4 POLITIK & GESELLSCHAFT Luxemburger Wort Samstag und Sonntag, den 15./16. Oktober 2016 Nach Fahrplan in die Hölle Vor 75 Jahren fuhr der erste Deportationszug von Luxemburg in das jüdische Ghetto von Litzmannstadt VON JOHN LAMBERTY Am 16. Oktober 1941 verließ der erste Deportationszug ins polnische Ghetto Litzmannstadt den Hauptbahnhof in Luxemburg. Nach Ausgrenzung und Entrechtung wartete nun auch auf die Juden hierzulande das Grauen des Holocaust. „In dem Bestreben, der Volksgemeinschaft einen Dienst zu erweisen, sind gestern die im Bereich des Chefs der Zivilverwaltung noch ansässig gewesenen Juden nach dem Osten ausgesiedelt worden“, berichtet das gleichgeschaltete „Luxemburger Wort“ am 17. Oktober 1941. Obwohl zu diesem Zeitpunkt wohl noch hunderte Juden im besetzten Luxemburg ihres weiteren Schicksals harrten, hatte Gauleiter Gustav Simon seinen zynischen Triumphschrei nicht zurückhalten können: Luxemburg judenfrei! Nur einen Tag zuvor hatte der erste Deportationszug mit 512 Juden, darunter nach letzten Zahlen 323 aus dem Großherzogtum und 189 aus dem damaligen Regierungsbezirk Trier, den Hauptbahnhof in Luxemburg verlassen. Ziel: das polnische Ghetto Litzmannstadt (Lodz). Für die einen der Tod, für die anderen nur der Vorhof zur Hölle der Vernichtungslager im Osten. Kulmhof, Treblinka, Auschwitz-Birkenau ... Aussiedlung und Evakuierung – Euphemismen für die Vernichtung Aussiedlung und Evakuierung – Mit solch kruden Euphemismen umschrieb der nationalsozialistische Verwaltungsapparat die Deportationen in Ghettos und KZs. Ebenso wie man das als Sammellager missbrauchte Kloster Fünfbrunnen als „jüdisches Altersheim“ zu tarnen suchte. Erst Mitte 1941 hatten die Nazis das abgelegene Konvent bei Ulflingen zur Internierungsstätte umfunktioniert, um hier bis 1943 mehr als 300 Juden unter unwürdigsten Bedingungen zusammenzupferchen und in mehreren Transporten in den Tod zu schicken. Insgesamt sollten bis zum Sommer 1943 aus Luxemburg knapp 700 jüdische Männer, Frauen und Kinder in sieben Zügen in die Ghettos und Vernichtungslager deportiert werden. Mehr als 500 weitere aus Luxemburg stammende Juden wurden aus Belgien und Frankreich dorthin verschleppt. Nur etwa 70 überlebten. Unter jenen, die am 16. Oktober 1941 ab Luxemburg mit dem ersten Deportationszug ins Ghetto Litzmannstadt verbracht wurden, befand sich auch Jakob Finkelstein und seine Familie. 1928 waren die Finkelsteins nach Differdingen gezogen, um den Friseursalon von Jakobs Bruder zu übernehmen. Im Zuge des deutschen Einmarschs im Mai 1940 war die Familie kurzfristig nach Wiltz evakuiert worden. Einen Monat später kehrten sie zurück, um den Friseurladen wieder zu öffnen. Ob sich Jakob eine Auswanderung nicht hatte leisten können oder ob er einfach der Hoffnung vertraute, dass der Hass der Nazis die bescheideneren Juden nicht ganz so hart treffen würde, der Im monumentalen „Buch der Namen“ in der Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau sind die (FOTO: JOHN LAMBERTY) Namen von mehr als vier Millionen ermordeten Juden aufgelistet, darunter auch Shoa-Opfer aus Luxemburg. Verbleib im besetzten Luxemburg sollte sich jedenfalls bald als fatal erweisen. Im September 1941 wurde er von den Nazis nach Greimerath bei Wittlich verschleppt, um dort mit 54 weiteren luxemburgischen Leidensgenossen als Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Lagerbedingungen für den Bau des Autobahnteilstücks Wittlich-Hasborn zu schuften. Wie Recherchen des Historikers Denis Scuto ergeben haben, hatte Jakobs Name zuvor bereits Am Kloster Fünfbrunnen, das die Nazis als Sammellager für die Juden missbrauchten, wird jährlich aller Shoa-Opfer gedacht. (FOTO: A. WAGNER) auf einer Liste in Luxemburg ansässiger Juden polnischer Abstammung figuriert, die die hiesige Verwaltungskommission im November 1940 in Zusammenarbeit mit der Ausländerpolizei an den Chef der Zivilverwaltung weitergeleitet hatte. Am 16. Oktober 1941 wurde Jakob Finkelstein dann mitsamt seiner Familie von Luxemburg ins Ghetto Litzmannstadt abtransportiert. Während seine Mutter Esther hier im April 1942 verstarb, wurde Jakob vermutlich um diese Zeit mit den übrigen Familienmitgliedern in den Gaskammern des Vernichtungslagers Kulmhof (Chelmno) ermordet, die Tochter Rachel möglicherweise erst 1944 in Theresienstadt. Ein Schicksal von Millionen ... „Eine Tragödie, wie die Geschichte keine zweite kennt“ „Die Deportation der Westjuden nach Lodz ist eine Tragödie, wie die Geschichte keine zweite kennt“, hatte der polnische Agraringenieur Jakub Poznanski in seinen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Ghetto Litzmannstadt geschrieben. Als der erste Deportationszug aus Luxemburg am 18. Oktober 1941 eintraf, lebten – oder besser: vegetierten – dort bereits 160 000 polnische Juden. Nun sollten innerhalb weniger Monate nochmals 20 000 weitere aus dem „Altreich“ hinzukommen, darunter eben auch aus Luxemburg. Insgesamt sollen zwischen 1940 und 1944 in Litzmannstadt 43 441 Menschen gestorben sein, ob an Tuberkulose, Typhus, Kälte oder Unterernährung. Wer Zwangsarbeit und La- gerbedingungen überlebte, musste über kurz oder lang mit dem Weitertransport in eines der Konzentrationslager im Osten rechnen. 75 Jahre später ist das Schicksal der Luxemburger Juden heute vielleicht stärker ins Kollektivgedächtnis des Landes vorgedrungen als je zuvor. Im Juni 2015 haben sich Parlament und Regierung infolge des Artuso-Berichts offiziell bei der jüdischen Gemeinde für das Leid entschuldigt, das den Juden während der deutschen Besatzungszeit in Luxemburg zugefügt wurde. Mit der Anerkennung geht aber zugleich die Pflicht des Fragens einher, nach Wissen und Wegsehen, nach Formen der Opferhilfe und der Kollaboration, nach der Rolle des Einzelnen im Räderwerk des Terrors. Nicht im ideologisch verbrämten Schwarz-Weiß, sondern in allen Grauschattierungen des Lebens. Deportationszüge aus Luxemburg 16. Oktober 1941: Litzmannstadt 23. April 1942: Izbica 12. Juli 1942: Auschwitz 26. Juli 1942: Theresienstadt 28. Juli 1942: Theresienstadt 6. April 1943: Theresienstadt 17. Juni 1943: Theresienstadt / Auschwitz Insgesamt wurden zwischen 1941 und 1943 fast 700 Juden aus Luxemburg in die Ghettos und Todeslager in Osteuropa verbracht. Mehr als 500 aus Luxemburg stammende Juden wurden zudem über Belgien und Frankreich deportiert. jl