Leseprobe - Ferdinand Schöningh

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KRIEG IN DER GESCHICHTE
(KRiG)
KRIEG IN DER GESCHICHTE
(KRiG)
HERAUSGEGEBEN VON
STIG FÖRSTER · BERNHARD R. KROENER · BERND WEGNER · MICHAEL WERNER
BAND 81
DIE WEHRMACHT IM STADTKAMPF 1939–1942
FERDINAND SCHÖNINGH
Adrian E. Wettstein
Die Wehrmacht im
Stadtkampf 1939–1942
FERDINAND SCHÖNINGH
Der Autor:
Adrian E. Wettstein, Dr. phil.; geboren 1979; Studium der Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Bern, Promotion auf Grundlage der vorliegenden
Arbeit im Jahr 2010 an der Universität Bern; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an
der Dozentur Strategische Studien der Militärakademie an der ETH Zürich. Sein
Forschungsschwerpunkt ist die Operations- und Taktikgeschichte im Zeitalter der
Weltkriege.
Titelbild:
Deutsche Soldaten mit Granatwerfer in Stalingrad, 1942
ullsteinbild-süddeutsche Zeitung, Photo/Scherl
Reihensignet: Collage unter Verwendung eines Photos von John Heartfield.
© The Heartfield Community of Heirs/VG Bild-Kunst, Bonn 1998.
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und alterungsbeständigem Papier 嘷
∞ ISO 9706
© 2014 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
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Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany.
Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn
ISBN 978-3-506-77285-5
Meiner Familie
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1. Stadtkampf – (k)ein Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2. Fragestellung, Aufbau der Studie, Methodik und Begriffe. . . . .
11
11
17
2. Deutsche Erfahrungen und Gefechtsgrundsätze vor 1939 . . . . . . . . .
2.1. Deutsche Orts- und Stadtkampf-Erfahrungen vor 1939 . . . . . .
2.2. Ortskampf in den deutschen Vorschriften vor 1939 . . . . . . . . . .
33
33
55
3. September 1939 – Juni 1941: Stadtkämpfe als Ausnahme . . . . . . . . . . 65
3.1. Fallbeispiel 1: Die Eroberung von Warschau
(September 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.1.1. Der Verlauf der Schlacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.1.2. Operative Ansätze gegen Warschau. . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
3.1.3. Die deutsche Taktik in Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
3.1.4. Die deutsche Führungstaktik in Warschau . . . . . . . . . . . . 102
3.1.5. Die deutsche Logistik in Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
3.2. Stadtkampf in den kurzen Feldzügen bis 1941 . . . . . . . . . . . . . . 112
4. Juni 1941 – Juni 1942: Stadtkämpfe als Störfaktor deutscher Pläne . .
4.1. Operation »Barbarossa«: Städte im Blitz- und
Vernichtungskrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2. Fallbeispiel 2: Die Eroberung Dnepropetrovsk 1941 . . . . . . . . .
4.2.1. Der Verlauf der Schlacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.2. Die deutsche Taktik in Dnepropetrovsk . . . . . . . . . . . . . .
4.2.3. Die deutsche Führungstaktik in Dnepropetrovsk . . . . . . .
4.2.4. Die deutsche Logistik in Dnepropetrovsk . . . . . . . . . . . . .
4.3. Deutsche Pläne zur Eroberung Leningrads 1941 . . . . . . . . . . . .
4.4. Städte im Winter 1941/42. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Juli 1942 – November 1942: Stadtkämpfe als Brennpunkte . . . . . . . .
5.1. Der Fall Blau und die geplante Eroberung Leningrads 1942 . . .
5.1.1. Anlage und Eröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.2. Rostov und Krasnodar – Stadtkämpfe unterwegs
zum Kaukasus.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.3. Deutsche Pläne zur Eroberung Leningrads 1942/43 . . . .
5.1.4. Exkurs: Der Umgang mit der Zivilbevölkerung
während der Kampfhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2. Fallbeispiel 3: Der Angriff auf Novorossijsk . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.1. Der Verlauf der Schlacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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212
223
223
8
Inhaltsverzeichnis
5.2.2. Operativer Ansatz gegen Novorossijsk . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.3. Die deutsche Taktik in Novorossijsk . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.4. Die deutsche Führungstaktik in Novorossijsk. . . . . . . . . .
5.2.5. Die deutsche Logistik in Novorossijsk . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3. Fallbeispiel 4: Der Angriff auf Stalingrad. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.1. Der Verlauf der Schlacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.2. Operativer Ansatz gegen Stalingrad . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.3. Die deutsche Taktik in Stalingrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3.4. Die deutsche Führungstaktik in Stalingrad. . . . . . . . . . . .
5.3.5. Die deutsche Logistik in Stalingrad . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238
241
246
252
268
268
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317
331
336
6. Ausbildung und Ausrüstung der deutschen Truppen im
Stadtkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1. Infanterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2. Pioniere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3. Leichte Infanterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4. Sturmgeschütze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
350
350
369
373
378
7. Die zweite Kriegshälfte: Stadtkampf als Untergang. . . . . . . . . . . . . . . 392
8. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
VORWORT ZUR REIHE
»Der Krieg ist nichts als die Fortsetzung der politischen Bestrebungen mit
veränderten Mitteln. [...] Durch diesen Grundsatz wird die ganze Kriegsgeschichte verständlich, ohne ihn ist alles voll der größten Absurdität.« Mit
diesen Sätzen umriss Carl von Clausewitz im Jahre 1827 sein Verständnis vom
Krieg als historisches Phänomen. Er wandte sich damit gegen die zu seiner Zeit
und leider auch später weit verbreitete Auffassung, wonach die Geschichte der
Kriege in erster Linie aus militärischen Operationen, aus Logistik, Gefechten
und Schlachten, aus den Prinzipien von Strategie und Taktik bestünde. Für
Clausewitz war Krieg hingegen immer und zu jeder Zeit ein Ausfluss der Politik, die ihn hervorbrachte. Krieg kann demnach nur aus den jeweiligen politischen Verhältnissen heraus verstanden werden, besitzt er doch allenfalls eine
eigene Grammatik, niemals jedoch eine eigene Logik.
Dieser Einschätzung des Verhältnisses von Krieg und Politik fühlt sich Krieg
in der Geschichte grundsätzlich verpflichtet. Die Herausgeber legen also Wert
darauf, bei der Untersuchung der Geschichte der Kriege den Blickwinkel nicht
durch eine sogenannte militärimmanente Betrachtungsweise verengen zu lassen. Doch hat seit den Zeiten Clausewitz’ der Begriff des Politischen eine erhebliche Ausweitung erfahren. Die moderne Historiographie beschäftigt sich
nicht mehr nur mit Außen- und mit Innenpolitik, sondern auch mit der Geschichte von Gesellschaft, Wirtschaft und Technik, mit Kultur- und Mentalitätsgeschichte und, nicht zuletzt, mit der Geschichte der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. All die diesen unterschiedlichen Gebieten eigenen
Aspekte haben die Geschichte der Kriege maßgeblich mitbestimmt. Die moderne historiographische Beschäftigung mit dem Phänomen Krieg kann deshalb nicht umhin, sich die methodologische Vielfalt der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft zunutze zu machen. In diesem Sinne ist Krieg in der
Geschichte offen für die unterschiedlichsten Ansätze in der Auseinandersetzung mit dem historischen Sujet.
Diese methodologische Offenheit bedeutet jedoch auch, dass Krieg im engeren Sinne nicht das alleinige Thema der Reihe sein kann. Die Vorbereitung
und nachträgliche »Verarbeitung« von Kriegen gehören genauso dazu wie der
gesamte Komplex von Militär und Gesellschaft. Von der Mentalitäts- und
Kulturgeschichte militärischer Gewaltanwendung bis hin zur Alltagsgeschichte von Soldaten und Zivilpersonen sollen alle Bereiche einer modernen Militärgeschichte zu Wort kommen. Krieg in der Geschichte beinhaltet demnach
auch Militär und Gesellschaft im Frieden.
Geschichte in unserem Verständnis umfasst den gesamten Bereich vergangener Realität, soweit sie sich mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft erfassen lässt. In diesem Sinne ist Krieg in der Geschichte (abgekürzte Zitierweise: KRiG) grundsätzlich für Studien zu allen historischen Epochen offen, vom
Altertum bis unmittelbar an den Rand der Gegenwart. Darüber hinaus ist
Geschichte für uns nicht nur die vergangene Realität des sogenannten Abend-
10
Vorwort zur Reihe
landes. Krieg in der Geschichte bezieht sich deshalb auf Vorgänge und Zusammenhänge in allen historischen Epochen und auf allen Kontinenten. In dieser
methodologischen und thematischen Offenheit hoffen wir den spezifischen
Charakter unserer Reihe zu gewinnen.
Stig Förster
Bernhard R. Kroener
Bernd Wegner
Michael Werner
1. EINLEITUNG
1.1. STADTKAMPF – (K)EIN THEMA?
Stalingrad – alleine der Name weckt beim Laien wie beim historisch gebildeten
Leser eine ganze Reihe von Assoziationen. Kaum eine andere Schlacht des
Zweiten Weltkrieges, ja der Kriegsgeschichte als Ganzes, wurde in der breiten
Öffentlichkeit weit über den deutschsprachigen Raum hinaus dermaßen wahrgenommen.1 Keine Sammlung der »größten Schlachten der Weltgeschichte«,
die auf das Drama Stalingrad verzichten kann und will.2 Noch immer streitet
sich die militärhistorische Forschung über ihre Einordnung ins Kriegsgeschehen und darüber, ob Stalingrad die Kriegswende war oder nicht. Und noch
immer erscheinen laufend neue Bücher zum Kampf um die Metropole mit
Stalins Namen.3 Die Schlacht von Stalingrad ist zu einem Symbol und Mythos
geworden.4 Dazu gehört ihre Verwendung als mehr oder weniger berechtigte
Chiffre für die deutsche Hybris des Ostfeldzuges, für die Verbissenheit und
Schonungslosigkeit der deutsch-sowjetischen Front, für den Mißbrauch deutscher Soldaten, den deutschen »Kadavergehorsam«, das polykratische Chaos
der deutschen Führung und die sowjetische Standhaftigkeit. Sie wurde aber
auch zu einer Chiffre für den Kampf in überbauten Gebieten, den Stadtkampf.
1
2
3
4
Einen knappen und gelungenen Überblick bei Citino, Robert M., Death of the Wehrmacht. The
German Campaigns of 1942, Lawrence 2007 in Fußnote 91 (S. 367-371) mit Hinweisen auf die
populäre Rezeption der Schlacht in Literatur und Film. Besonders breit rezipiert wurde auch
Beevor, Antony, Stalingrad, London 1998. Weitere neuere Literatur aus dem angelsächsischen
Raum sind: Hoyt, Edwin Palmer, 199 Days. The Battle of Stalingrad, New York 1999 und
Roberts, Geoffrey K., Victory at Stalingrad. The Battle that changed History, London 2002.
Zuletzt auch in Frankreich durch: Lopez, Jean, Stalingrad. La bataille au bord du gouffre, Paris
2008. Siehe auch Walters, Eric M., Stalingrad, 1942, in: Antal, John F./Gericke Bradley T. (Hg.),
City Fights. Selected Histories of Urban Combat from World War II to Vietnam, New York
2003, S. 27-92 mit Verweisen auf Tabletop-Games. Für die aktuelle Breitenwirkung sind wohl
Filme wie »Enemy at the Gates« und mehr noch Computer-Spiele (zuletzt Medal of Honor und
Call of Duty), die die Schlacht von Stalingrad, in welcher Art auch immer, aufgreifen, vermutlich
weitaus wichtiger als Bücher.
Vgl. zuletzt: Förster, Stig et al. (Hg.), Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis bis Sinai,
München 2005.
Wie ein Monolith ragt David Glantz noch nicht abgeschlossene Stalingrad-Triologie, von der
hier vor allem der 2. Band (Glantz, David M./House Jonathan M., Armageddon in Stalingrad.
September – November 1942, Lawrence 2009) verwendet wurde, aus den vielen Neuerscheinungen heraus, alleine schon wegen des Umfangs und der reichhaltigen Verwendung sowjetischer Quellen. Dagegen weist das Buch, wie noch zu zeigen sein wird, für die deutsche Seite
Mängel auf.
Kupfermüller, Michael, Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines deutschen Mythos,
München 1995; Pätzold, Kurt, Stalingrad und kein Zurück. Wahn und Wirklichkeit, Leipzig
2002. Programmatisch im Titel auch bei: Wette, Wolfram/Ueberschär, Gerd R., Stalingrad.
Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt a.M. 1992.
12
1. Einleitung
Angesichts der enormen Menge an Literatur5 und der zunehmenden Entmythisierung6 der Schlacht um Stalingrad scheint es naheliegend, dass auch dieses
Thema einmal auf seinen Kern hin untersucht wird.
Wer aber die Literatur zu Stalingrad hinsichtlich des Stadtkampfes liest, stellt
ernüchtert fest, dass diese Thematik zumeist eher als apokalyptisches Drama
denn als wissenschaftlicher Gegenstand in die Untersuchungen einfließt, so
etwa deutlich in Beevors viel gelobtem Stalingrad-Buch.7 Die wichtigste
operationsgeschichtliche Studie zur Schlacht von Stalingrad dagegen, Manfred
Kehrigs quellengesättigte und qualitativ bisher unerreichte Analyse,8 hat die
Zeit nach dem sowjetischen Gegenangriff am 18./19. November 1942 im Fokus. Die für die vorliegende Studie relevanten Angriffskämpfe der deutschen
6. Armee innerhalb der Stadt werden nur knapp behandelt, wenn auch der
Ablauf der Kämpfe konzentriert und auf einer breiten Quellenbasis wiedergegeben wird. Der Beitrag von Wegner im sechsten Band des Reihenwerkes »Das
Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg« bleibt für die Angriffsphase ebenfalls knapp und fokussiert eher auf die deutschen Planungen für die Zeit nach
der Eroberung der Stadt sowie das Thema der Koalitionskriegführung.9 Auch
im Vergleich zu anderen Abschnitten wird der Angriff auf die Stadt nur knapp
behandelt. Dafür geht Wegner auf lange vernachlässigte versorgungsmäßige
Aspekte ein. Die Sammelbände zum 50. Jahrestag der Schlacht,10 die durch eine
multidimensionale Herangehensweise an das Thema bestechen, lassen opera5
6
7
8
9
10
Vgl. hierzu: Ueberschär, Gerd R., Literaturauswahl zur Schlacht von Stalingrad, in: Wette,
Wolfram/Ueberschär, Gerd R., Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt
a.M. 1992, S. 304-313 und Müller, Rolf-Dieter/Ueberschär, Gerd R., Hitlers Krieg im Osten
1941–1945. Ein Forschungsbericht, Darmstadt 2000.
Förster, Jürgen, Zähe Legenden. Stalingrad, 23. August 1942 bis 2. Februar 1943, in: Förster,
Schlachten der Weltgeschichte, S. 325-337.
Programmatisch sind bereits die entsprechenden Kapiteltitel des III. Teils, der für diese Studie
von besonderem Interesse war. Beevor macht jedoch bereits im Vorwort klar, dass ihm an einer
»rein militärischen Studie« gar nichts gelegen sei. Dennoch verzichtet er nicht darauf, auch
militärische Schlüsse zu ziehen, wovon einer auf die sowjetische Überlegenheit im Stadtkampf
hinausläuft. Quellenmäßig dienen dazu Belege aus Čujkovs Memoiren (Čujkov, Vasilij I., Stalingrad. Anfang des Weges, Berlin (-Ost) 1961), was höchst fragwürdig ist. Grundsätzlich ist
der Quellenkorpus von Beevor – er zieht einige wenige Akten der 6. Armee hinzu, zitiert dagegen ausgiebig aus Briefen, Memoiren und Romanen – ungeeignet für operative Fragestellungen. Des Weitern trüben viele Detailfehler taktischer Art den Wert der Studie. Dazu gehört
beispielsweise die »Luftflotte 8«, eine Vermischung aus Luftflotte 4 und VIII. Fliegerkorps (S.
253) oder die Karte auf S. 155, die Divisionen verzeichnet, die nicht (76. Infanterie-Division),
noch nicht (100. Jäger-Division) oder nicht an dieser Position mit der eingezeichneten Stoßrichtung (14. Panzer-Division/29. Infanterie-Division (mot.)) kämpften. Besonders deutlich ist
dieser Befund erwartungsgemäß auch in der apologetischen Literatur, so z.B. in Carell, Paul,
Unternehmen Barbarossa. Der Marsch nach Rußland, Wien 1994 (Nachdruck), S. 494–500 und
S. 510f.
Kehrig, Manfred, Stalingrad. Analyse und Dokumentation einer Schlacht, Stuttgart 1974.
Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA) (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite
Weltkrieg, 10 Bde., Freiburg i.B. 1979–2009, Band 6: Der globale Krieg. Die Ausweitung zum
Weltkrieg und der Wechsel der Initiative 1941-1943, Stuttgart 1990, (im Folgenden zitiert als:
DRZW 6), Beitrag Wegner, S. 976-997.
Wette/Ueberschär, Stalingrad; Förster, Jürgen (Hg.), Stalingrad. Ereignis – Wirkung – Symbol,
München 1992.
1.1. Stadtkampf – (k)ein Thema?
13
tive und taktische Fragen wie die meisten neueren Zugänge selbst namhafter
Militärhistoriker aus dem deutschsprachigen Raum weitgehend außer Acht.11
Auch in ihnen wird eine Konzentration auf die Zeit nach der Einkesselung
deutlich. Damit aber ist der Militärhistoriker auf ältere Werke mit dünner
Quellenbasis zurückgeworfen sowie auf die Memoiren Beteiligter,12 die nicht
weniger problematisch sind. Auch die meisten angelsächsischen Monographien und Artikel zu diesen Kampfhandlungen basieren letztlich auf einem sehr
eingeschränkten Quellenkorpus,13 in welchem zudem die Memoiren Čujkovs
einen besonderen Platz einnehmen – man ist angesichts diverser, weit rezipierter Bücher geradezu versucht, von einer Deutungshoheit derselben zu sprechen.14 Wo dennoch auf deutsche Akten zurückgegriffen wird, handelt es sich
meistens um einige mittlerweile gut bekannte Stellen aus dem Kriegstagebuch
der 6. Armee.15 Dagegen hat sich seit Kehrig kaum jemand mehr die Mühe
gemacht, deutsche Akten der der 6. Armee unterstellten Verbände zu untersuchen.16 Auf Basis der genannten Quellen, die kaum einen zuverlässigen Zugang
zur deutschen taktischen Ebene der Schlacht zulassen, entstand die These, dass
das deutsche Heer in Stalingrad nicht zuletzt an seiner mangelhaften Kompe11
12
13
14
15
16
So etwa Förster, Zähe Legenden. Magenheimer, Heinz, Stalingrad. Die große Kriegswende,
Selent 2007 dagegen bearbeitet zwar operative Fragen, verwendet dazu aber eine problematische
Quellen- und Literaturbasis.
Doerr, Hans, Der Feldzug nach Stalingrad. Versuch eines operativen Überblicks, Darmstadt
1955; Philippi, Alfred/Heim, Ferdinand, Der Feldzug gegen Sowjetrußland 1941-1945, Stuttgart
1962. Obwohl beide Studien fast gänzlich ohne deutsche Kriegsakten geschrieben wurden,
werden sie noch immer herangezogen. Ähnlich auch für den Kaukasus-Feldzug (Operation
»Edelweiß«): Tieke, Wilhelm, Der Kaukasus und das Oel. Der deutsch-sowjetische Krieg in
Kaukasien 1942/43, Osnabrück 1970. Dasselbe gilt natürlich auch für die unzähligen Memoiren
deutscher Beteiligter, von denen hier nur diejenigen von Manstein genannt seien: Manstein,
Erich von, Verlorene Siege, Bonn 1955. Eine ausführlichere Besprechung dieser Literatur findet
sich bei Kehrig, Stalingrad, passim.
Ziemke, Earl F./Bauer, Magna E., Moscow to Stalingrad. Decision in the East, Washington 1987;
Erickson, John, The Road to Stalingrad. Stalin’s War with Germany, London 1975; Anderson,
Duncan et al., Die Ostfront 1941–1945. Barbarossa, Stalingrad, Kursk und Berlin, Wien 2002,
S. 95–119; zuletzt auch Stone, David, Stalingrad and the Evolution of Soviet Urban Warfare, in:
Journal of Slavic Studies, Volume 22 (Mai 2009), S. 195-207.
Dieser Befund auch bei Glantz, Armageddon, S. xxif.
Bei DRZW 6, Beitrag Wegner ist besonders hervorzuheben, dass nicht, wie so oft, die ewiggleichen Sätze aus dem Kriegstagebuch, sondern diverse Operationsakten zur Erweiterung des
Quellenkorpus herangezogen wurden.
Siehe beispielsweise: Ziemke/Bauer, Moscow to Stalingrad oder DRZW 6, Beitrag Wegner. Auch
die meisten Bücher oder Artikel zu Stalingrad selber lassen diese Bestände außen vor; pikanterweise hat Kehrig, der ja diesen Zeitraum nur am Rande untersucht, wohl am meisten Divisionsakten verwendet – sein Zugang bleibt deshalb der akkurateste. Die wenigen von Beevor verwendeten Splitter aus Akten der 16. Panzer-Division, die zudem nur am Nordrand von
Stalingrad eingesetzt war, können hier vernachlässigt werden. Glantz, Armageddon, verwendet
für die deutsche Seite unterhalb der Stufe Armee keine Primärquellen, sondern stützt sich stark
auf die Schriften von Mark D. Jason (Death of the Leaping Horseman. 24th Panzer-Division in
Stalingrad, 12th August – 20th November 1942, Sydney 2003 und Island of Fire. The Battle for
the Barrikady Gun Factory in Stalingrad, November 1942 – February 1943, Sydney 2006), die
allerdings mit ihrer sehr engen Gefechtsperspektive kaum analytischen Gehalt bieten, sowie auf
die älteren Geschichten der beteiligten Divisionen.
14
1. Einleitung
tenz im Stadtkampf gescheitert sei.17 Wer allerdings nach dem Ausbildungsstand und der von den deutschen Truppen angewandten Taktik sucht, wird
nicht fündig. Ähnlich verhält es sich auch hinsichtlich der Personal- und Versorgungslage der 6. Armee. Sie wird zwar erwähnt, nicht aber systematisch
derjenigen der sowjetischen Verteidiger gegenübergestellt. In den meisten Studien wird zudem implizit davon ausgegangen, dass Stalingrad die erste Stadtkampferfahrung der deutschen Wehrmacht darstellte, mithin also der Anfangspunkt jeglicher Entwicklung.18
Der mangelhafte Forschungsstand lenkt nun direkt hinüber zu einer damit
zusammenhängenden Problematik – dem grundsätzlichen Umgang mit
Operationsgeschichte im deutschsprachigen Raum. In ihrem Einführungswerk
zur Militärgeschichte zog Jutta Nowosadtko das Fazit: »Eine Überprüfung
von zahlreichen Detailfragen nach Ausbildung, Erfahrung und Versorgung der
Soldaten, Truppenführung und Logistik erscheint gerade bei operationsgeschichtlichen Studien unerläßlich«.19 Dass mit operationsgeschichtlichen Studien, die in der von ihr geforderten Breite angelegt sind, gleichzeitig auch
»Grundlagenforschung« für weiterführende Studien, etwa kulturgeschichtlicher Art, entstehen, entging ihr ebenso wie breiten Kreisen der deutschsprachigen historischen Forschungsgemeinschaft. So stehen teilweise berechtigte
Kritik an der Memoiren- und Veteranenliteratur neben der kritiklosen Verwendung eben derselben, da es an historisch-kritischen operationsgeschichtlichen Studien mangelt. Besonders deutlich wird dies bei der Wehrmacht. Seit
der Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« wurde berechtigterweise das
Bild der »sauberen« Wehrmacht revidiert und ihre Rolle im Vernichtungskrieg
und bei diversen Kriegsverbrechen untersucht. Die Ausstellung fiel mitten in
die Zeit, als die Militärgeschichte im deutschsprachigen Raum an Boden gewann. Mit neuen methodischen Ansätzen aus anderen historischen Forschungsbereichen – namentlich seien hier Ansätze der Alltags-, Sozial-, Gender- und
zuletzt der Kulturgeschichte genannt – gingen deutschsprachige Forscher neu
und deutlich weniger verkrampft an das Thema »Militär« heran.20
Was sich für die Aufarbeitung auch der kriegerischen Ereignisse des Zweiten
Weltkrieges als sehr fruchtbar hätte erweisen können, also mitunter eine methodische Neuausrichtung der Operationsgeschichte, erwies sich bald als falsche Hoffnung. Zu groß scheint die Aversion im deutschsprachigen Raum
gegenüber dem Krieg als Gegenstand der Forschung noch immer. Und die
Operationsgeschichte wurde lange Zeit als ein Relikt militärisch geprägter
Geschichtsschreibung mit einem applikatorischen Ansatz21 angesehen, das we17
18
19
20
21
Kehrig, Stalingrad, S. 44f., Glantz, S. 166f., wobei hier bezeichnenderweise gerade einmal knapp
zwei der über siebenhundert Seiten (und eine Fußnote) analysierend diesem Komplex gewidmet
werden.
Stone, Soviet Urban Warfare, konstatiert dies neuerdings explizit auch für die sowjetische Seite,
was am Ende der vorliegenden Studie bereits wieder als überholt gelten darf.
Nowosadtko, Jutta, Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Tübingen 2002, S. 150.
Vgl. hierzu: Ebd., S. 10-13.
Zur »applikatorischen Methode«: Wegner, Bernd, Wozu Operationsgeschichte? in: Kühne, Thomas/Ziemann, Benjamin (Hg.), Was ist Militärgeschichte? Paderborn 2000, S. 105–113, hier S. 106.
1.1. Stadtkampf – (k)ein Thema?
15
nig Erkenntnisgewinn versprach, dagegen aber die Auseinandersetzung mit
von vielen Historikern wenig geschätzten Themen wie militärischen Hierarchien, Waffentechnik, Dienstvorschriften, Krieg und Gewalt voraussetzte.22
Wegner hat dies zu Recht als »Ausblendung der Operationsgeschichte aus dem
Themen- und Methodenkreis kritischer Geschichtswissenschaft«23, und Neitzel als »Militärgeschichte ohne Krieg« kritisiert.24 In einer Art selbsterfüllenden
Prophezeiung blieb die Operationsgeschichte im deutschsprachigen Raum
trotz rasanter methodischer Weiterentwicklung der Militärgeschichte, abgesehen von wenigen Ausnahmen25 tatsächlich im Dunstkreis applikatorischer
Studien und rechtskonservativer Deutungsmuster hängen.26 Zu den Folgen
dieser Entwicklung gehört, dass sowohl dem interessierten Leser als auch dem
militärhistorischen Forscher für viele Fragen nur höchst problematische Literatur zur Verfügung steht, die dann in mangelnder Kenntnis der bereits genannten, wenig beliebten Themen oft nicht richtig eingeschätzt werden kann.
Daraus resultieren neue Mythen, wie oben aufgezeigt.27
Wie stand es denn nun um die Erfahrungen des deutschen Heeres mit dem
Kampf in bebauten Zonen vor Stalingrad? Gab es hierfür Gefechtsgrundsätze?
Und wurden diese angewendet, bewertet und weiterentwickelt? Über welche
Kampfmittel verfügten die deutschen Truppen? Welche Formationen wurden
bevorzugt eingesetzt, welche bewährten sich im Stadtkampf und welche nicht?
Wie wurden diese Verbände geführt und welche Mittel standen der Führung
dazu zur Verfügung? Welche Rolle spielten Städte in den operativen Planungen, und waren die dabei gemachten Einschätzungen akkurat? Dies sind nur
einige der Fragen, die sich angesichts des Pauschalurteils über das Versagen der
22
23
24
25
26
27
So ist Unkenntnis militärischen Fachwissens kaum je Thema einer Rezension, obwohl kleinere
und größere Fehler organisatorischer oder technischer Art die militärgeschichtliche Fachliteratur
geradezu säumen. So z.B. in der sehr lesenswerten Studie von Hartmann, Christian, Wehrmacht
im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42, München 2009, S. 35f, wo der Autor
alle 75 Paks einer Division ihrer Panzerjäger-Abteilung zuschlägt – obwohl er nur wenige Zeilen
zuvor auf die 14. Kompanie (Panzerjäger) der Infanterie-Regimenter hinwies. Vgl. auch: Peter
Lieb: Rezension von: Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen
1939, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10
[15.10.2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/10/8940.html, eingesehen am 30.6.2011.
Wegner, Operationsgeschichte, S. 108.
Neitzel, Sönke, Militärgeschichte ohne Krieg? Eine Standortbestimmung der deutschen Militärgeschichtsschreibung über das Zeitalter der Weltkriege, in: Hans-Christof Kraus, Thomas
Nicklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege. Beiheft 44 der Historischen Zeitschrift, München 2007, S. 287-308.
Vgl. Wegner, Wozu Operationsgeschichte? Erwähnenswert auch der achte Band des Reihenwerkes Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (MGFA (Hg.), Das Deutsche Reich und
der Zweite Weltkrieg, Band 8: Die Ostfront 1943/44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten, München 2007 [im Folgenden zitiert als: DRZW 8]), der sich fast ausschließlich der
Operationsgeschichte der Ostfront in den Jahren 1943 und 1944 widmet, und damit eine lange
beklagte Forschungslücke füllt.
Deutlich bei Magenheimer, Stalingrad oder Kurowski, Franz, Stalingrad. Die Schlacht, die
Hitlers Mythos zerstörte, Bergisch-Gladbach 1992. Dabei konnte, wie Nowosadtko, Krieg,
Gewalt und Ordnung, S. 141 aufzeigt, auch die angelsächsische Forschungsgemeinschaft kaum
neue methodische Ansätze bereitstellen.
Vgl. hierzu auch: Neitzel, Sönke, Des Forschens noch wert? Anmerkungen zur Operationsgeschichte der Waffen-SS, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 61 (2002), S. 403-429.
16
1. Einleitung
deutschen Truppen in Stalingrad aufdrängen und denen diese Studie nachgehen
wird.
Auf den Forschungsstand muß nach dem Vorangehenden nur kurz eingegangen werden. In der historischen Forschung ist der Stadtkampf kaum ein
Thema.28 Im »Oxford Companion to Military History«29 findet sich noch nicht
einmal ein vergleichbarer Begriff; dies obwohl dessen Thematik verschiedene
Forschungsgebiete streift, die in letzter Zeit intensive Behandlung erfuhren,
etwa die Forschungen zum Totalen Krieg30 oder zur Urbanisierung.31 Diese
Problematik widerspiegelt sich auch in einem Kongress über »Städte im Zweiten Weltkrieg«, der 1989 in Stuttgart stattfand. Keines der Fallbeispiele im
Kongressband behandelt Kampfhandlungen in Städten.32
Zwei Sammelbände mit Fallstudien zum Stadtkampf kommen aus dem amerikanischen Raum, sind aber sehr militärnah und fokussieren auf die amerikanische Erfahrung.33 Die Qualität der Beiträge schwankt dabei erheblich, wobei
einzelne Texte für die historische Forschung gänzlich unbrauchbar sind.34 Ähnliches gilt für die mit vielen Bildern illustrierte Monographie des britischen
Obersten Michael Dewar, dessen historischer Teil zwar mit einigen interessanten, weniger bekannten britischen Beispielen aufwartet, eine systematische und
historische Herangehensweise jedoch völlig vermissen lässt.35 Wertvoll ist dagegen die militärgeographische Studie von Ashworth.36 Sie vermag zwar in den
Fallbeispielen nicht immer den historisch-kritischen Ansprüchen zu genügen,
28
29
30
31
32
33
34
35
36
Zuletzt Stone, Soviet Urban Warfare, der dem hier untersuchten Gegenstand thematisch nahe
liegt, aber aufgrund einer problematisch dünnen Quellenlage wenig Aussagekraft hat. Vgl.
hierzu die entsprechenden Anmerkungen zu Stone im Abschnitt 5.3.
Holmes, Richard, The Oxford Companion to Military History, Oxford 2001.
Förster, Stig (Hg.), An der Schwelle zum Totalen Krieg. Die militärische Debatte über den Krieg
der Zukunft 1919-1939, Paderborn 2002. In Bezug auf Städte werden einzig die Gedanken über
die Bombardierung zur Niederwerfung des Gegners eingehend diskutiert, vgl. etwa Brogini
Künzi, Giulia, Die Herrschaft der Gedanken. Italienische Militärzeitschriften und das Bild des
Krieges, in: ders., S. 37-111, hier S. 95-103; Pöhlmann, Markus, Von Versailles nach Armageddon: Totalisierungserfahrung und Kriegserwartung in deutschen Militärzeitschriften, in: ders.,
S. 323-391, hier S. 366-372.
Vgl. hierzu: Urban History, Vol. 29 Part 3 (2002), S. 460-508.
Hiller, Marlene P./Jäckel, Eberhard/Rohwer, Jürgen (Hg.), Städte im 2. Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich, Essen 1991. Die Referate fokussieren auf wirtschaftliche und mentalitätsgeschichtliche Aspekte. Einzig das Referat von Kovalchuk über Leningrad geht überhaupt auf
Kampfhandlungen ein; da die Stadt aber belagert wurde, fanden diese außerhalb der bebauten
Zone statt. Kovalchuk, V.M., Leningrad im Zweiten Weltkrieg, in: Hiller, Marlene P./Jäckel,
Eberhard/Rohwer, Jürgen (Hg.), Städte im 2. Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich, Essen
1991, S. 57-73. Ähnlich auch: Chassaigne, Philippe et al. (Hg.), Villes en guerre. 1914-1945,
Paris 2004; Hudemann, Rainer et al. (Hg.), Villes et guerres mondiales en Europe au XXe siècle, Paris 1997.
Antal/Gericke, City Fights; Combat Studies Institute, Urban Operations. A historical casebook
Fort Leavenworth 2002 (http://www.globalsecurity.org/military/library/report/2002/urbanoperationsintro.htm, eingesehen am 10.12.2009).
Walters, Stalingrad, 1942 mit Hinweisen auf Tabletop-Games zum Beleg seiner Thesen.
Dewar, Michael, War in the Streets. The Story of Urban Combat from Calais to Khafji, Devon
1992. Bezeichnend für die Nähe zum Militär ist auch die Nennung des Dienstgrades von Dewar
auf dem Umschlag.
Ashworth, Gregory John, War and the City, London 1991.
1.2. Methodik und Begriffe
17
setzt sich dafür aber in umfassender Weise mit dem Komplex »Stadt und Krieg«
auseinander.
Wie schon die Literaturbesprechung zu Stalingrad gezeigt hat, erwies sich
die »Schlachtenliteratur«, d.h. die Forschung zu einzelnen Stadtkämpfen, als
wenig hilfreich. Diese Studien kommen bis auf ganz wenige Fälle kaum über
Allgemeinplätze hinaus oder sehen es nicht einmal als notwendig an, Kämpfe
in Städten als ein spezifisches Phänomen anzugeben.37
1.2. FRAGESTELLUNG, AUFBAU DER STUDIE,
METHODIK UND BEGRIFFE
Diese Studie widmet sich den oben bereits genannten Fragestellungen. Im
Kern geht es dabei um die Frage, wie die Wehrmacht in den ersten drei Kriegsjahren den Stadtkampf bewältigte, welche Lehren sie daraus zog und wie sie
diese implementierte – oder weshalb sie sie gegebenenfalls nicht umsetzte.
Dabei geht die Fragestellung implizit davon aus, dass es sich beim Stadtkampf
um ein neues Phänomen handelte, was im ersten Teil der Arbeit noch genauer dargestellt werden soll. Was ist an dieser Stelle mit »Wehrmacht« gemeint?
Da es um die Kämpfe am Boden geht, liegt der Schwerpunkt natürlich auf dem
Heer; dennoch soll auch ein Blick auf die Luftunterstützung und die FlakEinheiten der Luftwaffe geworfen werden.38 Damit verknüpft ist auch die
Frage, ob Lernprozesse, falls sie denn stattgefunden haben, eher vom Zentrum
(Generalstab, zentrale Ausbildungseinrichtungen und Stäbe39) oder der Peripherie (Fronteinheiten) ausgingen. War letzteres der Fall, so muß dann auch
geklärt werden, auf welcher Einheitsstufe diese Erfahrungen letztlich verarbeitet wurden.
37
38
39
Die Literatur zu einzelnen Stadtkämpfen ist schier endlos. Neben den bereits genannten für
Stalingrad seien hier stellvertretend für viele nur zwei Beispiele herausgegriffen, die den speziellen Charakter des Stadtkampfes nur sehr allgemein formulieren: Le Tissier, Tony, Der Kampf
um Berlin 1945. Von den Seelower Höhen zur Reichskanzlei, Frankfurt a.M. 1991 und Ungváry, Krisztián, Die Schlacht um Budapest. Stalingrad an der Donau 1944/45, München 1999.
Die Einsatzmöglichkeiten der Marine in Stadtkämpfen waren naturgemäß klein. Sie beschränkte sich im Wesentlichen auf den Einsatz von Marinepersonal in der Verteidigung eingeschlossener Hafenstädte, etwa den Atlantik- und Kanalfestungen 1944 und 1945, sowie in der artilleristischen Unterstützung durch Kriegsschiffe vor allem entlang der Ostseeküste, wie
beispielsweise in Kolberg, wo die deutschen Verteidiger durch die Zerstörer Z 34 und Z 43
unterstützt wurden. Vgl. hierzu: [Festungskommandant Kolberg], Gefechtsbericht über die
Belagerung Kolbergs vom 4.3. bis 18.3.1945, o.D., Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg i.B.
(BAMA) RH 30-83.
Dazu gehören etwa die Inspektionen der Waffengattungen, die Waffenämter, der General der
Infanterie beim Oberkommando des Heeres (OKH) und ähnliche Institutionen. Zur Institutionsgeschichte dieser Stäbe finden sich ausgezeichnete Konzentrate in den jeweiligen Findbüchern im BAMA.
18
1. Einleitung
Zur Beantwortung dieser Fragen gliedert sich die vorliegende Studie in sechs
Teile und folgt einem chronologischen Aufbau. In einem ersten Kapitel wird
es darum gehen, aufzuzeigen, auf welche Erfahrungen bezüglich Orts- und
Stadtkampf das deutsche Militär vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgreifen
konnte und wie diese Erfahrungen in die Entwicklung von Gefechtsgrundsätzen einflossen. Von zentraler Bedeutung werden hierbei die Fragen sein, inwiefern der Stadtkampf von den deutschen Militärs antizipiert wurde und ob
die entwickelten Gefechtsgrundsätze dafür geeignet waren.
In den folgenden vier Kapiteln, die den Kern dieser Arbeit bilden, soll die
Entwicklung der deutschen Stadtkampftaktik im Zweiten Weltkrieg anhand
ausgewählter Fallbeispiele aufgezeigt werden. Die Fallbeispiele wurden dabei nach zwei Gesichtspunkten ausgewählt. Erstens mußten sie alle Kriterien des Stadtkampfes erfüllen, wie sie weiter unten noch beschrieben werden,
und zweitens mußte die Quellenlage möglichst breit sein. Das erste dieser
Kapitel widmet sich den kurzen Feldzügen von Kriegsbeginn bis zur Eröffnung der Ostfront am 22. Juni 1941. Detailliert wird hierbei die Eroberung
Warschaus im September 1939 als erster deutscher Stadtkampf genauer analysiert werden.
Das zweite dieser Kernkapitel widmet sich der Operation »Barbarossa« und
der sowjetischen Gegenoffensive im Winter 1941/42, wobei der Fokus auf der
Frage nach den Gründen für die große Häufigkeit von Stadtkämpfen im Feldzug gegen die Sowjetunion liegt. Anhand der Eroberung von Dnepropetrovsk
im August und September 1941 sollen diese Gründe wie auch der Verlauf eines
solchen Stadtkampfes konkretisiert werden. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die sich laufend radikalisierenden deutsche Pläne gegen Leningrad, welche
zwar nie umgesetzt wurden, dennoch aber einen theoretischen Blick in operativen und logistischen Fragen erlauben.
Das dritte Kapitel widmet sich dem »zweiten Feldzug« gegen die Sowjetunion im Sommer und Herbst 1942. Dabei steht natürlich die Schlacht von
Stalingrad im Zentrum, wobei der Schwerpunkt hier auf den noch weniger gut
erforschten deutschen Angriffskämpfen im Herbst 1942 liegt. Mit den Kämpfen um Novorossijsk, die zur gleichen Zeit wie jene in Stalingrad stattfanden,
soll ein zweites Fallbeispiel untersucht werden. Als direkte Fortführung des
vorangehenden Kapitels sollen zudem die Pläne zur Eroberung Leningrads im
Jahr 1942 analysiert werden.
Das vierte Kapitel, das bereits in die zweite Kriegshälfte überleitet, widmet
sich schließlich strukturellen Themen, nämlich der Ausrüstung und Ausbildung deutscher Einheiten für den Stadtkampf. Dabei liegt der Fokus auf den
am meisten in solchen Kampfhandlungen eingesetzten Einheiten, nämlich der
Infanterie, den Pionieren und der Sturmartillerie. Mit der FallschirmjägerTruppe wird zudem eine leichte Infanterie, die in der zweiten Kriegshälfte im
Stadtkampf besondere Erfolge erringen konnte, genauer analysiert.
Analog zur Vorgeschichte und als Einbettung in das Gesamtgeschehen soll
in einem letzten Kapitel die weitere Entwicklung in den Jahren 1943-45
überblicksartig diskutiert und anhand ausgewählter Quellen dokumentiert
werden.
1.2. Methodik und Begriffe
19
Für die insgesamt vier Fallstudien wird ein einheitlicher Aufbau verwendet,
der eine gewisse Vergleichbarkeit ermöglichen soll.40 In einem einleitenden
Abschnitt soll der Leser mit dem Verlauf der Kampfhandlung vertraut gemacht
werden, damit er sich in den weiteren Absätzen orientieren kann.41 Dabei
handelt es sich um einen klassischen operationsgeschichtlichen Ansatz, der im
jeweils zweiten Abschnitt mit einer operativen Analyse des deutschen Vorgehens verknüpft wird. Dabei sollen auch die für das weitere Verständnis notwendigen operativen Wechselwirkungen im Umfeld des entsprechenden Stadtkampfes aufgezeigt werden. Ein dritter Abschnitt befasst sich mit der Taktik
der eingesetzten Truppen im Stadtkampf. Anhand von Befehlen sollen die
beabsichtigten, anhand der Kriegstagebücher und Gefechtsberichte die angewandten Taktiken eruiert werden. Erfahrungsberichte schließlich sollen Aufschluß über die Weiterentwicklung der Taktiken geben. Ein besonderes Augenmerk gilt der Führungstaktik, die jeweils im vierten Abschnitt gesondert
behandelt wird. Dabei wird die Eignung und Umsetzung der deutschen Führungsgrundsätze für den Stadtkampf untersucht werden. Dies beinhaltet Aspekte wie das Führen durch Auftrag und das Führen von vorne, aber auch die
Gefechtsfeldkommunikation und das Kartenmaterial als Parameter der Führungsinfrastruktur. Der fünfte, oftmals umfangreichste Abschnitt schließlich
befasst sich mit der Logistik der im Stadtkampf eingesetzten Truppen. Dazu
gehören neben der Versorgungsführung die zur Verfügung stehenden Mittel
sowie der Verbrauch und Nachschub der wichtigsten Versorgungsgüter (Munition, Betriebsstoff, Lebensmittel). Ebenfalls in diesen Abschnitt eingegliedert
sind Abhandlungen über Verlustquoten, Zuführung und Eingliederung des
Ersatzes sowie das Sanitätswesen, die Aufschluß über die personelle Entwicklung der im Stadtkampf eingesetzten Verbände geben.
Mit dieser Perspektive, die auf das professionelle militärische Verständnis
des Stadtkampfes und dessen Entwicklung durch die deutsche Wehrmacht
fokussiert, werden insbesondere zwei Themenfelder, die die aktuelle militärgeschichtliche Forschung prägen, nur marginal behandelt. Erstens setzt sich
diese Arbeit nicht primär mit dem Erleben des Stadtkampfes durch den individuellen Soldaten auseinander – dafür wäre eine grundsätzlich andere Herangehensweise, vor allem aber ein anders gewichteter Quellenkorpus notwen40
41
Zum Problem des historischen Vergleichs: Kaelble, Hartmut, Der historische Vergleich. Eine
Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1999 sowie Hampl, Franz/Weiler,
Ingomar (Hrsg.), Vergleichende Geschichtswissenschaft. Methode, Ertrag und ihr Beitrag zur
Universalgeschichte, Darmstadt 1978.
Bei allen Fallbeispielen mußte hierbei mangels Literatur der Kampfverlauf quellenmäßig erschlossen werden. Einzig für Stalingrad konnte teilweise auf Literatur zurückgegriffen werden,
wobei sich beim Abgleich mit den Quellen Glantz, Armageddon, für die deutsche Seite teilweise als wenig zuverlässig erwies. Unter Verwendung der bei Kehrig, Stalingrad, S. 18 – allerdings
mit Fokus auf den Zeitraum nach dem 18./19.11.1942 – beschriebenen Korps- und Divisionsbeständen wurden Ergänzungen und Richtigstellungen vorgenommen. Zusätzlich zu den bei
Kehrig genannten Beständen wurden hier die Fragmente der 305. Infanterie-Division, die nach
dem 2.11.1942 abbrechen, hinzugezogen. Bedeutsam für die Eroberung der Südstadt in der
zweiten Septemberhälfte 1942 waren bisher nicht ausgewertete Akten der 94. Infanterie-Division, der 24. Panzer-Division und vor allem des XXXXVIII. Panzerkorps.
20
1. Einleitung
dig.42 Zweitens setzt sich diese Studie auch nicht mit der deutschen
Besatzungspolitik auseinander, sondern mit den Kampfhandlungen an der
Front, also dem zentralen Handlungsfeld der militärischen Organisation
Wehrmacht. Dadurch mag der Anschein entstehen, dass der Komplex Vernichtungskrieg, der im rückwärtigen Raum viel stärker zum Tragen kam, etwas in den Hintergrund gerät. Damit soll aber keineswegs das Verhalten der
Wehrmacht insbesondere auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz relativiert
werden.43
Als Grundlage dieser Arbeit diente ein umfangreicher Quellenkorpus aus dem
Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg in Breisgau (im Folgenden als BAMA
bezeichnet). Dabei wurden vor allem Akten der Kommandobehörden im
Feld, mit besonderer Berücksichtigung der Stufen Korps und Division, verwendet.44 Neben den in der Operationsgeschichte mehrheitlich verwendeten
Akten und Kriegstagebücher der Operationsabteilungen (Abteilung Ia) wurden in dieser Studie gezielt auch die Bestände der Versorgungsabteilung (Abteilung Ib) mit ihren diversen Unterabteilungen45, der Adjutantur (IIa für
Offiziere und IIb für Mannschaften) sowie der der Operationsabteilung
zugeordneten Abteilung Ic (Feindlage und Abwehr) herbeigezogen. Für
Überblicksthemen wurden zudem Akten diverser technischer und Ausbildungsstäbe verwendet.46 In diesen Beständen fanden sich zudem Parallelüber42
43
44
45
46
Anstelle eines Schwergewichts auf militärischen Akten müssten vor allem Feldpostbriefe, Tagebücher, Abhörprotokolle, nachträgliche literarische Verarbeitungen und Befragungen von
Beteiligten herangezogen werden. Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 20f. Insbesondere zu
den Feldpostbriefen, die im Zuge der Erforschung des »Krieges des kleinen Mannes« (Wolfram
Wette) an Bedeutung gewannen, vgl. Latzel, Klaus, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer
Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn 1998.
Die Literatur zu diesem Aspekt hat im Zuge der Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht«
unterdessen fast unüberschaubare Ausmasse angenommen. Es sei an dieser Stelle exemplarisch
auf die Studien des Projektes »Wehrmacht in der NS-Diktatur« des Instituts für Zeitgeschichte
(IfZ) (Hürter, Johannes, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen
die Sowjetunion 1941/42; München 2006; Lieb, Peter, Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/1944, München
2007; Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg; Pohl, Dieter, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944, München
2009) sowie auf Oldenburg, Manfred, Ideologie und militärisches Kalkül. Die Besatzungspolitik der Wehrmacht in der Sowjetunion 1942, Köln 2004 und Rutherford, Rutherford, Jeffrey,
Soldier’s into Nazis? The German Infantry’s War in Northwest Russia 1941-1944, PhD University of Texas, Austin 2007, verwiesen.
Die Überlieferung unterhalb der Stufe Division ist während des Zweiten Weltkrieges in großen
Teilen verloren gegangen. Dennoch lassen sich in den Bestandesgruppen RH 37 bis RH 59 (ohne
RH 53) teilweise sehr interessante Dokumente zu Tage fördern, die einen Einblick in den Mikrokosmos des Heeres erlauben. Die verhältnismäßig aufwendige Suche in diesen Bestandesgruppen wird leider von vielen Historikern gescheut.
Dazu gehören vor allem die Abteilungen IVa (Intendant), IVb (Arzt), IVc (Veterinär), IVd
(Pfarrer), W.u.G. (Waffen und Gerät) und V (Kraftfahrzeuge).
Von besonderem Interesse sind hier die Waffengenerale und die Inspektionen (In) inklusive dem
erst 1943 gebildeten Generalinspekteur der Panzertruppen. Vereinzelt wurden zudem Bestände
der Heereswaffenamtes (HWA) und des Allgemeinen Heeresamtes (AHA) herangezogen. Ergänzend für die Ausbildung wurden die Akten der Wehrkreise (WK) – insbesondere des Wehr-
1.2. Methodik und Begriffe
21
lieferungen von Dokumenten, die bei den entsprechenden Kommandobehörden nicht überliefert wurden. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen. Wie bei
so vielen Stalingrad-Divisionen sind auch bei der 295. Infanterie-Division,
eine jener drei Infanterie-Divisionen, die im Rahmen des LI. Armeekorps in
der ersten Welle Stalingrad angriff und von September 1942 bis zur Kapitulation in der Stadt kämpfte, für das Jahr 1942 kaum Akten vorhanden. Dennoch
ließ sich ein aufschlußreicher Erfahrungsbericht zu den Kampfhandlungen
der Division in Stalingrad in den Beständen des Generals der Infanterie beim
OKH finden.47
In dieser Studie wird nach der historisch-kritischen Methode und damit also
hermeneutisch vorgegangen; dem speziellen Charakter der Quellen kommt
deshalb eine wichtige Bedeutung zu. Obwohl militärische Akten wie Kriegstagebücher, Tätigkeitsberichte und Befehle für verschiedenste Studien herangezogen wurden, steckt die methodische Auseinandersetzung mit den Eigenheiten dieser Quellentypen noch in den Anfängen. Einen wesentlichen Beitrag
liefert Felix Römer in seiner Studie über den Kommissarbefehl.48 Dieser soll
hier als Grundlage für einige weiterführende Überlegungen genommen werden. Erweiternd deshalb, weil Römer in seiner Typologie wichtige Quellentypen, die für seine Studie irrelevant waren, nicht einbezieht.
Römer bildete eine Typologie des deutschen Aktenmaterials, die vier Kategorien unterscheidet, nämlich Kriegstagebücher und Tätigkeitsberichte sowie
Meldungen und Befehle. Die ersten beiden Kategorien fasst Römer als »Quellen der Dokumentation« zusammen, die letzteren beiden als »Quellen der
Kommunikation«. Die Quellen der Kommunikation entstanden zeitlich unmittelbar mit ihrem Verwendungszweck und dienten der Verständigung, Koordination und Information – im Falle der Befehle vor allem aber der Führung
und Leitung. Dabei ist mit Römer nochmals zu betonen, dass Befehle Quellen
normativen Typs darstellen, also keineswegs die Wirklichkeit abbilden,
sondern die Intentionen der vorgesetzten Stelle. Dasselbe gilt auch für Vorschriften und Merkblätter. Im Rahmen dieser Studie können also Befehle,
Vorschriften und Merkblätter Aufschluß darüber geben, wie sich der deutsche
Militärapparat den Kampf in Großstädten vorstellte, nicht jedoch, wie er tatsächlich ablief.
47
48
kreises VII (München) – verwendet. Zur Organisationsgeschichte sowie zur teilweise höchst
lückenhaften Überlieferung der einzelnen Institutionen vgl. die entsprechenden Findbücher des
BAMA.
AOK Norwegen/A.Pi.Fhr./Ia, Erfahrungsbericht über Überwinden tiefverminter Stellungen
und Kampf um große Ortschaften, 4.10.1943, BAMA RH 11 I 28. Der Bericht kam vom ArmeePionier-Führer (A.Pi.Fü.) des AOK Norwegen über den General der Pioniere und Festungen
beim OKH (wo er nicht überliefert ist) zum General der Infanterie beim OKH (Gen.d.Inf.b.OKH).
Der Bericht basiert auf in Stalingrad verloren gegangenen Unterlagen der 295. Infanterie-Division, die im Bereich des AOK Norwegen seit März 1943 wiederaufgestellt wurde.
Römer, Felix, Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42,
Paderborn 2008, S. 25-51. Einige wenige Bemerkungen auch bei: Hartmann, Wehrmacht im
Ostkrieg, S. 20.
22
1. Einleitung
Kriegstagebücher, vor allem aber Tätigkeitsberichte wurden mit einem größeren zeitlichen Abstand verfasst.49 Grundlegendes Dokument für ihre Bewertung als Quelle sind die »Bestimmungen für die Führung von Kriegstagebüchern und Tätigkeitsberichten«, die von der Kriegswissenschaftlichen Abteilung
des Generalstabes des Heeres herausgegeben wurden.50 Im ersten Punkt der
Bestimmungen werden folgende drei Zwecke des Kriegstagebuches bzw. des
Tätigkeitsberichtes genannt: Tätigkeitsnachweis von Kommandobehörden,
Sammeln von Erfahrungen für Ausbildung und Führung sowie »unentbehrliche Unterlage für die Geschichtsschreibung«.51 Gemäß dem sechsten Punkt
mußte »der ungünstige Verlauf einer Kampfhandlung [...] wahrheitsgetreu
dargestellt werden«.52 Natürlich konnte es hier zu einem Interessenkonflikt
kommen, aber dennoch fällt bei der Durchsicht von Kriegstagebüchern auf,
wie sehr auch diesem gewichtigen Punkt entsprochen wurde.53 Eher bestand
die Tendenz zu »kosmetischen Eingriffen«,54 also der Schönung von Details.
Erfolge des eigenen Verbandes wurden überhöht dargestellt, solche von Nachbarverbänden teilweise geschmälert.55 Auch bestand eine Tendenz, Niederlagen mit externen Faktoren zu verknüpfen, z.B. der mangelhaften Qualität des
Ersatzes.56
Mit der Führung des Kriegstagebuches beauftragt werden sollten »geeignete
Offiziere, die das erforderliche taktische Verständnis besitzen. [...] Sie müssen
laufend insbesondere über Feindmeldungen, Lagebeurteilungen, Entschlüsse
und Maßnahmen unterrichtet werden. Alle außerdem erforderlichen Unterlagen sind ihnen zugänglich zu machen«.57 Entscheidend war also das taktische
Verständnis, was der hohen Bewertung des operativen Denkens im deutschen
Militär entsprach.58 Allerdings mußte auch der beste Stabsoffizier vor der schie49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
Römer, Kommissarbefehl, S. 31 und 35. Für das Folgende auch: Wettstein, Adrian, Operation
»Barbarossa und Stadtkampf, in: MGZ 66 (2007), S. 21-44, hier: S. 24-26. Kriegstagebücher
wurden von den Kommandobehörden der Bataillone aufwärts geführt, wobei ab Stufe Division
die Abteilungen Ia und Ib ein solches Kriegstagebuch anfertigten. Alle anderen Abteilungen des
Stabes verfassten Tätigkeitsberichte.
OKH/Generalstab des Heeres (Gen.St.d.H.)/Kriegswissenschaftliche Abteilung, Bestimmung
über die Führung von Kriegstagebüchern und Tätigkeitsberichten, Berlin 1940 (im Folgenden
zitiert als: OKH, Kriegstagebücher). Diese Bestimmungen sind den meisten Kriegstagebüchern
vorgeheftet.
Ebda
Ebda.
So auch Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 20.
Römer, Kommissarbefehl, S. 39
Besonders deutlich sichtbar wird dies in den Tätigkeitsberichten der 24. Panzer-Division in
BAMA RH 27-24/2 u. 3. In der Schlacht um Dnepropetrovsk zeigt sich dies daran, dass die
unterschiedlichen Gefechtsberichte über die Einnahme der Brücke in Dnepropetrovsk zu ganz
unterschiedlichen Schlüssen über die Wichtigkeit einzelner Personen und Einheiten kommen.
Vgl. hierzu Abschnitt 4.2.
Diese Thematik findet sich, sicherlich berechtigt, vor allem in den untersuchten Kriegstagebüchern des Jahres 1942 und wird in den Fallbeispielen Novorossijsk (Abschnitt 5.2.) und Stalingrad (Abschnitt 5.3.) näher thematisiert.
OKH, Kriegstagebücher.
Dies zeitigte auch die an sich logische Folge, dass »Fundstellen in Kriegstagebüchern, die über
den engeren Themenkreis der Operationsführung hinausreichen und auch die übrigen Facetten
1.2. Methodik und Begriffe
23
ren Menge an Informationen, die in einer größeren Schlacht zu bewältigen
waren, kapitulieren – insbesondere wenn das Kriegstagebuch täglich geführt
werden sollte.59 Römer hat allerdings aufgezeigt, dass dies längst nicht für alle
Kriegstagebücher gilt, sondern dass teilweise ein Überarbeitungs- und Selektionsprozess stattfand.60 In Punkt 6 folgen weitere Forderungen, denen die untersuchten Kriegstagebücher aber nur noch in Einzelfällen gerecht werden
konnten, insbesondere unter dem Druck der Ereignisse. Während die einen
Kriegstagebücher der Forderung nach detaillierten Zeitangaben nachkommen,
folgen andere mehr dem Wunsch, dass »die Grundlagen für das Handeln der
Führer klar erkennbar sein«61 müssten. Vieles aber blieb Stückwerk, was unter
dem Druck der Ereignisse nicht verwundern kann. So brechen Ereignisstränge
unvermittelt ab, finden sich Hinweise auf neue Unterstellungsverhältnisse, personelle Wechsel und geplante Aktionen, die plötzlich nicht mehr erwähnt werden, ohne das der Leser aus dem Kriegstagebuch auch nur den geringsten Hinweis erhält, ob diese Wechsel und Aktionen stattgefunden haben, geschweige
denn begründet wird, weshalb sie allenfalls nicht stattgefunden haben.
Trotz der einheitlichen Richtlinien bestehen erhebliche Unterschiede bei den
Kriegstagebüchern und Tätigkeitsberichten, und zwar sowohl in Umfang, Inhalt und Erscheinungsbild. Dafür verantwortlich dürfte der große Einfluß der
Abteilungsleiter, der Stabschefs und Kommandeure auf die Ausführung der
Richtlinien sowie die individuellen Ausprägungen der Verfasser gewesen sein.
Dies wird mitunter dort deutlich, wo ein und dasselbe Kriegstagebuch aufgrund
personeller Fluktuation von verschiedenen Autoren geführt wurde.62 Aber auch
die zur Verfügung stehenden Mittel prägten das Erscheinungsbild – fehlten
vorgedruckte Kriegstagebuch-Seiten und eine Schreibmaschine, glich das
Kriegstagebuch eben eher einem Notizheft, was es mitunter schwer lesbar
macht. Aus diesen Unterschieden resultiert folglich auch ein je nach Fragestellung höchst differenter Quellenwert.63 Dennoch weisen die genannten Quellentypen eine hohe Authentizität auf, welche insbesondere durch ihre Funktion
bedingt war und sich in »unverblümten Lageeinschätzungen, anerkennenden
Werturteilen über die Kampfkraft des militärischen Gegners und dem Eingeständnis eigener Schwächen, Irrtümer und Fehlleistungen [und] auch unverhüllte kritische Äußerungen über die oberste deutsche Führung« niederschlug.64
59
60
61
62
63
64
des Krieges beleuchten und reflektieren, […] eher die Ausnahme« sind. Das Römer daraus eine
fragliche »Qualität« der Berichte ableitet, erscheint zu sehr auf eine bestimmte Fragestellung
verengt.
So die Forderung in: OKH, Kriegstagebücher.
Römer, Kommissarbefehl, S. 36f. Seine Aussage dagegen, dass dies für einen »beträchtlichen«
Teil der Kriegstagebücher galt, müsste noch vertieft untersucht werden. Für die Tätigkeitsberichte dagegen steht diese Frage nicht zur Debatte, da sie schon von der Anlage her als zusammenfassender Bericht über eine längere Zeitperiode vorgesehen waren. Vgl. hierzu: OKH,
Kriegstagebücher.
Ebda.
So bspw.: 125. Infanterie-Division/Ia, Kriegstagebuch, BAMA RH 26-125/11.
So auch Römer, Kommissarbefehl, S. 38.
Ebd., S. 39-41 u. 51. Denn hohen Authentizitätsgrad bestätigen auch Hartmann, Wehrmacht im
Ostkrieg, S. 20, Elble, Rolf, Die Schlacht an der Bzura im September 1939 aus deutscher und
polnischer Sicht, Freiburg i.B. 1975, S. 15-17 und Arnold, Klaus-Jochen, Die Wehrmacht und
24
1. Einleitung
Angesichts dieser Problematik wurde – wo möglich – versucht, die Quellen
der unterschiedlichen Stufen und Verbände überlappend anzuwenden, um
Widersprüchlichkeiten aufzudecken und bestenfalls auszuräumen.
Neben den von Römer bereits untersuchten vier Quellentypen sollen hier
noch zwei weitere, für diese Studie bedeutsame Quellenarten kurz charakterisiert werden, nämlich Gefechts- und Erfahrungsberichte sowie militärische
Karten.
Gefechts- und Erfahrungsberichte können als eine besondere Unterkategorie der Meldungen aufgefasst werden. Im Gegensatz zu den täglichen Meldungen über Bestände, Standorte und laufende Aktionen fassen sie diese retrospektiv und dokumentarisch zusammen. Durch die Retrospektive sind in ihnen
taktische und operative Zusammenhänge oft besser erkennbar als etwa in den
Kriegstagebüchern. Außerdem sind sie vielfach durch Plan- und Lageskizzen
ergänzt, die überhaupt erst den Verlauf eines Gefechts nachvollziehbar machen. Auch wird aus ihnen die Grundlage von Führungsentscheidungen oft
deutlicher sichtbar. Zusätzlich verknüpfen sie vielfach Aspekte der unterschiedlichen Stabsabteilungen und bieten so einen umfassenderen Zugang zu
einem Gefecht oder einer Operation. Erfahrungsberichte zielten ganz direkt
auf die Gewinnung militärischen Know-hows ab. Sie wurden bis zum Sommer
1941 zumeist nach Abschluß eines Feldzuges auf Anweisung der obersten
Kommandobehörden, teilweise nach vorgegebenem Frageraster, verfasst. Dabei wurden entweder von den einzelnen Stabsabteilungen und unterstellten
Formationen, etwa des Pionier-Bataillons oder des Artillerie-Regiments,
selbstständig Berichte verfasst und diese gesammelt oder sie wurden zusammengefasst und in verdichteter Form weitergegeben.65 Im Zuge der permanenten Kampfhandlungen an der Ostfront wurden Erfahrungen vielfach in Gefechts- und Zustandsberichten66 weitergegeben, so dass sich die Trennung
zwischen Gefechts- und Erfahrungsberichten zunehmend auflöste. Auch im
Bezug auf Erfahrungsberichte gilt, was Römer allgemein für die militärischen
Akten festhält, nämlich das nicht alles, was sich ereignet hat, in den Akten
dokumentiert ist.67 Es ist durchaus möglich, dass weit mehr Erfahrungen auf
dem mündlichen Weg, etwa bei Kommandeursbesprechungen, weitergegeben
wurden, als sich aus den Akten eruieren lassen. Nur in Einzelfällen lässt sich
nach 1941 eine Anweisung zum Verfassen von Gefechts- und Erfahrungsberichten nachweisen.68 Angesichts des auf Initiative und Selbstständigkeit ange-
65
66
67
68
die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Kriegführung und Radikalisierung im »Unternehmen Barbarossa«, Berlin 2005, S. 27.
So bspw.: XVI. Armeekorps/Ia, Erfahrungsbericht über den Westfeldzug, 12.8.1940, BAMA
RH21-4/527, mit Hinweisen auf den Fragebogen, der Zusammenfassung von Erfahrungsberichten unterstellter Einheiten und dem Weitergeben ganzer Erfahrungsberichte unterstellter
Einheiten.
Siehe hierzu bspw. die Zustandsberichte der Divisionseinheiten der 73. Infanterie-Division von
Anfang November 1942 (BAMA RH 26-73/22), die sowohl in Bezug auf den Ersatz als auch
auf die Gliederung und Ausrüstung der Einheiten diverse Verbesserungsvorschläge machen.
Römer, Kommissarbefehl, S. 51.
Eines der wenigen Beispiele nach Beginn des Feldzuges gegen die Sowjetunion, in dem die
Entstehung eines Erfahrungsberichts nachvollzogen werden kann, liefert die 24. Panzer-Divi-
1.2. Methodik und Begriffe
25
legten deutschen Führungssystems ist davon auszugehen, dass viele dieser
Bericht auf Initiative von unten geschrieben wurden. Im Falle von Gefechtsberichten dienten sie als Nachweis der eigenen Tätigkeit und Erfolge, dürften
also eine gewisse Relevanz für die Bewertung militärischer Führer und ihrer
Verbände gehabt haben. Erfahrungsberichte dienten eher der Verbesserung der
Gesamtinstitution, wobei auch hier die Möglichkeit bestand, dass sich der
Verfasser als genauer Beobachter und innovativer Denker hervortat. Größer
aber dürfte das Interesse gewesen sein, Mißstände, die auch den eigenen Kommandobereich betrafen, abzustellen.69
Eine weitere bedeutsame Quelle für das Nachvollziehen operativer, aber
auch taktischer Vorgänge bilden Karten, die eine wichtige, ja oft unverzichtbare Ergänzung zum Kriegstagebuch oder zu Gefechtsberichten sind. Karten
dienen der Visualisierung komplexer Vorgänge und wurden deshalb sowohl
prospektiv für die Operationsplanung wie auch während der Operationsführung zur Darstellung der Lage verwendet, wobei sich diese sowohl als klassische Lagekarten in der Abteilung Ia, als Versorgungskarten in der Abteilung
Ib oder Feindlagekarten in der Abteilung Ic finden lassen. Prospektive Karten
erlauben uns einen Einblick in die Planungsphase und können Aufschluß über
die Entscheidungsgrundlagen und operativen Vorstellungen geben.70 Bei Karten aus der Operationsführung ist ähnlich wie bei den Kriegstagebüchern zwischen jenen zu unterscheiden, die nahezu unmittelbar angefertigt und jenen,
die zusammen mit den Kriegstagebüchern nachbearbeitet wurden. Auch wenn
bei letzteren sicherlich ebenfalls »kosmetische Korrekturen« angebracht wurden, stellen sie doch eine wichtige Quelle für den in den Kriegstagebüchern
nicht immer einfach nachvollziehbaren Ablauf einer Operation dar. Sie können
zudem Aufschluß geben über die angenommene Feindlage (oder sind als
Feindlagekarten einzig zu diesem Zweck entstanden) wie auch über die Anwesenheit und Positionierung von militärischen Formationen, insbesondere
unterstellten Heereseinheiten. Daneben finden sich aber immer auch wieder
Karten, die mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten. Es fehlen Hinweise
auf die zeichnende Stelle und ein Datum, Farb- und Symbolverwendung sind
unklar oder die Karten können nicht mit dem Kriegstagebuch oder anderen
Operationsakten in Einklang gebracht werden.71 Aber auch Karten ohne Einzeichnungen in den Truppenbeständen sind eine nicht unbedeutende Quelle,
69
70
71
sion. Auf Anweisung des LI. Armeekorps wurde die Division am 21.10.1942 aufgefordert, ihre
Erfahrungen in Stalingrad niederzuschreiben. Vgl. hierzu: LI. Armeekorps/Ia, Erfahrungen im
Kampf um Stalingrad, 21.10.1942, BAMA RH 27-24/2.
Dies wird vor allem deutlich in den Hinweisen zur Ausbildung des Nachersatzes oder zur
Ausrüstung der Einheit. Vgl. hierzu etwa die Erfahrungsberichte der der 73. Infanterie-Division unterstellten Regimenter vom November 1942 in: BAMA RH 26-73/22.
Ein gutes Beispiel hierfür sind die Karten der Heeresgruppe Nord für das Unternehmen »Nordlicht« im Bestand BAMA RH 19 III/697k.
Ein gutes Beispiel hierfür bietet der an sich sehr interessante Zusatz zum Tätigkeitsbericht des
Armee-Pionierführers (A.Pi.Fhr.) der Panzergruppe 1 über die Stadt Dnepropetrovsk, der viele Aufklärungsfotos, Planskizzen und Notizen umfasst, die nunmehr schwer einzuordnen sind.
Panzergruppe 1/A.Pi.Fhr., Dnjepropetrowsk, Anl. 22 zum Tätigkeitsbericht 21.4.-15.12.41,
BAMA RH 21-1/214.
26
1. Einleitung
geben sie uns doch Aufschluß über das vorhandene Kartenmaterial und damit
über einen unterschätzten Aspekt der Führungsinfrastruktur. In dieser Studie
beispielsweise wird die Frage nach dem Vorhandensein spezifischer Stadtpläne
zu stellen sein. Weiteren Einblick in taktische Abläufe erlauben Gefechts- und
Lageskizzen, aber auch Minenpläne.72 Schließlich sind noch Luftbildaufnahmen zu erwähnen. Sie wurden teilweise direkt als Pläne oder zur Korrektur
bestehenden Kartenmaterials verwendet.73
Nachdem nun der Begriff des Stadtkampfes mehrfach gefallen ist, soll in diesem
Kapitel eine Definition desselben erfolgen. Dazu gehört auch die Umschreibung und Abgrenzung zu den Quellenbegriffen »Straßenkampf«, »Ortskampf« und »Häuserkampf«.74 Zum besseren Verständnis sollen daneben spezifische Elemente des Stadtkampfes herausgearbeitet werden, die dann als
Grundlage für die Bewertung der deutschen Gefechtsgrundsätze, des operativen und taktischen Verhaltens sowie der Führung in den Fallbeispielen dienen.
Zuerst geht es um die Definition der in den Quellen verwendeten Begriffe
»Straßenkampf«, »Häuserkampf« und »Ortskampf«, um diese gegeneinander
abzugrenzen. Dies ist zum einen wichtig, um die Wahrnehmung solcher
Kampfhandlungen durch das deutsche Militär anhand dieser Begriffe bewerten
zu können, zum anderen um dann auch den Stadtkampf klar abzugrenzen.
Der am schwierigsten einzuordnende Begriff ist jener des »Straßenkampfes«.
Dies hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass er nie als rein militärischer
Begriff existierte. Bereits früh wurde er auch im Zusammenhang mit Aufständen, Unruhen und Revolutionen verwendet, und so scheint er sich auch innerhalb des deutschen Militärs eingebürgert zu haben. Zumindest in der deutschen
Polizei der Zwischenkriegszeit war er in dieser Form gängig.75 Im Gegensatz
72
73
74
75
Dies wird vor allem deutlich im Bestand BAMA RH 26-73/21, den Operationsakten der 73.
Infanterie-Division für die Eroberung Novorossijsks mit einem guten Dutzend solcher Skizzen,
die teilweise geradezu künstlerisches Niveau erreichen. Ohne diese Skizzen sind viele Einträge
im Kriegstagebuch nicht nachvollziehbar.
Zur Verwendung von Luftbildern als Pläne: III. Armeekorps (mot.)/Ic, Mappe Dnjepropetrowsk, BAMA RH 24-3/140 und BAMA RH 26-73/21. Zur Anpassung von Karten anhand von
Luftbildern: BAMA RH-26-60/50k.
Diese Begriffserklärung ist gerade in der Operationsgeschichte von besonderer Bedeutung, da
sonst die Gefahr besteht, Quellenbegriffe unkritisch zu übernehmen. Vgl. hierzu: Wegner,
Operationsgeschichte, S. 111f. Ein Beispiel für einen militärischen Begriff, der im Zusammenhang mit dieser Studie auftaucht und den es kritisch zu betrachten gilt, ist das ab 1941 omnipräsente »säubern«.
Darauf deutet zumindest die quasi-offizielle, in mehreren Auflagen herausgegebene Sammlung
von Artikeln des Polizei-Majors und Lehrers an der preußischen Höheren Polizeischule Eiche
Karl von Oven hin. Polizei-Major von Oven, Straßenkampf, Berlin 1928. Eine zweite Auflage
erschien 1931. Auch in seinen weiteren Schriften (Polizeieinsatz. Dargestellt an Aufgaben,
Berlin 1927; Beim Einsatz im Stadtgebiet, Berlin 1928) befasste sich Oven mit dem Einsatz der
Polizei im städtischen Gebiet. Karl von Oven, 1888 in Charlottenburg geboren, trat 1908 in das
3. Garde-Regiment zu Fuß ein, in dem er bis Ende 1916 diente und wo er mit Erich von Manstein, Kurt von Hammerstein-Equord und Kurt von Schleicher zusammentraf. Nach Kriegsende war er im Grenzschutz in Schlesien eingesetzt, wobei er aus dem Heer entlassen und in die
Berliner Polizei übernommen worden war. Zwischen 1924 und 1929 war der unterdessen zum
Major der Polizei beförderte Oven als Lehrer an der Polizeischule Eiche in Potsdam eingesetzt,
1.2. Methodik und Begriffe
27
zu den anderen drei Begriffen findet er sich in jedem besseren Wörterbuch, wo
seine Definition indes vage bleibt, wie zum Beispiel in Wahrigs Deutschem
Wörterbuch: »Kampf in den Straßen, zum Beispiel bei Revolutionen.«76 Wichtig ist bei diesem Begriff jedoch die Tendenz zum Aufstand hin, die fast überall in der Literatur feststellbar ist, etwa bei Beschreibungen der Stadtguerilla.77
In den Quellen erscheint der Begriff selten, wobei mit den Jahren zudem eine
abnehmende Tendenz zu beobachten ist. Bei der Eroberung Warschaus 1939
taucht der »Straßenkampf« vermehrt auf, während er an der Ostfront nur
selten zu finden ist. Dies ist vermutlich damit zu erklären, dass die deutsche
Vorstellung vom Stadtkampf zu Beginn des Krieges noch sehr stark von den
Reichswehr-Einsätzen im Innern geprägt war, also der Aufstandsbekämpfung.78 Die Operationsgeschichte ist hier der Quellenverwendung des Begriffes
oft unkritisch gefolgt und verwendet »Straßenkampf« zumeist synonym mit
den anderen hier zu besprechenden Begriffen.
Unter »Häuserkampf« versteht man im Militär die taktische Konzeption
des Kampfes in und um einzelne Gebäude bzw. Gebäudegruppen, wobei
diese Begrifflichkeit in der Wehrmacht noch nicht definiert war. Der Häuserkampf ist Aufgabe kleinerer Einheiten oder Schützengruppen. Er bildet damit
eine Voraussetzung für den Kampf in größeren, überbauten Gebieten, seien
es Ortschaften oder Städte, ist aber keinesfalls mit diesem gleichzusetzen. Man
kann ihn vielmehr als taktisches Element dieses größeren Kampfes betrachten.
In den Quellen wird der Begriff vielfach für die Beschreibung von Kampfhandlungen in bebauten Zonen verwendet. Dies gilt für den ganzen hier untersuchten Zeitraum. Dagegen findet er sich in den überlieferten Akten zur
76
77
78
bevor er in die Polizeiinspektion Bochum wechselte und schließlich Chef des Stabes beim Höheren Polizeiführer im Westen wurde. Letzte Position bei der Polizei war ab Mai 1933 Chef des
Stabes beim Chef der Landespolizei im preußischen Innenministerium, die mit einer Beförderung zum Oberstleutnant einherging. Im Frühjahr 1935 wurde er in die Wehrmacht übernommen, zuerst als Bataillonskommandeur, dann nach seiner Beförderung zum Oberst und einer
Einarbeitungszeit als Kommandeur zuerst des neu aufgestellten Infanterie-Regiments 73, dann
ab Herbst 1937 des Infanterie-Regiments 59. Mit diesem Regiment nahm er, unterdessen zum
Generalmajor befördert, am Feldzug gegen Polen teil. Im Winter 1939/40 war er Inspekteur der
Wehr-Ersatz-Inspektion Allenstein, bevor er im Mai 1940 die 393. Infanterie-Division, eine nur
kurzzeitig existierende Division für Sicherungszwecke der 9. Welle, führte. Nach einigen Monaten in der Führerreserve übernahm er im November 1940 die 56. Infanterie-Division, die er
bis zum Januar 1943 an der Ostfront führen sollte. Mit dieser Division nahm er im Rahmen der
6. Armee 1941 an der Schlacht um Kiev teil. Ende 1941 und das ganze Jahr 1942 über war die
Division im Raum Orel unter der 2. Panzerarmee als Stellungsdivision eingesetzt gewesen. Für
seine Führung der Division wurde er im Januar 1942 mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet. Ab
Ende Januar 1943 bis Ende März 1944 führte Oven dann das XXXXIII. Armeekorps, welches
zuerst in der Heeresgruppe Mitte, dann bei der Heeresgruppe Nord eingesetzt gewesen war
und während der Schlacht um den Narva-Brückenkopf zeitweise sieben Divisionen umfasste.
Ab Mai 1944 führte Oven das Feldjäger-Kommando II im Osten, von dem er im März 1945
abgelöst und nicht mehr verwendet wurde.
Wahrig, Gerhard, Deutsches Wörterbuch, Zürich 1988, S. 1238.
Der Begriff »Straßenkampf« wurde aber auch von der Stadtguerilla selber gebraucht, wie das
»Minimanual« von Marighella zeigt. Marighella, Carlos, Minimanual of the Urban Guerrilla,
in: Kohl, James/Litt, John, Urban Guerrilla Warfare in Latin America, Cambridge 1974, S.
87–135, hier vor allem S. 114f.
Vgl. hierzu das Kapitel 2.
28
1. Einleitung
Ausbildung kaum.79 Zumeist wird die Kleintaktik für den Kampf in bebauten
Zonen im Rahmen der allgemeinen Ortskampf- sowie der Nahkampf- und
der Stoßtruppausbildung vermittelt, ohne dass dafür spezielle Begriffe verwendet wurden.80
Der hauptsächlich in der Wehrmacht verwendete Begriff, sozusagen die
Konzeption des Kampfes in Ortschaften und Städten, war der »Ortskampf«
respektive das »Ortsgefecht«. »Ortsgefecht« ist der offizielle Begriff, der sich
in den Vorschriften findet, allerdings verhältnismäßig selten.81 Die HeeresDruckvorschrift (H.Dv.) 300,82 das grundlegende taktische Reglement der
deutschen Wehrmacht, beschreibt das Ortsgefecht folgendermaßen: »Das Ringen um Ortschaften ist im Gefecht häufig und kann dem Gefecht in dicht besiedelten Gebieten das Gepräge geben. Die Bedeutung von Ortschaften in einem Gefecht richtet sich nach ihrer Lage im Gelände sowie nach ihrer Bauart
und Größe. Zusammenhängenden Gebäudegruppen, wie ausgedehnten Industrie- und Bergwerksanlagen, kommt gleiche Bedeutung wie Ortschaften
zu. Auch Städte und Großstädte können zum Kampfgebiet werden.«83 Als
Ortskampf werden also alle Arten von Gefechten in bebauten Zonen, innerhalb von kleineren Gebäudegruppen, in Ortschaften und auch in Großstädten
verstanden. Eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Ortschaften und Städten wurde dabei nicht gemacht. Diesen wichtigen Befund gilt es im Kopf zu
behalten – er wird bei der Untersuchung der Gefechtsgrundsätze von großer
Bedeutung sein.84
Der Begriff des Stadtkampfes soll nun gerade diese Unterscheidung zwischen Städten und Ortschaften als Kampfschauplatz ermöglichen. Weshalb ist
diese notwendig?
Konsultiert man die wenige Literatur und ergänzend Gefechtsvorschriften
– auch modernere – zum Kampf in bebauten Zonen, dann lassen sich folgende
Eigenheiten dieser Kampfart finden:
79
80
81
82
83
84
Im bedeutsamen Artikel »Zur Kleintaktik der Infanterie im Ortsgefecht« von Oberstleutnant
Beyer in: Der Truppendienst Nr. 10 (31.3.1938), S. 109-116, kommt dieser Begriff gar nicht vor.
Zu den wenigen Verwendungen gehört ein inoffizielles Merkblatt des Pionier-Lehr-Bataillons
aus dem Jahre 1944 (BAMA RH 17/229).
Vgl. hierzu: Ausbildungsplan einer Muster-Divisions-Kampfschule, Anlage 735a zu 125. Infanterie-Division/Ia, Kriegstagebuch Nr. 4, BAMA RH 26-125/26.
So erwähnt von den Ausbildungsvorschriften der Infanterie bspw. nur die Heeres-Druckvorschrift (H.Dv.) 130/4a »Ausbildungsvorschrift für die Infanterie. Die Infanteriegeschützkompanie«, Berlin 1937 das Ortsgefecht in einem gesonderten Abschnitt. H.Dv. 200/5 Ausbildungsvorschrift für die Artillerie. Die Führung der Artillerie, Berlin 1937 erwähnt als einzige
Artillerie-Ausbildungsvorschrift das Ortsgefecht im Inhaltsverzeichnis, die entsprechenden
Paragraphen waren aber offensichtlich noch nicht ausgearbeitet und fehlen.
Generalsstab, H.Dv. 300 Truppenführung, Berlin 1936 (im Folgenden zitiert als: H.Dv. 300).
Zur Einordnung der H.Dv. 300 als Dokument der taktischen Doktrin der Wehrmacht: Corum,
James, The Roots of Blitzkrieg. Hans von Seeckt and German Military Reform, Lawrence 1992,
S. 199; Creveld, Martin van, Fighting Power. German and U.S. Army Performance, 1939-1945,
London 1983, S. 28–30.
H.Dv. 300, S. 225, Hervorhebung im Original.
Vgl. hierzu Abschnitt 2.2.
1.2. Methodik und Begriffe
29
1. Kleine Kampfeinheiten: Das stark fragmentierte Kampfgelände macht
Kämpfe kleiner Gruppen zur Hauptkampfart. Eine Entfaltung größerer
Einheiten ist wegen der Unübersichtlichkeit und den engen Platzverhältnissen nicht möglich. Die Unübersichtlichkeit des Geländes führt weiter
zum raschen Abbrechen der Verbindungen zu den Nachbareinheiten. Gebäudekomplexe werden zu kleinen Festungen, und eine allfällige Schlacht
neigt dazu, sich in viele Einzelkämpfe um solche Festungen zu zerlegen.85
2. Die Masse der Gefechte sind Nahkämpfe. Gebäude verkürzen die Sichtund damit die Wirkungsdistanzen der Waffen. Aufgrund dieser kurzen
Kampfdistanzen können indirektes Feuer und Luftunterstützung nur bedingt ihre Wirkung entfalten, da die Fronten meiste sehr nah beieinander
liegen und damit die Gefahr besteht, dass die eigenen Truppen getroffen
werden.86
3. Die Anwesenheit von Zivilisten ist in zweierlei Hinsicht ein Problem. Einerseits können sie die Optionen für die militärische Führung einschränken,
da größere zivile Verluste vermieden werden sollen (was längst nicht immer
der Fall ist), andererseits behindern sie die Kampfführung, sei es durch ihre
Präsenz, durch die Interaktion mit den eigenen Truppen oder in Form von
Spionage, Sabotage und aktivem Widerstand.87
4. Vorteil der Verteidigung: Kaum ein anderes Kampfgelände lässt sich in so
kurzer Zeit zur Verteidigung ausbauen wie eine Stadt. Vielfältige Tarn- und
Deckungsmöglichkeiten bestehen aber auch ohne Ausbau. Mit Hindernissen und Verminungen lassen sich Angriffe leicht in Feuerräume kanalisieren.
Durch die weitgehende Negierung überlegener technischer Mittel wie Artillerie, Luftwaffe und Panzern sowie der zahlenmäßigen Überlegenheit
kann auch ein qualitativ und quantitativ unterlegener Verteidiger einen Angreifer verzögern und abnutzen.88
5. Absorption von Ressourcen: Verbände, die in einem Stadtkampf eingesetzt
werden, erleiden hohe Verluste und unterliegen einer starken psychischen
Abnutzung infolge der Kleinräumigkeit und Unübersichtlichkeit des Geländes.89 Während Ashworth diese Absorption von manpower betont, wird
in modernen militärischen Vorschriften eher der große Materialverbrauch
hervorgehoben.90 Die Absorption von Ressourcen ist der wahrscheinlich
wichtigste Grund, weshalb Städte von Militärs als Kampffeld gemieden
werden.
85
86
87
88
89
90
Ashworth, War and the City, S. 117f.
Ebd., S. 118f. Nach Ashworth reduzieren die schlechten Beobachtungsmöglichkeiten auch die
Wirkung des Gefechts der verbundenen Waffen, eine Ansicht, die den gängigen taktischen Vorstellungen des Stadtkampfes diametral entgegensteht. Es wird in den Fallstudien mehrfach darauf zurückzukommen sein.
Ebd., S. 119f. Ashworth betont hier zu Recht, dass es nicht so wichtig ist, ob in einer Stadt tatsächlich ein Aufstandspotential vorhanden ist, sondern vielmehr, wie dies von der einrückenden
oder verteidigenden Armee wahrgenommen wird.
Ebd., S. 120f.
Ebd., S. 121f.
Schweizer Armee/Generalstabschef, Der moderne Kampf in Europa, Bern 1999, S. 211.
30
1. Einleitung
6. Eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten: Ashworth fasst diesen Aspekt
unter dem Vorteil der Verteidigung zusammen, ich nehme ihn als separaten
Punkt, da der Verteidiger dadurch auch behindert werden kann, etwa im
schnellen Heranbringen von Reserven oder im Einsatz von Panzern. Die an
sich schon beschränkten Bewegungsmöglichkeiten können sich im Verlaufe des Gefechts durch zerstörte Gebäude und Brände noch weiter vermindern.91
7. Erschwerte Führung und Kommunikation: Dieser Faktor steht in einer
Wechselwirkung mit den kleinen Kampfeinheiten. Die Auflösung der Formationen führt zu einer Dezentralisierung der Führung oder dem völligen
Zusammenbruch derselben. Bei der gleichzeitig erschwerten Gefechtsfeldkommunikation wird die Führung größerer Verbände fast gänzlich verunmöglicht.92
8. Mangelnde Ortskenntnis: Ein wichtiger Faktor, der bei Ashworth nur am
Rande erwähnt wird,93 ist die mangelnde Ortskenntnis, die in so komplexen
Anlagen wie Städten besonders zum Tragen kommt.94 Dabei spielt es auch
eine Rolle, dass sich das Gelände durch die Kampfhandlungen permanent
verändern kann, das heißt, dass Durchgänge oder Straßen plötzlich unpassierbar werden. Außerdem können zum Beispiel unterirdische Netzwerke
(U-Bahnen, Kanalisationen) eine wichtige Rolle spielen.
Zwar gelten diese Punkte alle auch für kleinere Ortschaften, aber durch die
Größe von Städten gewinnen sie eine neue Qualität. Während sich die Zivilbevölkerung in Ortschaften verhältnismäßig rasch evakuieren lässt, ist dies bei
einer Stadt mit 100.000 Einwohnern bereits eine Großaktion. Eine kleinere
Ortschaft kann von außen oft recht einfach überblickt werden und verfügt
zudem nur sehr selten über unterirdische Netzwerke, die eine besondere Ortskenntnis erfordern – in Städten dagegen können sich auch größere Einheiten
unter- und oberirdisch leicht verirren. Ortschaften ziehen nur kleinere Truppenkontingente auf sich, während in Städten ganze Divisionen absorbiert werden können. Die Umgehung eines Dorfes schließlich ist eine taktische Aktion,
diejenige einer Stadt dagegen kann leicht operatives Ausmaß annehmen.95
Dieser Katalog hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber er ermöglicht
es aufzuzeigen, dass dem Kampf um Städte ein eigener Charakter zukommt,
der sich von jenem aller anderen Kampfgelände, auch dem der kleinen Ortschaft, grundsätzlich unterscheidet. Die Fallstudien werden sich an diesen
Punkten orientieren.
91
92
93
94
95
Generalstabschef, Moderne Kampf, S. 210, siehe auch Ashworth, War and the City, S. 120.
Generalstabschef, Moderne Kampf, S. 210.
Ashworth, War and the City, S. 121.
Gerade für Städte sind Mischbebauungen aus relativ offenen Flächen (z.B. Plätzen, Prachtstraßen oder größere Gleisanlagen bei Bahnhöfen), Industrievierteln, Wohnquartieren, engen Altstädten und Grünanlagen typisch. Neben den unterirdischen Netzwerken finden sich in Städten
auch besonders hohe Gebäude und Großbauten, die in sich geschlossene Kämpfe nach sich
ziehen. Ein gutes Beispiel hierfür war der Reichstag in Berlin 1945. Diese sehr unterschiedliche
Bebauung ist für die Komplexität des Schlachtfeldes »Stadt« mitverantwortlich.
Zum Unterschied Ortskampf-Stadtkampf, vgl. auch Abschnitt 2.2.
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