44-47 Koenigin

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Nachtschwärmerin
Alljährlich Anfang Juni ereignet sich in der SukkulentenSammlung Zürich das Blütenspektakel der Königin der
Nacht. Der Kaktus, welcher bei eintretender Dunkelheit
seine bezaubernde Blüte zu entfalten beginnt, ist in der
Pflanzenheilkunde eine wirksame Herzarznei.
Text und Fotos: Bruno Vonarburg
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Chrüteregge GESUNDHEIT
fürs Herz
I
m Mexikohaus der Sukkulentensammlung in Zürich herrscht eine andächtige Atmosphäre. Scharen von Besucherinnen und Besuchern sind herbeigeströmt, um das spektakuläre Ereignis
mitzuerleben. Bereits nach Sonnenuntergang haben sich die Blütenknospen im
Tempo eines Kirchenuhrzeigers zu öffnen
begonnen. Zuerst entfalten sich sukzessive und fast unmerklich die schmalen,
dunkelbraunen Hüllblätter. Danach folgt
nach und nach ein neuer Kranz von hellen
bis goldfarbenen Blütenblättern, bis letztlich nach 2–3 Stunden die schneeweisse
Mitte zum Vorschein kommt. Ein wahrhaft königlicher Anblick; die Betrachter
sind entzückt.
Blütenstaub in Hülle und Fülle
Die karibische Schönheit blüht nur für
eine Nacht. Dabei ist es sehr schwierig,
den Termin der Blütenentfaltung vorauszuberechnen. Mit Sperberaugen verfolgt
der Leiter des Botanik-Instituts, Dr. Thomas Bolliger, ununterbrochen jede Regung und Veränderung der Pflanze, sodass
er zum richtigen Zeitpunkt die Liebhaber
der Nachtschwärmerblume über das Meeting mit dem Flor orientieren kann.
Nach der Trockenzeit im Winter entwickelt der Kaktus, der wie ein spröder, 3
bis 4 cm dicker, dunkelgrüner Gartenschlauch aussieht, an den Vegetationspunkten, den so genannten Areolen,
neue Blütenknospen. Diese vergrössern
sich bis Ende Mai, Anfang Juni zu etwa
15 bis 20 cm langen Kolben, welche sich
horizontal von den schleifenartigen Klettertrieben abheben. Sobald diese sich
dann entfalten, wird die Sukkulente zur
Königin der Nacht. Der Blütenreigen in
der Sukkulenten-Sammlung Zürich setzt
sich zusammen aus rund 30 majestätischen Kaktusblumen. Auffallend sind die
leicht aufwärts gebogenen Staubbeutel,
die aus jeder Blütenröhre hervorragen.
Jede Blume besitzt ein enormes Blütenstaubangebot mit etwa 500 Staubblättern,
wovon jedes einzelne bis zu 500 Pollenkörner beinhaltet. Eine einzige Blüte
trägt also bis zu 250 000 Pollen.
Bereits nach vierundzwanzig Uhr beginnt die Königin der Nacht langsam zu
verwelken und am anderen Morgen ist
die ganze Pracht endgültig vorbei. Die zusammengeschrumpfte Blüte hängt dann
schlaff von den Stängeln – ein kümmerlicher Anblick. Nun aber bereitet sich der
Kaktus auf die Fruchtreife vor. Innerhalb
von ein paar Monaten entwickelt sich eine
stachelige, blutrote Frucht von der Grösse
einer Tomate. Im Fruchtfleisch (Pulpa)
finden sich bis zu 2500 Samen.
Nachtblütigkeit
keine Seltenheit
Viele Bewunderer der Königin der Nacht
fragen sich, weshalb diese ihre bezaubernden Blüten nur während der Dunkelheit
entfaltet. Das Phänomen der Nachtblütigkeit ist im Pflanzenreich keine Seltenheit.
Bei den Kakteen allein existieren mehrere
100 Arten, die mit diesem Blühverhalten
ausgerüstet sind. Aber auch bei den einheimischen Wildkräutern, wie z. B. bei der
Nachtkerze (Oenothera biennis) und bei
der Nachtviole (Hesperis matronalis)
kennt man diese Besonderheit. Bemerkenswert ist, dass die überwiegende Zahl
dieser Nachtblüher über grosse, vielblätNatürlich | 5-2004 45
GESUNDHEIT Chrüteregge
trige, helle Blüten verfügen und einen ausgeprägten, süsslichen bis säuerlichen Duft
verbreiten. Damit locken sie Nachtschmetterlinge, in den Tropen nachtfliegende Schwärmer, Nachtfalter und ähnliche Insekten zum Blütenbesuch an. Ihre
Facettenaugen haben die Fähigkeit, die
grossen, hellen Blütengebilde selbst in
tiefster Dunkelheit zu erkennen.
Bei der Königin der Nacht sind es
Sphingidae-Nachtschwärmer, die durch
den betörenden Vanilleduft und die hellen, leuchtenden Blütensterne zum Besuch eingeladen werden. Diese Insekten
sind imstande, während des Fluges den
Nektar aus den langen Röhrenblüten zu
saugen, womit sie den Flor befruchten.
Weil diese Schwärmer in der Sukkulenten-Sammlung Zürich nicht vorherrschend sind, werden dort die Blüten mit
einem Pinsel bestäubt.
Ursprünglich stammt die Königin der
Nacht aus Mexiko, Kuba und Haiti, wo sie
mit ihren bis zu 10 m langen Trieben an
Mauern und Felsen mit zahlreichen Luftwurzeln emporklettert. Die Pflanze gehört
zur botanischen Familie der Kaktusgewächse (Cactaceae) und wird der Gattung Selenicereus, was so viel wie
Mondsäulenkaktus (Nachtblüher) bedeutet, zugeordnet. Der schwedische Botaniker und Arzt Carl von Linné taufte die
Pflanze 1753 mit dem Namen Cactus
grandiflorus L., was aus dem Lateinischen
übersetzt «grossblütiger Kaktus» heisst.
Sie ist auch mit dem Synonym «Cereus
grandiflorus» bekannt (lateinisch: Cereus = Wachslicht), was die frühere Verwendung der in Öl getauchten Stängel als
Fackeln erklärt. Der majestätische Titel
«Königin der Nacht» bezieht sich auf die
vanilleartig duftende Blüte, welche mit
ihrem bezaubernden Flor mitten in der
Nacht wie eine Taschenlampe hervorleuchtet. Im Volksmund ist sie auch als
Nachtschwärmerblume, Schlangenkaktus oder Mondwachspflanze bekannt.
Wenig Wasser, viel Licht
Mancherorts wird die Königin der Nacht
als Zimmerpflanze gezogen; einzelne
Blütenreigen der Nachtschwärmerblume: in der Sukkulenten-Sammlung Zürich
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Exemplare gibt es auch bei der Sukkulenten-Sammlung Zürich zu kaufen. Zur
Pflege des Kaktus gibt Urs Eggli, Mitarbeiter des botanischen Instituts, folgende Ratschläge: Während des Sommers
fühlen sich die Pflanzen am wohlsten,
insbesondere wenn sie möglichst viel
Luft und Licht erhalten. Ideal ist ein Platz
auf dem Balkon oder im Garten, wo sie
am besten an einem nur leicht beschatteten Platz kultiviert werden. Für ein gutes
Wachstum und eine reiche Blütenpracht
ist eine entsprechende Ernährung des
Kaktus wesentlich. Ein genügend grosser
Topf mit durchlässiger, aber nahrhafter
Erde und regelmässige Düngung mit einem Kakteendünger während der ganzen
Wachstumszeit ist alles, was es braucht.
Als idealer Überwinterungsplatz eignet sich ein kühles, helles Zimmer (nicht
unter 4 °C, aber auch nicht über 16 °C).
Auch im Winter sollte die Königin der
Nacht gelegentlich etwas Wasser bekommen, aber nur so viel, dass die Pflanze
nicht zu wachsen beginnt und trotzdem
genügend, dass die Wurzeln nicht aus-
Links: Am anderen
Morgen zusammengeschrumpft:
verwelktes Blütengebilde.
Rechts: Reift nach
2 bis 3 Monaten:
blutrote, stachelige
Frucht.
trocknen. Man kann sie ab und zu mit
Wasser bestäuben. Je kühler und dunkler
der Überwinterungsraum ist, desto weniger Wasser benötigt sie. Sobald keine
Fröste mehr zu erwarten sind (April bis
Mai), kann die Pflanze wieder ins Freie
gestellt werden. Um sie aus dem Winterschlaf zu wecken, sollte man sie wöchentlich giessen. Jedoch sollte sie vor Dauerregen geschützt werden.
Beruhigt das Herz
Die Blüten der Königin der Nacht beinhalten etwa 1,5% Flavonoide als Narcissin, Cacticin, Rutin, Kämpferitin, Grandiflorin und Hyperosid; ferner Betacyane
als gelbe Farbstoffe und Amine mit den
Hauptkomponenten Hordenin, Tyramin,
Methyl- und Dimethyltyramin. Diese Inhaltsstoffe wirken entspannend auf das
Herz, fördern die Durchblutung der
Herzkranzgefässe und verhindern ferner
koronare, entzündliche Prozesse. Die digitalisartigen Eigenschaften (wirkt ähnlich,
aber sanfter als Fingerhut-Präparate) wurden erstmals 1864 durch den Italiener
Rubini bekannt gemacht. Der Blütenextrakt (Cerei grandiflori tinctura) empfiehlt sich vor allem bei nervösen Herzbeschwerden, Rhythmusstörungen, Extrasystolen (Herzstolpern: ein vorzeitiger
oder verspäteter Herzschlag ausserhalb
des normalen Rhythmus, dem meist eine
längere ausgleichende Schlagpause folgt),
pektangiösen Beschwerden mit Druck
und Engegefühl und bei der Tendenz
zu Herzmuskelentzündung. Die Arznei,
wovon 3-mal täglich 15 Tropfen in ein
wenig Wasser vor dem Essen eingenommen werden, hilft auch bei Beschwerden,
die durch Nikotinvergiftung (Nikotinabusus) entstanden sind und lindert nervöse Herzbeschwerden in den Wechseljahren (Klimakterium der Frau). Sie ist
wirksam bei Gebärmutterkrämpfen und
bei Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose).
In der Karibik wird der Presssaft der
ganzen Pflanze zur Entwurmung eingesetzt. Äusserlich mit Wasser verdünnt,
hilft er bei juckendem Hautausschlag
und zum Gurgeln bei brennenden Entzündungen im Mund- und Rachenraum.
Nebenwirkungen der Königin der NachtExtrakte sind nicht bekannt.
■
Erleben Sie
das Blütenfest vor Ort
Falls Sie selbst einmal die Blüte der Königin
der Nacht beobachten wollen, können Sie
sich per E-Mail unter www.foerderverein.ch
anmelden. Von Ende Mai bis anfangs Juni
werden Sie dann laufend orientiert, an
welchem voraussichtlichen Zeitpunkt die
Pflanze ihre Blüten entfalten wird, damit Sie
die Geburt des majestätischen Flors in der
Sukkulenten-Sammlung, Mythenquai 88,
8002 Zürich mitverfolgen können.
Die HAB-Frischpflanzentinktur der Königin
der Nacht ist in verschiedenen Drogerien und
Apotheken erhältlich. Mit einem frankierten
Rückantwortcouvert erhalten Sie die Bezugsadressen bei «Xund si», Postfach 641, Dorfgässli 2, 6331 Hünenberg, Tel. 041 780 77 22.
Öffnet sich in Zeitlupe: Aufblühen nach 2 Stunden
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