ZUM THEMA HISTORISCHE AUFFÜHRUNGSPRAXIS

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Zum Thema Historische Aufführungspraxis
ZUM THEMA HISTORISCHE AUFFÜHRUNGSPRAXIS
RUDOLF STEPHAN
Der Begriff „Aufführungspraxis“ ist relativ neu. 1922, in der zehnten Auflage
von Hugo Riemanns Musiklexikon, findet er sich noch nicht, in der elften von
1929 ist er zwar aufgenommen, aber es wird, ohne daß ein eigener Artikel
vorhanden wäre, auf das Stichwort „Dirigieren“ verwiesen. Das wissenschaftliche Werk, das den Begriff in der breiteren musikalischen Öffentlichkeit eingebürgert und durchgesetzt hat, erschien 1931 in der Buchreihe „Musikpädagogische Bibliothek“ (als Band 10) und hieß treffend Aufführungspraxis alter Musik. Sein Autor war Arnold Schering, damals bereits Ordinarius an der
Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität1. Es konzentrierte sich wesentlich auf
die Musik seit der Renaissance bis hin zur Barockzeit. Im selben Jahr begann
auch das weiter ausgreifende Werk Aufführungspraxis der Musik des Wiener
Gelehrten Robert Haas im Rahmen des von Ernst Bücken herausgegebenen
Handbuch der Musikwissenschaft zu erscheinen, eine erste umfassende geschichtliche Darstellung dieses Gebiets von der Antike bis zur Gegenwart2.
Freilich gab es das Wort bereits früher, so etwa im Titel eines Aufsatzes
von Hans Mersmann, Beiträge zur Aufführungspraxis vorklassischer Kammermusik3 und dem eines Vortrags von Johannes Wolf, Über den Wert der
musikalischen Aufführungspraxis für die historische Erkenntnis4. Hans Pfitzner jedoch nannte sein freilich mit aktuellen Aufführungsfragen befaßtes Buch
1 A. Schering, Aufführungspraxis alter Musik, Leipzig 1931 (= Musikpädagogische Bibliothek, Heft 10).
2
R. Haas, Aufführungspraxis der Musik, Potsdam 1931 (= Handbuch der Musikwissenschaft, Bd 10).
3 H. Mersmann, Beiträge zur Aufführungspraxis vorklassischer Kammermusik, in: Archiv für Musikwissenschaft 2, 1919/1920, S. 99-143.
4 J. Wolf, Über den Wert der musikalischen Aufführungspraxis für die historische Erkenntnis, in: Kongreßbericht Leipzig 1925, Leipzig 1926, S. 199-202.
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einfach und unmißverständlich Werk und Wiedergabe5. In ihm spricht der produktive und reproduktiv tätige Künstler, der Komponist und der Kapellmeister. Pfitzner und Schering, der Künstler und der Gelehrte, bilden eine Konstellation, die eine eigene Darstellung verdiente.
Seine Durchschlagskraft gewann Scherings Buch zunächst einmal nicht
nur dadurch, daß es ein aktuelles Bedürfnis befriedigte, dann aber insbesondere durch eine These, die geeignet erschien, eine alte ehrwürdige Tradition zu
erschüttern; es war die These vom hohen instrumentalen Anteil an der Aufführung jener Musik, die als reine Vokalmusik, als a capella gesungene alte Kirchenmusik seit dem Zeitalter der Romantik Gegenstand schwärmerischen
Kultes war (und in gewisser Weise in Pfitzners Palestrina ihre Apotheose gefunden hatte). Schering, der Protestant, der verdienstvolle, sehr vielseitige (jedoch hypothesen- und spekulationsfreudige) Musikhistoriker und Herausgeber
des Bach-Jahrbuchs, hatte seine diesbezüglichen Forschungen bereits in mehreren Fachpublikationen vorgetragen (und dabei nicht stets ausreichend begründeten Widerspruch gefunden), aber jetzt erst, seitdem die praktische Musikübung in Sing- und Spielgruppen, in Vereinen und Verbänden aller Art sich
dieser alten Musik für ihre Zwecke bedienen wollte, gewann sie unmittelbare,
über den Bereich der Wissenschaft weit hinausweisende Aktualität. „Aufführungspraxis“ wurde zum Schlagwort.
Die Frage, wie dies nun wiederum möglich geworden war, erscheint vielleicht nicht ganz überflüssig. Waren es die neuen Schichten, die aktiv ins Musikleben drängten, oder war es der zunehmende Einfluß der Musikwissenschaft? Wie ist die Sache, die jetzt plötzlich Aktualität gewinnen konnte, als
Problem so herangereift, daß das allgemeine musikalische Bewußtsein davon
berührt wurde?
Die folgenden Ausführungen gliedern sich in drei sehr ungleichgewichtige
Abschnitte. Der erste wird die A-capella-Praxis betreffen, der zweite die Geschichte der Bach-Aufführungen seit dem 19. Jahrhundert, der dritte den Einfluß der neuen Musik auf die Aufführungspraxis der alten.
Die Kirchenmusik des ausgehenden 18. Jahrhunderts war, wie alle Musik
tonkünstlerischen Anspruchs – man denke nur an die sonatenförmigen Messensätze Mozarts –, instrumental geprägt. Die versunkene Welt der alten Kirchenmusik, vor allem der altitalienischen, in deren Zentrum die beinahe mythische Gestalt Palestrinas stand, wurde zum Gegenstand der schwärmerischen Bewunderung junger Gebildeter, die sich zurücksehnten in ein goldenes
Zeitalter, in dem der reine Klang der menschlichen Stimme die strengen
kirchlichen Sätze zum Lobe Gottes erschallen ließ. Die alte Kirchenmusik
5

H. Pfitzner, Werk und Wiedergabe, Augsburg 1929 (= Gesammelte Schriften, Bd 3).
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wurde der verweltlichten neuen entgegengehalten, das Interesse an ihr beflügelte die Erkundung der Quellen und die Wiederaufführung. In privaten Zirkeln wurde gesungen, zwar voller Hingabe und Andacht, aber (selbstverständlich) auch mit Frauenstimmen und, wie die großen Noten nahelegten, viel zu
langsam. Und doch gab es bedeutende Wirkungen: Die Praxis blieb sekundär
gegenüber der Erkenntnis eines Ideals, dem der „Reinheit der Tonkunst“, die
als Widerklang der himmlischen Musik gedacht wurde. Dieses Ideal hat
mächtig in der katholischen Kirchenmusik nachgewirkt, aber auch im Bereich
des Protestantismus, insbesondere in Berlin, wo es mit den Namen Eduard
Grell, Heinrich Bellermann und Gustav Jacobsthal verbunden ist. Die kirchliche Musikpflege und die akademische wurden davon beherrscht, bis eben Arnold Schering den instrumentalen Aufführungsanteil feststellte. Das Beharren
auf der Überzeugung, daß die alte Vokalmusik die wahre Musik ist, die neue
instrumentale etwas Sekundäres und Abgeleitetes, brachte immerhin die Erkenntnis, daß das Fortschrittsdenken, das damals auch die Auffassung von der
Musikentwicklung beherrschte, problematisch sei, weil es unüberholbare Meisterwerke in der Vergangenheit gäbe, die sich ganz anderen Voraussetzungen
verdanken, als die damals neueste Musik, ja selbst als die der Klassiker.
Die Musik Johann Sebastian Bachs hat für die gegenwärtige Kunstübung
nicht mehr die gleiche Bedeutung wie vor einem halben Jahrhundert. Das
Œuvre der größten damals schöpferisch tätigen Musiker – Arnold Schönberg,
Béla Bartók, Igor Strawinsky, Paul Hindemith – ist ohne unmittelbare Einwirkung der Werke Bachs nicht vorstellbar; die Bach-Interpretation reichte von
freiester Bearbeitung bis hin zu „werksgetreuer“, besser: „notengetreuer“ Darbietung. Und beides nahm für sich nicht grundlos Aktualität in Anspruch. Die
bedeutendsten Theoretiker aller Länder – Ernst Kurth, Boris Assafieff, Boris
de Schloezer – mühten sich um Deutung seiner Werke, die bedeutendsten Musikhistoriker – Jacques Handschin, Heinrich Besseler, Arnold Schering, Friedrich Blume – um eine neue, angemessenere Bestimmung seiner Stellung in
der Musikgeschichte. Um 1950, einem Bach-Jahr, war Bach der unter den Gebildeten sicher am höchsten geschätzte Komponist. Heute ist wohl Mozart an
dessen Stelle getreten, wobei allerdings nicht zu sehen ist, daß dessen Kunst
auf die zeitgenössische nachdrücklich wirkt. Mit der Zeit hat sich eben auch
die Einstellung der Schaffenden zur musikalischen Tradition verändert, und es
scheint, als habe die gewaltige Wirkung der Kunst Bachs, die sich im 19.
Jahrhundert (allerdings nicht stetig) steigerte und wohl in der ersten Hälfte
des 20. kulminierte, nachgelassen, als sei sie erschöpft.
Vielleicht hat die Kunst Bachs aufgehört zu irritieren, weil die harmonische Grundlage der Musik, die er durch seine kontrapunktisch legitimierte
Melodieführung bereicherte, nicht mehr als etwas Selbstverständliches, quasi
Natürliches anerkannt wird. Dabei geht es jedoch nicht um einzelne Klänge,
sondern um den Zusammenhang, wie dieser durch Harmonie und Stimmfüh
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rung gewährleistet, als sinnvolle in sich geschlossene Ganzheit erfahren und
empfunden wird.
Daß an einzelnem unter verschiedenen Begründungen Anstoß genommen
wurde, ist demgegenüber fast belanglos, ist vielleicht sogar eher ein Zeichen
dafür, daß nicht alles einfach akzeptiert wurde – nur weil es von einem berühmten Autor stammt; die Bemühungen um ein Verständnis fanden Haftpunkte an den Werken, die eben doch auf irgendeine Weise auch befremdlich
wirkten. Das gilt selbst für die Choralsätze!
Dem als Komponist, Theoretiker und Orgelfachmann zu seiner Zeit berühmten Abt Johann Georg Vogler, einem Aufklärer und Rationalisten in
geistlichem Gewand, paßten die Harmonisierungen dieser auch danach berühmten Sätze nicht in sein System, und so glaubte er sich in der Lage, sie
nach Regeln „verbessern“ zu können, schickte schließlich sogar 1810 seinen
Schüler Carl Maria von Weber vor, ihm seine „Verbesserungen“ zu begründen
und zu rechtfertigen. Weber meint, Vogler sei berechtigt und in der Lage,
Bachs Tonsätze zu verbessern, weil er „rein systematisch zu Werke geht“, er
sich also nicht darauf beschränken muß zu verbieten und zu gebieten; er sei
vielmehr der erste, der „auch beweist und philosophisch seine Grundsätze
reiht“6. Die Trostlosigkeit der Voglerschen Revision bedarf heute keiner Diskussion mehr – ein Blick auf die Notenbeispiele erweist dies zur Genüge7 –,
aber der Versuch, Kunst rational zu regulieren, durch Regeln zu einem System
zu erheben, das die Kunstübung zur Regelanwendung macht, das Kunstprodukt also nach seiner „Richtigkeit“ bemißt, das ist der Aspekt, der heute Aufmerksamkeit verdient. Die freie Fantasietätigkeit wird durch eine an sich fantasielose Tätigkeit der Regelanwendung ersetzt; der Künstler wird überflüssig.
Um Vogler (und mit ihm den jungen Weber) nicht ungerecht zu beurteilen,
muß man sich vergegenwärtigen, daß den Choralsätzen damals kaum mehr
praktische Bedeutung zukam, sie vielmehr zu praktischen Theorieexempeln
herabgesunken waren. Der unter den wahren Künstlern nie angezweifelte
Ruhm Bachs galt dem Fugenmeister, insbesondere dem Komponisten des
Wohltemperierten Klaviers. Bach war der Klassiker der Fuge, wohlgemerkt:
der instrumentalen Fuge. Einem angemessenen Verständnis der vokalen Musik Bachs standen, wie Zelter einmal an Goethe schrieb, die „verruchten Kirchentexte“ im Wege.
Es ist hier sicher nicht der Ort, um die Geschichte der Wiederbelebung
Bachs neuerlich zu erzählen, aber es bedarf doch des Hinweises, daß diese
Bach-Renaissance ein ganz einzigartiger, nicht etwa ein mit anderen Renais-
6 C. M. v. Weber, Sämtliche Schriften, hrsg. v. G. Kaiser, Berlin und Leipzig 1908,
S. 230.
7

Ebenda, S. 234.
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sancen vergleichbarer Vorgang war. Bachs Musik wurde nämlich nicht als
das, was sie nach der Vorstellung ihres ganz den Traditionen der musikalischen Handwerkslehre der alten Zeit und der protestantischen Kirchenmusik
verpflichteten Autors war, aufgefaßt, sondern im Sinne der romantischen Musikanschauung des beginnenden 19. Jahrhunderts als absolute Musik, ja vielleicht sogar als Ideal einer absoluten Tonkunst rezipiert. Robert Schumann
nennt in seinen Musikalischen Haus= und Lebensregeln ausdrücklich nur einen einzigen Komponisten, Bach, um zum unablässigen Studium von dessen
Werken anzufeuern8; nicht etwa um diese oder jene Einzelheit zu lernen, sondern um sich von dessen Art Musik zu machen, prägen zu lassen. Aber selbst
die größten Bach-Enthusiasten, die Musiker, die für die Wiederbelebung der
Werke Bachs vor der Öffentlichkeit mit größtem Einsatz arbeiteten, fanden in
den Vokalwerken, auch und gerade nach der Wiederaufführung der MatthäusPassion durch Felix Mendelssohn Bartholdy, einiges als zeitgebunden zu verbessern. Der in Frankfurt am Main tätige Johann Nepomuk Schelble kürzte
für die von ihm geleiteten Aufführungen nicht nur die Rezitative des Evangelisten der Matthäus-Passion, sondern vereinfachte sie auch, indem er ihren so
eigentümlichen, ausdrucksvollen Deklamationsstil ganz erheblich minderte9.
Er fand damit Beifall ganz ausgezeichneter Musiker, die sich gern seiner Bearbeitung bedienten. Dazu gehörte auch der umfassend gebildete Musiker, der
Komponist, Geiger, Musiktheoretiker und große Bach-Verehrer Moritz Hauptmann, der spätere Thomaskantor. Er begründet seine Kritik an der Ausdruckshaltung Bachs im Seccorezitativ des Evangelisten. Von der Erstaufführung der
Matthäus-Passion in Kassel 1833 berichtet er seinem Freund, dem hervorragenden Sänger (und sehr erfolgreichen Sammler von Bach-Handschriften)
Franz Hauser:
... Unsre Aufführung der Passion war für die Umstände so übel nicht, und wenn man
sie bald wieder geben könnte würde sie recht gut gehen. Die Chöre gingen am besten,
die Solosachen sind auch zu schwer für unsre Sänger, der Dilettanten noch zu geschweigen – ich wüßte außer Ihnen und Schelble doch auch keinen der so etwas gut
vortragen könnte so daß es klänge wie aus eigner Brust gesungen, und daß man nicht
immer die Aufgabe von der Lösung, oder dem Versuch dazu, getrennt vornehmen
müßte. Die Recitative des Evangelisten wurden nach Schelble’s Bearbeitung gesungen, die ich, wenn auch nicht in jeder Einzelheit, im Ganzen doch sehr billigen muß;
wenn damit zugleich Mißbilligung der Bachschen ausgesprochen ist, so soll sie nicht
dem individuellen Componisten S. Bach gelten. Es ist eine Individualität der Zeit,
Eine des Orts (klimatische), und Eine des Individuums – und dieses ist den beiden er8 R. Schumann, Musikalische Haus= und Lebensregeln, in: Gesammelte Schriften über
Musik und Musiker, Leipzig 1914, 2. Bd, S. 166.
9 Eine hinreichende Darstellung von Schelbles Bearbeitung vermittelt der kleine Aufsatz von Georg Feder in: Die Musikforschung 12, 1959, S. 201-206.
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steren unterworfen, ohne daß es die Schuld ihrer Mängel zu tragen hätte. Das Recitativ ist italienischer (hellenisch-classischer) Natur, wo das Wort vorwaltet vor der Musik. Bach hat wohl keine innere und keine äußere Veranlassung gehabt, sich mit italienischer Opernmusik vertraut zu machen wo das Recitativ einheimisch ist; seine Recitative sind als Recitativ überhaupt unvollkommen – er verläßt hier den sicheren Boden, das heimathliche germanische Gebiet, und tritt als Fremdling in ein anderes wo
er der Sprache nicht mächtig ist. Wenn dies seine Recitative im Allgemeinen betrifft,
so ist an denen des Evangelisten noch besonders eine ungehörige Leidenschaftlichkeit
und Unruhe auszusetzen. Wenn heut zu Tage ein Jünger seines Herrn und Meisters
Geschichte zu schreiben hätte, wie ganz anders würde er sich dabei nehmen als der
Evangelist – das zehnte Wort würde ein gemüthliches, ein lobendes preisendes für ihn
oder ein schmähendes für den Gegner sein. – Dort keine Spur davon, ja die ganze
Darstellungsweise der Art, daß es nicht möglich wär’ etwas dergleichen anzubringen,
daß es nicht als völlig fremd sich absonderte. Homer sagt noch „der g ö t t l i c h e
Odysseus, die t r o t z i g e n Freier“ – der Evangelist allein verfährt, rein erzählend, seine Darstellung allein ist rein objectiv; er sagt: Jesus, er sagt: Judas; nicht der gütige
etc., nicht der verrätherische – mit dieser völligen Gefühlsverläugnung im Ausdruck
ist aber auch streng genommen das Wort des Evangelisten, solange er nicht einen andern redend einführt, n i c h t m u s i k a l i s c h (ohne Subjectivität keine Musik), und es
mußte, da es in der Passion in Musik gesetzt werden sollte, sich so zu sagen an der äußersten Peripherie des musikalischen Gebietes, eben nur an seiner Grenze halten, musikalisch möglichst farblos ausgedrückt werden. Es ist nicht unter, es ist ü b e r der Musik,
es ist aus der Erdnähe i n w e l c h e r a l l e i n K u n s t m ö g l i c h i s t herausgetreten. Erst
wenn es im Evangelium heißt: er sprach, – und die Worte dann von andern Sängern vorgetragen werden, erst dann ist der volle musikalische Ausdruck am Platz10.
Es ist hier in erster Linie nicht der geschärfte, für den damaligen Geschmack übertreibende Ausdruck, der im Zeitalter des Klassizismus Anstoß
erregte (und eine Milderung im Interesse einer angemessenen Wirkung auf ein
[nicht nur musikalisch] gebildetes Publikum nahelegte), die Vermutung, die
Kunst maße sich den gleichen, ja womöglich sogar noch einen höheren Rang
an als die Religion (das heißt die Kunstreligion trete an die Stelle der geoffenbarten Religion11).
10 Briefe von Moritz Hauptmann … an Franz Hauser, hrsg. v. A. Schöne, 1. Bd, Leipzig 1871, S. 102-104 (Brief vom 19. April 1833).
11 Etwas Analoges meinte wohl Justus Anton Friedrich Thibaut, der ebenso bedeutende
wie gelehrte Jurist und leidenschaftliche Wiedererwecker der alten Kirchenmusik, als er in
seiner berühmten Schrift Über Reinheit der Tonkunst (1824) beklagte, daß Bach nicht zum
„Retter des Choralgesanges“ werden konnte, weil er „die Kunst im Figurieren zu höchster
Vollendung zu bringen und die höchste Stufe der Kunst zu erreichen (suchte), ohne auf das
Rücksicht zu nehmen, was dem frommen Sinne des Volkes zusagt“ (5. Auflage von R.
Heuler, Paderborn 1907, S. 10).

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Es versteht sich, daß man in der Zeit um und nach der Jahrhundertwende,
einer Zeit, die die auch noch von Eduard Hanslick vertretenen klassizistischen
Ideale längst preisgegeben hatte, die vielmehr Rembrandt, Grünewald, El Greco neu entdeckt hatte und die Expressionismus genannte geistige Bewegung
hervorbrach, bei Bach gerade das Ausdruckshafte suchte. Bach erschien als
Ausdrucksmusiker par excellence, und man begann, seine Ausdruckskunst zu
erforschen – man denke zum Beispiel an das Aufsehen erregende Buch von
Albert Schweitzer – und die Werke entsprechend aufzuführen. Es gibt alte
Schallaufnahmen, die gerade Evangelistenrezitative – gesungen von dem unvergeßlichen Karl Erb – in ihrer Expressivität zur überwältigenden Wirkung
bringen. Aufführungen dieser Art, wo ich sie noch erlebt habe, waren jedoch,
da sie den Aspekt des Expressiv-Dramatischen hervorkehrten, in der Regel
gekürzt. Nicht nur wurden etwa in der Matthäus-Passion, wie auch schon
Moritz Hauptmann berichtet, etliche Arien, insbesondere gegen Schluß, gänzlich gestrichen, sondern auch die Arien, die aufgeführt wurden, erschienen
vielfach, und zwar um das Da capo, gekürzt: Nach dem Mittelteil wurde in
der Regel lediglich das Ritornell noch einmal gespielt und dann abgeschlossen. Im Zeitalter der Expressivität (und bei der Betonung des Dramatischen)
hatte man eben keinen Sinn für die musikalische Form als Architektur. Im selben Sinne wie bei Bach, ja vielleicht noch stärker, wurde in die Werke von
Händel eingegriffen, insbesondere in die Opern, die zu Beginn der 20er Jahre
eine Renaissance erfuhren. Diese Werke auf dem Theater wieder lebendig
werden zu lassen, erforderte, das war die Überzeugung, tiefen Eingriff in ihre
künstlerische Gestalt. Diese Vorgehensweise gab ihnen wieder Veranlassung
zu heftiger Kritik. Hier stießen eben zwei unvereinbare Haltungen aufeinander; die eine nimmt das Werk als Material, um durch Aufführung eine bestimmte Wirkung hervorzubringen, die andere fordert vom Ausführenden den
Dienst am textgetreu darzubietenden Werk. Die eine orientiert sich an der
Wirkung, die andere an dem, was ihr als das Werk galt, am Text.
Für die am Ausdruck orientierten Musiker war insbesondere die Da-capoForm der Arien ein Stein des Anstoßes; sie galt ihnen, wie auch die Form des
Concerto grosso, als veraltet, als bloßer Zopf, den abzuschneiden das Werk
nur verbessern könne. So wurde denn auch verfahren. Es dauerte recht lange,
bis sich die Einsicht in das Eigenrecht einer weniger dynamisch als architektonisch organisierten Musik durchsetzte. Vielleicht war dies ein Verdienst der
zeitgenössischen Meister, Igor Strawinsky und Paul Hindemith, dem Publikum Augen und Ohren für musikalische Architekturen geöffnet zu haben12.
12 In den Vorgang dieses musikalischen Umdenkens gehört auch der Übergang von den
bearbeiteten zu den originalen Fassungen der großen Werke Anton Bruckners.
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Dies hat sich jedoch erst in unserem Jahrhundert bemerkbar gemacht. Im
neunzehnten war die Vorstellung vom dynamischen Wesen der Bachschen
Kunst gerade bei den besten Kennern vorherrschend. Hauptmann sah die
Fuge, Inbegriff gestalteter Polyphonie, noch ganz im Sinne Goethes: „Die
Fuge, das Polyphone, ist anders [als die der Wiederholung bedürftigen ‚wesentlich homophonen Sachen‘], das wächst wie die Pflanze nach e i n e r
Richtung fort, ohne Bilateralität, wie das animal=organische…“13. Wen erinnerte dies nicht an die Widmung, die Goethe in ein Exemplar des Wohltemperierten Klaviers geschrieben hat?
Denn aus Geringem wächst das Tüchtige,
Dem Hälmchen gleich, das sich zur Sonne kehrt.
Es sondert sich die Spreu das Nichtige;
Das Korn des Geists allein hat Erntewert.14
Diese Vorstellung vom Organischen, von der inneren Belebung, die zugleich
Beseelung ist, ließ alles Starre und Mechanische bei der Musikausübung als
unangebracht erscheinen. Selbst Bachs Hauptinstrument, die Orgel, galt als
der Musik unangemessen. „Die Orgel ist ein lebloses Instrument; mag sie bei
großen Massen ihren Effect machen, musikalisch kann sie doch eigentlich
nicht wirken“15, bemerkte der Thomaskantor Hauptmann (der freilich von
Haus aus Geiger war). Und so ist es unter diesem Gesichtspunkt auch kein
Wunder, daß man die Generalbässe – als man die Notwendigkeit und die Problematik ihrer Ergänzung erkannt hat – später lieber von einem Bläserquartett
(je 2 Fagotte und Klarinetten) ausführen ließ, das den Vorteil bot, erstens einen belebten Klang zu ermöglichen und zweitens einen stimmig ausgearbeiteten Tonsatz zu bieten. Über die Art und Weise, wie dies zu geschehen habe,
gab es damals, vor allem in den sechziger und siebziger Jahren, heftige Kontroversen zwischen den Musikgelehrten (insbesondere dem großen HändelForscher Friedrich Chrysander), die auf historische Treue pochten und den in
diesem Bereich kompositorisch und praktisch tätigen Musikern (insbesondere
dem Liedmeister Robert Franz), denen es um die künstlerische Wirkung ging.
Die Kontroverse ging jedoch nicht vornehmlich um die Besetzungsfrage, sondern um den Grad der Ausarbeitung der Continuostimme, insbesondere bei
den ausschließlich continuobegleiteten Sologesängen, wie etwa dem Baß-Solo
„Quia fecit mihi magna“ in Bachs Magnificat.
13
Briefe von Moritz Hauptmann … an Franz Hauser, hrsg. v. A. Schöne, 2. Bd, Leipzig 1871, S. 250 (Brief vom 20. Februar 1865).

14
Goethe, Gedanken über Musik, hrsg. v. H. Walwei-Wiegelmann, 1985, S. 180.
15
Briefe von Moritz Hauptmann … an Franz Hauser, 2. Bd, a. a. O., S. 252.
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Es ist schon sehr bemerkenswert, daß einem Musiker wie Franz damals ein
Tonsatz, der nicht in bedeutsamer Weise am motivisch-thematischen Geschehen beteiligt ist, als gänzlich unzureichend erschien, jedenfalls nicht der Dichtigkeit des Bachischen Satzes angemessen und überhaupt der Kunst würdig.
Und da die Praxis der freien Improvisation nach bezifferten Bässen längst erloschen war und man sich über deren Resultate auch keine übertriebenen Vorstellungen machen darf, hatte man schließlich auch nur die Wahl zwischen bescheiden und reich ausgeführtem Tonsatz. Die Musiker, die sich ernstlich mit
der alten Musik einließen, hielten jedenfalls damals in diesem Betracht, angesichts der Bedeutung dieser Musik, Bescheidenheit für unangebracht.
Die gediegene Ausarbeitung des Tonsatzes war übrigens auch durch andere, nicht nur äußere Umstände zwingend geboten, vor allem dadurch, daß diese Werke in Gestalt von Klavierauszügen dem häuslichen Musizieren erschlossen werden sollten und tatsächlich auch erschlossen wurden. Die Lieder
des Schmellischen Gesangbuchs etwa sind ganz gewiß in der Ausgabe von
Robert Franz ins musikalische Haus und damit ins allgemeine Bewußtsein gedrungen.
Die Auffassung der Bachischen Musik als von innerer Dynamik erfüllt bestimmte auch die Interpretation im einzelnen. Nicht nur hatten die Herausgeber auch der Ausgaben für die Praxis nach eigenem Ermessen Tempoangaben,
dynamische Bezeichnungen, Artikulationszeichen etc. zugefügt, sie sahen dies
geradezu für ihre musikalische (und pädagogische) Pflicht an, zunächst einmal, um den ihnen unvollständig erscheinenden Notentext zu ergänzen und so
den Eindruck der Fremdartigkeit zu mildern. Ein derartiger Eindruck mußte
jedenfalls entstehen, wenn ein ganz selbstverständlich an der zeitgenössischen
Tonkunst orientierter Musiker unvorbereitet mit einem musikalischen Text
konfrontiert wurde, der, bezogen auf das musikalische Werk, einen gänzlich
anderen Status hat. Musiker und musizierende Laien waren nicht daran gewöhnt, derartige musikalische Texte in angemessener Weise zu nutzen. Schon
darum waren die Zusätze in den frühen Ausgaben zwingend geboten.
Eine besondere Bedeutung kam dabei der Frage der Dynamik zu, die wiederum zwei Aspekte hatte: den der Lautstärkendifferenzierung innerhalb der
einzelnen Stimmen und den des Gesamtklangs (womit selbstverständlich die
Besetzungsfrage angesprochen ist). Der lebhafteste, die Aufführungspraxis betreffende Streit zu Beginn unseres Jahrhunderts entzündete sich an der Klavierfrage: Cembalo (mit dem starren, dynamisch unflexiblen Ton) oder Clavichord (mit seinen Möglichkeiten zu einer dynamischen Differenzierung). Die
Diskussion erscheint uns heute bei der eindeutigen Quellenaussage einigermaßen unverständlich.
Johann Mattheson schreibt in seinem Neu-Eröffneten Orchestre:
(…) Ouverturen, Sonaten, Toccaten, Suiten, &c. werden am besten und reinlichsten
auff einem Clavicordio herausgebracht, als woselbst man die Sing=Art viel deutlicher,

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mit Aushalten und adouciren, ausdrücken kan, denn auff den allezeit gleich starck
nach=klingenden Flügeln und Epinetten. Will einer eine delicate Faust und reine Mannier hören, der führe seinen Candidaten zu einem saubern Clavicordio; denn auff
grossen, mit 3. à 4. Zügen oder Registern versehenen Clavicymbeln, werden dem Gehör viele Brouillerien echappiren, und schwerlich wird man die Manieren mit distinction vernehmen können (S. 264)16.
Bachs Vorgänger in Leipzig, Johann Kuhnau, bestätigt dies in einem Brief an
Mattheson 1717:
Ich that auch, was ich auf meinem Clavicordio vermochte, und war schon damahls
mit dem [Verfasser des neueröffneten] Orchestre in diesem Stück einerley Meinung,
daß ein solches, ob gleich stilles, Instrument zur Probe und guten Expression der Harmonie auf dem Claviere am besten diene17.
Der Streit, schon damals heftig, hat in unserem Jahrhundert dadurch an
Bedeutung gewonnen, weil mit der Stellungnahme gegen das Clavichord zugleich eine gegen das Hammerklavier, das heißt für den modernen Flügel verbunden war, dessen dynamische Flexibilität als „stilwidrig“ befochten wurde.
Der Streit ging daher in unserem Jahrhundert eigentlich nicht um dieses oder
jenes alte Instrument oder um alte oder neue Instrumente, sondern um eine
musikalische Dimension, die im alten Notentext selber nicht hinreichend direkt berücksichtigt worden war, der Dynamik. Aber auch der Einsatz für eine
dynamische Differenzierung hatte wieder zwei Aspekte, erstens den der dynamischen Belebung des Vortrags (der deutlichen Artikulation) und zweitens
den der dynamischen Verdeutlichung des musikalischen Prozesses (etwa im
Sinne einer länger disponierten Steigerung). Letzteres glaubte man in der Zeit
vor den Mannheimern, also vor den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts,
nicht annehmen zu können, während in der Tat doch die Mannheimer lediglich die dynamische Steigerung in Gestalt des Crescendo ohne weiteren musikalischen Inhalt (also das Crescendo als selbständigen musikalischen Inhalt)
erfunden hatten, nicht jedoch überhaupt jegliches Crescendieren. Die dynamische Belebung des Vortrags war also eigentlich stets selbstverständlich. Sie
wurde – und damit kommen wir zum kurzen, abschließenden dritten Teil –
erst in unserem Jahrhundert problematisch, dann nämlich, als das „Mechanische“, bis dahin als unkünstlerisch verpönt, zum Ideal erhoben wurde. Strawinskys Wort von der Nähmaschine als Ideal einer Aufführung ist ebenso
zeittypisch wie allbekannt. Tatsächlich hat dieses neue Ideal, das das Ende der
allgemeinen Verbindlichkeit des etwa anderthalb Jahrhunderte herrschenden

16
J. Mattheson, Neu=Eröffnetes Orchestre, Hamburg 1713, S. 264.
17
J. Mattheson, Critica musica, 2. Teil, Hamburg 1725, S. 237.
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Ausdrucksprinzips markiert, den Anfang einer neuen Epoche der Musik signalisiert.
Das Ideal der Präzision trat an die Stelle des beseelten Vortrags. Dem entsprach dann seinerseits das Ideal der von allen Zutaten befreiten „Urtextausgaben“. Diese Zutaten galten jetzt nicht mehr als Interpretationshilfen, sondern als verfälschende Beigaben, die die Darbietung unzulässig beeinflussen.
Der früher als unvollständig geltende alte Notentext wurde jetzt als vollständig betrachtet. Tatsächlich hatten sich jedoch die Aufführungsbedingungen erheblich verändert, und zwar insoweit, als die Ausführenden über ganz andere
musikalische Erfahrungen und über ein anderes (was die Kenntnis der Musikgeschichte betrifft reicheres) Wissen verfügten: Es war die Wissenschaft von
der „Aufführungspraxis“ entstanden. Im Musikleben selbst bildete die Aufführung alter Musik seitdem eine eigene, selbständige Sparte mit einem Publikum und einer selbständigen Entwicklung mit eigener Entwicklungsdynamik
(nebst dem heute zugehörigen Innovationsdruck, der seinerseits ständig wechselnde Moden hervorbringt).
Die Zeit der Bemühungen, um eine vom Dur-Moll-System unabhängige
neue tonale Sprache zu entwickeln, hatte noch eine direkte musikalische Beziehung zur alten Musik – in diese Zeit fallen auch die Versuche einer Traditionselemente verwertenden neuen musikalischen Kunstsprache – später verblaßte sie zur Bedeutungslosigkeit, wenn nicht sämtliche Traditionselemente
aus prinzipiellen Erwägungen gemieden oder gar verdammt werden. Damit
war die Zeit, in der die Aufführung von Werken alter Meister (und insbesondere der Bachs) eine erkennbare Beziehung zum zeitgenössischen Schaffen
hatte, vorbei.
Aber alte Musik wird, vielleicht mehr denn je, aufgeführt, auf mannigfache
Weise. Ein früher auf heftige Ablehnung stoßendes Werk wie Anton Weberns
Instrumentation des sechsstimmigen Ricercars aus Bachs Musikalischem Opfer, ist heute ein Repertoirestück, die Auflösung der Linien in Motive wird
wenigstens hingenommen, ganz wie jede beliebige andere Darbietung. Im
Zeitalter des kulturellen Pluralismus sind die Menschen liberal geworden,
aber die einzelnen Werke haben viel von ihrer Verbindlichkeit eingebüßt.

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