Nachtschwärmerin Alljährlich Anfang Juni ereignet sich in der SukkulentenSammlung Zürich das Blütenspektakel der Königin der Nacht. Der Kaktus, welcher bei eintretender Dunkelheit seine bezaubernde Blüte zu entfalten beginnt, ist in der Pflanzenheilkunde eine wirksame Herzarznei. Text und Fotos: Bruno Vonarburg 44 Natürlich | 5-2004 Chrüteregge GESUNDHEIT fürs Herz I m Mexikohaus der Sukkulentensammlung in Zürich herrscht eine andächtige Atmosphäre. Scharen von Besucherinnen und Besuchern sind herbeigeströmt, um das spektakuläre Ereignis mitzuerleben. Bereits nach Sonnenuntergang haben sich die Blütenknospen im Tempo eines Kirchenuhrzeigers zu öffnen begonnen. Zuerst entfalten sich sukzessive und fast unmerklich die schmalen, dunkelbraunen Hüllblätter. Danach folgt nach und nach ein neuer Kranz von hellen bis goldfarbenen Blütenblättern, bis letztlich nach 2–3 Stunden die schneeweisse Mitte zum Vorschein kommt. Ein wahrhaft königlicher Anblick; die Betrachter sind entzückt. Blütenstaub in Hülle und Fülle Die karibische Schönheit blüht nur für eine Nacht. Dabei ist es sehr schwierig, den Termin der Blütenentfaltung vorauszuberechnen. Mit Sperberaugen verfolgt der Leiter des Botanik-Instituts, Dr. Thomas Bolliger, ununterbrochen jede Regung und Veränderung der Pflanze, sodass er zum richtigen Zeitpunkt die Liebhaber der Nachtschwärmerblume über das Meeting mit dem Flor orientieren kann. Nach der Trockenzeit im Winter entwickelt der Kaktus, der wie ein spröder, 3 bis 4 cm dicker, dunkelgrüner Gartenschlauch aussieht, an den Vegetationspunkten, den so genannten Areolen, neue Blütenknospen. Diese vergrössern sich bis Ende Mai, Anfang Juni zu etwa 15 bis 20 cm langen Kolben, welche sich horizontal von den schleifenartigen Klettertrieben abheben. Sobald diese sich dann entfalten, wird die Sukkulente zur Königin der Nacht. Der Blütenreigen in der Sukkulenten-Sammlung Zürich setzt sich zusammen aus rund 30 majestätischen Kaktusblumen. Auffallend sind die leicht aufwärts gebogenen Staubbeutel, die aus jeder Blütenröhre hervorragen. Jede Blume besitzt ein enormes Blütenstaubangebot mit etwa 500 Staubblättern, wovon jedes einzelne bis zu 500 Pollenkörner beinhaltet. Eine einzige Blüte trägt also bis zu 250 000 Pollen. Bereits nach vierundzwanzig Uhr beginnt die Königin der Nacht langsam zu verwelken und am anderen Morgen ist die ganze Pracht endgültig vorbei. Die zusammengeschrumpfte Blüte hängt dann schlaff von den Stängeln – ein kümmerlicher Anblick. Nun aber bereitet sich der Kaktus auf die Fruchtreife vor. Innerhalb von ein paar Monaten entwickelt sich eine stachelige, blutrote Frucht von der Grösse einer Tomate. Im Fruchtfleisch (Pulpa) finden sich bis zu 2500 Samen. Nachtblütigkeit keine Seltenheit Viele Bewunderer der Königin der Nacht fragen sich, weshalb diese ihre bezaubernden Blüten nur während der Dunkelheit entfaltet. Das Phänomen der Nachtblütigkeit ist im Pflanzenreich keine Seltenheit. Bei den Kakteen allein existieren mehrere 100 Arten, die mit diesem Blühverhalten ausgerüstet sind. Aber auch bei den einheimischen Wildkräutern, wie z. B. bei der Nachtkerze (Oenothera biennis) und bei der Nachtviole (Hesperis matronalis) kennt man diese Besonderheit. Bemerkenswert ist, dass die überwiegende Zahl dieser Nachtblüher über grosse, vielblätNatürlich | 5-2004 45 GESUNDHEIT Chrüteregge trige, helle Blüten verfügen und einen ausgeprägten, süsslichen bis säuerlichen Duft verbreiten. Damit locken sie Nachtschmetterlinge, in den Tropen nachtfliegende Schwärmer, Nachtfalter und ähnliche Insekten zum Blütenbesuch an. Ihre Facettenaugen haben die Fähigkeit, die grossen, hellen Blütengebilde selbst in tiefster Dunkelheit zu erkennen. Bei der Königin der Nacht sind es Sphingidae-Nachtschwärmer, die durch den betörenden Vanilleduft und die hellen, leuchtenden Blütensterne zum Besuch eingeladen werden. Diese Insekten sind imstande, während des Fluges den Nektar aus den langen Röhrenblüten zu saugen, womit sie den Flor befruchten. Weil diese Schwärmer in der Sukkulenten-Sammlung Zürich nicht vorherrschend sind, werden dort die Blüten mit einem Pinsel bestäubt. Ursprünglich stammt die Königin der Nacht aus Mexiko, Kuba und Haiti, wo sie mit ihren bis zu 10 m langen Trieben an Mauern und Felsen mit zahlreichen Luftwurzeln emporklettert. Die Pflanze gehört zur botanischen Familie der Kaktusgewächse (Cactaceae) und wird der Gattung Selenicereus, was so viel wie Mondsäulenkaktus (Nachtblüher) bedeutet, zugeordnet. Der schwedische Botaniker und Arzt Carl von Linné taufte die Pflanze 1753 mit dem Namen Cactus grandiflorus L., was aus dem Lateinischen übersetzt «grossblütiger Kaktus» heisst. Sie ist auch mit dem Synonym «Cereus grandiflorus» bekannt (lateinisch: Cereus = Wachslicht), was die frühere Verwendung der in Öl getauchten Stängel als Fackeln erklärt. Der majestätische Titel «Königin der Nacht» bezieht sich auf die vanilleartig duftende Blüte, welche mit ihrem bezaubernden Flor mitten in der Nacht wie eine Taschenlampe hervorleuchtet. Im Volksmund ist sie auch als Nachtschwärmerblume, Schlangenkaktus oder Mondwachspflanze bekannt. Wenig Wasser, viel Licht Mancherorts wird die Königin der Nacht als Zimmerpflanze gezogen; einzelne Blütenreigen der Nachtschwärmerblume: in der Sukkulenten-Sammlung Zürich 46 Natürlich | 5-2004 Exemplare gibt es auch bei der Sukkulenten-Sammlung Zürich zu kaufen. Zur Pflege des Kaktus gibt Urs Eggli, Mitarbeiter des botanischen Instituts, folgende Ratschläge: Während des Sommers fühlen sich die Pflanzen am wohlsten, insbesondere wenn sie möglichst viel Luft und Licht erhalten. Ideal ist ein Platz auf dem Balkon oder im Garten, wo sie am besten an einem nur leicht beschatteten Platz kultiviert werden. Für ein gutes Wachstum und eine reiche Blütenpracht ist eine entsprechende Ernährung des Kaktus wesentlich. Ein genügend grosser Topf mit durchlässiger, aber nahrhafter Erde und regelmässige Düngung mit einem Kakteendünger während der ganzen Wachstumszeit ist alles, was es braucht. Als idealer Überwinterungsplatz eignet sich ein kühles, helles Zimmer (nicht unter 4 °C, aber auch nicht über 16 °C). Auch im Winter sollte die Königin der Nacht gelegentlich etwas Wasser bekommen, aber nur so viel, dass die Pflanze nicht zu wachsen beginnt und trotzdem genügend, dass die Wurzeln nicht aus- Links: Am anderen Morgen zusammengeschrumpft: verwelktes Blütengebilde. Rechts: Reift nach 2 bis 3 Monaten: blutrote, stachelige Frucht. trocknen. Man kann sie ab und zu mit Wasser bestäuben. Je kühler und dunkler der Überwinterungsraum ist, desto weniger Wasser benötigt sie. Sobald keine Fröste mehr zu erwarten sind (April bis Mai), kann die Pflanze wieder ins Freie gestellt werden. Um sie aus dem Winterschlaf zu wecken, sollte man sie wöchentlich giessen. Jedoch sollte sie vor Dauerregen geschützt werden. Beruhigt das Herz Die Blüten der Königin der Nacht beinhalten etwa 1,5% Flavonoide als Narcissin, Cacticin, Rutin, Kämpferitin, Grandiflorin und Hyperosid; ferner Betacyane als gelbe Farbstoffe und Amine mit den Hauptkomponenten Hordenin, Tyramin, Methyl- und Dimethyltyramin. Diese Inhaltsstoffe wirken entspannend auf das Herz, fördern die Durchblutung der Herzkranzgefässe und verhindern ferner koronare, entzündliche Prozesse. Die digitalisartigen Eigenschaften (wirkt ähnlich, aber sanfter als Fingerhut-Präparate) wurden erstmals 1864 durch den Italiener Rubini bekannt gemacht. Der Blütenextrakt (Cerei grandiflori tinctura) empfiehlt sich vor allem bei nervösen Herzbeschwerden, Rhythmusstörungen, Extrasystolen (Herzstolpern: ein vorzeitiger oder verspäteter Herzschlag ausserhalb des normalen Rhythmus, dem meist eine längere ausgleichende Schlagpause folgt), pektangiösen Beschwerden mit Druck und Engegefühl und bei der Tendenz zu Herzmuskelentzündung. Die Arznei, wovon 3-mal täglich 15 Tropfen in ein wenig Wasser vor dem Essen eingenommen werden, hilft auch bei Beschwerden, die durch Nikotinvergiftung (Nikotinabusus) entstanden sind und lindert nervöse Herzbeschwerden in den Wechseljahren (Klimakterium der Frau). Sie ist wirksam bei Gebärmutterkrämpfen und bei Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose). In der Karibik wird der Presssaft der ganzen Pflanze zur Entwurmung eingesetzt. Äusserlich mit Wasser verdünnt, hilft er bei juckendem Hautausschlag und zum Gurgeln bei brennenden Entzündungen im Mund- und Rachenraum. Nebenwirkungen der Königin der NachtExtrakte sind nicht bekannt. ■ Erleben Sie das Blütenfest vor Ort Falls Sie selbst einmal die Blüte der Königin der Nacht beobachten wollen, können Sie sich per E-Mail unter www.foerderverein.ch anmelden. Von Ende Mai bis anfangs Juni werden Sie dann laufend orientiert, an welchem voraussichtlichen Zeitpunkt die Pflanze ihre Blüten entfalten wird, damit Sie die Geburt des majestätischen Flors in der Sukkulenten-Sammlung, Mythenquai 88, 8002 Zürich mitverfolgen können. Die HAB-Frischpflanzentinktur der Königin der Nacht ist in verschiedenen Drogerien und Apotheken erhältlich. Mit einem frankierten Rückantwortcouvert erhalten Sie die Bezugsadressen bei «Xund si», Postfach 641, Dorfgässli 2, 6331 Hünenberg, Tel. 041 780 77 22. Öffnet sich in Zeitlupe: Aufblühen nach 2 Stunden