Europa zwischen Wunsch und Wirklichkeit – Von niedrigen Zinsen

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Europa zwischen Wunsch und Wirklichkeit –
Von niedrigen Zinsen und hohen Risiken
Investment-Strategie Metzler Private Banking
November 2016
Inhalt
Editorial
3
Konjunktur: Wachstum trotz politischer Unwägbarkeiten
4
Anleihemärkte: Deflation war gestern
15
Aktienmärkte: Auf der Suche nach dem Kompass
20
3
Editorial: Europa zwischen Wunsch und Wirklichkeit –
Von niedrigen Zinsen und hohen Risiken
Europa ist in einem beklagenswerten Zustand.
Grundlegende abendländische Überzeugungen
und Werte wie Freiheit, Demokratie und
Rechts­­staatlichkeit werden zunehmend infrage
gestellt durch Migrationsdruck, religiösen
­Fundamentalismus und ein Erstarken nationa­
ler Egoismen. Sogar die Worte Chaos und
Exis­tenzkrise machen die Runde. Europäische
Institutionen sind dadurch so sehr in Miss­
kredit geraten, dass nunmehr auch der erste
formale Bruch eines Landes mit Europa bevor­
steht: Die Briten haben der Europäischen
Union (EU) den Rücken gekehrt und für den
Austritt gestimmt. Es bedarf also keiner dra­
matischen Formulierungen, um das Offen­
sichtliche festzustellen: In der Wahrnehmung
vieler Menschen wiegen die verbindenden Ele­
mente in Europa inzwischen weit weniger als
die trennenden. Dass die EU und der Brüsseler
Zentralismus aber oftmals nur als Blitzableiter
für nationale Herausforderungen herhalten
müssen, wird allzu gern vergessen. Immer
mehr Politiker ver­suchen, ihren Wählern ein­
fache Antworten ­­auf komplexe Fragen zu
geben. Dabei zählen ­Meinungen mehr als Tat­
sachen. In dieser postfaktischen Welt werden
die Verfehlungen der Politik Dritten angelastet
und nicht durch beherzte Strukturreformen
korrigiert. Die politische Paralyse führt jedoch
dazu, dass der einzig handlungswillige Akteur
– die Europäische Zentralbank (EZB) – bis
heute nicht aus ihrer Verantwortung als Kredit­
geber der letzten Instanz entlassen werden
konnte. Die EZB stemmt sich nach wie vor mit
Verve gegen Strukturprobleme außerhalb ihres
Einflussbereichs und trägt damit zu erheb­
lichen Verzerrungen an den Kapitalmärkten
bei. Der Preis für Geld ist ins Negative ge­
rutscht und lässt Anleger orientierungslos zu­
rück. Ohne Zins sind sie auf der Suche nach
einem neuen Kompass. Sowohl Bullen als
auch Bären haben scheinbar überzeugende
Argumente für ihre jeweilige Weltsicht. Einer­
seits sprechen hohe Kurse an den Aktien­
märkten für eine vielversprechende Wirt­
schaftsentwicklung, andererseits deutet ein
Billionenvermögen an negativ rentierenden
Anleihen auf massive ­Zukunftsängste. Was
also sollen Anleger tun? Um Fakt von Fiktion
zu trennen, hilft nur, den Tatsachen möglichst
vorurteilsfrei ins Auge zu sehen und sich da­
bei nicht von der Vielschichtigkeit von Politik,
Wirtschaft und Börse abschrecken zu ­lassen.
Denn – um es mit Theodor Fontane zu sagen:
„Am Mute hängt der Erfolg“.
4
Konjunktur: Wachstum trotz politischer Unwägbarkeiten
Eine der zurzeit drängendsten Fragen in Wirt­
wird üblicherweise auf Basis der verfügbaren
schaft und Gesellschaft lautet: „Quo vadis Eu­
Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sowie
ropa?“ Leider kann niemand – vielleicht nicht
des technischen Fortschritts das Wachstums­
einmal die handelnden Politiker selbst – das
potenzial einer Volkswirtschaft ermittelt, um
Schicksal der Europäischen Union mit Sicher­
das die tatsäch­liche Entwicklung – dem Lehr­
heit vorhersagen. Um mögliche Erkenntnisse
buch zufolge – zyklisch schwanken sollte. In
für die Zukunft zu gewinnen, kommt man also
ähnlicher Weise legte auch der Internationale
nicht umhin, sich mit Entwicklungen der Ver­
Währungsfonds (IWF) im April 2008 eine
gangenheit und Gegenwart auseinanderzuset­
Schätzung vor, wie sich das Bruttoinlandspro­
zen. Denn auch Anlagepolitik beginnt mit
dukt (BIP) der Eurozone in den nachfolgenden
einem eingehenden Blick
fünf Jahren entwickeln
Gemessen am Bruttoinlandsprodukt,
auf die Wirklichkeit.
sollte (siehe Grafik 1).
wurden die krisenbedingten WohlDem damaligen Zahlen­
standsverluste in der Eurozone erst im werk zufolge erwarteten
Wohlwissend, dass sich
vergangenen Jahr wieder aufgeholt.
die Komplexität der
die Experten, dass die
Wirklichkeit selbst mit­
europäische Wirtschaft
hilfe ausgefeilter ökonometrischer Modelle
im Schnitt um ca. 2 % pro Jahr zulegen
nicht auf eine Zahl verdichten lässt, veröffent­
würde. Ein Abgleich mit dem später tatsäch­
lichen renommierte ­Institutionen und Banken
lich eingetretenen Wirtschaftswachstum zeigt
regelmäßig Kon­junkturprognosen. Hierbei
allerdings, dass das Bruttoinlandsprodukt der
Grafik 1: Wirtschaftswachstum in der Eurozone – Wunsch versus Wirklichkeit
Bruttoinlandsprodukt (indexiert, 2007 = 100)
115
Schätzung Eurozone*
Tatsächlich USA
110
105
Tatsächlich Eurozone
100
95
2007
2008
2009
2010
2011
2012
* Schätzung von Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom April 2008
Quellen: Internationaler Währungsfonds (World Economic Outlook Databases), Metzler
2013
2014
2015
2016e
Stand: Oktober 2016
5
Eurozone im Jahr 2013 etwa 15 % unter dem
Wert lag, den der IWF Jahre zuvor prognosti­
ziert hatte. Auch in den Folgejahren näherte
sich das hiesige Wirtschaftswachstum dem
Zielwert nicht nennenswert an. Zurückzufüh­
ren ist dies darauf, dass die Eurozone in eine
der schwersten Finanzkrisen der Wirtschafts­
geschichte schlitterte.
Die daran anschließende Erholung verlief äu­
ßerst schleppend. Erst im vergangenen Jahr
erreichte die Eurozone – gemessen am BIP –
wieder das Wohlstandsniveau von vor der
Krise. Dies ist umso ernüchternder, als in der
Zwischenzeit große Anstrengungen unternom­
men wurden, um die Konjunktur hierzulande
anzukurbeln. Auch anderen, ebenfalls von der
Finanzkrise getroffenen Regionen hinkt die
Eurozone merklich hinterher. So dauerte es in
den USA lediglich etwa drei Jahre, bis die
Wohlstandsverluste aufgeholt waren – und
das, obwohl die Krise dort ihren Ursprung
hatte und keineswegs minder dramatisch
begann als bei uns. Wo also liegen die Unter­
schiede und die Gemeinsamkeiten in der
Krisenbewältigung?
Notenbanken reagierten auf Finanzkrise mit einer
zunehmend expansiven Geldpolitik
Mit Einsetzen der Turbulenzen im Finanzsys­
tem öffneten zunächst alle großen Noten­
banken ihre Geldschleusen. Zu den Instru­
menten zählten neben unbegrenzten Refinan­
zierungsgeschäften, um ausreichend Liquidität
im Bankensystem sicherzustellen, klassische
Leitzinssenkungen (siehe Grafik 2). Leitzinsen
lassen sich jedoch nicht unendlich weit ins
Minus senken, da Wirtschaftsakteure mittels
Grafik 2: Die Geldpolitik ist hierzulande mittlerweile deutlich expansiver als in den Vereinigten Staaten
in %
6
4
Fed-Leitzins
2
Schattenleitzins* (gestrichelt)
0
EZB-Leitzins
-2
Schattenleitzins* (gestrichelt)
-4
-6
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
* Leitzinsäquivalent unkonventioneller geldpolitischer Instrumente in einer Volkswirtschaft ohne Bargeld
Quellen: Jing Cynthia Wu und Fan Dora Xia „Measuring the Macroeconomic Impact of Monetary Policy at the Zero Lower Bound“,
Journal of Money, Credit, and Banking, 2016, 48 (2–3), S. 253–291; FactSet, Metzler Stand: September 2016
6
Bargeldhaltung Negativzinsen auf Bankeinla­
wirkte. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen,
gen umgehen können. Insofern setzten die
dass die EZB als Hüterin der Preise innerhalb
Notenbanken im Laufe der Zeit auch auf alter­
eines Währungsverbunds anderen Zwängen
native geldpolitische Mittel wie Anleihekauf­
und Regularien unterliegt als eine nationale
programme, um die Konjunktur anzukurbeln.
Notenbank wie die Federal Reserve. So sorgte
Wie stark der Lockerungseffekt dieser unkon­
beispielsweise das hierzulande geltende Ver­
ventionellen Instrumente ausfällt, ist allerdings
bot der monetären Staats­finanzierung noch
auf herkömmliche Weise
bis ins laufende Jahr
„Schattenleitzins“ von ca. -5 % zeigt,
nur schwer zu quantifi­
­hinein für eine Auseinan­
zieren. Kluge Akademiker dass die Geldpolitik in der Eurozone
dersetzung vor Gericht
deutlich expansiver ist, als es die
haben versucht, dieses
darüber, ob das von
Problem zu lösen, indem offiziellen Zinssätze suggerieren.
Mario Draghi im Jahr
sie die unorthodoxen
2012 angekündigte „Out­
Schritte in ein Leitzinsäquivalent übersetzt
right Monetary Transactions“-Programm mit
haben, den sogenannten „Schattenleitzins“.
EU-Recht vereinbar ist oder nicht. Mittlerweile
Damit lässt sich zeigen, wo sich der Leitzins
hat sich die EZB mehr oder weniger offenkun­
befände, wenn es in einer Volkswirtschaft kein
dig von den traditionellen Leitlinien der Deut­
Bargeld gäbe und die Zinsen doch unendlich
schen Bundesbank gelöst und ihr Mandat
weit gesenkt werden könnten. In einem sol­
immer weiter gefasst. An geldpolitischer Un­
chen Szenario entsprechen alle gegenwärtig
terstützung für die europäische Konjunktur
aktiven Instrumente der EZB zusammenge­
mangelt es also seit einiger Zeit definitiv nicht
nommen einem Schattenleitzins von ca. -5 %
mehr.
(siehe Grafik 2 auf Seite 5). Das heißt, die
Geldpolitik in der Eurozone ist derzeit deutlich
Mit monetären Lockerungen lassen sich aber
expansiver, als es die offiziellen Zinssätze sug­
nur dann Erfolge erzielen, wenn sie auch tat­
gerieren. Selbst die Federal Reserve (Fed) –
sächlich in der Realwirtschaft ankommen.
als Vorreiterin in Sachen unkonventioneller
Diese Übertragung erfolgt in der Regel über
Geldpolitik – fuhr in den vergangenen Jahren
eine steigende Kreditvergabe. In den vergan­
zu keinem Zeitpunkt einen expansiveren Kurs.
genen Jahren ließ sich eine solche in der Eu­
Im Tief lag der Schattenleitzins in den USA ­
rozone jedoch nur eingeschränkt beobachten.
bei -3 %. Einen Mangel an geldpolitischer
Ganz anders verhielt es sich in den USA, wo
Schützenhilfe kann man der EZB also nicht
die Kreditvergabe an den privaten Sektor seit
vorwerfen. Jedoch lässt sich sehr wohl fest­
2011 im Schnitt um ca. 5,2 % p. a. zulegte
stellen, dass diese Unterstützung zunächst nur
(Eurozone: -0,5 %). Dass die geldpolitische
zögerlich erfolgte und darüber hinaus – an­ge­
Transmission lange Zeit bei uns nicht so gut
sichts der zwischenzeitlichen Leitzinsanhe­
funktionierte wie in den Vereinigten Staaten,
bung im Jahr 2011 – etwas unentschlossen
ist zu großen Teilen auf Unterschiede im Um­
7
gang mit makroökonomischen Ungleichge­
wichten zurückzuführen. So rekapitalisierten
die Vereinigten Staaten ihre Banken deutlich
entschlossener, indem sie Institute – auch
unter Zuhilfenahme von Steuergeldern – vor
der Insolvenz retteten. Mit steigendem Eigen­
kapital und der Abwicklung von Problemkre­
diten entstanden schnell wieder Freiräume für
Neugeschäft. So sank der Anteil der notlei­
denden Kredite am Gesamtkreditbestand in
den USA von etwa 5 % im Jahr 2009 auf
unter 2 % im Jahr 2015 (siehe Grafik 3). In der
Eurozone wurde diese Bereinigung hingegen
jahrelang verschleppt. So lauern noch immer
hohe Bestände von knapp 6 % an faulen Kre­
diten in den Bankbilanzen – vorrangig bei
­Instituten aus Ländern an der Peripherie der
Europäischen Währungsunion. Erst in den
­vergangenen zwei Jahren wurden in einigen
Ländern signifikante Fortschritte erzielt. In den
Staaten mit besonders hohem Anpassungs­
bedarf, vor allem Zypern, Griechenland und
Italien, hat sich jedoch bislang wenig getan.
Eine nachhaltige Lösung des Problems steht
folglich noch aus.
Schleppende Kreditvergabe in der Eurozone auch
auf mangelnde Nachfrage zurückzuführen
Die schleppende Kreditvergabe in der Euro­
zone ist jedoch nicht nur ein Problem auf der
Angebotsseite. Auch die Nachfrage nach
­Krediten ging viele Jahre trotz deutlich verbes­
serter Zinskonditionen zurück, im Wesent­
lichen gebremst von der nach wie vor hohen
Verschuldung im privaten Sektor. Die europä­
ischen Unternehmen und Haushalte haben
sich seit Ausbruch der Krise praktisch nicht
entschuldet, während die Verbindlichkeiten in
Grafik 3: Makroökonomische Ungleichgewichte erschweren die geldpolitische Transmission in der Eurozone
Notleidende Kredite/Gesamtkredite in %
10
Private Verschuldung*/BIP in %
175
165
8
Eurozone
155
6
USA
145
4
135
2
125
0
2000
2003
2006
2009
2012
2015
* Exkl. Finanzunternehmen
Quellen: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Weltbank, Metzler
115
1999
2002
2005
2008
2011
2014
Stand: 2015 (notleidende Kredite), Q1 2016 (Verschuldung)
8
den Vereinigten Staaten recht schnell abge­
Schuldenlast, die nicht nur die Nachfrage
baut wurden. Daten der Bank für Internationa­
nach neuen Finanzierungen dämpft, sondern
len Zahlungsausgleich belegen, dass die Pri­
auch zum Teil aus Sicht der Banken ihre Kre­
vathaushalte den Löwenanteil dieses Rück­
ditwürdigkeit infrage stellt.
gangs in den USA stemmten. Weiterführende
Draghi: Expansiver Kurs der EZB muss dringend
Aufschlüsselungen der US-Notenbank zeigen
durch Strukturreformen flankiert werden
darüber hinaus, dass die größten Fortschritte
Angesichts der gravierenden Strukturpro­
bei den Wohnimmobilienkrediten zu verzeich­
bleme in der Eurozone wurde der EZB in den
nen sind. Ein Teil dieser Darlehen wurde ord­
vergangenen Jahren also eine Aufgabe zuge­
nungsgemäß zurückgeführt, indem sich die
mutet, die sie allein nicht lösen konnte. Inso­
US-Bürger in den ersten Jahren nach der
fern ist es nicht verwunderlich, dass Mario
Krise mit dem Konsum zurückhielten und die
Draghi mittlerweile bei jeder Pressekonferenz
daraus resultierenden Ersparnisse für Zins und
nahezu mantraartig betont, dass dringend Re­
Tilgung einsetzten. Ein anderer, weitaus grö­
formen notwendig sind, die die Geldpolitik der
ßerer Teil der Immobilienkredite wurde jedoch
Notenbanker flankieren.
einfach nicht mehr be­
Im Gegensatz zu den USA ächzt
Damit zielt er nicht nur auf
dient. Denn in einigen
der Privatsektor in Europa bis
die Bereinigung der oben
Staaten geht mit der Zah­
heute unter einer hohen Schulden- diskutierten makroökono­
lungsunfähigkeit eines
last, was seine Kreditwürdigkeit
mischen Ungleichgewichte,
Schuldners die Kreditsi­
infrage stellt und die Nachfrage
sondern auch auf Ände­
cherheit (in diesem Fall
nach Krediten dämpft.
rungen des wirtschaftspoli­
die Immobilie) in den Be­
tischen Rahmens, um die
sitz der Bank über. Damit
Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität ein­
ist der Kreditnehmer in der Regel aus jeglicher
zelner Länder zu verbessern. Den Währungs­
Haftung entlassen. Ein etwaiger Fehlbetrag
hütern ist also offensichtlich bewusst, dass
aus dem noch ausstehenden Darlehensbetrag
– je länger sie als Retter eingespannt bleiben –
und dem Verkehrswert der Immobilie belastet
die Risiken und Nebenwirkungen der ultra­
somit die Bankbilanz. Da die US-Kreditinstitute
expansiven Geldpolitik steigen.
nach der Krise ordentlich rekapitalisiert wur­
den, konnte sich der private Sektor in den
Mittlerweile wächst auch der Unmut in der
USA seiner Schulden entledigen, ohne die
Bevölkerung: Denn neben den Banken haben
Stabilität des Bankensystems erneut ins Wan­
vor allem Pensionskassen und Privatanleger
ken zu bringen. Während also in den Vereinig­
unter den niedrigen Zinsen zu leiden. Je län­
ten Staaten die Unternehmen und Haushalte
ger der Zinseszinseffekt außer Kraft gesetzt
recht schnell wieder als Nachfrager nach
ist, umso schwieriger wird es, Leistungsver­
­Krediten auftraten, ächzen viele europäische
sprechen einzuhalten und Rücklagen fürs
Kreditnehmer bis heute unter einer hohen
9
Alter zu bilden. Der zunehmende Vertrauens­
verlust in die Geldpolitik der EZB spiegelt sich
im jahrelangen Rückgang des Eurobarometers
wider – einer regelmäßigen Umfrage der EUKommission, in der Europäer zu ihrer Meinung
zu verschiedenen Institutionen der EU befragt
werden (siehe Grafik 4). Aber nicht nur die
Skepsis gegenüber der Notenbank hat seit der
Finanzkrise zugenommen, sondern auch die
Unzufriedenheit mit der Europäischen Union
ist gestiegen. In den Augen vieler Europäer
war man in den vergangenen Jahren innerhalb
der EU wohl zu sehr damit beschäftigt, ge­
meinsam Probleme zu lösen, die man alleine
nicht hätte. Angefangen bei wirtschaftlichen
Herausforderungen, wie der Finanz- und
Staatsschuldenkrise, stellten zuletzt auch ge­
sellschaftspolitische Entwicklungen wie die
Flüchtlingswelle den Zusammenhalt der euro­
päischen Staatengemeinschaft auf eine harte
Probe. In diesem Sommer spitzte sich die
Lage so weit zu, dass sich erstmals – nach
Grönland im Jahr 1982 – wieder ein Land dazu
entschloss, die Europäische Union zu verlas­
sen. Da hiermit die weithin angenommene
Unumkehrbarkeit der europäischen Einigung
und das selbstgesteckte Ziel einer immer en­
geren Integration faktisch ausgehebelt wur­
den, ist die allgemeine Verunsicherung in Poli­
tik und Wirtschaft derzeit groß.
In Reaktion auf den Ausgang des Referen­
dums in Großbritannien senkten viele Öko­
nomen – unter anderem auch wir – zunächst
ihre Prognosen für das Wachstum im Verei­
nigten Königreich und im Euroraum. Viele Ex­
perten befürchteten, dass Turbulenzen an den
Kapitalmärkten die Finanzierungsbedingungen
für Staaten und Unternehmen so weit ver­
schlechtern würden, dass dies negativ auf die
Grafik 4: Angesichts zahlreicher Krisen ist das Vertrauen in europäische Institutionen zunehmend geschwunden
Antworten der Befragten in %
60
Frage: „Sagen Sie mir bitte für jede der folgenden Institutionen, ob
Sie ihr eher vertrauen oder eher nicht vertrauen. Wie ist es mit (…)?“
55
Antwort: „Eher vertrauen“
50
45
40
▲ -21
Europäische Zentralbank
35
▲ -24
Europäische Union
30
25
20
2007
2008
2009
2010
2011
Quellen: Eurobarometer, Umfragen der EU-Kommission, Metzler
2012
2013
2014
2015
2016
Stand: Mai 2016
10
Realwirtschaft ausstrahlen könnte. Glück­
licher­­weise haben sich solche Szenarien nicht
bewahrheitet. Ganz im Gegenteil: Mit Ausnah­
me des britischen Pfunds haben sich die
­Finanzmärkte als durchaus widerstandsfähig
erwiesen.
schränkungen dürfte Großbritannien deutlich
stärker leiden als Kontinentaleuropa. Denn ge­
messen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt,
beträgt der Anteil der Exporte, die von der EU
nach Großbritannien gehen, etwa 3,5 %, wäh­
rend die Briten umgekehrt ca. 12,0 % ihrer
Wirtschaftsleistung nach Kontinentaleuropa
Mit Blick auf die Realwirtschaft fällt selbst ein
verschiffen. Daher dürfte es nicht im Interesse
vorläufiges Urteil schwerer. Dies liegt vor
von Großbritanniens Industrie liegen, den Zu­
allem daran, dass erst wenig belastbare Wirt­
gang zum gemeinsamen Binnenmarkt zu ver­
schaftsdaten seit dem
lieren. Nichtsdestotrotz ist
Kurzfristige Effekte des Brexit-­­­­­
Referendum Ende Juni
– angesichts der jüngsten
Vo­tums auf Wirtschaft und Finanzveröffentlicht wurden.
politischen Verlautbarun­
märkte wurden überschätzt; lang­
Die bislang vorliegenden
gen aus Westminster
fristige Effekte sind stark vom
Stimmungs- und Kon­
und Brüssel – auch ein
Ergebnis der Austrittsverhandlungen solcher „Hard Brexit“ zum
junkturindikatoren signa­
Groß­britanniens abhängig.
lisieren jedoch, dass die
jetzigen Zeitpunkt keines­
unmittelbaren Effekte
wegs auszuschließen.
deutlich weniger schlimm ausgefallen sind als
zunächst angenommen. Die langfristigen öko­
Kurzfristig ist unser Konjunkturausblick für die
nomischen Folgen hängen allerdings stark
Eurozone allen politischen Unwägbarkeiten
vom Verlauf und Ergebnis der Austrittsver­
zum Trotz moderat positiv, auch angesichts
handlungen ab. Aus Sicht Großbritanniens
einer verbesserten Lage am europäischen Ar­
dürfte hier im Fokus stehen, die Zuwanderung
beitsmarkt. Seit 2013 hat sich die Arbeitslo­
zu begrenzen. Denn Umfragen zufolge war die
senquote um ca. 2 %-Punkte verringert (siehe
„Immigration“ einer der wichtigsten Beweg­
Grafik 5 auf Seite 11). Damit stehen gut 6 Mio.
gründe für den Austrittswunsch vieler Briten.
Menschen mehr in Lohn und Brot, wodurch
Eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizü­
sich das ­gesamtwirtschaftlich gezahlte Arbeit­
gigkeit wird die EU den Briten jedoch vermut­
nehmerentgelt entsprechend erhöht hat. Mit
lich nicht ohne weiteres zugestehen. Viel zu
zunehmen­der Kaufkraft der Bevölkerung zieht
groß wäre das Risiko, damit Begehrlichkeiten
üb­licher­weise auch die Nachfrage nach Kon­
auch bei anderen Staaten zu wecken. So ist
sumgütern an. Der wesentliche Pfeiler für den
im Gegenzug mit Einschränkungen beim Zu­
derzeitigen Aufschwung – die Binnennach­
gang zum gemeinsamen Binnenmarkt oder
frage – scheint also nach wie vor intakt zu
Begrenzungen beim Angebot von Finanz­
sein. Zusammen mit einer lockeren Geld­politik
dienstleistungen auf dem europäischen Fest­
und einer seit 2016 wieder leicht expansiven
land zu rechnen. Unter solchen Handelsbe­
Fiskalpolitik herrschen gute Rahmenbedin­
11
gungen dafür, dass sich die Konjunkturerho­
lung auch im Jahr 2017 fortsetzen wird.
Anders verhält es sich in Bezug auf die Verei­
nigten Staaten. Hier gibt es mittlerweile Stim­
men, die ein baldiges Ende des Konjunktur­
aufschwungs prophezeien und dabei häufig
darauf verweisen, dass der dortige Konjunktur­
aufschwung nun schon etwa sieben Jahre an­
dauere und damit eine Rezession doch schon
fast überfällig scheine. Empirische Untersu­
chungen zeigen jedoch, dass Konjunkturzyklen
nicht an Altersschwäche sterben. Es gibt kei­
nen statistisch signifikanten Zusammenhang
zwischen der Dauer eines Aufschwungs und
der Wahrscheinlichkeit, dass im folgenden
Monat eine Rezession einsetzt – zumindest
nicht für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Dennoch ist es natürlich legitim und auch
sinnvoll, die Frage zu stellen, ob es unabhän­
gig von der Länge eines Aufschwungs gute
Gründe gibt, die dafür sprechen, dass eine
­Rezession unmittelbar bevorsteht. Mit Blick in
den Rückspiegel lassen sich fünf typische
Konstellationen ausmachen, die einen Wirt­
schaftseinbruch einleiteten.
Erstens hat ein aggressives Straffen der Geld­
politik – mit dem Ziel, die Wirtschaft vor einer
Überhitzung zu schützen – in der Vergangen­
heit oft einem Konjunkturaufschwung „die
Luft abgeschnürt“. Derzeit gibt es jedoch
wenig Anzeichen für ausufernde Inflations­
raten. Vielmehr ermöglichen die bislang mo­
deraten Preissteigerungen einen langsamen
­Zinserhöhungszyklus. Ein leichter Anstieg der
Inflation, der aufgrund der Ölpreisentwicklung
durchaus plausibel erscheint (siehe Kapitel
„Anleihemärkte“), dürfte den derzeitigen Spiel­
raum der Notenbank zwar verkleinern, sie
Grafik 5: Die Binnennachfrage in der Eurozone bleibt dank sinkender Arbeitslosigkeit gut unterstützt
ggü. Vj. in %
3,5
3,0
Arbeitnehmerentgelt
Privater Konsum
Arbeitslosenquote in %
(invertiert)
9,5
10,0
2,5
10,5
2,0
11,0
1,5
11,5
1,0
12,0
0,5
12,5
0,0
2010
2011
Quellen: FactSet, Eurostat, Metzler
2012
2013
2014
2015
2016
Stand: Juni 2016 (privater Konsum, Arbeitnehmerentgelt); Juli 2016 (Arbeitslosenquote)
12
aber auf Sicht der kommenden Monate nicht
­jedoch im aktuellen Umfeld als Rezessions­
unmittelbar unter Zugzwang setzen. Zweitens
ursache aus, denn die US-Schiefergas­industrie
haben auch immer wieder Überinvestitionen
begrenzt den Anstieg der Energiepreise: So­
in einzelnen Sektoren Wirtschaftskrisen aus­
bald die Ölnotierungen auf ein ­Niveau steigen,
gelöst. Prominente Beispiele hierfür sind die
bei dem es für die Fracking-Unternehmen
Dotcom-Blase nach der Jahrtausendwende
wieder attraktiv wird zu produzieren, würden
oder die Überkapazi­
diese ihr Angebot ausweiten
Trotz eines voraussichtlich steigenden und damit den Preisanstieg
täten am US-Häuser­
markt im Jahr 2007. Im Lohndrucks drohen in den Vereinig- deckeln. Fünftens und letz­
ten Staaten (vorerst) keine Rezessiaktuellen Aufschwung
tens besteht ein wesent­
onsrisiken; vielmehr dürfte sich die liches Risiko in einem
ist jedoch von einem
Wirtschaft in nächster Zeit wieder
Investitionsboom keine
starken Lohnanstieg bei
beleben.
Spur. Der Anteil
gleichzeitig niedrigem
­privater Anlageinvesti­
­Produktivitätswachstum.
tionen am Bruttoinlandsprodukt liegt mit etwa
Eine solche Konstellation kann die Gewinn­
17 % derzeit noch unter den Niveaus von ca.
margen enorm belasten, falls die US-Unter­
19 %, die historisch betrachtet kurz vor Einset­
nehmen die steigenden Kosten nicht schnell
zen einer Rezession erreicht wurden. Drittens
genug oder nicht voll auf die Verbraucher ab­
können natürlich auch Entwicklungen in der
wälzen können. Derzeit entwickeln sich die
Außenwirtschaft eine Rezession auslösen. In
Löhne trotz zunehmender Knappheit am Ar­
den USA liegt der Anteil der Exporte am Brut­
beitsmarkt zwar noch nicht sehr dynamisch,
toinlandsprodukt jedoch mit nur etwa 13 %
was aber nicht darüber hinwegtäuschen
auf einem international äußerst niedrigen Ni­
sollte, dass Löhne dem Arbeitsmarkt hinter­
veau. Damit sind die Vereinigten Staaten weit
herlaufen und daher üblicherweise erst mit
weniger anfällig für externe Schocks als ande­
Verzögerung steigen. Solche Phänomene lie­
re Länder mit einem höheren Exportanteil.
ßen sich auch in vorherigen Konjunkturzyklen
Hinzu kommt, dass die globalen Konjunktur­
beobachten und sollten daher – auch im aktu­
risiken seit Jahresanfang merklich abgenom­
ellen Aufschwung – nicht unterschätzt wer­
men haben. So gelang es der chinesischen
den. Wir gehen davon aus, dass der Lohn­
Regierung, das Wachstum – zumindest vorü­
druck im kommenden Jahr stärker wird. An­
bergehend – zu stabilisieren, und auch die
gesichts des historisch hohen Margenniveaus
Konjunktur in den übrigen Schwellenländern
sollte es aber noch eine Zeit dauern, bis die
hat sich zuletzt nicht weiter eingetrübt. Vier­
höheren Kosten die Rentabilität so stark belas­
tens zeigen die Ölpreiskrisen von 1973 und
ten, dass Investitionskürzungen und Entlas­
1979, dass auch drastisch steigende Rohstoff­
sungen die Folge sind. Eine Rezession ist auf
preise Wirtschaftsverwerfungen auslösen
Sicht der kommenden Monate daher noch
können. Ein solches Szenario schließen wir
nicht zu erwarten. Vielmehr ist davon auszu­
13
gehen, dass es zunächst – vorbehaltlich eines
günstigen Ausgangs der am ­8. November an­
stehenden Präsidentschaftswahlen – zu einer
zyklischen Belebung kommt.
des Internationalen Währungsfonds zufolge
sollte sich dieser Trend jedoch nicht weiter
fortsetzen. Ganz im Gegenteil: Die Konjunktur
in den Schwellenländern dürfte schon bald
wieder Fahrt aufnehmen. Zwar bleiben länder­
Die Vereinigten Staaten sind zwar nach wie
spezifische Probleme (insbesondere im Hin­
vor ein sehr wichtiger Wirtschaftsraum, für
blick auf politische Unsicherheit) bestehen,
das globale Wachstum sind jedoch mittler­
insgesamt dürfte aber der wieder gestiegene
weile die Schwellenländer der Taktgeber. So
Ölpreis das Wirtschaftsumfeld für diese –
hängt das momentan hinter seinem
überwiegend rohstoffexportierenden – Länder
­historischen Durchschnitt
verbessert haben. Man­
Konjunktur in den Schwellenländern cherorts hat sich das
zurückbleibende Welt­
wirtschaftswachstum we­ dürfte schon bald Fahrt aufnehmen
Wachstum auch durch
sentlich damit zusammen, und damit den Wachstumsvorsprung
umfangreiche Interven­
gegenüber den Industriestaaten
dass die Dynamik in den
tionen des Staates sta­­wieder vergrößern.
Emerging Markets seit
bi­lisiert.
2010 kontinuierlich nach­
gelassen hat (siehe Grafik 6). Damit hat sich
So war es zum Beispiel in China. Hier versucht
auch der traditionelle Wachstumsvorsprung
die Regierung, unter anderem mithilfe mas­
der Schwellenländer gegenüber den Industrie­
siver Investitionen die Wirt­schaft zu stützen.
staaten immer mehr verkleinert. Prognosen
Damit greift sie auf ­„altbewährte“ Methoden
Grafik 6: Das Wachstum der Schwellenländer nimmt langsam wieder Fahrt auf
Bruttoinlandsprodukt ggü. Vj. in %
10
8
Schwellenländer
6
Industrieländer
4
Wachstumsvorsprung
2
0
-2
-4
1995
2000
2005
2010
Quellen: Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) ab 2016, Metzler
2015
2020
Stand: Oktober 2016
14
zurück. Denn auch während der Finanzkrise
wies die Regierung Staatsunternehmen an, in
großem Umfang kreditfinanzierte Investitionen
zu tätigen (siehe Grafik 7). Das damit einher­
gehende Kreditwachstum der vergangenen
Jahre ist beträchtlich. Mittlerweile beläuft sich
der ­Kreditbestand im Unternehmenssektor
(inkl. Staatsbetriebe) auf knapp 170 % des
Bruttoinlands­produkts. Scheinbar ist die Re­
gierung also bereit, für eine kurzfristig sich
stabilisierende Konjunktur in Kauf zu nehmen,
dass sich die fundamentalen Ungleichge­
wichte verschärfen. Dies hat zwar unter den
internationalen Investoren für Erleichterung
hinsichtlich des kurz- bis mittelfristigen Aus­
blicks für Chinas Wirtschaft gesorgt, stimmt
jedoch durchaus nachdenklich für die Zukunft.
Grafik 7: Die chinesische Regierung versucht, mit Staatsinvestitionen das Wachstum zu stabilisieren
Seit Jahresanfang ggü. Vj. in %
45
24
40
22
20
35
18
30
16
25
14
20
12
10
15
8
10
6
5
4
2007
2008
Quellen: FactSet, Metzler
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
Stand: September 2016
Staatsinvestitionen
Nominales
Bruttoinlandsprodukt
15
Anleihemärkte: Deflation war gestern
Kapital in negativ verzinsten Anlageformen zu
binden bedeutet nichts anderes, als Vermögen
wissentlich zu entwerten. Heute wird der mit
Negativzinsen einhergehende Kapitalverlust
manchmal als Preis für Sicherheit bezeichnet.
Wir können uns mit diesem Gedanken trotz­
dem nur schwer anfreunden. Vielleicht ist un­
sere Geisteshaltung diesbezüglich altmodisch,
aber die Idee, jemanden dafür zu bezahlen,
dass man ihm Geld leiht, scheint uns schlicht­
weg kein nachhaltiges Geschäftsmodell zu
sein. Trotzdem hat sich das Konzept des Ne­
gativzinses in den vergangenen Jahren immer
stärker verbreitet. Ausgangspunkt für diese
Entwicklung war die Europäische Zentralbank,
die ihren Leitzins das erste Mal im Juni 2014
ins Minus senkte. Keine andere Notenbank auf
der Welt hat jemals länger mit Negativzinsen
experimentiert. Man könnte nun meinen, dass
– wenn die EZB die erste Zentralbank war und
weitere gefolgt sind – die innovative Geldpoli­
tik einigermaßen erfolgreich sein muss.
­Tatsächlich aber haben andere europäische
­Notenbanken der EZB weniger aufgrund ihres
Erfolgs nachgeeifert, sondern vielmehr aus
Zwang. Denn wenn die EZB als größte Zen­
tralbank Europas mittels Negativzinsen ver­
sucht, über einen schwächeren Euro Inflation
zu erzeugen, dann dürfen sich die Nachbar­
länder über einen Zustrom an Kapital freuen –
inklusive einer Aufwertung ihrer Währung.
Wenn die Nachbarländer aber ohnehin schon
starke Währungen haben oder selbst versu­
chen, Inflation zu erzeugen, dann bleibt ihnen
nur, die Bedingungen für die Anleger noch
unattraktiver zu gestalten. Insofern überrascht
es nicht, dass – wie Grafik 8 zeigt – die Zinsen
in Dänemark, Schweden und der Schweiz
noch erheblich tiefer liegen als im Euro-Wäh­
rungsgebiet. Die EZB-Politik spielt somit eine
entscheidende Rolle für das niedrige Zinsni­
veau am gesamten europäischen Geldmarkt.
Grafik 8: Die neue Wirklichkeit – Immer mehr Zentralbanken mit negativen Leitzinsen
Einlagensatz in %
-0,10
-0,40
-0,65
-0,75
-1,25
Japan
Quellen: FactSet, Metzler
Eurozone
Dänemark
Schweiz
Schweden
Stand: Oktober 2016
16
Allerdings hieße es, die Sicht auf die Geldpoli­
tik stark zu verkürzen, wollte man die EZB
auch zur Hauptverantwortlichen für den Ver­
fall der Langfristzinsen machen. In den ver­
gangenen Jahren haben sich viele Kapital­
marktteilnehmer daran gewöhnt, auf die
Macht der Zentralbanken zu vertrauen. Wenn
Mario Draghi oder Janet Yellen vor die Presse
treten, wird jedes Wort auf die Goldwaage ge­
legt und auf mögliche Andeutungen hin analy­
siert. Da die Notenbanken zudem unbegrenzt
Geld schöpfen können, herrscht heute oftmals
der Eindruck vor, dass sie das wirtschaftliche
Schicksal ganzer Kontinente in ihren Händen
halten. ­Jedoch wird dabei vergessen, dass
vollständige Kontroll- und Steuerungsmöglich­
keiten immer eine Illusion sind. Insofern ist es
auch ein Mythos, dass die langfristigen Zinsen
heute nur deshalb so niedrig sind, weil die
Zentralbanken über ihre Anleihekaufpro­
gramme die Renditen nach unten drücken.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Irving Fisher,
ein bekannter US-amerikanischer Ökonom,
postulierte bereits vor Jahrzehnten, dass der
Nominalzins in etwa der Summe aus erwar­
teter Inflationsrate und Realzins entsprechen
muss. Wie oftmals in der Ökonomie ist dieser
theoretische Zusammenhang praktisch nicht
direkt zu beobachten, da die Messkonzepte
für Inflationserwartungen und Realzins variie­
ren. Allerdings ließe sich die erwartete Inflati­
on durch die tatsächliche ersetzen und der
reale Zins über das tatsächliche Wirtschafts­
wachstum näherungsweise bestimmen. Da­
raus ergäbe sich ein implizites Zinsniveau, das
in etwa dem vorherrschenden Nominalzins
entsprechen sollte. Grafik 9 verdeutlicht am
Beispiel Deutschlands, dass es tatsächlich
Grafik 9: Der Renditerückgang in Deutschland – Auch fundamentale Gründe spielen eine Rolle
Wirtschaftswachstum*, Inflation und Rendite 10-jähriger Bundesanleihen in %
12
10
8
6
4
2
Inflationsrate
0
+ Wirtschaftswachstum
-2
≈ Bundesanleiherendite
-4
-6
1972
1976
1980
1984
1988
* Von 1972 bis 1991 früheres Bundesgebiet
Quellen: FactSet, Statistisches Bundesamt, Metzler 1992
1996
2000
2004
2008
2012
Stand: 2015
17
grenzt, woraus sich schließen lässt, dass die
Machtfülle der EZB eher in den Köpfen der
Marktteilnehmer existiert als in Realität.
einen empirischen Zusammenhang zwischen
Inflation und Wirtschaftswachstum auf der
einen Seite und der Rendite von Bundesan­
leihen auf der anderen Seite gibt. Je niedriger
die Steigerungsraten bei Preisen und Brutto­
inlandsprodukt ausfallen, umso niedriger ist
das Zinsniveau. Etwa die Hälfte der Schwan­
kungsbreite des Nominalzinses lässt sich allein
durch Inflation und Wirtschaftswachstum er­
klären. Daher stellt sich die Frage, wie stark
der Einfluss der Notenbank auf das langfris­
tige Zinsniveau überhaupt ist. Wir kommen
mit unseren Modellen zu dem Schluss, dass
die Abweichung der tatsächlichen Bundesan­
leiherendite vom impliziten Zinsniveau seit An­
fang der 1970er-Jahre nur zu etwa 20 % durch
geldpolitische Instrumente erklärt werden
kann. Damit scheint der direkte Einfluss der
Notenbank auf die Langfristzinsen relativ be­
Vielen Renteninvestoren droht ein böses Erwachen
bei einem Anstieg der langfristigen Zinsen
Für viele Investoren dürfte es deshalb ein
böses Erwachsen geben, wenn die langfris­
tigen Zinsen trotz expansiver Geldpolitik eines
Tages wieder steigen. Dieses böse Erwachen
droht deshalb, weil in den vergangenen Jah­
ren immer mehr Anleiheemittenten das güns­
tige Refinanzierungsumfeld dazu genutzt
haben, um Papiere mit längerer Laufzeit und
geringeren Coupons zu begeben. Dadurch hat
sich die durchschnittliche Restlaufzeit – und
damit auch das Zinsänderungsrisiko – in vielen
Rentenportfolios deutlich erhöht. Wie groß
dieses Risiko heute ist, lässt sich über die so­
Grafik 10: Die Gefahr im Rentenportfolio – Das Zinsänderungsrisiko steigt und steigt
Modifizierte Duration europäischer Anleihesegmente*
7,5
Staatsanleihen
7,0
6,5
Industrieanleihen
6,0
5,5
5,0
Finanzwerte
4,5
4,0
3,5
3,0
2006
2008
2010
2012
2014
2016
* Auf Basis der jeweiligen Barclays-Euro-Aggregate-Indizes. Industrieanleihen und Finanzwerte der Ratingklasse A.
Quellen: FactSet, Metzler
Stand: September 2016
18
genannte modifizierte Duration bestimmen.
trieländern versuchen bekanntlich seit einigen
Mit diesem Risikomaß kann quantifiziert
Jahren verzweifelt, die Inflation „wiederzu­
­werden, mit welchen Kursverlusten Anleihe­
beleben“, und rechtfertigen ihre lockere Geld­
inves­toren zu rechnen haben, falls der Zins am
politik mit vermeintlichen Deflationsgefahren.
Rentenmarkt um 1 %-Punkt steigen sollte. In
Rein semantisch ist es zwar korrekt, dass
Grafik 10 auf Seite 17 lässt sich klar erkennen,
auch schon eine geringe negative Inflations­
dass das Zinsänderungsrisiko in allen Anleihe­
rate eine Deflation darstellt, faktisch liegen
segmenten seit 2012 deutlich gestiegen ist:
neben marginalen Preisrückgängen (wie sie
bei Staatsanleihen um 30 % und bei Industriebis vor kurzem in der Eurozone oder den USA
und Finanzanleihen sogar um 50 %. Konkret
zu beobachten waren) und einer wirklichen
beläuft sich die modifizierte Duration der Pa­
Deflation (wie in den 1930er-Jahren) aber
piere staatlicher Emittenten aktuell auf etwa
Welten. In den Jahren nach der Lehman-Krise
7,5. Dies bedeutet, dass
gab es keine eindeutigen
Zinsänderungsrisiko ist seit 2012
ein Anstieg des Markt­
empirischen Hinweise da­
in allen Anleihesegmenten deutlich rauf, dass eine sich selbst
zinses um nur 1 %-Punkt
­gestiegen; davon betroffen wären
einen Kursverlust von
verstärkende Abwärtsspira­
vor allem Rentenportfolios mit einer le in Gang kommt, in der
7,5 % nach sich ziehen
re­lativ hohen durchschnittlichen
würde. Ein solcher Ver­
sich die Menschen in der
Restlaufzeit.
lust lässt sich selbst bei
Erwartung auf fallende Prei­
dem neuen und höheren
se mit Konsum- oder Inves­
Marktzins erst nach über sechs Jahren aus­
titionsentscheidungen zurückhalten. Die tat­
gleichen. Eine hohe Duration ist für Anleihe­
sächlichen Gründe für den Inflationsrückgang
portfolios somit ein erhebliches Risiko – insbe­
waren temporär und am Rohstoffmarkt zu su­
sondere dann, wenn die Duration nicht aktiv
chen. Wenn der Ölpreis sich in den kommen­
gemanagt wird. Deshalb halten wir die durch­
den Monaten aber zwischen 40 und 50 USD
schnittliche Duration in den von uns verwal­
pro Barrel halten sollte, dann wird die Inflation
teten Anleiheportfolios deutlich kürzer als der
in der Eurozone bereits Anfang 2017 wieder in
oben skizzierte Marktdurchschnitt.
Richtung 1,5 % steigen (siehe Grafik 11 auf
Seite 19). Die Finanzmarktteilnehmer verken­
Diese Positionierung resultiert natürlich aus
nen diesen voraussichtlichen Inflationsanstieg
der Erwartung, dass die jahrzehntelange
derzeit noch und rechnen bis ins Frühjahr
Hausse am Anleihemarkt bald zu einem Ende
2018 hinein nur mit einer durchschnittlichen
kommen wird. Wenngleich wir nicht von
Preissteigerung von 0,4 % p. a. Damit laufen
einem rapiden Anstieg des Zinsniveaus ausge­
viele Investoren Gefahr, dass die reale Verzin­
hen, spricht unseres Erachtens vor allem der
sung ihrer Kapitalanlage erheblich geringer
Inflationsausblick für allmählich wieder stei­
ausfällt als ursprünglich vermutet. Dem Risiko
gende Sätze. Die Zentralbanken in den Indus­
eines realen Kaufkraftverlusts lässt sich aller­
19
schützter deutscher Bundesanleihen gegen­
dings mit inflationsindexierten Anleihen be­
über ihren konventionellen Pendants bis An­
gegnen. Dieser Anleihetyp – der auch Linker
fang 2018 etwa 1,2 %genannt wird und bei dem
Schattendasein von inflations­ Punkte p. a. betragen. Dies
sowohl Coupon als auch
indexierten Anleihen im aktumag nicht üppig erschei­
Rückzahlungsbetrag an die
ellen Umfeld umso unbegreifnen, ist unseres Erachtens
Entwicklung der offiziellen
licher, als Anleger gerade mit
aber eine der besten Mög­
Inflationsrate gebunden sind
diesen Papieren das Risiko
lichkeiten, sich vor einer
– fristet im Bewusstsein
eines realen Kaufkraftverlusts
drohenden Geldentwertung
­vieler Anleger eher ein
minimieren könnten.
am Anleihemarkt zu schüt­
Schattendasein. Er spielt
zen, ohne unverhältnis­
seine Stärken aber genau
mäßig hohe Bonitäts- oder Währungsrisiken
dann aus, wenn (wie derzeit) zu befürchten
eingehen zu müssen.
steht, dass die zukünftigen Preiszuwächse un­
terschätzt werden. Unsere Anleiheportfolios
zeichnen sich vor diesem Hintergrund durch
einen ­signifikanten Bestandteil an inflationsin­
dexierten Anlagen aus. Gemäß unseren Pro­
jektionen zur zukünftigen Preisentwicklung
dürfte der reale Renditevorteil inflationsge­
Grafik 11: Keine Angst vor Deflation – Die Preise werden schon bald wieder stärker steigen
Konsumentenpreisindizes* in % ggü. Vj.
4
Prognose
3
USA
2
Großbritannien
Eurozone
1
Japan
0
-1
-2
1/2014
7/2014
1/2015
7/2015
1/2016
7/2016
1/2017
7/2017
* Prognosen unter der Annahme konstanter Kerninflationsraten; Energiepreisentwicklung gemäß Futurepreisen in lokaler Währung
Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler
Stand: August 2016 (JP), September 2016 (USA, GB, EWU)
20
Aktienmärkte: Auf der Suche nach dem Kompass
„Sei ängstlich, wenn andere gierig sind – und
sei gierig, wenn andere ängstlich sind.“ So
­lautet einer der bekanntesten Sätze Warren
Buffetts. Das Bonmot beschreibt zugleich die
Kernidee des Value-Investing: Kommt es am
Aktienmarkt zu Phasen der Euphorie, gilt es,
„teure“ Unternehmen zu meiden, während bei
allgemeiner Panik hingegen „günstige“ Werte
gekauft werden sollten. Soweit zumindest die
Theorie. Doch woher weiß man nun, ob eine
Aktie tatsächlich günstig oder doch eher teuer
ist? Die Antwort auf diese Frage ist nicht trivi­
al, da klassische Indikatoren der Aktienmarkt­
bewertung heute gegensätzliche Signale sen­
den. In Europa liegt beispielsweise das traditio­
nelle Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), das den
Aktienkurs eines Unternehmens ins Verhältnis
zu den Gewinnen in den vergangenen zwölf
Monaten setzt, aktuell bei etwa 20. Wie Grafik
12 zeigt, liegt der Multiplikator damit im teu­
ersten Bewertungsquintil seit 1972. Dies be­
deutet, dass der Aktienmarkt früher in mindes­
tens 80 % der Fälle günstiger bewertet war ­
als derzeit. Das ist keine sehr ermutigende Er­
kenntnis und trägt sicherlich nicht zu dem
­Verlangen bei, sich heute am Aktienmarkt zu
engagieren. Aber die KGV-Betrachtung ist eben
nur eine mögliche Sichtweise. Schaut man auf
einen zweiten klassischen Bewertungsindikator
– die sogenannte Risikoprämie – dann ergibt
sich ein ganz anderes Bild. Die Risikoprämie ist
definiert als die Mehrrendite von Aktien gegen­
über Anleihen und lag in Europa zuletzt bei
4,9 %-Punkten. Grafik 12 zeigt, dass ein sol­
cher Renditeaufschlag historisch betrachtet
sehr hoch ist und Aktien damit außerordentlich
günstig sind. Was also sollen Anleger ange­
sichts solch gegensätzlicher Analyseergebnisse
nun tun?
Grafik 12: Europäische Aktien – Klassische Bewertung auf Gewinnbasis liefert gegensätzliche Signale
Kurs-Gewinn-Verhältnis*
Risikoprämie* in %-Punkten
35
12
30
10
25
8
Günstig
6
20
4
15
2
10
0
5
-2
0
-4
1972
1982
1992
2002
2012
Teuer
1972
1982
1992
2002
2012
* Auf Basis der Gewinne in den vergangenen 12 Monaten. Risikoprämie = Gewinnrendite abzgl. Rendite zehnjähriger deutscher Bundesanleihen. Einstufung als „teuer“ oder „günstig“ auf Basis der Ergebnisse des ersten bzw. fünften Bewertungsquintils zum jeweiligen Zeitpunkt
Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler
Stand: September 2016
21
des Kurs-Buchwert-Verhältnisses zu betrach­
In einer Situation wie heute, in der es faktisch
ten. Demnach wären US-Aktien mit einem KBV
keine Asset-Klasse mehr gibt, deren Bewer­
von 2,9 heute relativ teuer und japanische Un­
tung nicht durch die Geldpolitik der Noten­
ternehmen mit einem Wert von 1,2 entspre­
banken verzerrt ist, erscheint es unseres
chend günstig. Grafik 13
Erachtens sinnvoll, eine kon­
Da auch die Gewinnbewertung
zeigt, dass das Kurs-Buch­
struktive Aktienmarktein­
von Aktien durch die Geldpolitik wert-Verhältnis für japani­
schätzung auch anhand von
der Notenbanken verzerrt ist,
sche Aktien in den vergan­
Indikatoren zu prüfen, die
sollten zudem Bilanzkennziffern genen Jahren zeitweise
weniger stark vom Zins­
niveau abhängen. Hier bietet der Unternehmen unter die Lupe sogar unter 1 lag. Normaler­
genommen werden.
weise kaufen Anleger eine
sich die sogenannte Sub­
Aktie mit einem Kurs-Buch­
stanzbewertung an. Bei die­
wert-Verhältnis von weniger als 1 aber nicht,
sem Ansatz stehen nicht die Erträge im Vor­
um das Unternehmen zu zerschlagen und die
dergrund der Analyse, sondern vor allem
Vermögenswerte einzeln zu verkaufen. Anleger
­Bilanzgrößen. Der bekannteste Indikator ist si­
kaufen eine Aktie vielmehr in der Hoffnung,
cherlich das Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV),
dass das Management eine angemessene Ren­
bei dem der Aktienkurs eines Unternehmens
dite auf das eingesetzte Eigenkapital erwirt­
ins Verhältnis zum bilanziellen Eigenkapital ge­
schaften wird. Insofern sollte bei der Substanz­
setzt wird. Dabei wird bei solchen Vergleichen
wertanalyse auch die Eigenkapitalrendite be­
oft der Fehler gemacht, nur die absolute Höhe
Grafik 13: Regionale Aktienmärkte – Bei der Bewertung auf Eigenkapitalbasis auch die Rentabilität berücksichtigen
Kurs-Buchwert-Verhältnis
7
Eigenkapitalrendite in %
25
6
20
5
15
4
10
3
5
2
0
1
-5
0
USA
Europa
Japan
Emerging Markets
-10
1995
2000
2005
2010
Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler
2015
1995
2000
2005
2010
2015
Stand: September 2016
22
trachtet werden. In Grafik 13 auf Seite 21 lässt
sich deutlich erkennen, dass japanische Aktien
nicht nur das geringste Kurs-Buchwert-Verhält­
nis, sondern auch die geringste Eigenkapital­
rendite aufweisen und deshalb nur scheinbar
günstig sind. Die dort erzielbare Rendite auf
das eingesetzte Kapital ist schlichtweg deut­
lich geringer als in den USA. Deshalb sind In­
vestoren aus guten Gründen nicht bereit, so
viel für japanische ­Aktien zu bezahlen wie für
US-Titel.
Zukünftige Eigenkapitalrendite und Dividendenwachstum entscheidend für die Bewertung
Mindestens genauso interessant wie das Ni­
veau ist der Trend der Eigenkapitalrenditen in
den vergangenen Jahren. Grafik 13 auf Seite
21 zeigt auch, dass die Rentabilität in den
USA, Europa und den Emerging Markets seit
vier Jahren abgenommen hat, während sie in
Japan deutlich gestiegen ist. Daraus ließe sich
ja schließen, dass Japans Börsengesellschaf­
ten mittlerweile vielleicht doch auf dem rich­
tigen Weg sind. Grundsätzlich ist zunächst
festzuhalten, dass die japanischen Unterneh­
men – genauso wie Firmen in Europa oder den
USA – in den vergangenen Jahren unter einer
relativ geringen Kapitalumschlaghäufigkeit ge­
litten haben. Das heißt, das Management
konnte das im Unternehmen eingesetzte Kapi­
tal nicht so intensiv nutzen wie in normalen
Zeiten. Mit anderen Worten: Die Kapazitäten
waren nicht ausgelastet. Die japanische Noten­
bank wirkte diesem Effekt jedoch mit einer
fragwürdigen Strategie entgegen, einer drama­
tischen Schwächung der eigenen Währung.
Zwischen 2012 und 2015 verlor der japanische
Yen aufgrund der massiven Eingriffe der Bank
of Japan auf handelsgewichteter Basis unge­
fähr 35 % an Wert, wodurch die operativen
Gewinnmargen japanischer Unternehmen
deutlich stiegen und sich damit auch ihre
Eigen­kapitalrenditen erhöhten. Allerdings lässt
sich eine solche Strategie natürlich nicht ewig
fortsetzen. Die japanische Notenbank musste
dieses Jahr – trotz einer nach wie vor expansiv
ausgerichteten Geldpolitik – hilflos mitanse­
hen, wie der Yen immer stärker wurde. Inso­
fern wäre es falsch, den aktuell positiven Trend
bei den Eigenkapitalrenditen in die Zukunft zu
extrapolieren. Uns erscheint es realistischer,
dass die zukünftige Rentabilität japanischer
Unternehmen im langjährigen Durchschnitt
­liegen wird. Wir kalkulieren deshalb mit der
mittleren Eigenkapitalrendite der vergangenen
Jahrzehnte und ziehen außerdem beim Ver­
gleich der Attraktivität der verschiedenen Ak­
tienmärkte Unterschiede beim Dividenden­
wachstum mit in Betracht, weil davon auszu­
gehen ist, dass Investoren grundsätzlich einen
höheren Preis für eine Aktie bezahlen, wenn
diese hohe laufende Ausschüttungen ver­
spricht. Erst nach Auswertung aller relevanten
Bewertungsparameter – also das aktuelle
Kurs-Buchwert-Verhältnis sowie die historische
Eigenkapitalrendite und das Dividendenwachs­
tum – lässt sich folgende Frage beantworten:
Welche implizite Rendite ist zu erwarten, wenn
beispielsweise US-amerikanische Aktien zum
aktuellen Kurs-Buchwert-Verhältnis von 2,9 ge­
kauft werden und diese dann für die Haltedau­
er eine Eigenkapitalrendite und ein Dividen­
denwachstum im historischen Durchschnitt
versprechen? Die Antwort auf diese Frage
23
zeigt Grafik 14. Die am Aktienmarkt einge­
preiste implizite jährliche Rendite liegt bei USAktien heute bei 8,5 %. Dies mag zunächst
viel erscheinen, ist jedoch weniger als in den
Emerging Markets oder Europa und liegt au­
ßerdem auch unter der seit den 1970er-Jahren
mit US-Aktien erzielten Rendite. Unter Sub­
stanzwertgesichtspunkten sind US-Aktien
damit sowohl im internationalen Vergleich als
auch relativ zu ihrer eigenen Historie teuer.
­Japanische Unternehmen hingegen scheinen –
zumindest gegenüber ihrer Historie – fair be­
wertet zu sein, während Dividendentitel aus
Europa und den Emerging Markets noch Be­
wertungsspielräume haben. Das relativ hohe
Bewertungsniveau von US-Aktien muss aber
nicht das Ende der jahrelangen Hausse am
US-amerikanischen Aktienmarkt bedeuten. Die
Erfahrung lehrt uns, dass teure Börsen oftmals
noch teurer werden. Wir halten es jedoch für
unklug, dieses nüchterne Analyseergebnis zu
ignorieren und die Investment-Strategie nur
von aktuellen Trendüberlegungen abhängig zu
machen. Entsprechend sind wir in unseren
Portfolios übergewichtet in relativ günstigen
Aktien aus den Emerging Markets und Europa.
Wir halten diese regionale Übergewichtung für
angebracht, obwohl die politische Agenda in
Europa vollgespickt ist mit Themen, die für er­
hebliche Unsicherheit sorgen können. Hierzu
zählen, um nur ein paar zu nennen, die lang­
fristigen Folgen des Migrationsdrucks und des
Brexit-Votums, der politische Erfolg links- und
rechtspopulistischer Parteien oder das bevor­
stehende Verfassungsreferendum in Italien. All
diese hochbrisanten Themen schüren gewisse
Ängste, wobei aber nicht zu vergessen ist,
dass Anleger oftmals das Gefühl haben, in
­außergewöhnlichen Zeiten zu leben. Aktuelle
Krisen werden deshalb meist als bedrohlicher
wahrgenommen als vergangene. Wir denken
Grafik 14: Bewertung auf Eigenkapitalbasis zeigt – Europäische und Emerging-Markets-Aktien sind derzeit günstig
Renditen und Dividendenwachstum in % p. a.
Eigenkapital­rendite
Kurs-Buchwert
Dividenden­
wachstum
Implizite
Rendite*
Historische
Rendite
Bewertung
USA
14,2
2,9
5,5
8,5
<
9,0
Teuer
Europa
11,9
1,7
5,8
9,3
>
8,8
Günstig
Emerging Markets
12,1
1,5
7,2
10,4
>
10,1
Günstig
6,6
1,2
3,2
5,9
=
5,9
Japan
Fair
* Implizite Rendite auf Basis des Gordon-Growth-Modells; für Eigenkapitalrendite, Dividendenwachstum und historische Rendite langfristige Durchschnittswerte
Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler
Stand: September 2016
24
jedoch nicht, dass die politische Lage heute
wirklich viel beunruhigender ist als zu Zeiten
der Kuba-Krise oder des Kalten Kriegs. Der
­Aktienmarkt hat selbst epochale politische
Umbrüche immer schnell verdaut. Das jüngste
Beispiel dafür waren die nur kurzfristig spür­
baren Marktturbulenzen nach dem Brexit-­
Votum. Wann solche Schwankungen zutage
treten, lässt sich im Vorhinein nicht immer
sagen. Das durchschnittliche Verlaufsmuster
der Volatilität am deutschen Aktienmarkt seit
1992 lässt eigentlich vermuten, dass der Jah­
resanfang an den Börsen nicht sehr turbulent
verläuft, dafür aber die Monate August bis Ok­
tober (siehe Grafik 15). In diesem Jahr verhielt
es sich allerdings genau umgekehrt. Insofern
gibt es leider keine Regelmäßigkeiten, die vor
Börsenturbulenzen warnen; Schocks treten per
definitionem unerwartet auf. Ein stringenter
­Investmentprozess und eine umfassende fun­
damentale Analyse können aber trotzdem hel­
fen, das Risiko zu minimieren, überteuerte
­Aktien zu erwerben. Zwischenzeitliche Kurs­
schwankungen sollten also als Chance ge­
sehen werden, dass – um bei Warren Buffett
zu bleiben – „solide Unternehmen ab und an
zu guten ­Preisen zu haben sind“.
Grafik 15: Ein atypischer Jahresverlauf – Seit Anfang 2016 hat die Volatilität deutscher Aktien den Rückwärtsgang eingelegt
Absolute Änderung des VDAX im Jahresverlauf (geglättet) in Indexpunkten
8
Brexit
6
4
2
0
1992–2015
(Durchschnitt)
-2
2016
-4
Jan
Feb
Mrz
Apr
Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler Mai
Jun
Jul
Aug
Sep
Okt
Nov
Dez
Stand: September 2016
25
26
Impressum
Herausgeber
Bildnachweis
B. Metzler seel. Sohn & Co.
Kommanditgesellschaft auf Aktien
Private Banking
Untermainanlage 1
60329 Frankfurt am Main
Titel, S. 3: © Ulrich Kolb / www.fotolia.com
S. 5: © ra2 studio / www.fotolia.com
S. 6: © Tobias Arhelger / www.fotolia.com
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S. 17: © Eisenhans / www.fotolia.com
S. 21: © ipopba / www.fotolia.com
S. 24: © weseetheworld / www.fotolia.com
Redaktion
Gerald Pucher
Carolin Schulze Palstring
Timo Schwietering
Gestaltung und Satz
Susanne Großholz
Ilonka Ritter
Heike Stark
Erscheinungsort
Frankfurt am Main
Redaktionsschluss
31. Oktober 2016
27
Grundsätzliche Hinweise
Dieser Bericht ist von B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA („Metzler“) erstellt worden und enthält Informationen, die aus öffentlichen Quellen stammen,
die wir für verlässlich halten. Wir übernehmen jedoch weder eine Garantie für die Richtigkeit dieser Informationen, noch stellt dieser Bericht eine voll­
ständige Darstellung oder Zusammenfassung der Märkte oder Entwicklun­gen dar.
Die in diesem Bericht enthaltenen Meinungen, Vorhersagen, Schätzungen und Prognosen unterliegen unangekündigten Änderungen. Metzler ist nicht
verpflichtet, diesen Bericht abzuändern, zu ergänzen oder auf den neuesten Stand zu bringen oder die Empfänger in anderer Weise darüber zu informieren,
dass sich die im Bericht wiedergegebenen Umstände, Meinungen, Vorhersagen, Schätzungen oder Prognosen verändert oder später als falsch, unvollständig oder irreführend erwiesen haben. Dieser Bericht dient ausschließlich der Information. Er ist nicht auf die speziellen Investmentziele, Finanz­situationen
oder Bedürfnisse der Empfänger ausgerichtet. Bevor ein Empfänger auf Grund­lage der in diesem Bericht enthaltenen Informationen oder Empfehlungen
handelt, sollte er abwägen, ob diese Entscheidung für seine persönlichen Umstände passend ist, und sollte folglich seine eigenständigen Investment­
entscheidungen gemäß seiner spezifischen Finanz­situation und seinen Investmentzielen treffen.
Dieser Bericht ist keinerlei Angebot oder Aufforderung zum Kauf oder Verkauf von Finanzinstrumenten – und auch nicht Teil eines/einer solchen. Der Bericht oder Teile des Berichts ist/sind keine Grundlage für irgendeine Art von Vertrag oder Verpflichtung. Weder Metzler noch die Autoren haften für diesen
Bericht oder die Verwendung seiner Inhalte. Die Empfänger müssen bedenken, dass Performancedaten der Vergangenheit nicht als Indikation für die
zukünftige Performance angesehen werden können und daher nicht als Entscheidungsgrundlage für Investitionen in Finanzinstrumente herangezogen
werden soll­ten. Eventuelle Erträge aus Investitionen unterliegen Schwankun­gen; Preise oder Werte von Finanzinstrumenten, die in diesem Bericht be­
schrieben werden, können steigen oder fallen.
Ohne vorherige schriftliche Zustimmung von Metzler darf/dürfen dieser Bericht oder Teile davon nicht kopiert, vervielfältigt oder verteilt werden. Mit der
Entgegennahme dieses Berichts erklären Sie sich mit den vorhergehenden Bestimmungen einverstanden.
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