Unabhängig seit 1674 Europa zwischen Wunsch und Wirklichkeit – Von niedrigen Zinsen und hohen Risiken Investment-Strategie Metzler Private Banking November 2016 Inhalt Editorial 3 Konjunktur: Wachstum trotz politischer Unwägbarkeiten 4 Anleihemärkte: Deflation war gestern 15 Aktienmärkte: Auf der Suche nach dem Kompass 20 3 Editorial: Europa zwischen Wunsch und Wirklichkeit – Von niedrigen Zinsen und hohen Risiken Europa ist in einem beklagenswerten Zustand. Grundlegende abendländische Überzeugungen und Werte wie Freiheit, Demokratie und Rechts­­staatlichkeit werden zunehmend infrage gestellt durch Migrationsdruck, religiösen ­Fundamentalismus und ein Erstarken nationa­ ler Egoismen. Sogar die Worte Chaos und Exis­tenzkrise machen die Runde. Europäische Institutionen sind dadurch so sehr in Miss­ kredit geraten, dass nunmehr auch der erste formale Bruch eines Landes mit Europa bevor­ steht: Die Briten haben der Europäischen Union (EU) den Rücken gekehrt und für den Austritt gestimmt. Es bedarf also keiner dra­ matischen Formulierungen, um das Offen­ sichtliche festzustellen: In der Wahrnehmung vieler Menschen wiegen die verbindenden Ele­ mente in Europa inzwischen weit weniger als die trennenden. Dass die EU und der Brüsseler Zentralismus aber oftmals nur als Blitzableiter für nationale Herausforderungen herhalten müssen, wird allzu gern vergessen. Immer mehr Politiker ver­suchen, ihren Wählern ein­ fache Antworten ­­auf komplexe Fragen zu geben. Dabei zählen ­Meinungen mehr als Tat­ sachen. In dieser postfaktischen Welt werden die Verfehlungen der Politik Dritten angelastet und nicht durch beherzte Strukturreformen korrigiert. Die politische Paralyse führt jedoch dazu, dass der einzig handlungswillige Akteur – die Europäische Zentralbank (EZB) – bis heute nicht aus ihrer Verantwortung als Kredit­ geber der letzten Instanz entlassen werden konnte. Die EZB stemmt sich nach wie vor mit Verve gegen Strukturprobleme außerhalb ihres Einflussbereichs und trägt damit zu erheb­ lichen Verzerrungen an den Kapitalmärkten bei. Der Preis für Geld ist ins Negative ge­ rutscht und lässt Anleger orientierungslos zu­ rück. Ohne Zins sind sie auf der Suche nach einem neuen Kompass. Sowohl Bullen als auch Bären haben scheinbar überzeugende Argumente für ihre jeweilige Weltsicht. Einer­ seits sprechen hohe Kurse an den Aktien­ märkten für eine vielversprechende Wirt­ schaftsentwicklung, andererseits deutet ein Billionenvermögen an negativ rentierenden Anleihen auf massive ­Zukunftsängste. Was also sollen Anleger tun? Um Fakt von Fiktion zu trennen, hilft nur, den Tatsachen möglichst vorurteilsfrei ins Auge zu sehen und sich da­ bei nicht von der Vielschichtigkeit von Politik, Wirtschaft und Börse abschrecken zu ­lassen. Denn – um es mit Theodor Fontane zu sagen: „Am Mute hängt der Erfolg“. 4 Konjunktur: Wachstum trotz politischer Unwägbarkeiten Eine der zurzeit drängendsten Fragen in Wirt­ wird üblicherweise auf Basis der verfügbaren schaft und Gesellschaft lautet: „Quo vadis Eu­ Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sowie ropa?“ Leider kann niemand – vielleicht nicht des technischen Fortschritts das Wachstums­ einmal die handelnden Politiker selbst – das potenzial einer Volkswirtschaft ermittelt, um Schicksal der Europäischen Union mit Sicher­ das die tatsäch­liche Entwicklung – dem Lehr­ heit vorhersagen. Um mögliche Erkenntnisse buch zufolge – zyklisch schwanken sollte. In für die Zukunft zu gewinnen, kommt man also ähnlicher Weise legte auch der Internationale nicht umhin, sich mit Entwicklungen der Ver­ Währungsfonds (IWF) im April 2008 eine gangenheit und Gegenwart auseinanderzuset­ Schätzung vor, wie sich das Bruttoinlandspro­ zen. Denn auch Anlagepolitik beginnt mit dukt (BIP) der Eurozone in den nachfolgenden einem eingehenden Blick fünf Jahren entwickeln Gemessen am Bruttoinlandsprodukt, auf die Wirklichkeit. sollte (siehe Grafik 1). wurden die krisenbedingten WohlDem damaligen Zahlen­ standsverluste in der Eurozone erst im werk zufolge erwarteten Wohlwissend, dass sich vergangenen Jahr wieder aufgeholt. die Komplexität der die Experten, dass die Wirklichkeit selbst mit­ europäische Wirtschaft hilfe ausgefeilter ökonometrischer Modelle im Schnitt um ca. 2 % pro Jahr zulegen nicht auf eine Zahl verdichten lässt, veröffent­ würde. Ein Abgleich mit dem später tatsäch­ lichen renommierte ­Institutionen und Banken lich eingetretenen Wirtschaftswachstum zeigt regelmäßig Kon­junkturprognosen. Hierbei allerdings, dass das Bruttoinlandsprodukt der Grafik 1: Wirtschaftswachstum in der Eurozone – Wunsch versus Wirklichkeit Bruttoinlandsprodukt (indexiert, 2007 = 100) 115 Schätzung Eurozone* Tatsächlich USA 110 105 Tatsächlich Eurozone 100 95 2007 2008 2009 2010 2011 2012 * Schätzung von Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom April 2008 Quellen: Internationaler Währungsfonds (World Economic Outlook Databases), Metzler 2013 2014 2015 2016e Stand: Oktober 2016 5 Eurozone im Jahr 2013 etwa 15 % unter dem Wert lag, den der IWF Jahre zuvor prognosti­ ziert hatte. Auch in den Folgejahren näherte sich das hiesige Wirtschaftswachstum dem Zielwert nicht nennenswert an. Zurückzufüh­ ren ist dies darauf, dass die Eurozone in eine der schwersten Finanzkrisen der Wirtschafts­ geschichte schlitterte. Die daran anschließende Erholung verlief äu­ ßerst schleppend. Erst im vergangenen Jahr erreichte die Eurozone – gemessen am BIP – wieder das Wohlstandsniveau von vor der Krise. Dies ist umso ernüchternder, als in der Zwischenzeit große Anstrengungen unternom­ men wurden, um die Konjunktur hierzulande anzukurbeln. Auch anderen, ebenfalls von der Finanzkrise getroffenen Regionen hinkt die Eurozone merklich hinterher. So dauerte es in den USA lediglich etwa drei Jahre, bis die Wohlstandsverluste aufgeholt waren – und das, obwohl die Krise dort ihren Ursprung hatte und keineswegs minder dramatisch begann als bei uns. Wo also liegen die Unter­ schiede und die Gemeinsamkeiten in der Krisenbewältigung? Notenbanken reagierten auf Finanzkrise mit einer zunehmend expansiven Geldpolitik Mit Einsetzen der Turbulenzen im Finanzsys­ tem öffneten zunächst alle großen Noten­ banken ihre Geldschleusen. Zu den Instru­ menten zählten neben unbegrenzten Refinan­ zierungsgeschäften, um ausreichend Liquidität im Bankensystem sicherzustellen, klassische Leitzinssenkungen (siehe Grafik 2). Leitzinsen lassen sich jedoch nicht unendlich weit ins Minus senken, da Wirtschaftsakteure mittels Grafik 2: Die Geldpolitik ist hierzulande mittlerweile deutlich expansiver als in den Vereinigten Staaten in % 6 4 Fed-Leitzins 2 Schattenleitzins* (gestrichelt) 0 EZB-Leitzins -2 Schattenleitzins* (gestrichelt) -4 -6 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 * Leitzinsäquivalent unkonventioneller geldpolitischer Instrumente in einer Volkswirtschaft ohne Bargeld Quellen: Jing Cynthia Wu und Fan Dora Xia „Measuring the Macroeconomic Impact of Monetary Policy at the Zero Lower Bound“, Journal of Money, Credit, and Banking, 2016, 48 (2–3), S. 253–291; FactSet, Metzler Stand: September 2016 6 Bargeldhaltung Negativzinsen auf Bankeinla­ wirkte. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, gen umgehen können. Insofern setzten die dass die EZB als Hüterin der Preise innerhalb Notenbanken im Laufe der Zeit auch auf alter­ eines Währungsverbunds anderen Zwängen native geldpolitische Mittel wie Anleihekauf­ und Regularien unterliegt als eine nationale programme, um die Konjunktur anzukurbeln. Notenbank wie die Federal Reserve. So sorgte Wie stark der Lockerungseffekt dieser unkon­ beispielsweise das hierzulande geltende Ver­ ventionellen Instrumente ausfällt, ist allerdings bot der monetären Staats­finanzierung noch auf herkömmliche Weise bis ins laufende Jahr „Schattenleitzins“ von ca. -5 % zeigt, nur schwer zu quantifi­ ­hinein für eine Auseinan­ zieren. Kluge Akademiker dass die Geldpolitik in der Eurozone dersetzung vor Gericht deutlich expansiver ist, als es die haben versucht, dieses darüber, ob das von Problem zu lösen, indem offiziellen Zinssätze suggerieren. Mario Draghi im Jahr sie die unorthodoxen 2012 angekündigte „Out­ Schritte in ein Leitzinsäquivalent übersetzt right Monetary Transactions“-Programm mit haben, den sogenannten „Schattenleitzins“. EU-Recht vereinbar ist oder nicht. Mittlerweile Damit lässt sich zeigen, wo sich der Leitzins hat sich die EZB mehr oder weniger offenkun­ befände, wenn es in einer Volkswirtschaft kein dig von den traditionellen Leitlinien der Deut­ Bargeld gäbe und die Zinsen doch unendlich schen Bundesbank gelöst und ihr Mandat weit gesenkt werden könnten. In einem sol­ immer weiter gefasst. An geldpolitischer Un­ chen Szenario entsprechen alle gegenwärtig terstützung für die europäische Konjunktur aktiven Instrumente der EZB zusammenge­ mangelt es also seit einiger Zeit definitiv nicht nommen einem Schattenleitzins von ca. -5 % mehr. (siehe Grafik 2 auf Seite 5). Das heißt, die Geldpolitik in der Eurozone ist derzeit deutlich Mit monetären Lockerungen lassen sich aber expansiver, als es die offiziellen Zinssätze sug­ nur dann Erfolge erzielen, wenn sie auch tat­ gerieren. Selbst die Federal Reserve (Fed) – sächlich in der Realwirtschaft ankommen. als Vorreiterin in Sachen unkonventioneller Diese Übertragung erfolgt in der Regel über Geldpolitik – fuhr in den vergangenen Jahren eine steigende Kreditvergabe. In den vergan­ zu keinem Zeitpunkt einen expansiveren Kurs. genen Jahren ließ sich eine solche in der Eu­ Im Tief lag der Schattenleitzins in den USA ­ rozone jedoch nur eingeschränkt beobachten. bei -3 %. Einen Mangel an geldpolitischer Ganz anders verhielt es sich in den USA, wo Schützenhilfe kann man der EZB also nicht die Kreditvergabe an den privaten Sektor seit vorwerfen. Jedoch lässt sich sehr wohl fest­ 2011 im Schnitt um ca. 5,2 % p. a. zulegte stellen, dass diese Unterstützung zunächst nur (Eurozone: -0,5 %). Dass die geldpolitische zögerlich erfolgte und darüber hinaus – an­ge­ Transmission lange Zeit bei uns nicht so gut sichts der zwischenzeitlichen Leitzinsanhe­ funktionierte wie in den Vereinigten Staaten, bung im Jahr 2011 – etwas unentschlossen ist zu großen Teilen auf Unterschiede im Um­ 7 gang mit makroökonomischen Ungleichge­ wichten zurückzuführen. So rekapitalisierten die Vereinigten Staaten ihre Banken deutlich entschlossener, indem sie Institute – auch unter Zuhilfenahme von Steuergeldern – vor der Insolvenz retteten. Mit steigendem Eigen­ kapital und der Abwicklung von Problemkre­ diten entstanden schnell wieder Freiräume für Neugeschäft. So sank der Anteil der notlei­ denden Kredite am Gesamtkreditbestand in den USA von etwa 5 % im Jahr 2009 auf unter 2 % im Jahr 2015 (siehe Grafik 3). In der Eurozone wurde diese Bereinigung hingegen jahrelang verschleppt. So lauern noch immer hohe Bestände von knapp 6 % an faulen Kre­ diten in den Bankbilanzen – vorrangig bei ­Instituten aus Ländern an der Peripherie der Europäischen Währungsunion. Erst in den ­vergangenen zwei Jahren wurden in einigen Ländern signifikante Fortschritte erzielt. In den Staaten mit besonders hohem Anpassungs­ bedarf, vor allem Zypern, Griechenland und Italien, hat sich jedoch bislang wenig getan. Eine nachhaltige Lösung des Problems steht folglich noch aus. Schleppende Kreditvergabe in der Eurozone auch auf mangelnde Nachfrage zurückzuführen Die schleppende Kreditvergabe in der Euro­ zone ist jedoch nicht nur ein Problem auf der Angebotsseite. Auch die Nachfrage nach ­Krediten ging viele Jahre trotz deutlich verbes­ serter Zinskonditionen zurück, im Wesent­ lichen gebremst von der nach wie vor hohen Verschuldung im privaten Sektor. Die europä­ ischen Unternehmen und Haushalte haben sich seit Ausbruch der Krise praktisch nicht entschuldet, während die Verbindlichkeiten in Grafik 3: Makroökonomische Ungleichgewichte erschweren die geldpolitische Transmission in der Eurozone Notleidende Kredite/Gesamtkredite in % 10 Private Verschuldung*/BIP in % 175 165 8 Eurozone 155 6 USA 145 4 135 2 125 0 2000 2003 2006 2009 2012 2015 * Exkl. Finanzunternehmen Quellen: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Weltbank, Metzler 115 1999 2002 2005 2008 2011 2014 Stand: 2015 (notleidende Kredite), Q1 2016 (Verschuldung) 8 den Vereinigten Staaten recht schnell abge­ Schuldenlast, die nicht nur die Nachfrage baut wurden. Daten der Bank für Internationa­ nach neuen Finanzierungen dämpft, sondern len Zahlungsausgleich belegen, dass die Pri­ auch zum Teil aus Sicht der Banken ihre Kre­ vathaushalte den Löwenanteil dieses Rück­ ditwürdigkeit infrage stellt. gangs in den USA stemmten. Weiterführende Draghi: Expansiver Kurs der EZB muss dringend Aufschlüsselungen der US-Notenbank zeigen durch Strukturreformen flankiert werden darüber hinaus, dass die größten Fortschritte Angesichts der gravierenden Strukturpro­ bei den Wohnimmobilienkrediten zu verzeich­ bleme in der Eurozone wurde der EZB in den nen sind. Ein Teil dieser Darlehen wurde ord­ vergangenen Jahren also eine Aufgabe zuge­ nungsgemäß zurückgeführt, indem sich die mutet, die sie allein nicht lösen konnte. Inso­ US-Bürger in den ersten Jahren nach der fern ist es nicht verwunderlich, dass Mario Krise mit dem Konsum zurückhielten und die Draghi mittlerweile bei jeder Pressekonferenz daraus resultierenden Ersparnisse für Zins und nahezu mantraartig betont, dass dringend Re­ Tilgung einsetzten. Ein anderer, weitaus grö­ formen notwendig sind, die die Geldpolitik der ßerer Teil der Immobilienkredite wurde jedoch Notenbanker flankieren. einfach nicht mehr be­ Im Gegensatz zu den USA ächzt Damit zielt er nicht nur auf dient. Denn in einigen der Privatsektor in Europa bis die Bereinigung der oben Staaten geht mit der Zah­ heute unter einer hohen Schulden- diskutierten makroökono­ lungsunfähigkeit eines last, was seine Kreditwürdigkeit mischen Ungleichgewichte, Schuldners die Kreditsi­ infrage stellt und die Nachfrage sondern auch auf Ände­ cherheit (in diesem Fall nach Krediten dämpft. rungen des wirtschaftspoli­ die Immobilie) in den Be­ tischen Rahmens, um die sitz der Bank über. Damit Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität ein­ ist der Kreditnehmer in der Regel aus jeglicher zelner Länder zu verbessern. Den Währungs­ Haftung entlassen. Ein etwaiger Fehlbetrag hütern ist also offensichtlich bewusst, dass aus dem noch ausstehenden Darlehensbetrag – je länger sie als Retter eingespannt bleiben – und dem Verkehrswert der Immobilie belastet die Risiken und Nebenwirkungen der ultra­ somit die Bankbilanz. Da die US-Kreditinstitute expansiven Geldpolitik steigen. nach der Krise ordentlich rekapitalisiert wur­ den, konnte sich der private Sektor in den Mittlerweile wächst auch der Unmut in der USA seiner Schulden entledigen, ohne die Bevölkerung: Denn neben den Banken haben Stabilität des Bankensystems erneut ins Wan­ vor allem Pensionskassen und Privatanleger ken zu bringen. Während also in den Vereinig­ unter den niedrigen Zinsen zu leiden. Je län­ ten Staaten die Unternehmen und Haushalte ger der Zinseszinseffekt außer Kraft gesetzt recht schnell wieder als Nachfrager nach ist, umso schwieriger wird es, Leistungsver­ ­Krediten auftraten, ächzen viele europäische sprechen einzuhalten und Rücklagen fürs Kreditnehmer bis heute unter einer hohen 9 Alter zu bilden. Der zunehmende Vertrauens­ verlust in die Geldpolitik der EZB spiegelt sich im jahrelangen Rückgang des Eurobarometers wider – einer regelmäßigen Umfrage der EUKommission, in der Europäer zu ihrer Meinung zu verschiedenen Institutionen der EU befragt werden (siehe Grafik 4). Aber nicht nur die Skepsis gegenüber der Notenbank hat seit der Finanzkrise zugenommen, sondern auch die Unzufriedenheit mit der Europäischen Union ist gestiegen. In den Augen vieler Europäer war man in den vergangenen Jahren innerhalb der EU wohl zu sehr damit beschäftigt, ge­ meinsam Probleme zu lösen, die man alleine nicht hätte. Angefangen bei wirtschaftlichen Herausforderungen, wie der Finanz- und Staatsschuldenkrise, stellten zuletzt auch ge­ sellschaftspolitische Entwicklungen wie die Flüchtlingswelle den Zusammenhalt der euro­ päischen Staatengemeinschaft auf eine harte Probe. In diesem Sommer spitzte sich die Lage so weit zu, dass sich erstmals – nach Grönland im Jahr 1982 – wieder ein Land dazu entschloss, die Europäische Union zu verlas­ sen. Da hiermit die weithin angenommene Unumkehrbarkeit der europäischen Einigung und das selbstgesteckte Ziel einer immer en­ geren Integration faktisch ausgehebelt wur­ den, ist die allgemeine Verunsicherung in Poli­ tik und Wirtschaft derzeit groß. In Reaktion auf den Ausgang des Referen­ dums in Großbritannien senkten viele Öko­ nomen – unter anderem auch wir – zunächst ihre Prognosen für das Wachstum im Verei­ nigten Königreich und im Euroraum. Viele Ex­ perten befürchteten, dass Turbulenzen an den Kapitalmärkten die Finanzierungsbedingungen für Staaten und Unternehmen so weit ver­ schlechtern würden, dass dies negativ auf die Grafik 4: Angesichts zahlreicher Krisen ist das Vertrauen in europäische Institutionen zunehmend geschwunden Antworten der Befragten in % 60 Frage: „Sagen Sie mir bitte für jede der folgenden Institutionen, ob Sie ihr eher vertrauen oder eher nicht vertrauen. Wie ist es mit (…)?“ 55 Antwort: „Eher vertrauen“ 50 45 40 ▲ -21 Europäische Zentralbank 35 ▲ -24 Europäische Union 30 25 20 2007 2008 2009 2010 2011 Quellen: Eurobarometer, Umfragen der EU-Kommission, Metzler 2012 2013 2014 2015 2016 Stand: Mai 2016 10 Realwirtschaft ausstrahlen könnte. Glück­ licher­­weise haben sich solche Szenarien nicht bewahrheitet. Ganz im Gegenteil: Mit Ausnah­ me des britischen Pfunds haben sich die ­Finanzmärkte als durchaus widerstandsfähig erwiesen. schränkungen dürfte Großbritannien deutlich stärker leiden als Kontinentaleuropa. Denn ge­ messen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, beträgt der Anteil der Exporte, die von der EU nach Großbritannien gehen, etwa 3,5 %, wäh­ rend die Briten umgekehrt ca. 12,0 % ihrer Wirtschaftsleistung nach Kontinentaleuropa Mit Blick auf die Realwirtschaft fällt selbst ein verschiffen. Daher dürfte es nicht im Interesse vorläufiges Urteil schwerer. Dies liegt vor von Großbritanniens Industrie liegen, den Zu­ allem daran, dass erst wenig belastbare Wirt­ gang zum gemeinsamen Binnenmarkt zu ver­ schaftsdaten seit dem lieren. Nichtsdestotrotz ist Kurzfristige Effekte des Brexit-­­­­­ Referendum Ende Juni – angesichts der jüngsten Vo­tums auf Wirtschaft und Finanzveröffentlicht wurden. politischen Verlautbarun­ märkte wurden überschätzt; lang­ Die bislang vorliegenden gen aus Westminster fristige Effekte sind stark vom Stimmungs- und Kon­ und Brüssel – auch ein Ergebnis der Austrittsverhandlungen solcher „Hard Brexit“ zum junkturindikatoren signa­ Groß­britanniens abhängig. lisieren jedoch, dass die jetzigen Zeitpunkt keines­ unmittelbaren Effekte wegs auszuschließen. deutlich weniger schlimm ausgefallen sind als zunächst angenommen. Die langfristigen öko­ Kurzfristig ist unser Konjunkturausblick für die nomischen Folgen hängen allerdings stark Eurozone allen politischen Unwägbarkeiten vom Verlauf und Ergebnis der Austrittsver­ zum Trotz moderat positiv, auch angesichts handlungen ab. Aus Sicht Großbritanniens einer verbesserten Lage am europäischen Ar­ dürfte hier im Fokus stehen, die Zuwanderung beitsmarkt. Seit 2013 hat sich die Arbeitslo­ zu begrenzen. Denn Umfragen zufolge war die senquote um ca. 2 %-Punkte verringert (siehe „Immigration“ einer der wichtigsten Beweg­ Grafik 5 auf Seite 11). Damit stehen gut 6 Mio. gründe für den Austrittswunsch vieler Briten. Menschen mehr in Lohn und Brot, wodurch Eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizü­ sich das ­gesamtwirtschaftlich gezahlte Arbeit­ gigkeit wird die EU den Briten jedoch vermut­ nehmerentgelt entsprechend erhöht hat. Mit lich nicht ohne weiteres zugestehen. Viel zu zunehmen­der Kaufkraft der Bevölkerung zieht groß wäre das Risiko, damit Begehrlichkeiten üb­licher­weise auch die Nachfrage nach Kon­ auch bei anderen Staaten zu wecken. So ist sumgütern an. Der wesentliche Pfeiler für den im Gegenzug mit Einschränkungen beim Zu­ derzeitigen Aufschwung – die Binnennach­ gang zum gemeinsamen Binnenmarkt oder frage – scheint also nach wie vor intakt zu Begrenzungen beim Angebot von Finanz­ sein. Zusammen mit einer lockeren Geld­politik dienstleistungen auf dem europäischen Fest­ und einer seit 2016 wieder leicht expansiven land zu rechnen. Unter solchen Handelsbe­ Fiskalpolitik herrschen gute Rahmenbedin­ 11 gungen dafür, dass sich die Konjunkturerho­ lung auch im Jahr 2017 fortsetzen wird. Anders verhält es sich in Bezug auf die Verei­ nigten Staaten. Hier gibt es mittlerweile Stim­ men, die ein baldiges Ende des Konjunktur­ aufschwungs prophezeien und dabei häufig darauf verweisen, dass der dortige Konjunktur­ aufschwung nun schon etwa sieben Jahre an­ dauere und damit eine Rezession doch schon fast überfällig scheine. Empirische Untersu­ chungen zeigen jedoch, dass Konjunkturzyklen nicht an Altersschwäche sterben. Es gibt kei­ nen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Dauer eines Aufschwungs und der Wahrscheinlichkeit, dass im folgenden Monat eine Rezession einsetzt – zumindest nicht für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch ist es natürlich legitim und auch sinnvoll, die Frage zu stellen, ob es unabhän­ gig von der Länge eines Aufschwungs gute Gründe gibt, die dafür sprechen, dass eine ­Rezession unmittelbar bevorsteht. Mit Blick in den Rückspiegel lassen sich fünf typische Konstellationen ausmachen, die einen Wirt­ schaftseinbruch einleiteten. Erstens hat ein aggressives Straffen der Geld­ politik – mit dem Ziel, die Wirtschaft vor einer Überhitzung zu schützen – in der Vergangen­ heit oft einem Konjunkturaufschwung „die Luft abgeschnürt“. Derzeit gibt es jedoch wenig Anzeichen für ausufernde Inflations­ raten. Vielmehr ermöglichen die bislang mo­ deraten Preissteigerungen einen langsamen ­Zinserhöhungszyklus. Ein leichter Anstieg der Inflation, der aufgrund der Ölpreisentwicklung durchaus plausibel erscheint (siehe Kapitel „Anleihemärkte“), dürfte den derzeitigen Spiel­ raum der Notenbank zwar verkleinern, sie Grafik 5: Die Binnennachfrage in der Eurozone bleibt dank sinkender Arbeitslosigkeit gut unterstützt ggü. Vj. in % 3,5 3,0 Arbeitnehmerentgelt Privater Konsum Arbeitslosenquote in % (invertiert) 9,5 10,0 2,5 10,5 2,0 11,0 1,5 11,5 1,0 12,0 0,5 12,5 0,0 2010 2011 Quellen: FactSet, Eurostat, Metzler 2012 2013 2014 2015 2016 Stand: Juni 2016 (privater Konsum, Arbeitnehmerentgelt); Juli 2016 (Arbeitslosenquote) 12 aber auf Sicht der kommenden Monate nicht ­jedoch im aktuellen Umfeld als Rezessions­ unmittelbar unter Zugzwang setzen. Zweitens ursache aus, denn die US-Schiefergas­industrie haben auch immer wieder Überinvestitionen begrenzt den Anstieg der Energiepreise: So­ in einzelnen Sektoren Wirtschaftskrisen aus­ bald die Ölnotierungen auf ein ­Niveau steigen, gelöst. Prominente Beispiele hierfür sind die bei dem es für die Fracking-Unternehmen Dotcom-Blase nach der Jahrtausendwende wieder attraktiv wird zu produzieren, würden oder die Überkapazi­ diese ihr Angebot ausweiten Trotz eines voraussichtlich steigenden und damit den Preisanstieg täten am US-Häuser­ markt im Jahr 2007. Im Lohndrucks drohen in den Vereinig- deckeln. Fünftens und letz­ ten Staaten (vorerst) keine Rezessiaktuellen Aufschwung tens besteht ein wesent­ onsrisiken; vielmehr dürfte sich die liches Risiko in einem ist jedoch von einem Wirtschaft in nächster Zeit wieder Investitionsboom keine starken Lohnanstieg bei beleben. Spur. Der Anteil gleichzeitig niedrigem ­privater Anlageinvesti­ ­Produktivitätswachstum. tionen am Bruttoinlandsprodukt liegt mit etwa Eine solche Konstellation kann die Gewinn­ 17 % derzeit noch unter den Niveaus von ca. margen enorm belasten, falls die US-Unter­ 19 %, die historisch betrachtet kurz vor Einset­ nehmen die steigenden Kosten nicht schnell zen einer Rezession erreicht wurden. Drittens genug oder nicht voll auf die Verbraucher ab­ können natürlich auch Entwicklungen in der wälzen können. Derzeit entwickeln sich die Außenwirtschaft eine Rezession auslösen. In Löhne trotz zunehmender Knappheit am Ar­ den USA liegt der Anteil der Exporte am Brut­ beitsmarkt zwar noch nicht sehr dynamisch, toinlandsprodukt jedoch mit nur etwa 13 % was aber nicht darüber hinwegtäuschen auf einem international äußerst niedrigen Ni­ sollte, dass Löhne dem Arbeitsmarkt hinter­ veau. Damit sind die Vereinigten Staaten weit herlaufen und daher üblicherweise erst mit weniger anfällig für externe Schocks als ande­ Verzögerung steigen. Solche Phänomene lie­ re Länder mit einem höheren Exportanteil. ßen sich auch in vorherigen Konjunkturzyklen Hinzu kommt, dass die globalen Konjunktur­ beobachten und sollten daher – auch im aktu­ risiken seit Jahresanfang merklich abgenom­ ellen Aufschwung – nicht unterschätzt wer­ men haben. So gelang es der chinesischen den. Wir gehen davon aus, dass der Lohn­ Regierung, das Wachstum – zumindest vorü­ druck im kommenden Jahr stärker wird. An­ bergehend – zu stabilisieren, und auch die gesichts des historisch hohen Margenniveaus Konjunktur in den übrigen Schwellenländern sollte es aber noch eine Zeit dauern, bis die hat sich zuletzt nicht weiter eingetrübt. Vier­ höheren Kosten die Rentabilität so stark belas­ tens zeigen die Ölpreiskrisen von 1973 und ten, dass Investitionskürzungen und Entlas­ 1979, dass auch drastisch steigende Rohstoff­ sungen die Folge sind. Eine Rezession ist auf preise Wirtschaftsverwerfungen auslösen Sicht der kommenden Monate daher noch können. Ein solches Szenario schließen wir nicht zu erwarten. Vielmehr ist davon auszu­ 13 gehen, dass es zunächst – vorbehaltlich eines günstigen Ausgangs der am ­8. November an­ stehenden Präsidentschaftswahlen – zu einer zyklischen Belebung kommt. des Internationalen Währungsfonds zufolge sollte sich dieser Trend jedoch nicht weiter fortsetzen. Ganz im Gegenteil: Die Konjunktur in den Schwellenländern dürfte schon bald wieder Fahrt aufnehmen. Zwar bleiben länder­ Die Vereinigten Staaten sind zwar nach wie spezifische Probleme (insbesondere im Hin­ vor ein sehr wichtiger Wirtschaftsraum, für blick auf politische Unsicherheit) bestehen, das globale Wachstum sind jedoch mittler­ insgesamt dürfte aber der wieder gestiegene weile die Schwellenländer der Taktgeber. So Ölpreis das Wirtschaftsumfeld für diese – hängt das momentan hinter seinem überwiegend rohstoffexportierenden – Länder ­historischen Durchschnitt verbessert haben. Man­ Konjunktur in den Schwellenländern cherorts hat sich das zurückbleibende Welt­ wirtschaftswachstum we­ dürfte schon bald Fahrt aufnehmen Wachstum auch durch sentlich damit zusammen, und damit den Wachstumsvorsprung umfangreiche Interven­ gegenüber den Industriestaaten dass die Dynamik in den tionen des Staates sta­­wieder vergrößern. Emerging Markets seit bi­lisiert. 2010 kontinuierlich nach­ gelassen hat (siehe Grafik 6). Damit hat sich So war es zum Beispiel in China. Hier versucht auch der traditionelle Wachstumsvorsprung die Regierung, unter anderem mithilfe mas­ der Schwellenländer gegenüber den Industrie­ siver Investitionen die Wirt­schaft zu stützen. staaten immer mehr verkleinert. Prognosen Damit greift sie auf ­„altbewährte“ Methoden Grafik 6: Das Wachstum der Schwellenländer nimmt langsam wieder Fahrt auf Bruttoinlandsprodukt ggü. Vj. in % 10 8 Schwellenländer 6 Industrieländer 4 Wachstumsvorsprung 2 0 -2 -4 1995 2000 2005 2010 Quellen: Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) ab 2016, Metzler 2015 2020 Stand: Oktober 2016 14 zurück. Denn auch während der Finanzkrise wies die Regierung Staatsunternehmen an, in großem Umfang kreditfinanzierte Investitionen zu tätigen (siehe Grafik 7). Das damit einher­ gehende Kreditwachstum der vergangenen Jahre ist beträchtlich. Mittlerweile beläuft sich der ­Kreditbestand im Unternehmenssektor (inkl. Staatsbetriebe) auf knapp 170 % des Bruttoinlands­produkts. Scheinbar ist die Re­ gierung also bereit, für eine kurzfristig sich stabilisierende Konjunktur in Kauf zu nehmen, dass sich die fundamentalen Ungleichge­ wichte verschärfen. Dies hat zwar unter den internationalen Investoren für Erleichterung hinsichtlich des kurz- bis mittelfristigen Aus­ blicks für Chinas Wirtschaft gesorgt, stimmt jedoch durchaus nachdenklich für die Zukunft. Grafik 7: Die chinesische Regierung versucht, mit Staatsinvestitionen das Wachstum zu stabilisieren Seit Jahresanfang ggü. Vj. in % 45 24 40 22 20 35 18 30 16 25 14 20 12 10 15 8 10 6 5 4 2007 2008 Quellen: FactSet, Metzler 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Stand: September 2016 Staatsinvestitionen Nominales Bruttoinlandsprodukt 15 Anleihemärkte: Deflation war gestern Kapital in negativ verzinsten Anlageformen zu binden bedeutet nichts anderes, als Vermögen wissentlich zu entwerten. Heute wird der mit Negativzinsen einhergehende Kapitalverlust manchmal als Preis für Sicherheit bezeichnet. Wir können uns mit diesem Gedanken trotz­ dem nur schwer anfreunden. Vielleicht ist un­ sere Geisteshaltung diesbezüglich altmodisch, aber die Idee, jemanden dafür zu bezahlen, dass man ihm Geld leiht, scheint uns schlicht­ weg kein nachhaltiges Geschäftsmodell zu sein. Trotzdem hat sich das Konzept des Ne­ gativzinses in den vergangenen Jahren immer stärker verbreitet. Ausgangspunkt für diese Entwicklung war die Europäische Zentralbank, die ihren Leitzins das erste Mal im Juni 2014 ins Minus senkte. Keine andere Notenbank auf der Welt hat jemals länger mit Negativzinsen experimentiert. Man könnte nun meinen, dass – wenn die EZB die erste Zentralbank war und weitere gefolgt sind – die innovative Geldpoli­ tik einigermaßen erfolgreich sein muss. ­Tatsächlich aber haben andere europäische ­Notenbanken der EZB weniger aufgrund ihres Erfolgs nachgeeifert, sondern vielmehr aus Zwang. Denn wenn die EZB als größte Zen­ tralbank Europas mittels Negativzinsen ver­ sucht, über einen schwächeren Euro Inflation zu erzeugen, dann dürfen sich die Nachbar­ länder über einen Zustrom an Kapital freuen – inklusive einer Aufwertung ihrer Währung. Wenn die Nachbarländer aber ohnehin schon starke Währungen haben oder selbst versu­ chen, Inflation zu erzeugen, dann bleibt ihnen nur, die Bedingungen für die Anleger noch unattraktiver zu gestalten. Insofern überrascht es nicht, dass – wie Grafik 8 zeigt – die Zinsen in Dänemark, Schweden und der Schweiz noch erheblich tiefer liegen als im Euro-Wäh­ rungsgebiet. Die EZB-Politik spielt somit eine entscheidende Rolle für das niedrige Zinsni­ veau am gesamten europäischen Geldmarkt. Grafik 8: Die neue Wirklichkeit – Immer mehr Zentralbanken mit negativen Leitzinsen Einlagensatz in % -0,10 -0,40 -0,65 -0,75 -1,25 Japan Quellen: FactSet, Metzler Eurozone Dänemark Schweiz Schweden Stand: Oktober 2016 16 Allerdings hieße es, die Sicht auf die Geldpoli­ tik stark zu verkürzen, wollte man die EZB auch zur Hauptverantwortlichen für den Ver­ fall der Langfristzinsen machen. In den ver­ gangenen Jahren haben sich viele Kapital­ marktteilnehmer daran gewöhnt, auf die Macht der Zentralbanken zu vertrauen. Wenn Mario Draghi oder Janet Yellen vor die Presse treten, wird jedes Wort auf die Goldwaage ge­ legt und auf mögliche Andeutungen hin analy­ siert. Da die Notenbanken zudem unbegrenzt Geld schöpfen können, herrscht heute oftmals der Eindruck vor, dass sie das wirtschaftliche Schicksal ganzer Kontinente in ihren Händen halten. ­Jedoch wird dabei vergessen, dass vollständige Kontroll- und Steuerungsmöglich­ keiten immer eine Illusion sind. Insofern ist es auch ein Mythos, dass die langfristigen Zinsen heute nur deshalb so niedrig sind, weil die Zentralbanken über ihre Anleihekaufpro­ gramme die Renditen nach unten drücken. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Irving Fisher, ein bekannter US-amerikanischer Ökonom, postulierte bereits vor Jahrzehnten, dass der Nominalzins in etwa der Summe aus erwar­ teter Inflationsrate und Realzins entsprechen muss. Wie oftmals in der Ökonomie ist dieser theoretische Zusammenhang praktisch nicht direkt zu beobachten, da die Messkonzepte für Inflationserwartungen und Realzins variie­ ren. Allerdings ließe sich die erwartete Inflati­ on durch die tatsächliche ersetzen und der reale Zins über das tatsächliche Wirtschafts­ wachstum näherungsweise bestimmen. Da­ raus ergäbe sich ein implizites Zinsniveau, das in etwa dem vorherrschenden Nominalzins entsprechen sollte. Grafik 9 verdeutlicht am Beispiel Deutschlands, dass es tatsächlich Grafik 9: Der Renditerückgang in Deutschland – Auch fundamentale Gründe spielen eine Rolle Wirtschaftswachstum*, Inflation und Rendite 10-jähriger Bundesanleihen in % 12 10 8 6 4 2 Inflationsrate 0 + Wirtschaftswachstum -2 ≈ Bundesanleiherendite -4 -6 1972 1976 1980 1984 1988 * Von 1972 bis 1991 früheres Bundesgebiet Quellen: FactSet, Statistisches Bundesamt, Metzler 1992 1996 2000 2004 2008 2012 Stand: 2015 17 grenzt, woraus sich schließen lässt, dass die Machtfülle der EZB eher in den Köpfen der Marktteilnehmer existiert als in Realität. einen empirischen Zusammenhang zwischen Inflation und Wirtschaftswachstum auf der einen Seite und der Rendite von Bundesan­ leihen auf der anderen Seite gibt. Je niedriger die Steigerungsraten bei Preisen und Brutto­ inlandsprodukt ausfallen, umso niedriger ist das Zinsniveau. Etwa die Hälfte der Schwan­ kungsbreite des Nominalzinses lässt sich allein durch Inflation und Wirtschaftswachstum er­ klären. Daher stellt sich die Frage, wie stark der Einfluss der Notenbank auf das langfris­ tige Zinsniveau überhaupt ist. Wir kommen mit unseren Modellen zu dem Schluss, dass die Abweichung der tatsächlichen Bundesan­ leiherendite vom impliziten Zinsniveau seit An­ fang der 1970er-Jahre nur zu etwa 20 % durch geldpolitische Instrumente erklärt werden kann. Damit scheint der direkte Einfluss der Notenbank auf die Langfristzinsen relativ be­ Vielen Renteninvestoren droht ein böses Erwachen bei einem Anstieg der langfristigen Zinsen Für viele Investoren dürfte es deshalb ein böses Erwachsen geben, wenn die langfris­ tigen Zinsen trotz expansiver Geldpolitik eines Tages wieder steigen. Dieses böse Erwachen droht deshalb, weil in den vergangenen Jah­ ren immer mehr Anleiheemittenten das güns­ tige Refinanzierungsumfeld dazu genutzt haben, um Papiere mit längerer Laufzeit und geringeren Coupons zu begeben. Dadurch hat sich die durchschnittliche Restlaufzeit – und damit auch das Zinsänderungsrisiko – in vielen Rentenportfolios deutlich erhöht. Wie groß dieses Risiko heute ist, lässt sich über die so­ Grafik 10: Die Gefahr im Rentenportfolio – Das Zinsänderungsrisiko steigt und steigt Modifizierte Duration europäischer Anleihesegmente* 7,5 Staatsanleihen 7,0 6,5 Industrieanleihen 6,0 5,5 5,0 Finanzwerte 4,5 4,0 3,5 3,0 2006 2008 2010 2012 2014 2016 * Auf Basis der jeweiligen Barclays-Euro-Aggregate-Indizes. Industrieanleihen und Finanzwerte der Ratingklasse A. Quellen: FactSet, Metzler Stand: September 2016 18 genannte modifizierte Duration bestimmen. trieländern versuchen bekanntlich seit einigen Mit diesem Risikomaß kann quantifiziert Jahren verzweifelt, die Inflation „wiederzu­ ­werden, mit welchen Kursverlusten Anleihe­ beleben“, und rechtfertigen ihre lockere Geld­ inves­toren zu rechnen haben, falls der Zins am politik mit vermeintlichen Deflationsgefahren. Rentenmarkt um 1 %-Punkt steigen sollte. In Rein semantisch ist es zwar korrekt, dass Grafik 10 auf Seite 17 lässt sich klar erkennen, auch schon eine geringe negative Inflations­ dass das Zinsänderungsrisiko in allen Anleihe­ rate eine Deflation darstellt, faktisch liegen segmenten seit 2012 deutlich gestiegen ist: neben marginalen Preisrückgängen (wie sie bei Staatsanleihen um 30 % und bei Industriebis vor kurzem in der Eurozone oder den USA und Finanzanleihen sogar um 50 %. Konkret zu beobachten waren) und einer wirklichen beläuft sich die modifizierte Duration der Pa­ Deflation (wie in den 1930er-Jahren) aber piere staatlicher Emittenten aktuell auf etwa Welten. In den Jahren nach der Lehman-Krise 7,5. Dies bedeutet, dass gab es keine eindeutigen Zinsänderungsrisiko ist seit 2012 ein Anstieg des Markt­ empirischen Hinweise da­ in allen Anleihesegmenten deutlich rauf, dass eine sich selbst zinses um nur 1 %-Punkt ­gestiegen; davon betroffen wären einen Kursverlust von verstärkende Abwärtsspira­ vor allem Rentenportfolios mit einer le in Gang kommt, in der 7,5 % nach sich ziehen re­lativ hohen durchschnittlichen würde. Ein solcher Ver­ sich die Menschen in der Restlaufzeit. lust lässt sich selbst bei Erwartung auf fallende Prei­ dem neuen und höheren se mit Konsum- oder Inves­ Marktzins erst nach über sechs Jahren aus­ titionsentscheidungen zurückhalten. Die tat­ gleichen. Eine hohe Duration ist für Anleihe­ sächlichen Gründe für den Inflationsrückgang portfolios somit ein erhebliches Risiko – insbe­ waren temporär und am Rohstoffmarkt zu su­ sondere dann, wenn die Duration nicht aktiv chen. Wenn der Ölpreis sich in den kommen­ gemanagt wird. Deshalb halten wir die durch­ den Monaten aber zwischen 40 und 50 USD schnittliche Duration in den von uns verwal­ pro Barrel halten sollte, dann wird die Inflation teten Anleiheportfolios deutlich kürzer als der in der Eurozone bereits Anfang 2017 wieder in oben skizzierte Marktdurchschnitt. Richtung 1,5 % steigen (siehe Grafik 11 auf Seite 19). Die Finanzmarktteilnehmer verken­ Diese Positionierung resultiert natürlich aus nen diesen voraussichtlichen Inflationsanstieg der Erwartung, dass die jahrzehntelange derzeit noch und rechnen bis ins Frühjahr Hausse am Anleihemarkt bald zu einem Ende 2018 hinein nur mit einer durchschnittlichen kommen wird. Wenngleich wir nicht von Preissteigerung von 0,4 % p. a. Damit laufen einem rapiden Anstieg des Zinsniveaus ausge­ viele Investoren Gefahr, dass die reale Verzin­ hen, spricht unseres Erachtens vor allem der sung ihrer Kapitalanlage erheblich geringer Inflationsausblick für allmählich wieder stei­ ausfällt als ursprünglich vermutet. Dem Risiko gende Sätze. Die Zentralbanken in den Indus­ eines realen Kaufkraftverlusts lässt sich aller­ 19 schützter deutscher Bundesanleihen gegen­ dings mit inflationsindexierten Anleihen be­ über ihren konventionellen Pendants bis An­ gegnen. Dieser Anleihetyp – der auch Linker fang 2018 etwa 1,2 %genannt wird und bei dem Schattendasein von inflations­ Punkte p. a. betragen. Dies sowohl Coupon als auch indexierten Anleihen im aktumag nicht üppig erschei­ Rückzahlungsbetrag an die ellen Umfeld umso unbegreifnen, ist unseres Erachtens Entwicklung der offiziellen licher, als Anleger gerade mit aber eine der besten Mög­ Inflationsrate gebunden sind diesen Papieren das Risiko lichkeiten, sich vor einer – fristet im Bewusstsein eines realen Kaufkraftverlusts drohenden Geldentwertung ­vieler Anleger eher ein minimieren könnten. am Anleihemarkt zu schüt­ Schattendasein. Er spielt zen, ohne unverhältnis­ seine Stärken aber genau mäßig hohe Bonitäts- oder Währungsrisiken dann aus, wenn (wie derzeit) zu befürchten eingehen zu müssen. steht, dass die zukünftigen Preiszuwächse un­ terschätzt werden. Unsere Anleiheportfolios zeichnen sich vor diesem Hintergrund durch einen ­signifikanten Bestandteil an inflationsin­ dexierten Anlagen aus. Gemäß unseren Pro­ jektionen zur zukünftigen Preisentwicklung dürfte der reale Renditevorteil inflationsge­ Grafik 11: Keine Angst vor Deflation – Die Preise werden schon bald wieder stärker steigen Konsumentenpreisindizes* in % ggü. Vj. 4 Prognose 3 USA 2 Großbritannien Eurozone 1 Japan 0 -1 -2 1/2014 7/2014 1/2015 7/2015 1/2016 7/2016 1/2017 7/2017 * Prognosen unter der Annahme konstanter Kerninflationsraten; Energiepreisentwicklung gemäß Futurepreisen in lokaler Währung Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler Stand: August 2016 (JP), September 2016 (USA, GB, EWU) 20 Aktienmärkte: Auf der Suche nach dem Kompass „Sei ängstlich, wenn andere gierig sind – und sei gierig, wenn andere ängstlich sind.“ So ­lautet einer der bekanntesten Sätze Warren Buffetts. Das Bonmot beschreibt zugleich die Kernidee des Value-Investing: Kommt es am Aktienmarkt zu Phasen der Euphorie, gilt es, „teure“ Unternehmen zu meiden, während bei allgemeiner Panik hingegen „günstige“ Werte gekauft werden sollten. Soweit zumindest die Theorie. Doch woher weiß man nun, ob eine Aktie tatsächlich günstig oder doch eher teuer ist? Die Antwort auf diese Frage ist nicht trivi­ al, da klassische Indikatoren der Aktienmarkt­ bewertung heute gegensätzliche Signale sen­ den. In Europa liegt beispielsweise das traditio­ nelle Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), das den Aktienkurs eines Unternehmens ins Verhältnis zu den Gewinnen in den vergangenen zwölf Monaten setzt, aktuell bei etwa 20. Wie Grafik 12 zeigt, liegt der Multiplikator damit im teu­ ersten Bewertungsquintil seit 1972. Dies be­ deutet, dass der Aktienmarkt früher in mindes­ tens 80 % der Fälle günstiger bewertet war ­ als derzeit. Das ist keine sehr ermutigende Er­ kenntnis und trägt sicherlich nicht zu dem ­Verlangen bei, sich heute am Aktienmarkt zu engagieren. Aber die KGV-Betrachtung ist eben nur eine mögliche Sichtweise. Schaut man auf einen zweiten klassischen Bewertungsindikator – die sogenannte Risikoprämie – dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Die Risikoprämie ist definiert als die Mehrrendite von Aktien gegen­ über Anleihen und lag in Europa zuletzt bei 4,9 %-Punkten. Grafik 12 zeigt, dass ein sol­ cher Renditeaufschlag historisch betrachtet sehr hoch ist und Aktien damit außerordentlich günstig sind. Was also sollen Anleger ange­ sichts solch gegensätzlicher Analyseergebnisse nun tun? Grafik 12: Europäische Aktien – Klassische Bewertung auf Gewinnbasis liefert gegensätzliche Signale Kurs-Gewinn-Verhältnis* Risikoprämie* in %-Punkten 35 12 30 10 25 8 Günstig 6 20 4 15 2 10 0 5 -2 0 -4 1972 1982 1992 2002 2012 Teuer 1972 1982 1992 2002 2012 * Auf Basis der Gewinne in den vergangenen 12 Monaten. Risikoprämie = Gewinnrendite abzgl. Rendite zehnjähriger deutscher Bundesanleihen. Einstufung als „teuer“ oder „günstig“ auf Basis der Ergebnisse des ersten bzw. fünften Bewertungsquintils zum jeweiligen Zeitpunkt Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler Stand: September 2016 21 des Kurs-Buchwert-Verhältnisses zu betrach­ In einer Situation wie heute, in der es faktisch ten. Demnach wären US-Aktien mit einem KBV keine Asset-Klasse mehr gibt, deren Bewer­ von 2,9 heute relativ teuer und japanische Un­ tung nicht durch die Geldpolitik der Noten­ ternehmen mit einem Wert von 1,2 entspre­ banken verzerrt ist, erscheint es unseres chend günstig. Grafik 13 Erachtens sinnvoll, eine kon­ Da auch die Gewinnbewertung zeigt, dass das Kurs-Buch­ struktive Aktienmarktein­ von Aktien durch die Geldpolitik wert-Verhältnis für japani­ schätzung auch anhand von der Notenbanken verzerrt ist, sche Aktien in den vergan­ Indikatoren zu prüfen, die sollten zudem Bilanzkennziffern genen Jahren zeitweise weniger stark vom Zins­ niveau abhängen. Hier bietet der Unternehmen unter die Lupe sogar unter 1 lag. Normaler­ genommen werden. weise kaufen Anleger eine sich die sogenannte Sub­ Aktie mit einem Kurs-Buch­ stanzbewertung an. Bei die­ wert-Verhältnis von weniger als 1 aber nicht, sem Ansatz stehen nicht die Erträge im Vor­ um das Unternehmen zu zerschlagen und die dergrund der Analyse, sondern vor allem Vermögenswerte einzeln zu verkaufen. Anleger ­Bilanzgrößen. Der bekannteste Indikator ist si­ kaufen eine Aktie vielmehr in der Hoffnung, cherlich das Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV), dass das Management eine angemessene Ren­ bei dem der Aktienkurs eines Unternehmens dite auf das eingesetzte Eigenkapital erwirt­ ins Verhältnis zum bilanziellen Eigenkapital ge­ schaften wird. Insofern sollte bei der Substanz­ setzt wird. Dabei wird bei solchen Vergleichen wertanalyse auch die Eigenkapitalrendite be­ oft der Fehler gemacht, nur die absolute Höhe Grafik 13: Regionale Aktienmärkte – Bei der Bewertung auf Eigenkapitalbasis auch die Rentabilität berücksichtigen Kurs-Buchwert-Verhältnis 7 Eigenkapitalrendite in % 25 6 20 5 15 4 10 3 5 2 0 1 -5 0 USA Europa Japan Emerging Markets -10 1995 2000 2005 2010 Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler 2015 1995 2000 2005 2010 2015 Stand: September 2016 22 trachtet werden. In Grafik 13 auf Seite 21 lässt sich deutlich erkennen, dass japanische Aktien nicht nur das geringste Kurs-Buchwert-Verhält­ nis, sondern auch die geringste Eigenkapital­ rendite aufweisen und deshalb nur scheinbar günstig sind. Die dort erzielbare Rendite auf das eingesetzte Kapital ist schlichtweg deut­ lich geringer als in den USA. Deshalb sind In­ vestoren aus guten Gründen nicht bereit, so viel für japanische ­Aktien zu bezahlen wie für US-Titel. Zukünftige Eigenkapitalrendite und Dividendenwachstum entscheidend für die Bewertung Mindestens genauso interessant wie das Ni­ veau ist der Trend der Eigenkapitalrenditen in den vergangenen Jahren. Grafik 13 auf Seite 21 zeigt auch, dass die Rentabilität in den USA, Europa und den Emerging Markets seit vier Jahren abgenommen hat, während sie in Japan deutlich gestiegen ist. Daraus ließe sich ja schließen, dass Japans Börsengesellschaf­ ten mittlerweile vielleicht doch auf dem rich­ tigen Weg sind. Grundsätzlich ist zunächst festzuhalten, dass die japanischen Unterneh­ men – genauso wie Firmen in Europa oder den USA – in den vergangenen Jahren unter einer relativ geringen Kapitalumschlaghäufigkeit ge­ litten haben. Das heißt, das Management konnte das im Unternehmen eingesetzte Kapi­ tal nicht so intensiv nutzen wie in normalen Zeiten. Mit anderen Worten: Die Kapazitäten waren nicht ausgelastet. Die japanische Noten­ bank wirkte diesem Effekt jedoch mit einer fragwürdigen Strategie entgegen, einer drama­ tischen Schwächung der eigenen Währung. Zwischen 2012 und 2015 verlor der japanische Yen aufgrund der massiven Eingriffe der Bank of Japan auf handelsgewichteter Basis unge­ fähr 35 % an Wert, wodurch die operativen Gewinnmargen japanischer Unternehmen deutlich stiegen und sich damit auch ihre Eigen­kapitalrenditen erhöhten. Allerdings lässt sich eine solche Strategie natürlich nicht ewig fortsetzen. Die japanische Notenbank musste dieses Jahr – trotz einer nach wie vor expansiv ausgerichteten Geldpolitik – hilflos mitanse­ hen, wie der Yen immer stärker wurde. Inso­ fern wäre es falsch, den aktuell positiven Trend bei den Eigenkapitalrenditen in die Zukunft zu extrapolieren. Uns erscheint es realistischer, dass die zukünftige Rentabilität japanischer Unternehmen im langjährigen Durchschnitt ­liegen wird. Wir kalkulieren deshalb mit der mittleren Eigenkapitalrendite der vergangenen Jahrzehnte und ziehen außerdem beim Ver­ gleich der Attraktivität der verschiedenen Ak­ tienmärkte Unterschiede beim Dividenden­ wachstum mit in Betracht, weil davon auszu­ gehen ist, dass Investoren grundsätzlich einen höheren Preis für eine Aktie bezahlen, wenn diese hohe laufende Ausschüttungen ver­ spricht. Erst nach Auswertung aller relevanten Bewertungsparameter – also das aktuelle Kurs-Buchwert-Verhältnis sowie die historische Eigenkapitalrendite und das Dividendenwachs­ tum – lässt sich folgende Frage beantworten: Welche implizite Rendite ist zu erwarten, wenn beispielsweise US-amerikanische Aktien zum aktuellen Kurs-Buchwert-Verhältnis von 2,9 ge­ kauft werden und diese dann für die Haltedau­ er eine Eigenkapitalrendite und ein Dividen­ denwachstum im historischen Durchschnitt versprechen? Die Antwort auf diese Frage 23 zeigt Grafik 14. Die am Aktienmarkt einge­ preiste implizite jährliche Rendite liegt bei USAktien heute bei 8,5 %. Dies mag zunächst viel erscheinen, ist jedoch weniger als in den Emerging Markets oder Europa und liegt au­ ßerdem auch unter der seit den 1970er-Jahren mit US-Aktien erzielten Rendite. Unter Sub­ stanzwertgesichtspunkten sind US-Aktien damit sowohl im internationalen Vergleich als auch relativ zu ihrer eigenen Historie teuer. ­Japanische Unternehmen hingegen scheinen – zumindest gegenüber ihrer Historie – fair be­ wertet zu sein, während Dividendentitel aus Europa und den Emerging Markets noch Be­ wertungsspielräume haben. Das relativ hohe Bewertungsniveau von US-Aktien muss aber nicht das Ende der jahrelangen Hausse am US-amerikanischen Aktienmarkt bedeuten. Die Erfahrung lehrt uns, dass teure Börsen oftmals noch teurer werden. Wir halten es jedoch für unklug, dieses nüchterne Analyseergebnis zu ignorieren und die Investment-Strategie nur von aktuellen Trendüberlegungen abhängig zu machen. Entsprechend sind wir in unseren Portfolios übergewichtet in relativ günstigen Aktien aus den Emerging Markets und Europa. Wir halten diese regionale Übergewichtung für angebracht, obwohl die politische Agenda in Europa vollgespickt ist mit Themen, die für er­ hebliche Unsicherheit sorgen können. Hierzu zählen, um nur ein paar zu nennen, die lang­ fristigen Folgen des Migrationsdrucks und des Brexit-Votums, der politische Erfolg links- und rechtspopulistischer Parteien oder das bevor­ stehende Verfassungsreferendum in Italien. All diese hochbrisanten Themen schüren gewisse Ängste, wobei aber nicht zu vergessen ist, dass Anleger oftmals das Gefühl haben, in ­außergewöhnlichen Zeiten zu leben. Aktuelle Krisen werden deshalb meist als bedrohlicher wahrgenommen als vergangene. Wir denken Grafik 14: Bewertung auf Eigenkapitalbasis zeigt – Europäische und Emerging-Markets-Aktien sind derzeit günstig Renditen und Dividendenwachstum in % p. a. Eigenkapital­rendite Kurs-Buchwert Dividenden­ wachstum Implizite Rendite* Historische Rendite Bewertung USA 14,2 2,9 5,5 8,5 < 9,0 Teuer Europa 11,9 1,7 5,8 9,3 > 8,8 Günstig Emerging Markets 12,1 1,5 7,2 10,4 > 10,1 Günstig 6,6 1,2 3,2 5,9 = 5,9 Japan Fair * Implizite Rendite auf Basis des Gordon-Growth-Modells; für Eigenkapitalrendite, Dividendenwachstum und historische Rendite langfristige Durchschnittswerte Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler Stand: September 2016 24 jedoch nicht, dass die politische Lage heute wirklich viel beunruhigender ist als zu Zeiten der Kuba-Krise oder des Kalten Kriegs. Der ­Aktienmarkt hat selbst epochale politische Umbrüche immer schnell verdaut. Das jüngste Beispiel dafür waren die nur kurzfristig spür­ baren Marktturbulenzen nach dem Brexit-­ Votum. Wann solche Schwankungen zutage treten, lässt sich im Vorhinein nicht immer sagen. Das durchschnittliche Verlaufsmuster der Volatilität am deutschen Aktienmarkt seit 1992 lässt eigentlich vermuten, dass der Jah­ resanfang an den Börsen nicht sehr turbulent verläuft, dafür aber die Monate August bis Ok­ tober (siehe Grafik 15). In diesem Jahr verhielt es sich allerdings genau umgekehrt. Insofern gibt es leider keine Regelmäßigkeiten, die vor Börsenturbulenzen warnen; Schocks treten per definitionem unerwartet auf. Ein stringenter ­Investmentprozess und eine umfassende fun­ damentale Analyse können aber trotzdem hel­ fen, das Risiko zu minimieren, überteuerte ­Aktien zu erwerben. Zwischenzeitliche Kurs­ schwankungen sollten also als Chance ge­ sehen werden, dass – um bei Warren Buffett zu bleiben – „solide Unternehmen ab und an zu guten ­Preisen zu haben sind“. Grafik 15: Ein atypischer Jahresverlauf – Seit Anfang 2016 hat die Volatilität deutscher Aktien den Rückwärtsgang eingelegt Absolute Änderung des VDAX im Jahresverlauf (geglättet) in Indexpunkten 8 Brexit 6 4 2 0 1992–2015 (Durchschnitt) -2 2016 -4 Jan Feb Mrz Apr Quellen: Thomson Reuters Datastream, Metzler Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Stand: September 2016 25 26 Impressum Herausgeber Bildnachweis B. Metzler seel. Sohn & Co. Kommanditgesellschaft auf Aktien Private Banking Untermainanlage 1 60329 Frankfurt am Main Titel, S. 3: © Ulrich Kolb / www.fotolia.com S. 5: © ra2 studio / www.fotolia.com S. 6: © Tobias Arhelger / www.fotolia.com S. 8: © Claus Mikosch / www.fotolia.com S. 10: © Andrei Korzhyts / www.fotolia.com S. 13: © Delphotostock / www.fotolia.com S. 17: © Eisenhans / www.fotolia.com S. 21: © ipopba / www.fotolia.com S. 24: © weseetheworld / www.fotolia.com Redaktion Gerald Pucher Carolin Schulze Palstring Timo Schwietering Gestaltung und Satz Susanne Großholz Ilonka Ritter Heike Stark Erscheinungsort Frankfurt am Main Redaktionsschluss 31. Oktober 2016 27 Grundsätzliche Hinweise Dieser Bericht ist von B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA („Metzler“) erstellt worden und enthält Informationen, die aus öffentlichen Quellen stammen, die wir für verlässlich halten. Wir übernehmen jedoch weder eine Garantie für die Richtigkeit dieser Informationen, noch stellt dieser Bericht eine voll­ ständige Darstellung oder Zusammenfassung der Märkte oder Entwicklun­gen dar. Die in diesem Bericht enthaltenen Meinungen, Vorhersagen, Schätzungen und Prognosen unterliegen unangekündigten Änderungen. Metzler ist nicht verpflichtet, diesen Bericht abzuändern, zu ergänzen oder auf den neuesten Stand zu bringen oder die Empfänger in anderer Weise darüber zu informieren, dass sich die im Bericht wiedergegebenen Umstände, Meinungen, Vorhersagen, Schätzungen oder Prognosen verändert oder später als falsch, unvollständig oder irreführend erwiesen haben. Dieser Bericht dient ausschließlich der Information. Er ist nicht auf die speziellen Investmentziele, Finanz­situationen oder Bedürfnisse der Empfänger ausgerichtet. Bevor ein Empfänger auf Grund­lage der in diesem Bericht enthaltenen Informationen oder Empfehlungen handelt, sollte er abwägen, ob diese Entscheidung für seine persönlichen Umstände passend ist, und sollte folglich seine eigenständigen Investment­ entscheidungen gemäß seiner spezifischen Finanz­situation und seinen Investmentzielen treffen. Dieser Bericht ist keinerlei Angebot oder Aufforderung zum Kauf oder Verkauf von Finanzinstrumenten – und auch nicht Teil eines/einer solchen. Der Bericht oder Teile des Berichts ist/sind keine Grundlage für irgendeine Art von Vertrag oder Verpflichtung. Weder Metzler noch die Autoren haften für diesen Bericht oder die Verwendung seiner Inhalte. Die Empfänger müssen bedenken, dass Performancedaten der Vergangenheit nicht als Indikation für die zukünftige Performance angesehen werden können und daher nicht als Entscheidungsgrundlage für Investitionen in Finanzinstrumente herangezogen werden soll­ten. Eventuelle Erträge aus Investitionen unterliegen Schwankun­gen; Preise oder Werte von Finanzinstrumenten, die in diesem Bericht be­ schrieben werden, können steigen oder fallen. Ohne vorherige schriftliche Zustimmung von Metzler darf/dürfen dieser Bericht oder Teile davon nicht kopiert, vervielfältigt oder verteilt werden. Mit der Entgegennahme dieses Berichts erklären Sie sich mit den vorhergehenden Bestimmungen einverstanden. B. Metzler seel. Sohn & Co. Kommanditgesellschaft auf Aktien Private Banking Frankfurt am Main München Untermainanlage 1 Odeonsplatz 2 60329 Frankfurt am Main 80539 München Telefon (0 69) 21 04 - 46 15 Telefon (0 89) 28 70 19 - 0 Telefax (0 69) 21 04 - 47 77 Telefax (0 89) 28 30 75 [email protected] [email protected] Hamburg Stuttgart ABC-Straße 10 Kernerstraße 52 20354 Hamburg 70182 Stuttgart Telefon (0 40) 3 41 07 69 - 0 Telefon (07 11) 24 83 94 - 60 Telefax (0 40) 3 41 07 69 - 20 Telefax (07 11) 24 83 94 - 80 [email protected] [email protected] Köln/Düsseldorf www.metzler.com Burg Etgendorf 50181 Bedburg/Erft Telefon (0 22 72) 40 99 - 0 Telefax (0 22 72) 40 99 - 50 [email protected]