Sitzung 7: Algerien und das Frankophone Afrika FOLIE: DAS FRANKOPHONE AFRIKA Überblick Thema der heutigen Sitzung sind zum einen die Entwicklungen im Maghreb, zum anderen die Dekolonisierung des französischen Kolonialreiches in Afrika. Da die dramatischen Entwicklungen in Algerien die Auseinandersetzung um die Befreiung von Kolonialherrschaft in Marokko und Tunesien in den Schatten stellten und die Strukturelemente kolonialer Herrschaft in Algerien im wesentlichen die in den anderen Territorien spiegelten, konzentriere ich mich nach kurzen Bemerkungen über Marokko und Tunesien auf Algerien. Der zweite Teil der Vorlesung befasst sich mit dem subsaharischen Afrika. Hier war der Kolonialismus für die afrikanische Geschichte so wichtig, nicht weil er Veränderungen auslöste, sondern Veränderungen beschleunigte, die ohnehin auftraten, und weil er die Bedingungen veränderte, unter denen sich diese Veränderungen vollzogen. FOLIE: MAGHREB: ECKDATEN Marokko, Algerien und Tunesien gerieten zu unterschiedlichen Zeiten unter französischen Einfluss: Algerien (nach der Besiedlung durch französische colon in drei französische départements aufgeteilt) wurde seit den 1830er Jahren kolonisiert, als zunächst die Bourbonen, letztlich erfolglos, versuchten, mit einem kolonialen Abenteuer ihre Macht zu retten. Tunesien (Protektorat) wurde 1881 von einer französischen Armee besetzt – zu dieser Zeit konkurrierten Frankreich und Großbritannien um die Ausweitung ihrer kolonialen Besitzungen. Der marokkanische Sultan wurde 1908 gezwungen, ein französisches Protektorat anzuerkennen. FOLIE: MAROKKO: NATIONALISTISCHE BEWEGUNG In Marokko dauerte die Niederschlagung antikolonialistischer Aufstände bis in die dreißiger Jahre an. Frankreich versuchte, zunächst mit einigem Erfolg, die in den Küstenregionen lebenden Araber gegen die im Atlas-Gebirge lebenden Berber auszuspielen. Proto-Nationalisten in den dreißiger Jahren wiesen aber damals schon zurecht darauf hin, dass die ethnischen Unterschiede weniger gravierend waren als die gemeinsamen Traditionen und die Religion. Sultan Mohammed V. von der seit dem 17. Jahrhundert regierenden Dynastie der Alawiten, seit 1927 an der Macht, verhielt sich zunächst loyal gegenüber der Kolonialmacht. Auch wenn Marokko während des zweiten Weltkrieges an der Seite Frankreichs stand, so entwickelten sich nun nationalistische Forderungen, und auch der Sultan rückte zunehmend von Frankreich ab. Die Gründe waren vielfältig: ein starker Bevölkerungsdruck, der sich in den dreißiger Jahren bemerkbar machte (Arbeitsmarkt) und den die Kolonialverwaltung nicht 1 sozial abfederte. Erschwerend hinzu kam die Große Depression, in der Frankreich in Form von Zöllen in den Kolonien und auf dem Rücken der kolonisierten Völker seine wirtschaftliche Lage zu verbessern sucht. Anhaltende sozial-wirtschaftlich motivierte Unruhen Freiheitsversprechen der Atlantik-Charta und der Besuch des amerikanischen Präsidenten Roosevelt (Januar 1943), der dem Sultan die Unterstützung der USA bei der Gewinnung der Unabhängigkeit versprach. Sultan Mohammed V. verfolgt unter dem Eindruck der Entwicklungen im arabischen Raum (Anwachsen nationalistischer Bewegungen; die Konsolidierung der Saud-Dynastie in einem unabhängigen Saudi-Arabien; Verwicklungen in Ägypten) eine nationalistische Politik. Innermarokkanische nationalistische Kritik am Sultan, die ihn zwingt, eine stärker anti-französische Politik zu betreiben FOLIE: NACHKRIEGSENTWICKLUNGEN: METROPOLITANE PERSPEKTIVEN Nach dem Krieg stehen sich marokkanische und französische Positionen diametral gegenüber. Frankreich (siehe unten, Algerien) wollte das Kolonialreich nicht aufgeben, Sultan und Bevölkerung verlangen Unabhängigkeit. Die französische Politik unterschätzte nach 1945 auf fundamentale Weise den Nationalismus der Araber In der krisengeschüttelten vierten Republik (dauernde Regierungswechsel und parteipolitische Auseinandersetzungen zuungunsten von Sachfragen) gewannen einzelne Militärs in Nordafrika überproportional an Einfluss. In Marokko, Algerien und Tunesien sperren sich diese Akteure gegen die Unabhängigkeit (in Marokko und Tunesien insbesondere Marschall Alphonse Juin – ein radikaler Reaktionärer). Eine erhebliche Migration französischer Siedler (colons) verschärfte die Lage (1945: 290.000, Mitte der fünfziger Jahre: 450.000). FOLIE: NACHKRIEGSENTWICKLUNGEN: INTERNATIONALE PERSPEKTIVEN PERIPHERE UND Die Suche nach kooperationswilligen Elementen hatte letztlich keinen Erfolg. Die Berber waren zwar vorübergehend auf Seiten Frankreichs (Einfall von berittenen Berber-Truppen in Casablanca 1952), unter dem Eindruck des erstarkenden arabischen Nationalismus wechseln sie aber wieder die Seiten. Zunehmender internationaler Druck (vorsichtig von der amerikanischen Regierung, deutlicher von amerikanischen Gewerkschaften, offen von der 2 UN-Generalversammlung) führte immer mehr zu einer Isolierung Frankreichs in kolonialpolitischen Fragen. 1955 kontrolliert ein Heer von knapp über 100.000 Soldaten Marokko. Frankreich ist angesichts des Krieges in Algerien einem imperial overstretch ausgesetzt: es verfügte letztlich nicht über ausreichende Ressourcen, mehrere Kolonialkriege zugleich zu führen. Auch die später wieder korrigierte Absetzung des Sultans 1952 schadet Frankreich: nun verbündeten sich Berber, antimonarchische und monarchietreue Nationalisten, bewaffnete Auseinandersetzungen nahmen zu. Um die Kräfte auf Algerien konzentrieren zu können, schickte sich Frankreich 1956 in das Unvermeidliche – Marokko wurde unabhängig. FOLIE: TUNESIEN: GEMEINSAMKEITEN UND UNTERSCHIEDE Grundsätzlich verliefen die Entwicklungen in Tunesien ähnlich wie in Marokko, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: in Marokko setzte sich der Sultan an die Spitze der Unabhängigkeitsbewegung, in Tunesien verlor der Bey wegen seiner Zusammenarbeit mit den Franzosen alle Macht. Die nationalistische Bewegung unter Habib Bourguiba verstand sich, ähnlich wie die Bewegung um Gamal Abdel Nasser, als eine moderne, antifeudalistische Bewegung. Wie in Marokko auch war der militärische Arm der nationalistischen Bewegung relativ klein. Er konnte aber überproportional Einfluss gewinnen, insbesondere nach dem Beginn des Algerienkrieges. Auch hier wurden die Franzosen zum Rückzug gezwungen, nachdem das Land praktisch unregierbar geworden war (mehrere Generalstreiks, Attentate, Sabotage etc.), die französischen Truppen zur Pazifizierung des Landes nicht mehr ausreichten und der Krieg in Algerien sämtliche Ressourcen beanspruchte. Tunesien erhielt 1955 die innere Autonomie und eine Selbstregierung unter einem Bey, ein Jahr später erstritt Bourguiba die Unabhängigkeit. Der Bey wurde im Jahr darauf abgesetzt, die tunesische Revolution mit Unabhängigkeit und Abschaffung des Feudalregimes abgeschlossen. FOLIE: KARTE ALGERIEN FOLIE: ALGERIEN: KOLONISIERUNG Während die französische Kolonialherrschaft in Marokko und auch in Tunesien eher indirekt war, war sie in Algerien direkt, unmittelbar und repressiv. Mehrere große Aufstände wurden im 19. Jahrhundert blutig niedergeschlagen, Land konfisziert und an europäische Siedler verteilt (zunächst vor allem Italiener und Spanier, erst später primär Franzosen). Immer wieder kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Kolonialmacht, zuletzt 1936/37, als Protest in Städten aufflammte. Am Ende des 19. Jahrhunderts erlebte Algerien eine große Einwanderungswelle. Migranten ließen sich vor allem als Händler und Handwerker in den Städten nieder, muslimische Konkurrenten wurden 3 ausgeschaltet. Parallel dazu nahm nun auch die algerische Bevölkerung, die zunächst im 19. Jahrhundert geschrumpft war, wieder erheblich zu. 1939 standen 5,5 Millionen Moslems 813.000 Europäern gegenüber. FOLIE: VERWALTUNG UND POLITISCHE PARTIZIPATION Das Regime, das vor allem die colons begünstigte, war repressiv. Es betrachtete Araber als eine sale race, als schmutziges Volk, das kulturell vollkommen unterlegen war. Auch hier versuchten die Franzosen, Araber und Berber aus der Kabeley gegeneinander aufzuwiegeln. Das misslang letztlich wie auch in Marokko: der Islam, besonders eine in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts aktive Erweckungsbewegung schmiedet die ethnischen Gruppen zusammen; zweitens war es in der Vergangenheit ohnehin vielfach zu Mischehen und einem Neben- und Miteinander der Ethnien gekommen. Die politischen Strukturen boten Algeriern keine Teilhabe. Es gab drei départements (Oran, Algiers, Constantine, und eine separate Verwaltung für das Territorium in der Sahara), die colons konnten an den französischen Parlamentswahlen teilnehmen und schickten Deputierte. Araber durften nicht wählen. 1919 wurden einige Araber an Wahlen zu einem beratenden Gremium zugelassen, faktisch aber dominierten die colons. Bis hinunter auf die kommunale Ebene war die Verwaltung französisch. Araber konnten die französische Staatsbürgerschaft nur erlangen, wenn sie vom Islam zum Christentum konvertierten. Das taten bis 1936 nur 2500. Viele arbeiteten jedoch in Ermangelung von Perspektiven in Algerien in Frankreich. Mitte der zwanziger Jahre waren es bereits über 100.000, die zumeist schlecht bezahlte Jobs hatten, später aber ein entscheidender Nukleus der nationalistischen Bewegung waren. Während der Volksfrontregierung der Jahre 1936 bis 1939 unter Léon Blum bemühte sich Paris um eine Liberalisierung des Regimes, scheiterte aber am mangelnden Durchsetzungswillen, der Wirtschaftskrise und der Politik der colons. FOLIE: ALGERIEN UND DER ZWEITE WELTKRIEG Während des zweiten Weltkrieges wurde Algerien hart von einer Wirtschaftskrise getroffen: Migranten konnten nicht mehr in Frankreich arbeiten und kein Geld in die Heimat überweisen; Lebensmittel und Verbrauchswaren wurden immer teurer und knapper, die Verteilung begünstigte massiv die colons. Diese standen während des Krieges eindeutig auf Seiten Vichy-Frankreichs und hatten ein ambivalentes Verhältnis gegenüber der Ankunft anglo-amerikanischer Truppen in Algerien Ende 1942, nachdem die Vichy-treue Verwaltung unter General Darlan zu den Alliierten übergelaufen war. Überall in der arabischen Welt mobilisierte der Krieg die Kräfte des Nationalismus – so auch in Algerien. Algerische Soldaten kämpften auf alliierter Seite für die Atlantik-Charta und 4 unter dem Banner (weiß-grüne Flagge) des Helds des Widerstands aus dem 19. Jahrhundert (Abd el Kader). Die Mehrheit der Algerier war der Überzeugung, dass die Fundamente des französischen Regimes unter dem Eindruck des Krieges kollabierten. Auf der Konferenz von Brazzaville verständigte sich das „freie Frankreich“ auf koloniale Reformen. Eine Reform des Wahlrechts in Algerien, die Muslimen mehr Mitspracherechte einräumte, wurde jedoch als nicht ausreichend betrachtet. Am Ende des Krieges verlangten Nationalisten die Unabhängigkeit, drangsalierten colons und boykottierten Geschäfte von Europäern. FOLIE: SETIF Am Tag des Kriegsendes in Europa, dem 8. Mai, kam es im algerischen Sétif zu Auseinandersetzungen: militante Algerier jagten colons, brachten über 100 ums Lebens, vergewaltigten colons-Frauen. Das Massaker war brutal und wies bereits auf künftige Ereignisse hin: Mörder photographierten ihre Opfer, lokale Honoratioren duldeten das Blutbad, Priester wurden verstümmelt, Unrecht im Namen Allahs begangen. Die Franzosen schlugen auch brutal zurück, etwa 3000 Algerier starben, es kam zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Bei den nachfolgenden Krawallen in vielen algerischen Städten kam es zu Verhaftungen. So wurden etwa drei der ‚historischen neun’ Gründer der Nationalen Befreiungsarmee (ab 1954) vorübergehend verhaftet: Ferhat Abbas, Mohammed Khider, Larbi ben Mhidi. Sétif steht am Beginn des algerischen Befreiungskampfes. Die Metropole und die colons zogen keine Lehren daraus: die colons wurden noch uneinsichtiger und pochten auf ihren Privilegien, das politische System und die Parteien der vierten Republik verhinderten eine unvoreingenommene Auseinandersetzung, und in Algerien gerieten moderate, friedliche Nationalisten in die Defensive. Algerischen Nationalisten war von nun an klar, dass sie die Befreiung Algeriens nur erkämpfen konnten. FOLIE: SOZIALE UND WIRTSCHAFTLICHE BEDINGUNGEN Die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen verschärften sich in der Nachkriegszeit. Markant war die demographische Entwicklung: die muslimische Bevölkerung stieg von 5.5. Millionen auf 8.5 Millionen (1954) an. Davon waren über 90% Analphabeten, es gab nur 850 Studierende an höheren Bildungseinrichtungen. Arbeitslosigkeit und Armut waren weit verbreitet, um die Städte breiteten sich Slums aus. Die Einkommensschere zwischen colons, die ihre Farmen und vor allem Weingüter vergrößerten und zunehmend mechanisierten, und Muslimen nahm immer mehr zu. Etwa eine viertel Million Algerier arbeiteten in Frankreich. 5 Wirtschaftlich war Algerien von eher untergeordneter Bedeutung für die metropolitane Wirtschaft. Es hatte in etwa die Bedeutung des Saarlandes: 1954 gingen 11,3% der französischen Exporte nach Algerien, von dort bezog man vor allem Wein (50%) und Rohstoffe, die man auch woanders kaufen konnte. Zwei Entwicklungen waren für den algerischen Nationalismus prägend: erstens gab es keine traditionelle, feudale Elite mehr. Die war von den Franzosen vernichtet oder marginalisiert worden. Zweitens gab es nur eine sehr kleine gebildete Schicht: im Jahre 1954 185 algerische Lehrer, 165 Ärzte und nur 28 Ingenieure. FOLIE: NATIONALISMUS Die verfassungspolitischen Reformen der Nachkriegszeit waren kosmetisch. Systematisch wurden Wahlen von der Kolonialverwaltung oder den colons gefälscht, Muslime hatten keine Chance zur politischen Teilhabe. Für algerische Nationalisten war kein Raum für eine friedliche politische Betätigung. Sie rekrutierten sich aus Arbeitnehmern, die aus Frankreich zurückkehrten, aus der städtischen Bevölkerung und vor allem auch aus dem religiösen Umfeld. Eine Führung erwuchs den Nationalisten in Gestalt einer kleinen Gruppe von Aktivisten um Ahmed ben Balla (ein ehemaliger hochdekorierter Offizier in der französischen Armee), Mohammed Khider (ein ehemaliger Abgeordneter der beratenden Versammlung), Hocine Ait Ahmed (einem Funktionsträger aus der Kabeley), und Kabyle Belkacem Krim, der seit 1947 eine kleine antifranzösische Truppe in der Kabeley aufgebaut hatte. Sie gründeten die Front de Libération Nationale (FLN) und ihren militärischen Arm, die Armée de Libération Nationale (ALN). Und sie fassten einen Plan: in der Nacht vom 31. Oktober auf den ersten November 1954 (Allerheiligen, für die erzkatholischen colons ein wichtiger Feiertag) sollte ein nationaler bewaffneter Aufstand beginnen. FOLIE: ALGERIENKRIEG Die FLN war zwar vom Marxismus beeinflusst, noch mehr aber vom PanArabismus, der Hoffnung auf ein freies, unabhängiges und starkes Arabien. Sie war organisiert wie die Viet Minh in Vietnam, in kleinen Zellen, die unabhängig voneinander operierten. Anders aber als die Viet Minh, die nach und nach ihre Kontrolle über das Land ausdehnten und diese Kontrolle dann auch verteidigten, waren FLN und ALN immer punktuell aktiv, schlugen zu, verschwanden wieder. Sie kämpften gegen französische Militäreinrichtungen und gegen colons. Zunehmend wurden dadurch auch Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen. FOLIE: ALGERIENKRIEG TOTE 6 Bevor wir die Motive und Interessen der kriegsbeteiligten Akteure in den Blick nehmen, zunächst einige sehr traurige Statistiken. Der Krieg dauerte von 1954 bis März 1962. Er kostete 20.000 französischen Soldaten, zumeist Wehrdienstleistenden, das Leben. 4.500 nicht europäische französische Soldaten starben. 11.000 starben an Krankheiten oder Freitod. Etwa die Hälfte starb im letzten Kriegsjahr, zwischen 1961 und 1962. An Zivilisten starben 2800 Europäer und 30.000 Algerier, die von der FLN getötet wurden. Zwischen 1961 und 1962 starben 50.000 Zivilisten durch die Kriegseinwirkungen vor allem durch Franzosen, und 150.000 durch die FLN, insbesondere Anhänger Frankreichs. Auf algerischer Seite geht man von etwa 300.000 Toten aus. FOLIE: MOTIVE UND INTERESSEN DER AKTEURE Zunächst zu den Motiven der Nationalisten: sie kämpften, wie bereits erwähnt, für ein freies, unabhängiges und starkes Algerien. Sie waren typische Vertreter des arabischen Nationalismus: sie liebäugelten mit dem Sozialismus, ohne selbst Kommunisten zu sein; sie erstrebten eine starke Stellung des Staates in Gesellschaft und Wirtschaft; sie nutzten den Islam zur Mobilisierung der Massen, bekämpften ihn aber später; und sie waren oder wurden im wesentlichen Militärs. Unter der kleinen Führungselite, die zum Teil bald ins tunesische oder marokkanische Exil ausweichen mussten, waren auf dem Höhepunkt der Kämpfe Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre vielleicht 70.000 – maximal 90.000 Aktive am Krieg beteiligt. Sie konnten auf hunderttausende von Sympathisanten zählen. Sie kamen aus unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung, vom Land oder von den Städten. Manche arbeiteten tagsüber als Bauern und nachts als Befreiungskämpfer. Mehrheitlich kamen sie von einer sozial und wirtschaftlich marginalisierten Schicht, aus den Slums der Städte, der Krieg war ihre einzige Perspektive. FOLIE: MOTIVE UND INTERESSEN DER AKTEURE: COLONS Dann gab es die colons: sie kämpften für ihren Besitz, für den Erhalt Algeriens als départements von Frankreich, für ihre Heimat, für ihre Privilegien. FOLIE: MOTIVE UND INTERESSEN DER AKTEURE: FRANKREICH Frankreich kämpfte zunächst und vor allem um seine Rolle als europäische Großmacht. Darüber gab es im Parteienspektrum einen breiten Konsens. Offen thematisiert wurde der Krieg nämlich eher selten; instrumentalisiert für parteiinterne Intrigen wurde er allerdings schon. Nachdem der Krieg einmal begonnen hatte, gewann der Topos von der Verteidigung des Okzidents und der „westlichen Werte“ gegen den Orient, gegen Tradition, Panarabismus, Islam oder auch gegen den Kommunismus an Popularität. Schließlich erklärten Katholiken und Laizisten, in Afrika gegen kommunistischen Totalitarismus und 7 für Demokratie und Freiheit zu kämpfen. Die Öffentlichkeit war des „schmutzigen Krieges“ bald müde; bereits im Juli 1956 gab eine Mehrheit der Franzosen an, sie wären für die Gewährung der Unabhängigkeit. Gegen den Krieg stemmten sich zunächst wenige Intellektuelle, die sich außerhalb des etablierten Parteienspektrums und der Medien artikulierten. Die wenigsten sprachen sich von Beginn an für die Unabhängigkeit Algeriens aus; das kam erst nach und nach, wobei die „Entdeckung“ systematischer Folter durch die französische Armee eine große Rolle spielte. Ende der fünfziger Jahre führte eine wachsende Distanz zu den Algerienfranzosen, die zunehmend für den Krieg verantwortlich gemacht wurden, dazu, dass eine Mehrheit konstant den Krieg ablehnte und sich dann auch General de Gaulles Kurs anschloss. Der Krieg durchlief drei Phasen: FOLIE: KRIEGSVERLAUF PHASE I 1954-56: In dieser Phase konnte die FLN ihre dominante Stellung innerhalb des algerischen Nationalismus festigen. Der Aufstand war zunächst geographisch auf den Norden und Osten begrenzt, weitete sich aber sukzessive aus. Dabei führte die FLN einen zum Teil brutalen Bürgerkrieg gegen konkurrierende Gruppen und vor allem gegen Algerier, die für das französische Regime arbeiteten oder mit ihm kooperierten. FOLIE: KRIEGSVERLAUF PHASE II 1956-58: In dieser zweiten Phase ging die Kolonialmacht in großem Stil in die Offensive. Sie hielt daran fest, keine Verhandlungen mit den Aufständischen zu führen. Das Militär erhielt umfangreiche Vollmachten, die Truppen wurden verstärkt – auf zuletzt knapp eine halbe Million Soldaten, darunter mehrheitlich Wehrdienstleistende -, und es gelang ihr, in der „Schlacht von Algier“ die Lähmung des Zentrums von Verwaltung und Politik zu verhindern. Unterdessen verhärteten sich die Fronten, die colons waren zu keinerlei Konzessionen bereit. FOLIE: KRIEGSVERLAUF PHASE III 1958-62: In dieser blutigsten Phase des Krieges herrschte im Grunde eine militärische und politische Pattsituation. Die französische Armee verzeichnete große Erfolge, konnte aber die FLN nicht entscheidend schlagen. Der internationale Druck nahm zu. In Frankreich gelangte 1958 General de Gaulle an die Macht; er beendete das politische Chaos der vierten Republik. Zunächst konnte er aber auch keine Lösung des Konflikts anbieten. Allmählich aber wuchs die Einsicht, dass der Krieg einfach zu viel kostete und auf Dauer die Fundamente des französischen Staates zersetzte. Ab etwa 1960 arbeitete de Gaulle dann auf das Ende des Konflikts hin, verhandelte und erreichte im Frühjahr 1962 schließlich einen Kompromiss, der die Unabhängigkeit Algeriens 8 sicherte, Frankreich aber gewisse Vorrechte in Algerien bot (siehe unten). Wie gefährlich der Konflikt für den Zusammenhalt der französischen Gesellschaft und für Staat und Republik wurde, zeigte sich 1961, als führende Generäle putschten und die militante Organisation der Siedler, die Organisation de l´Armée Secrète (OAS), einen blutigen Krieg gegen französische Armee und Algerier begann. Der Putsch brach bald zusammen, aber er war ein Symbol für die Zerrissenheit von Militär und Gesellschaft. FOLIE: ERGEBNISSE Am 19. März 1962 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, am 17. Juni vereinbarten OAS und FLN einen Waffenstillstand, am 1. Juli stimmten Franzosen und Algerier mit großer Mehrheit in einer Volksabstimmung für die Unabhängigkeit, die am 3. Juli 1962 gewährt wurde. Im Herbst wurde die Republik Algerien ausgerufen. Weitgehend unbeachtet von der Weltpresse vollzog sich die überstürzte Flucht von über 1,3 Millionen colons und Algeriern nach Frankreich. In den Abkommen mit der FLN hatte sich Frankreich bestimmte Vorrechte einräumen lassen: die Nutzung der Sahara für Atombombentests, eine gemeinsame Förderung des gerade entdeckten Öls, Basen für einige Jahre, Sondermilitärzonen in der Sahara und einiges mehr. Die Privilegien wurden vor Ende der Vertragszeit aufgehoben, Frankreich zog sich ganz zurück. Dafür verantwortlich waren eine Reihe von Gründen: die anhaltend schwierigen Beziehungen zu Algerien und vor allem die Tatsache, dass de Gaulle Alternativen gefunden hatte, die den Status als Großmacht kompensierten. 1961 zündete die erste französische Atombombe, atomare Versuche konnten in anderen Ländern der Sahara durchgeführt werden, die französische Wirtschaft boomte und brauchte überhaupt keine kolonialen Märkte mehr. FOLIE: ZWISCHENFAZIT Wie keine andere Kolonialmacht hat es Frankreich versäumt, den Nationalismus in der Dritten Welt ernst zu nehmen und konstruktiv auf ihn zu reagieren. Es etablierte ein Regime, das im Vergleich besonders repressiv war. Es diente der Aufrechterhaltung einer Großmachtrolle. Nach dem zweiten Weltkrieg war es die positive Projektionsfläche für schmachvolle Niederlagen im zweiten Weltkrieg, es sollte Vichy ungeschehen machen, und in Algerien wollte das französische Militär die demütigende Niederlage von Dien Bien Phu wettmachen. Eine ganze Politikergeneration sorgte sich mehr um Parteigerangel, Posten und um ein falsches Verständnis von Großmachtrolle. Algerien beeinflusste auch die französische Dekolonisierung der subsaharischen Besitzungen. 9 FOLIE: SUBSAHARISCHES AFRIKA FOLIE: ECKDATEN Die imperiale Durchdringung Afrikas – also die physische Unterordnung der Afrikaner unter Kolonialherrschaften – war erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgeschlossen. Erst nach der Jahrhundertwende, in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, entwickelten sich flächendeckende europäische Verwaltungen. Weite Teile Zentralafrikas und der westafrikanischen Sahel-Zone wurden erst in den dreißiger Jahren mit einer europäischen Administration überzogen. Bis 1956 wurden die Territorien des frankophonen Afrikas zentral von Dakar und Brazzaville verwaltet. Mit der loi-cadre von 1956 vollzog sich die Balkanisierung des frankophonen Afrika in 14 Nationen, die zwischen 1958 und 1960 unabhängig wurden. FOLIE: VERWALTUNG UND POLITIK Vor und noch kurz nach der Aufteilung Afrikas wurde Afrika regiert von einer Vielzahl von Regierungen. Diese reichten von kleinen Dorfregierungen und Familienverbänden, wie im südlichen Kamerun, bis zu großen Reichen mit einer ausgefeilten Verwaltung, z. B. unter al-hajj Umar. Das halbe Jahrhundert europäischer Kontrolle brachte eine einheitliche Form von Regierung. Diese aber war autokratisch und gewährte Afrikanern keine oder nur sehr begrenzte Formen von Mitsprache. Afrikanische politische Teilhabe an ihrer lokalen Regierung erfolgte vor allem durch informelle Systeme von Repräsentation und Druck. Die alte afrikanische Aristokratie veränderte sich, manche gingen unter, andere wurden Teil der kolonialen Bürokratie. Es gab nicht länger mehr Könige und Souveräne, sondern „Häuptlinge“, die in Beziehung zur kolonialen Bürokratie standen. Die Verwaltungen und Steuerpolitiken des frankophonen Afrika waren stärker auf Einnahmen gerichtet als in den britischen Kolonien oder den arabischen Besitzungen Frankreichs. Dies war eine Folge der relativen Unterentwicklung der Region. Andererseits gab es nie die rigorose Rassentrennung wie in Südafrika oder im anglophonen Afrika. Soziale Konfrontationen gab es im frankophonen Afrika mehr zwischen Klassen als zwischen Rassen. Politik und Regierung des frankophonen Afrika unterschieden sich stark vom anglophonen Afrika: die Armeen waren größer, militärische Expeditionen wichtiger als im anglophonen Afrika. Im frankophonen Afrika waren relativ mehr Europäer beschäftigt, und die Theorie der „unmittelbaren Herrschaft“ korrespondierte mit der größeren Anzahl von Europäern in der Verwaltung. Die 10 anglophonen Kolonien beruhten dagegen auf der Vorstellung der indirect rule, der indirekten Herrschaft. FOLIE: SOZIALE UND WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNGEN In der kolonialen Phase gab es große sozio-ökonomische Veränderungen: so entstand vor dem 2. Weltkrieg eine Klasse von Arbeitern und Arbeitnehmern, die in Geld entlohnt wurden und die sich intern differenzierte. Ein afrikanisches Bürgertum entstand (Besitzer von kleinen Unternehmen oder Handelshäusern bzw. Plantagen). Kleinproduzenten und Kleinhändler entwickelten sich in größerem Maße, insbesondere in Städten. Mit Geld entlohnte Arbeit wuchs im kolonialen Regime erheblich an, insbesondere um Minen und Städte herum, betrug aber nie mehr als ca. 5% der afrikanischen Arbeitsbevölkerung in 1940. Die weit größere Anzahl von Zwangsarbeitern ist hier nicht eingerechnet. Das Aufkommen des Kapitalismus bedeutete nicht unbedingt mehr Geld, mehr Reichtum oder ein Plus an sozialen Diensten. Die Gesamtzahl afrikanischer Kinder in Schulen blieb klein. Wohl gingen mehr Kinder in Koranschulen als in christliche oder westlich säkulare. In den 1920er Jahren gingen nicht mehr als 3% aller Kinder in staatliche Grundschulen oder Missionarsschulen. Weiterführende Schulen (7.-9. Klasse) gab es in den 20er Jahren. Vor 1945 gab es eine einzige Akademie, die Lehrer und Funktionäre ausbildete: die William Ponty Schule in Dakar. Sie vergab bis 1945 insgesamt 2800 Abschlusszeugnisse. Seit 1918 gab es in Dakar auch eine medizinische Hochschule. FOLIE: FRÜHE FORMEN DER POLITISIERUNG Erstmals wurde 1914 ein Afrikaner in die französische Nationalversammlung gewählt – Blaise Diagne aus Senegal. Dem vorausgegangen war 1912 ein neues Gesetz des Generalgouvernements, das es Afrikanern ermöglichte, unter sehr hohen Auflagen – Lese- und Schreibfähigkeit, Empfehlungen etc – die französische Staatsbürgerschaft zu erwerben. 1922 besaßen weniger als 100 diese Staatsbürgerschaft. Nach dem 1. Weltkrieg entwickelten sich zwei Formen politischer Aktivität: erstens der Schwarze Nationalismus des in den USA lebenden Jamaikaners Marcus Garvey, und der Kommunismus. Letzterer fand Anklang bei der kleinen Schicht afrikanischer Arbeiter, vermittelte auch darüber hinaus wichtige politisierende Impulse. FOLIE: KRIEGSENDE: MOMENTE DER HOFFNUNG Für Afrikaner bedeutete das Kriegsende 1945 ein Moment der Hoffnung, der Hoffnung auf Gleichheit und politische Rechte, soziales Standing und wirtschaftliche Möglichkeiten. Die Gründung der UN 1945, die Verabschiedung 11 der Menschenrechtserklärung 1947 und die indische Unabhängigkeit 1947 gaben diesen Hoffnungen weiteren Auftrieb. Nach dem Krieg wurden die politischen Rechte in den französischen Kolonien ausgeweitet. Afrikaner konnten nun Vertreter für die territorialen Räte wählen und an den Wahlen zur französischen Nationalversammlung teilhaben. Die darin vertretenen Afrikaner setzten 1946 das Verbot von Zwangsarbeit durch, ihre Parlamentsarbeit gab Anlass zu Hoffnung auf weitere Verbesserungen. FOLIE: VERÄNDERUNGEN DER LEBENSWELTEN Städte im frankophonen Afrika wuchsen nach 1880 an, aber um 1940 wohnten immer noch nur ca. 3% der Menschen in Städten. Urbanisierung nahm nach dem 2. Weltkrieg dramatisch zu, 1985 lebten bereits 30% der Afrikaner in Städten, und im Kongo oder in Gabun waren es sogar über 50%. Eine der wichtigsten Veränderungen im Leben der Landbevölkerung war das Sinken der Kindersterblichkeitsrate. Damit stieg beispielsweise die Lebenserwartung in der Elfenbeinküste von 40 Jahren in 1940 auf 50 in 1980. Die Ursachen dieser Entwicklung sind noch nicht vollständig untersucht. Zum Teil haben sie mit der Verbreitung westlicher Medizin zu tun. Zudem war diese Entwicklung regional unterschiedlich. In den zentralafrikanischen Territorien/Staaten Gabun, Kongo, Zentralafrika und im nördlichen Zaire blieb die Geburtenrate sehr niedrig (feucht-warmes Reizklima, Krankheitserreger etc.). Ländliche Familien waren nun größer, und damit veränderten sich deren Strukturen und Organisationsformen. Mehr Kinder gingen zur Schule und erfuhren einen Teil ihrer Ausbildung nicht mehr im elterlich-dörflichen Umfeld. In christlichen Kontexten nahm Polygamie deutlich ab, in muslimischen Kontexten dagegen nahm sie zu oder wurde neu interpretiert. Scheidungen wurden nach der Unabhängigkeit überall erlaubt, und zunehmend machten Frauen davon Gebrauch. Im wirtschaftlichen Bereich kam es nach 1946 zu einem zwei Jahrzehnte anhaltenden Wachstum. Preise für Exportprodukte, vor allem Rohstoffe, nahmen erheblich zu, die Einkommen von Afrikanern stiegen und ermöglichten mehr Konsum als bisher. Durch das Wirtschaftswachstum konnten mehr Schulen und Krankenhäuser finanziert werden, Investitionen im Bereich Transport, Kommunikation und Infrastruktur nahmen erheblich zu. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung vollzog sich der Machttransfer zwischen 1958 und 1962. Die allgemeine Stimmung Afrikas war optimistisch. Nach 1965 stürzten die Preise für Rohstoffe ab. Größe Trockenperioden zwischen 1967 und 1974 sowie zwischen 1979 und 1985 in den nördlichen Savannengebieten bewirkten Hungerkatastrophen. 12 Während der 1930er Jahre hatte sich die Steuerlast verdoppelt. In den 1950ern stieg sie nochmals erheblich an, auch weil nun sehr viel mehr Geld auf öffentlichen Arbeiten, Entwicklung und soziale Dienste ausgegeben wurde. Da nun auch Afrikaner ihre lokalen Regierungen wählen durften, nahm die Zahl der Volksvertreter drastisch zu. Afrikanische Beamte verlangten nun gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit (das Grundgehalt gegenüber Franzosen in vergleichbarer Stellung war gleich, aber Franzosen erhielten das Doppelte durch Auslandszuschläge etc.). Im Verlauf der 50er Jahre wurden dann die Gehälter afrikanischer Beamter dem Niveau französischer angeglichen. Auch gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer erhielten ab 1950 die gleichen Löhne wie Franzosen. Diese Entwicklung war eine Ursache für die große Einkommensschere bei den Gehältern von Regierungsangestellten und Arbeitnehmern nach der Unabhängigkeit. FOLIE: POLITISCHE ENTWICKLUNGEN Nach dem Krieg kam es zu politischen Veränderungen. Afrikaner konnten nun wählen, sich in Gewerkschaften organisieren, Schritte hin zu einem einheitlichen Staatsbürgerschaftsrecht mit gleichen Rechten für alle wurden unternommen. Ab 1956 nahm dann die Entwicklung hin zur Unabhängigkeit an Dynamik zu. Das Ende des Weltkrieges bewirkte eine große Streikwelle, bei der es um mehr Lohn und politische Partizipation ging. So wichtig klassenbedingte Auseinandersetzungen waren, in der Mehrzahl der Konflikte im postkolonialen Afrika handelt es sich um ethnische Konflikte. In den ersten Wahlen nach Kriegsende gab es noch relativ wenige politische Führer. Sie traten landesweit und überethnisch auf. Je mehr die Wählerbeteiligung zunahm und auch die Anzahl von Kandidaten, desto mehr wurden Kampagnen auf spezifische ethnische Kontexte zugeschnitten. In dieser Hinsicht ist „Tribalismus“, seit 1955 ein fester Bestandteil politischer Auseinandersetzung, ein neues Phänomen. Eine französische Verfassung gebende Versammlung, die 1946 tagte, war schon von Afrikaner beschickt. Von 586 Abgeordneten waren immerhin 64 Afrikaner; 24 davon waren frei gewählt worden. Sie verabschiedeten die Französische Union, die gleiche Rechte für alle im französischen Reich vorsah. Eine Volksabstimmung in Frankreich sprach sich allerdings dagegen aus, und eine neue Verfassung gebende Versammlung musst einberufen werden. Diese erarbeitete ein kompliziertes Wahlrecht, das Kolonialbürger gegenüber Franzosen deutlich benachteiligte. Viele afrikanische Abgeordnete empfanden dies als ungerecht. Die Teilung von afrikanischen Befürwortern und Gegnern der Verfassung markierte den Beginn einer politischen Auseinandersetzung in Afrika. Nach 1946 wurden zahlreiche Wahlen abgehalten: vier 13 Volksbefragungen, zwei für Verfassungen, drei zu Nationalversammlungen und drei zu Territorialversammlungen. In manchen Städten fanden Kommunalwahlen statt. Einerseits wurde das Wählen dadurch einfacher, dass Kandidaten sich für mehrere Wahlämter beworben, aber dies machte Regieren schwieriger. Außerdem bestanden zwei Wählerkategorien fort, die über unterschiedliche Stimmrechte verfügten. Allerdings nahm beispielsweise in Kamerun die Zahl eher privilegierter Wähler zwischen 1946 und 1953 von 40.000 auf 592.000 zu. Die Ausweitung des Wahlrechts und der Wahlämter korrespondierte mit einer Ausweitung der Bürokratie. Diese wuchs insbesondere im Zusammenhang mit den verstärkten Entwicklungsbemühungen erheblich an. Die Erfolge der Gewerkschaftsbewegung und die Ausweitung gewerkschaftlicher Organisation hatten politische Implikationen jenseits von Lohnerhöhungen und sozialer Mobilisierung. Politische Parteien suchten sich die Erfolge von Gewerkschaften und deren Mobilisierungsgrad zunutze zu machen. Beispielsweise entwickelte sich die Demokratische Partei von Guinea unter Ahmed Sékou Touré aus der Gewerkschaftsbewegung heraus. Längerfristig begann die Partei die Gewerkschaften zu dominieren und schließlich zu marginalisieren. FOLIE: ELFENBEINKÜSTE Hier gründete Félix Houphouet-Boigny (HB) die Demokratische Partei der Elfenbeinküste nach kommunistischem Vorbild, also mit lokalen Zellen im ganzen Land, einer guten Parteikommunikation, und der Fähigkeit, die Massen zu mobilisieren. Allerdings arbeitete die Führung der Partei keineswegs auf eine Revolution hin. Vielmehr leitete HB eine Koalition von afrikanischen Unternehmern und Bauern, die sich gemeinsam gegen die Kolonialverwaltung wandten. Diese bevorzugte nämlich eine kleine Gruppe weißer Plantagenbesitzer und versuchte nun, die Partei zu diskriminieren und zu unterdrücken. So mussten Dorfvorsteher, die in der Partei waren, mehr Steuern abliefern als andere. Nachdem sich aber HB Anfang der fünfziger Jahre vollständig von den Kommunisten losgesagt hatte, kooperierten Kolonialverwaltung und Partei. Diese gipfelte schließlich in der Berufung HB zum Minister in Paris. FOLIE: DYNAMIK DER DEKOLONISIERUNG Anfang der 50er Jahre waren also Anzeichen für die Dekolonisierung sichtbar. Sie gewann nach 1956 deutlich an Dynamik. Afrikanische Parteien strebten nun nicht mehr nach Assimilierung, sondern nach Unabhängigkeit. Diese kam dann, aber um den Preis der Balkanisierung. Zwei große Föderationen brachen 14 auseinander in 12 kleinere Territorien. Beeinflusst wurde diese Entwicklung durch die Tendenz der neuen Parteien, sich regional/territorial bzw. entlang ethnischer Gemeinschaften zu organisieren. Allerdings kamen die Stimmen und Argumente, die für die Unabhängigkeit sprachen, zunächst eher von außerhalb des frankophonen Afrika (Dien Bien Phu, Algerienkrieg, Unabhängigkeit von Marokko und Tunesien 1956, Unabhängigkeit von Ghana 1957). In 1956 wurde ein loi cadre verabschiedet, das von HB befürwortet worden war und für die Territorien der Föderation das allgemeine Wahlrecht für territoriale Parlamente vorsah. Diese sollten verantwortliche Minister wählen. Dieses Gesetz war notwendig geworden, um die Mandatsgebiete Kamerun und Togo Richtung Unabhängigkeit zu führen. Mit dem loi cacre verloren die beiden Generalgouverneure ihre Macht und Funktionen; innerhalb von drei Jahren bestanden sie nicht mehr. Warum diese rasche Auflösung der Föderationen, die von einen bis heute begrüßt, von anderen bis heute bedauert wird? Einerseits lag es an der Dynamik der politischen Entwicklung in Afrika: HB beispielsweise war ein starker Befürworter der Auflösung. Er argumentierte, die Föderation habe dafür gesorgt, dass der Elfenbeinküsten Ressourcen entzogen worden waren, die anderen Föderationsmitgliedern zugekommen waren. Außerdem war HBs politische Heimat und Basis die Elfenbeinküste, und in Föderationswahlen hätte er keine dominante Stellung einnehmen können. Léopold Senghor aus dem Senegal meinte, die einzelnen Länder seien zu klein und zu arm an Ressourcen, um sich behaupten zu können. Auf französischer Seite hat wohl die Überzeugung vorgeherrscht, man könne mit 12 kleinen Territorien mehr Einfluss behalten als mit zwei großen. In Frankreich fand 1958 eine Volksabstimmung für eine neue Verfassung statt, die dem Präsidenten – Charles de Gaulle – wesentlich mehr Macht einräumte. In den Kolonien wurde auch eine Volksabstimmung abgehalten. Diese ging aber darüber, ob die Kolonien im französischen Reichsverband bleiben wollten oder nicht. In den meisten afrikanischen Kolonien wollten Mehrheiten in einem Reichsverband bleiben. In Niger und in Kamerun entschieden sich die Menschen dagegen, und ganz überwiegend auch in Guinea, das daraufhin mehr oder weniger über Nacht in die Unabhängigkeit katapultiert wurde. Beim fluchtartigen Aufbruch der Franzosen wurden selbst alle Büromöbel entfernt oder zertrümmert, Telefonleitungen herausgerissen. Touré erklärte: „Wir bevorzugen Armut in Freiheit statt Reichtum in Sklaverei“. Zwei Jahre später waren, zu günstigeren Bedingungen, alle Kolonien frei: Ghana und Guinea hatten Beispiele gesetzt, der sich die herrschenden Eliten der französischen Territorien nicht mehr entziehen konnten. FOLIE: FRANKREICH UND DIE UNABHÄNGIGEN STAATEN 15 Im Kontext der Dekolonisierung des französischen Kolonialreiches in Afrika gewann der von Kwame Nkrumah geprägte politische Kampfbegriff des „NeoKolonialismus“ an Bedeutung. Denn Frankreich ging nach der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien Klientelbeziehungen mit den neuen Staaten ein. Die Währungen der Staaten blieben – bis heute – an den Francs und dann an den Euro gebunden, Frankreich sicherte sich Stationierungsrechte und spielte bei politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Länder immer mal wieder das Zünglein an der Waage. In den Vereinten Nationen agierten die frankophonen Staaten immer wieder als willfähriger Block, der für Frankreichs Interessen stimmte. Frankreichs Botschafter galten und gelten als die einflussreichsten Personen in einer ganzen Reihe von Staaten: sie entwickelten sich zu Prokonsuln. Das brachte den neuen unabhängigen Staaten aber nicht nur Nachteile: sie verfügten über stabile Währungen, erhielten relativ gesehen mehr Entwicklungshilfe, insbesondere auch von der EU bzw. deren Vorgängerorganisationen. Alle Staaten gelangten in den Genuss von Handelsabkommen mit der EU, die ihnen den Zugang zu Exportmärkten erleichterten (Abkommen Yaundé 1963 und Lomé I 1975). Mit allen Mitteln und mit einigem Erfolg bemüht(e) sich die französische Politik, die ehemaligen Kolonien amerikanischem Einfluss zu entziehen. Bis heute ist Frankreich die Macht mit dem relativ größten Einfluss im frankophonen Afrika. FOLIE: DEKOLONISIERUNG UND UNABHÄNGIGKEIT Vier große Problemkreise: Vertretung politischer Interessen in den neuen Ländern Frage effektiver Verwaltungen Entwicklung Sozialpolitik Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren die postkolonialen Regierungen repräsentativer als die kolonialen Regime. Allerdings brach die Demokratie unter der Last der Probleme bald zusammen. Ethnische Konflikte brachen auf, die von der Kolonialmacht unterdrückt, aber auch provoziert worden waren, etwa in Dahomey. Dennoch: Bürger des unabhängigen Afrika verfügten in der Regel über mehr Bürgerrecht, und die Regime konnten sich einer breiteren Zustimmung erfreuen als die Kolonialregierungen. Insgesamt waren an die Sozialpolitik und an Entwicklung die größten Hoffnungen geknüpft, hier lagen die größten Probleme, aber hier war auch das größte Versagen. Überwiegend bedienten die Regime die Interessen ihrer Klientel, die städtischen Schichten etc. Bauern blieben die am meisten diskriminierte Schicht, und die Schicht, die am stärksten zur Finanzierung von Entwicklung herangezogen wurde. Damit schlachtete man die Kuh, die man melken wollte. Der Staat subventionierte Grundnahrungsmittel oder legte Preise fest, die letztlich den Interessen der 16 Bauern schadeten und einseitig Städter begünstigten. Damit stabilisierten Regimes zunächst ihre Macht; längerfristig führte diese Entwicklung zur Beschleunigung von Konflikten zwischen Land und Stadt und in vielen Fällen zur Etablierung autokratischer Herrschaft. 17