daß zu einer Aussöhnung und zur Erreichung der Zwecke des Ehestandes gar keine Hoffnung mehr übrig bleibt, eine solch unglückliche Ehe zu trennen. MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 43 Eherecht: Code Civil Eheschließung: Art. 165. Die Ehe soll öffentlich vor dem Beamten des Personenstandes an dem Orte, wo einer von beyden Theilen seinen Wohnsitz hat, abgeschlossen werden. Zivilehe! Ehescheidung: Art. 227. Die Ehe wird aufgelöst: 1) Durch den Tod eines der beyden Ehegatten; 2) Durch eine gesetzlich ausgesprochene Ehescheidung; … . Scheidungsgründe: Ehebruch, „harte und grausame Mißhandlung“, Verurteilung des Partners zu einer „entehrenden Strafe“ Einverständliche Scheidung bei zerrütteter Ehe: Art. 233. Die beyderseitige und beharrliche … Einwilligung der Ehegatten, soll als ein hinlänglicher Beweis angenommen werden, daß das Zusammenleben ihnen unerträglich und in Ansehung ihrer eine vollgültige Ursache zur Trennung der Ehe vorhanden sey. Code Napoléon für das Großherzogtum Berg, 1810 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 44 Das 19. Jahrhundert Historische Rechtsschule Pandektenwissenschaft (Pandektistik) Interessenjurisprudenz Das BGB von 1900 MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 45 Historische Rechtsschule Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) Professor für römisches Recht in Marburg und Landshut, ab 1810 an der neugegründeten Berliner Universität Ab 1842 preußischer Minister für Gesetzgebung Zentrale These: Recht läßt sich nur aus seiner Geschichte verstehen Grundwerte, auf denen das Recht beruht, leben im Bewußtsein des Volkes (sog. Volksgeist) Recht wächst „organisch“ aus dem „gemeinsamen Bewußtsein des Volkes“ wie die Sprache Gesetz soll nur eingreifen, wo es für Regelungen von Einzelfragen notwendig ist, im übrigen Fortentwicklung des Rechts durch die Juristen Grundlage der Rechtswissenschaft ist das Verstehen der vorhandenen Rechtssätze aus ihrer Geschichte MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 46 Pandektenwissenschaft (Pandektistik) Ziel: durch Interpretation der Digesten ein dogmatisch widerspruchsfreies Rechtssystem zu formen, das den rechtspolitischen Programmen und Bedürfnissen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung des 19. Jh. vollkommen entspricht Methode: historische Betrachtung + systematisierende Interpretation (Suche nach der „inneren Vernünftigkeit“) der schwer überschaubare Stoff der Digesten soll durch ein System von juristischen Begriffen beherrschbar gemacht werden (sog. Begriffsjurisprudenz) starke Abstrahierung des Rechtsstoffes Errichtung eines Systems von Begriffen, die das Wesen der Rechtsinstitute erfassen sollen, Herausarbeiten von allgemeinen Rechtsgrundsätzen und -prinzipien 1850er Jahre: Hinwendung zur modernen Praxis, Abwendung von rein historischen Untersuchungen logische Erfassung des Rechts (nicht mehr historisch), nach dem Vorbild der Naturwissenschaften: Suche nach „Grundformen und Grundtypen der Rechtswelt“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 47 Pandektenwissenschaft (Pandektistik) 2 Bernhard Windscheid (1817-1892) Professor für römisches Recht in Leipzig einer der bedeutendsten Systematiker der Pandektistik Hauptwerk: „Lehrbuch des Pandektenrechts“, 1862 Abschluß der ganzen bisherigen Wissenschaft von dem in Deutschland gültigen römischen Recht, zugleich Schlüssel zu dem neuen Recht des BGB Mitglied der Ersten Kommission für die Ausarbeitung des Entwurfs des BGB Merksatz: „Jurisprudenz, das heißt Pandekten, Pandekten, das heißt Windscheid.“ Ergebnis der Pandektistik: geschlossenes System abstrakter Rechtsbegriffe, -prinzipien und –institute, das als Rechtsdogmatik bis heute den Kern der Rechtswissenschaft bildet MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 48 Interessenjurisprudenz Rudolf von Jhering (1818-1892) Professor für römisches Recht in Basel, Rostock, Kiel, Gießen, Wien und Göttingen zunächst Pandektist (Werk: „Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung“, 4 Bde., 1852-1865), später Abkehr und Begründer der Interessenjurisprudenz (Werke: „Der Kampf ums Recht“, 1872; „Der Zweck im Recht“, 2 Bde., 1877-1884) Grundgedanke der Interessenjurisprudenz: der Gesetzgeber verfolgt den Zweck, Interessenkonflikte zu regeln und mit den Geboten des Rechts auszugleichen bei der Auslegung von Gesetzen ist vom Richter „denkender Gehorsam“ gefordert, d.h. er muß die sich in den Gesetzen niederschlagenden Wertungen der verschiedenen Interessen durch den Gesetzgeber nachvollziehen und auf seinen konkreten Fall anwenden MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 49 BGB von 1900: Entstehung späte Frucht der europäischen Kodifikationsbewegung entsteht im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Gesetzen, welche fördernde Rahmenbedingungen für den Handel und freien Warenverkehr im Deutschen Zollverein (1834) und späteren Deutschen Reich (1871) bieten sollten, insbes. Wechselrecht (1848) und Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch (1861) 1873: Einsetzung einer Gesetzgebungskommission des Reiches 1887: Vorlage des sog. Ersten Entwurfs heftige Kritik in der juristischen Fachwelt: zu starker Einfluß des römischen Rechts, daher zu „undeutsch“, zu komplizierte Sprache, zu wenig Rücksicht auf die soziale Frage usw. 1895: Vorlage eines zweiten Entwurfs; Reichstag und Bundesrat stimmen zu 1896: am 18.8. promulgiert Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) das BGB 1.1.1900: Inkrafttreten des BGB MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 50 Inhaltliches im BGB Schuldvertragsrecht Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 51 Schuldvertragsrecht Klagbarkeit aller Verträge war im älteren gemeinen Recht erreicht worden (pacta sunt servanda) und wird seit dem Code civil in die Kodifikationen übernommen, so auch ins BGB einheitlicher Begriff des Vertrags, der • durch bloßen Konsens der Parteien geschlossen wird (§§ 145ff. BGB). • beliebigen Inhalt haben kann (Gestaltungsfreiheit) § 305 BGB aF (= § 311 Abs. 1 BGB nF). „Zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ist ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich, soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt.“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 52 Inhaltliches im BGB Schuldvertragsrecht Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 53 Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Für den BGB-Gesetzgeber entscheidend: Schutz der freien Willensbildung bei Vertragsschluß; bloßes objektives Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung genügt nicht, um die Wirksamkeit des Vertrags in Frage zu stellen deshalb keine Verkürzungsanfechtung im BGB, sondern Wuchertatbestand (§138 Abs. 2): Nichtigkeit des Vertrags nur noch für den Fall, daß eine Partei bei Eingehung des Vertrags in ihrer Entschlußfähigkeit beeinträchtigt war § 138 Abs. 2 BGB. „Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen.“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 54 Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) 2 Aber: im 20. Jh. wird nach der Rspr. des BGH Sittenwidrigkeit i.S.d. § 138 I (und damit Nichtigkeit des Vertrags) dann vermutet, wenn der Preis einer Leistung doppelt so hoch ist wie ihr Marktwert (Verhältnis 1:2) Vermutung, daß die begünstigte Partei eine Verhandlungsschwäche der anderen Seite in vorwerfbarer Weise ausgenutzt hat begünstigte Partei hat die Beweislast für die Entschlußfreiheit des anderen Teils, um die Vermutung zu entkräften: ausgesprochen schwierig außerdem: stehen Leistung und Gegenleistung in einem Verhältnis von 1:3, wird die Sittenwidrigkeit des Geschäfts iSd § 138 I unwiderlegbar vermutet im Ergebnis: Rückkehr zum Verbot der laesio enormis MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 55 Inhaltliches im BGB Schuldvertragsrecht Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 56 Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage Vorläufer: Windscheids Lehre von der „Voraussetzung“ • jede Willenserklärung kann eine sog. „unentwickelte Bedingung“ enthalten • eine unentwickelte Bedingung liegt vor, wenn eine Vertragspartei bei Vertragsabschluß zu erkennen gibt, daß sie von bestimmten Umständen ausgeht, die für ihren Entschluß, den Vertrag zu schließen, ausschlaggebend sind • wurde nicht h.M. und auch nicht ins BGB von 1900 aufgenommen: Gesetzgeber lehnte Vertragsänderung infolge anders vorgestellter oder veränderter Umstände ab Aber: von der Rspr. angewendet, um die Auswirkungen der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg zu bewältigen (Geldwertschwund) – Ableitung nicht aus dem Willen einer Partei, sondern aus dem objektiven Grds. von Treu und Glauben Seit 2002 (Schuldrechtsreform) kodifiziert: § 313 BGB MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 57 Inhaltliches im BGB Schuldvertragsrecht Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 58 Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) Deliktische Haftung nach §§ 823, 826 BGB BGB sollte nach seinem ersten Entwurf eine Generalklausel enthalten: Ersatzpflicht bei jeder Verletzung subjektiver Rechte, jedem Verstoß gegen Gesetze oder die guten Sitten wurde als zu große Ausweitung der außervertraglichen Haftung (weil auch Haftung für reine Vermögensschäden) angesehen und eingeschränkt: • Schadensersatz nur bei Verletzung absoluter Rechte (Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum: § 823 I) oder bei vorsätzlicher Schädigung (§ 826) • also keine Haftung nach dem BGB 1900 für fahrlässige Herbeiführung reiner Vermögensschäden, die vor allem im Geschäftsverkehr entstehen Reiner Vermögensschaden: Schaden, der ohne Eingriff in ein absolut geschütztes Rechtsgut (Leben, körperliche Integrität, Eigentum, Freiheit) des Geschädigten erfolgt (z.B. entgangener Gewinn, Umsatzeinbußen, Fehlinvestitionen) MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 59 Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) Konsequenz aus der Einschränkung außervertraglicher (deliktischer) Haftung: Ausweitung der vertraglichen Haftung, um Vermögensschäden zu erfassen Rechtsinstitute der pVV und c.i.c. pVV (positive Vertragsverletzung): kurz nach 1900 durch Rspr. eingeführt gewährt Schadensersatz für jede Pflichtverletzung unter Vertragsparteien außerhalb der Beeinträchtigung des Leistungsinteresses (denn bei Leistungsverzögerung, Schlechtleistung usw.: gesetzliche Regelungen im Allgemeinen und Besonderen Schuldrecht) Grundlage für die heutige Haftung für Verletzung der Rücksichtspflicht gem. §§ 241 Abs. 2, 280 Abs. 1 BGB nF MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 60 Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) c.i.c. (culpa in contrahendo = Verschulden bei Vertragsschluß) Geht zurück auf Jhering: Parteien eines Vertrags sollen vor dessen Abschluß dieselbe Sorgfalt walten lassen, die sie auch danach anwenden müssen „Nicht bloß die bestehenden, sondern bereits die entstehenden Contractsverhältnisse müssen unter dem Schutz der Regeln über die culpa stehen, wenn nicht der contractliche Verkehr nach dieser Seite hin empfindlichster Weise bloß gestellt, jeder Contrahent der Gefahr Preis gegeben werden soll, das Opfer fremder Nachlässigkeit zu werden. Um ihn dagegen zu sichern, braucht man ihm nicht zuzumuthen, sich die Abwesenheit der culpa oder specieller das Vorhandensein der Erfordernisse des Contracts ausdrücklich garantieren zu lassen, das Gesetz kann und soll ihn dieser Mühe überheben, indem es in das Contrahiren selbst die stillschweigende Übernahme dieser Garantie verlegt.“ Jherings Jahrbücher 4 (1861), S. 41f. MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 61 Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) Culpa in contrahendo: Jhering wollte seine Figur der c.i.c. für die Fälle nutzen, in denen der Vertragsschluß scheitert (Irrtum, fehlende Vertretungsmacht, anfängliche Unmöglichkeit) BGB-Gesetzgeber: diese Fälle sind schon geregelt in §§ 122, 179 (Vertretungsrecht) und § 306 BGB aF (Haftung für anfängliche Unmöglichkeit) Rspr.: nutzte die Figur der c.i.c., um die strengeren Regeln der vertraglichen Haftung auch für Fälle vorvertraglicher Rechtsgutverletzung anwenden zu können (z.B. Gefährdungshaftung für Gehilfen, § 278 BGB; längere Verjährungsfrist, § 195 BGB aF: 30 Jahre, statt § 852 BGB aF: 3 Jahre) Seit 2002 (Schuldrechtsreform) kodifiziert in § 311 Abs. 2 Nr. 1,3: „Ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 entsteht auch durch 1. die Aufnahme von Vertragsverhandlungen … oder 3. ähnliche geschäftliche Kontakte.“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 62 Inhaltliches im BGB Schuldvertragsrecht Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 63 Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB Schadensersatz hat im BGB grds. keine Straffunktion, daher auch keine Differenzierung nach Verschuldensgraden Problem: Ersatz immaterieller Schäden, insbes. Schmerzensgeld Schmerzensgeld hat zwangsläufig Straffunktion, weil es einen nicht in Geld zu bemessenden Nachteil wettmachen soll und deshalb gleichermaßen der Genugtuung und der Abschreckung dient (BGH) grds. kein Ersatz immaterieller Schäden § 253 Abs. 1: „… nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen“ Einziger im BGB 1900 vorgesehener Fall: Schmerzensgeld § 847 I BGB aF. „Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit sowie im Falle der Freiheitsentziehung kann der Verletzte auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen.“ Heute: Erweiterung • für alle Arten der Haftung (nicht nur deliktische): § 253 Abs. 2 • über den Wortlaut des § 253 Abs. 2 hinaus auch bei Verletzung des allg. Persönlichkeitsrechts (Rspr. unter Berufung auf Art. 1,2 GG) MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 64 Inhaltliches im BGB Schuldvertragsrecht Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 65 Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip Besonderheit des BGB (§§ 398, 873, 929) geht auf Savigny zurück: Verträge gibt es in allen Bereichen des Rechts, nicht nur im Schuldrecht „So ist die Tradition ein wahrer Vertrag, da alle Merkmale des Vertragsbegriffs darin wahrgenommen werden: denn sie enthält von beiden Seiten die auf gegenwärtige Übertragung des Besitzes und des Eigenthums gerichtete Willenserklärung, und es werden die Rechtsverhältnisse der Handelnden dadurch neu bestimmt; daß diese Willenserklärung für sich allein nicht hinreicht zur vollständigen Tradition, sondern die wirkliche Erwerbung des Besitzes, als äußere Handlung hinzukommen muß, hebt das Wesen des zum Grund liegenden Vertrags nicht auf.“ System des heutigen römischen Rechts Bd. 3, S. 312 also: Eigentum wird durch einen selbständigen Vertrag übertragen • Inhalt: nur die Eigentumsübertragung selbst ist • Form: Übergabe (traditio) • auf den zugrundeliegenden schuldrechtlichen Vertrag kommt es nicht an diese neue Lehre wird von Windscheid übernommen, schließlich ins BGB (§§ 929 ff.) MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 66 Inhaltliches im BGB Schuldvertragsrecht Vertragsrecht: Verkürzungsanfechtung (laesio enormis) Vertragsrecht: Wegfall der Geschäftsgrundlage Deliktsrecht und Ausweitung der vertraglichen Haftung (pVV und c.i.c.) Ersatz immaterieller Schäden im Schadensersatzrecht des BGB Eigentumsübertragung: Abstraktionsprinzip Eherecht MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 67 Eherecht 1 Eheschließung im BGB nach dem Muster des Code civil: zivile Eheschließung durch den Standesbeamten (§§ 1310, 1312 BGB) ursprünglich auch staatliches Aufgebotsverfahren, 1998 abgeschafft Ehewirkungen nach BGB 1900 Ehemann als Haupt der Familie: Leitung der ehelichen Gemeinschaft, Entscheidungsgewalt in den gemeinsamen Angelegenheiten Ehefrau hat innerhalb der Lebensgemeinschaft bestimmte Rechte und Pflichten: sie führt den Haushalt und hat, um diese Aufgabe zu erfüllen, ein gesetzliches Vertretungsrecht für den Mann: sog. Schlüsselgewalt § 1357 I BGB 1900. „Die Frau ist berechtigt, innerhalb ihres häuslichen Wirkungskreises die Geschäfte des Mannes für ihn zu besorgen und ihn zu vertreten. Rechtsgeschäfte, die sie innerhalb dieses Wirkungskreises vornimmt, gelten als im Namen des Mannes vorgenommen, wenn nicht aus den Umständen sich ein Anderes ergiebt.“ MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 68 Eherecht 2 Ehescheidung ursprünglich: strenges Scheidungsregime gekennzeichnet, das die Auflösung der Ehe nur bei schwerer Verfehlung eines Ehegatten gestattet (Verschuldensprinzip) 1970er Jahre: Abschaffung des Verschuldensprinzips, wird durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt Voraussetzung der Scheidung: Scheitern der Ehe und eine Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft nicht zu erwarten (§ 1565 BGB) wird durch den Richter festgestellt, wenn • die Ehegatten ein Jahr getrennt leben und beide der Scheidung zustimmen oder • die Ehegatten drei Jahre getrennt leben und einer die Scheidung betreibt (§ 1566 BGB) MAX-PLANCK-INSTITUT für europäische RECHTSGESCHICHTE | Birr, Europ. Zivilrechtstradition 14.12.2013 | SEITE 69