7 Französisches Kolonialreich Afrika

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Sitzung 7: Algerien und das Frankophone Afrika
FOLIE: DAS FRANKOPHONE AFRIKA
Überblick
Thema der heutigen Sitzung sind zum einen die Entwicklungen im Maghreb,
zum anderen die Dekolonisierung des französischen Kolonialreiches in Afrika.
Da die dramatischen Entwicklungen in Algerien die Auseinandersetzung um die
Befreiung von Kolonialherrschaft in Marokko und Tunesien in den Schatten
stellten und die Strukturelemente kolonialer Herrschaft in Algerien im
wesentlichen die in den anderen Territorien spiegelten, konzentriere ich mich
nach kurzen Bemerkungen über Marokko und Tunesien auf Algerien. Der
zweite Teil der Vorlesung befasst sich mit dem subsaharischen Afrika. Hier war
der Kolonialismus für die afrikanische Geschichte so wichtig, nicht weil er
Veränderungen auslöste, sondern Veränderungen beschleunigte, die ohnehin
auftraten, und weil er die Bedingungen veränderte, unter denen sich diese
Veränderungen vollzogen.
FOLIE: MAGHREB: ECKDATEN
Marokko, Algerien und Tunesien gerieten zu unterschiedlichen Zeiten unter
französischen Einfluss: Algerien (nach der Besiedlung durch französische colon
in drei französische départements aufgeteilt) wurde seit den 1830er Jahren
kolonisiert, als zunächst die Bourbonen, letztlich erfolglos, versuchten, mit
einem kolonialen Abenteuer ihre Macht zu retten. Tunesien (Protektorat) wurde
1881 von einer französischen Armee besetzt – zu dieser Zeit konkurrierten
Frankreich und Großbritannien um die Ausweitung ihrer kolonialen
Besitzungen. Der marokkanische Sultan wurde 1908 gezwungen, ein
französisches Protektorat anzuerkennen.
FOLIE: MAROKKO: NATIONALISTISCHE BEWEGUNG
In Marokko dauerte die Niederschlagung antikolonialistischer Aufstände bis in
die dreißiger Jahre an. Frankreich versuchte, zunächst mit einigem Erfolg, die in
den Küstenregionen lebenden Araber gegen die im Atlas-Gebirge lebenden
Berber auszuspielen. Proto-Nationalisten in den dreißiger Jahren wiesen aber
damals schon zurecht darauf hin, dass die ethnischen Unterschiede weniger
gravierend waren als die gemeinsamen Traditionen und die Religion. Sultan
Mohammed V. von der seit dem 17. Jahrhundert regierenden Dynastie der
Alawiten, seit 1927 an der Macht, verhielt sich zunächst loyal gegenüber der
Kolonialmacht. Auch wenn Marokko während des zweiten Weltkrieges an der
Seite Frankreichs stand, so entwickelten sich nun nationalistische Forderungen,
und auch der Sultan rückte zunehmend von Frankreich ab. Die Gründe waren
vielfältig:
 ein starker Bevölkerungsdruck, der sich in den dreißiger Jahren
bemerkbar machte (Arbeitsmarkt) und den die Kolonialverwaltung nicht
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



sozial abfederte. Erschwerend hinzu kam die Große Depression, in der
Frankreich in Form von Zöllen in den Kolonien und auf dem Rücken der
kolonisierten Völker seine wirtschaftliche Lage zu verbessern sucht.
Anhaltende sozial-wirtschaftlich motivierte Unruhen
Freiheitsversprechen der Atlantik-Charta und der Besuch des
amerikanischen Präsidenten Roosevelt (Januar 1943), der dem Sultan die
Unterstützung der USA bei der Gewinnung der Unabhängigkeit
versprach.
Sultan Mohammed V. verfolgt unter dem Eindruck der Entwicklungen im
arabischen Raum (Anwachsen nationalistischer Bewegungen; die
Konsolidierung der Saud-Dynastie in einem unabhängigen Saudi-Arabien;
Verwicklungen in Ägypten) eine nationalistische Politik.
Innermarokkanische nationalistische Kritik am Sultan, die ihn zwingt,
eine stärker anti-französische Politik zu betreiben
FOLIE:
NACHKRIEGSENTWICKLUNGEN:
METROPOLITANE
PERSPEKTIVEN
Nach dem Krieg stehen sich marokkanische und französische Positionen
diametral gegenüber. Frankreich (siehe unten, Algerien) wollte das
Kolonialreich nicht aufgeben, Sultan und Bevölkerung verlangen
Unabhängigkeit.
 Die französische Politik unterschätzte nach 1945 auf fundamentale Weise
den Nationalismus der Araber
 In der krisengeschüttelten vierten Republik (dauernde Regierungswechsel
und parteipolitische Auseinandersetzungen zuungunsten von Sachfragen)
gewannen einzelne Militärs in Nordafrika überproportional an Einfluss. In
Marokko, Algerien und Tunesien sperren sich diese Akteure gegen die
Unabhängigkeit (in Marokko und Tunesien insbesondere Marschall
Alphonse Juin – ein radikaler Reaktionärer).
 Eine erhebliche Migration französischer Siedler (colons) verschärfte die
Lage (1945: 290.000, Mitte der fünfziger Jahre: 450.000).
FOLIE:
NACHKRIEGSENTWICKLUNGEN:
INTERNATIONALE PERSPEKTIVEN
PERIPHERE
UND
 Die Suche nach kooperationswilligen Elementen hatte letztlich keinen
Erfolg. Die Berber waren zwar vorübergehend auf Seiten Frankreichs
(Einfall von berittenen Berber-Truppen in Casablanca 1952), unter dem
Eindruck des erstarkenden arabischen Nationalismus wechseln sie aber
wieder die Seiten.
 Zunehmender internationaler Druck (vorsichtig von der amerikanischen
Regierung, deutlicher von amerikanischen Gewerkschaften, offen von der
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UN-Generalversammlung) führte immer mehr zu einer Isolierung
Frankreichs in kolonialpolitischen Fragen.
 1955 kontrolliert ein Heer von knapp über 100.000 Soldaten Marokko.
Frankreich ist angesichts des Krieges in Algerien einem imperial
overstretch ausgesetzt: es verfügte letztlich nicht über ausreichende
Ressourcen, mehrere Kolonialkriege zugleich zu führen.
Auch die später wieder korrigierte Absetzung des Sultans 1952 schadet
Frankreich: nun verbündeten sich Berber, antimonarchische und monarchietreue
Nationalisten, bewaffnete Auseinandersetzungen nahmen zu. Um die Kräfte auf
Algerien konzentrieren zu können, schickte sich Frankreich 1956 in das
Unvermeidliche – Marokko wurde unabhängig.
FOLIE: TUNESIEN: GEMEINSAMKEITEN UND UNTERSCHIEDE
Grundsätzlich verliefen die Entwicklungen in Tunesien ähnlich wie in Marokko,
allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: in Marokko setzte sich der Sultan
an die Spitze der Unabhängigkeitsbewegung, in Tunesien verlor der Bey wegen
seiner Zusammenarbeit mit den Franzosen alle Macht. Die nationalistische
Bewegung unter Habib Bourguiba verstand sich, ähnlich wie die Bewegung um
Gamal Abdel Nasser, als eine moderne, antifeudalistische Bewegung. Wie in
Marokko auch war der militärische Arm der nationalistischen Bewegung relativ
klein. Er konnte aber überproportional Einfluss gewinnen, insbesondere nach
dem Beginn des Algerienkrieges. Auch hier wurden die Franzosen zum
Rückzug gezwungen, nachdem das Land praktisch unregierbar geworden war
(mehrere Generalstreiks, Attentate, Sabotage etc.), die französischen Truppen
zur Pazifizierung des Landes nicht mehr ausreichten und der Krieg in Algerien
sämtliche Ressourcen beanspruchte. Tunesien erhielt 1955 die innere
Autonomie und eine Selbstregierung unter einem Bey, ein Jahr später erstritt
Bourguiba die Unabhängigkeit. Der Bey wurde im Jahr darauf abgesetzt, die
tunesische Revolution mit Unabhängigkeit und Abschaffung des Feudalregimes
abgeschlossen.
FOLIE: KARTE ALGERIEN
FOLIE: ALGERIEN: KOLONISIERUNG
Während die französische Kolonialherrschaft in Marokko und auch in Tunesien
eher indirekt war, war sie in Algerien direkt, unmittelbar und repressiv. Mehrere
große Aufstände wurden im 19. Jahrhundert blutig niedergeschlagen, Land
konfisziert und an europäische Siedler verteilt (zunächst vor allem Italiener und
Spanier, erst später primär Franzosen). Immer wieder kam es zu gewaltsamen
Auseinandersetzungen mit der Kolonialmacht, zuletzt 1936/37, als Protest in
Städten aufflammte. Am Ende des 19. Jahrhunderts erlebte Algerien eine große
Einwanderungswelle. Migranten ließen sich vor allem als Händler und
Handwerker in den Städten nieder, muslimische Konkurrenten wurden
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ausgeschaltet. Parallel dazu nahm nun auch die algerische Bevölkerung, die
zunächst im 19. Jahrhundert geschrumpft war, wieder erheblich zu. 1939
standen 5,5 Millionen Moslems 813.000 Europäern gegenüber.
FOLIE: VERWALTUNG UND POLITISCHE PARTIZIPATION
Das Regime, das vor allem die colons begünstigte, war repressiv. Es betrachtete
Araber als eine sale race, als schmutziges Volk, das kulturell vollkommen
unterlegen war. Auch hier versuchten die Franzosen, Araber und Berber aus der
Kabeley gegeneinander aufzuwiegeln. Das misslang letztlich wie auch in
Marokko: der Islam, besonders eine in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts
aktive Erweckungsbewegung schmiedet die ethnischen Gruppen zusammen;
zweitens war es in der Vergangenheit ohnehin vielfach zu Mischehen und einem
Neben- und Miteinander der Ethnien gekommen.
Die politischen Strukturen boten Algeriern keine Teilhabe. Es gab drei
départements (Oran, Algiers, Constantine, und eine separate Verwaltung für das
Territorium in der Sahara), die colons konnten an den französischen
Parlamentswahlen teilnehmen und schickten Deputierte. Araber durften nicht
wählen. 1919 wurden einige Araber an Wahlen zu einem beratenden Gremium
zugelassen, faktisch aber dominierten die colons. Bis hinunter auf die
kommunale Ebene war die Verwaltung französisch. Araber konnten die
französische Staatsbürgerschaft nur erlangen, wenn sie vom Islam zum
Christentum konvertierten. Das taten bis 1936 nur 2500. Viele arbeiteten jedoch
in Ermangelung von Perspektiven in Algerien in Frankreich. Mitte der
zwanziger Jahre waren es bereits über 100.000, die zumeist schlecht bezahlte
Jobs hatten, später aber ein entscheidender Nukleus der nationalistischen
Bewegung waren. Während der Volksfrontregierung der Jahre 1936 bis 1939
unter Léon Blum bemühte sich Paris um eine Liberalisierung des Regimes,
scheiterte aber am mangelnden Durchsetzungswillen, der Wirtschaftskrise und
der Politik der colons.
FOLIE: ALGERIEN UND DER ZWEITE WELTKRIEG
Während des zweiten Weltkrieges wurde Algerien hart von einer
Wirtschaftskrise getroffen: Migranten konnten nicht mehr in Frankreich arbeiten
und kein Geld in die Heimat überweisen; Lebensmittel und Verbrauchswaren
wurden immer teurer und knapper, die Verteilung begünstigte massiv die colons.
Diese standen während des Krieges eindeutig auf Seiten Vichy-Frankreichs und
hatten ein ambivalentes Verhältnis gegenüber der Ankunft anglo-amerikanischer
Truppen in Algerien Ende 1942, nachdem die Vichy-treue Verwaltung unter
General Darlan zu den Alliierten übergelaufen war. Überall in der arabischen
Welt mobilisierte der Krieg die Kräfte des Nationalismus – so auch in Algerien.
Algerische Soldaten kämpften auf alliierter Seite für die Atlantik-Charta und
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unter dem Banner (weiß-grüne Flagge) des Helds des Widerstands aus dem 19.
Jahrhundert (Abd el Kader). Die Mehrheit der Algerier war der Überzeugung,
dass die Fundamente des französischen Regimes unter dem Eindruck des
Krieges kollabierten.
Auf der Konferenz von Brazzaville verständigte sich das „freie Frankreich“ auf
koloniale Reformen. Eine Reform des Wahlrechts in Algerien, die Muslimen
mehr Mitspracherechte einräumte, wurde jedoch als nicht ausreichend
betrachtet. Am Ende des Krieges verlangten Nationalisten die Unabhängigkeit,
drangsalierten colons und boykottierten Geschäfte von Europäern.
FOLIE: SETIF
Am Tag des Kriegsendes in Europa, dem 8. Mai, kam es im algerischen Sétif zu
Auseinandersetzungen: militante Algerier jagten colons, brachten über 100 ums
Lebens, vergewaltigten colons-Frauen. Das Massaker war brutal und wies
bereits auf künftige Ereignisse hin: Mörder photographierten ihre Opfer, lokale
Honoratioren duldeten das Blutbad, Priester wurden verstümmelt, Unrecht im
Namen Allahs begangen. Die Franzosen schlugen auch brutal zurück, etwa 3000
Algerier starben, es kam zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Bei den
nachfolgenden Krawallen in vielen algerischen Städten kam es zu Verhaftungen.
So wurden etwa drei der ‚historischen neun’ Gründer der Nationalen
Befreiungsarmee (ab 1954) vorübergehend verhaftet: Ferhat Abbas, Mohammed
Khider, Larbi ben Mhidi.
Sétif steht am Beginn des algerischen Befreiungskampfes. Die Metropole und
die colons zogen keine Lehren daraus: die colons wurden noch uneinsichtiger
und pochten auf ihren Privilegien, das politische System und die Parteien der
vierten Republik verhinderten eine unvoreingenommene Auseinandersetzung,
und in Algerien gerieten moderate, friedliche Nationalisten in die Defensive.
Algerischen Nationalisten war von nun an klar, dass sie die Befreiung Algeriens
nur erkämpfen konnten.
FOLIE: SOZIALE UND WIRTSCHAFTLICHE BEDINGUNGEN
Die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen verschärften sich in der
Nachkriegszeit. Markant war die demographische Entwicklung: die muslimische
Bevölkerung stieg von 5.5. Millionen auf 8.5 Millionen (1954) an. Davon waren
über 90% Analphabeten, es gab nur 850 Studierende an höheren
Bildungseinrichtungen. Arbeitslosigkeit und Armut waren weit verbreitet, um
die Städte breiteten sich Slums aus. Die Einkommensschere zwischen colons,
die ihre Farmen und vor allem Weingüter vergrößerten und zunehmend
mechanisierten, und Muslimen nahm immer mehr zu. Etwa eine viertel Million
Algerier arbeiteten in Frankreich.
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Wirtschaftlich war Algerien von eher untergeordneter Bedeutung für die
metropolitane Wirtschaft. Es hatte in etwa die Bedeutung des Saarlandes: 1954
gingen 11,3% der französischen Exporte nach Algerien, von dort bezog man vor
allem Wein (50%) und Rohstoffe, die man auch woanders kaufen konnte.
Zwei Entwicklungen waren für den algerischen Nationalismus prägend: erstens
gab es keine traditionelle, feudale Elite mehr. Die war von den Franzosen
vernichtet oder marginalisiert worden. Zweitens gab es nur eine sehr kleine
gebildete Schicht: im Jahre 1954 185 algerische Lehrer, 165 Ärzte und nur 28
Ingenieure.
FOLIE: NATIONALISMUS
Die verfassungspolitischen Reformen der Nachkriegszeit waren kosmetisch.
Systematisch wurden Wahlen von der Kolonialverwaltung oder den colons
gefälscht, Muslime hatten keine Chance zur politischen Teilhabe. Für algerische
Nationalisten war kein Raum für eine friedliche politische Betätigung. Sie
rekrutierten sich aus Arbeitnehmern, die aus Frankreich zurückkehrten, aus der
städtischen Bevölkerung und vor allem auch aus dem religiösen Umfeld. Eine
Führung erwuchs den Nationalisten in Gestalt einer kleinen Gruppe von
Aktivisten um Ahmed ben Balla (ein ehemaliger hochdekorierter Offizier in der
französischen Armee), Mohammed Khider (ein ehemaliger Abgeordneter der
beratenden Versammlung), Hocine Ait Ahmed (einem Funktionsträger aus der
Kabeley), und Kabyle Belkacem Krim, der seit 1947 eine kleine antifranzösische Truppe in der Kabeley aufgebaut hatte. Sie gründeten die Front de
Libération Nationale (FLN) und ihren militärischen Arm, die Armée de
Libération Nationale (ALN). Und sie fassten einen Plan: in der Nacht vom 31.
Oktober auf den ersten November 1954 (Allerheiligen, für die erzkatholischen
colons ein wichtiger Feiertag) sollte ein nationaler bewaffneter Aufstand
beginnen.
FOLIE: ALGERIENKRIEG
Die FLN war zwar vom Marxismus beeinflusst, noch mehr aber vom PanArabismus, der Hoffnung auf ein freies, unabhängiges und starkes Arabien. Sie
war organisiert wie die Viet Minh in Vietnam, in kleinen Zellen, die unabhängig
voneinander operierten. Anders aber als die Viet Minh, die nach und nach ihre
Kontrolle über das Land ausdehnten und diese Kontrolle dann auch verteidigten,
waren FLN und ALN immer punktuell aktiv, schlugen zu, verschwanden
wieder. Sie kämpften gegen französische Militäreinrichtungen und gegen
colons. Zunehmend wurden dadurch auch Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen.
FOLIE: ALGERIENKRIEG TOTE
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Bevor wir die Motive und Interessen der kriegsbeteiligten Akteure in den Blick
nehmen, zunächst einige sehr traurige Statistiken. Der Krieg dauerte von 1954
bis März 1962. Er kostete 20.000 französischen Soldaten, zumeist
Wehrdienstleistenden, das Leben. 4.500 nicht europäische französische Soldaten
starben. 11.000 starben an Krankheiten oder Freitod. Etwa die Hälfte starb im
letzten Kriegsjahr, zwischen 1961 und 1962. An Zivilisten starben 2800
Europäer und 30.000 Algerier, die von der FLN getötet wurden. Zwischen 1961
und 1962 starben 50.000 Zivilisten durch die Kriegseinwirkungen vor allem
durch Franzosen, und 150.000 durch die FLN, insbesondere Anhänger
Frankreichs. Auf algerischer Seite geht man von etwa 300.000 Toten aus.
FOLIE: MOTIVE UND INTERESSEN DER AKTEURE
Zunächst zu den Motiven der Nationalisten: sie kämpften, wie bereits erwähnt,
für ein freies, unabhängiges und starkes Algerien. Sie waren typische Vertreter
des arabischen Nationalismus: sie liebäugelten mit dem Sozialismus, ohne selbst
Kommunisten zu sein; sie erstrebten eine starke Stellung des Staates in
Gesellschaft und Wirtschaft; sie nutzten den Islam zur Mobilisierung der
Massen, bekämpften ihn aber später; und sie waren oder wurden im
wesentlichen Militärs. Unter der kleinen Führungselite, die zum Teil bald ins
tunesische oder marokkanische Exil ausweichen mussten, waren auf dem
Höhepunkt der Kämpfe Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre
vielleicht 70.000 – maximal 90.000 Aktive am Krieg beteiligt. Sie konnten auf
hunderttausende von Sympathisanten zählen. Sie kamen aus unterschiedlichen
Schichten der Bevölkerung, vom Land oder von den Städten. Manche arbeiteten
tagsüber als Bauern und nachts als Befreiungskämpfer. Mehrheitlich kamen sie
von einer sozial und wirtschaftlich marginalisierten Schicht, aus den Slums der
Städte, der Krieg war ihre einzige Perspektive.
FOLIE: MOTIVE UND INTERESSEN DER AKTEURE: COLONS
Dann gab es die colons: sie kämpften für ihren Besitz, für den Erhalt Algeriens
als départements von Frankreich, für ihre Heimat, für ihre Privilegien.
FOLIE: MOTIVE UND INTERESSEN DER AKTEURE: FRANKREICH
Frankreich kämpfte zunächst und vor allem um seine Rolle als europäische
Großmacht. Darüber gab es im Parteienspektrum einen breiten Konsens. Offen
thematisiert wurde der Krieg nämlich eher selten; instrumentalisiert für
parteiinterne Intrigen wurde er allerdings schon. Nachdem der Krieg einmal
begonnen hatte, gewann der Topos von der Verteidigung des Okzidents und der
„westlichen Werte“ gegen den Orient, gegen Tradition, Panarabismus, Islam
oder auch gegen den Kommunismus an Popularität. Schließlich erklärten
Katholiken und Laizisten, in Afrika gegen kommunistischen Totalitarismus und
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für Demokratie und Freiheit zu kämpfen. Die Öffentlichkeit war des
„schmutzigen Krieges“ bald müde; bereits im Juli 1956 gab eine Mehrheit der
Franzosen an, sie wären für die Gewährung der Unabhängigkeit. Gegen den
Krieg stemmten sich zunächst wenige Intellektuelle, die sich außerhalb des
etablierten Parteienspektrums und der Medien artikulierten. Die wenigsten
sprachen sich von Beginn an für die Unabhängigkeit Algeriens aus; das kam erst
nach und nach, wobei die „Entdeckung“ systematischer Folter durch die
französische Armee eine große Rolle spielte. Ende der fünfziger Jahre führte
eine wachsende Distanz zu den Algerienfranzosen, die zunehmend für den Krieg
verantwortlich gemacht wurden, dazu, dass eine Mehrheit konstant den Krieg
ablehnte und sich dann auch General de Gaulles Kurs anschloss.
Der Krieg durchlief drei Phasen:
FOLIE: KRIEGSVERLAUF PHASE I
1954-56: In dieser Phase konnte die FLN ihre dominante Stellung innerhalb des
algerischen Nationalismus festigen. Der Aufstand war zunächst geographisch
auf den Norden und Osten begrenzt, weitete sich aber sukzessive aus. Dabei
führte die FLN einen zum Teil brutalen Bürgerkrieg gegen konkurrierende
Gruppen und vor allem gegen Algerier, die für das französische Regime
arbeiteten oder mit ihm kooperierten.
FOLIE: KRIEGSVERLAUF PHASE II
1956-58: In dieser zweiten Phase ging die Kolonialmacht in großem Stil in die
Offensive. Sie hielt daran fest, keine Verhandlungen mit den Aufständischen zu
führen. Das Militär erhielt umfangreiche Vollmachten, die Truppen wurden
verstärkt – auf zuletzt knapp eine halbe Million Soldaten, darunter mehrheitlich
Wehrdienstleistende -, und es gelang ihr, in der „Schlacht von Algier“ die
Lähmung des Zentrums von Verwaltung und Politik zu verhindern. Unterdessen
verhärteten sich die Fronten, die colons waren zu keinerlei Konzessionen bereit.
FOLIE: KRIEGSVERLAUF PHASE III
1958-62: In dieser blutigsten Phase des Krieges herrschte im Grunde eine
militärische und politische Pattsituation. Die französische Armee verzeichnete
große Erfolge, konnte aber die FLN nicht entscheidend schlagen. Der
internationale Druck nahm zu. In Frankreich gelangte 1958 General de Gaulle
an die Macht; er beendete das politische Chaos der vierten Republik. Zunächst
konnte er aber auch keine Lösung des Konflikts anbieten. Allmählich aber
wuchs die Einsicht, dass der Krieg einfach zu viel kostete und auf Dauer die
Fundamente des französischen Staates zersetzte. Ab etwa 1960 arbeitete de
Gaulle dann auf das Ende des Konflikts hin, verhandelte und erreichte im
Frühjahr 1962 schließlich einen Kompromiss, der die Unabhängigkeit Algeriens
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sicherte, Frankreich aber gewisse Vorrechte in Algerien bot (siehe unten). Wie
gefährlich der Konflikt für den Zusammenhalt der französischen Gesellschaft
und für Staat und Republik wurde, zeigte sich 1961, als führende Generäle
putschten und die militante Organisation der Siedler, die Organisation de
l´Armée Secrète (OAS), einen blutigen Krieg gegen französische Armee und
Algerier begann. Der Putsch brach bald zusammen, aber er war ein Symbol für
die Zerrissenheit von Militär und Gesellschaft.
FOLIE: ERGEBNISSE
Am 19. März 1962 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, am 17. Juni
vereinbarten OAS und FLN einen Waffenstillstand, am 1. Juli stimmten
Franzosen und Algerier mit großer Mehrheit in einer Volksabstimmung für die
Unabhängigkeit, die am 3. Juli 1962 gewährt wurde. Im Herbst wurde die
Republik Algerien ausgerufen.
Weitgehend unbeachtet von der Weltpresse vollzog sich die überstürzte Flucht
von über 1,3 Millionen colons und Algeriern nach Frankreich. In den
Abkommen mit der FLN hatte sich Frankreich bestimmte Vorrechte einräumen
lassen: die Nutzung der Sahara für Atombombentests, eine gemeinsame
Förderung des gerade entdeckten Öls, Basen für einige Jahre,
Sondermilitärzonen in der Sahara und einiges mehr. Die Privilegien wurden vor
Ende der Vertragszeit aufgehoben, Frankreich zog sich ganz zurück.
Dafür verantwortlich waren eine Reihe von Gründen: die anhaltend schwierigen
Beziehungen zu Algerien und vor allem die Tatsache, dass de Gaulle
Alternativen gefunden hatte, die den Status als Großmacht kompensierten. 1961
zündete die erste französische Atombombe, atomare Versuche konnten in
anderen Ländern der Sahara durchgeführt werden, die französische Wirtschaft
boomte und brauchte überhaupt keine kolonialen Märkte mehr.
FOLIE: ZWISCHENFAZIT
Wie keine andere Kolonialmacht hat es Frankreich versäumt, den Nationalismus
in der Dritten Welt ernst zu nehmen und konstruktiv auf ihn zu reagieren. Es
etablierte ein Regime, das im Vergleich besonders repressiv war. Es diente der
Aufrechterhaltung einer Großmachtrolle. Nach dem zweiten Weltkrieg war es
die positive Projektionsfläche für schmachvolle Niederlagen im zweiten
Weltkrieg, es sollte Vichy ungeschehen machen, und in Algerien wollte das
französische Militär die demütigende Niederlage von Dien Bien Phu
wettmachen. Eine ganze Politikergeneration sorgte sich mehr um Parteigerangel,
Posten und um ein falsches Verständnis von Großmachtrolle. Algerien
beeinflusste auch die französische Dekolonisierung der subsaharischen
Besitzungen.
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FOLIE: SUBSAHARISCHES AFRIKA
FOLIE: ECKDATEN
Die imperiale Durchdringung Afrikas – also die physische Unterordnung der
Afrikaner unter Kolonialherrschaften – war erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts
abgeschlossen. Erst nach der Jahrhundertwende, in der ersten Dekade des 20.
Jahrhunderts, entwickelten sich flächendeckende europäische Verwaltungen.
Weite Teile Zentralafrikas und der westafrikanischen Sahel-Zone wurden erst in
den dreißiger Jahren mit einer europäischen Administration überzogen. Bis 1956
wurden die Territorien des frankophonen Afrikas zentral von Dakar und
Brazzaville verwaltet. Mit der loi-cadre von 1956 vollzog sich die
Balkanisierung des frankophonen Afrika in 14 Nationen, die zwischen 1958 und
1960 unabhängig wurden.
FOLIE: VERWALTUNG UND POLITIK
Vor und noch kurz nach der Aufteilung Afrikas wurde Afrika regiert von einer
Vielzahl von Regierungen. Diese reichten von kleinen Dorfregierungen und
Familienverbänden, wie im südlichen Kamerun, bis zu großen Reichen mit einer
ausgefeilten Verwaltung, z. B. unter al-hajj Umar. Das halbe Jahrhundert
europäischer Kontrolle brachte eine einheitliche Form von Regierung. Diese
aber war autokratisch und gewährte Afrikanern keine oder nur sehr begrenzte
Formen von Mitsprache. Afrikanische politische Teilhabe an ihrer lokalen
Regierung erfolgte vor allem durch informelle Systeme von Repräsentation und
Druck. Die alte afrikanische Aristokratie veränderte sich, manche gingen unter,
andere wurden Teil der kolonialen Bürokratie. Es gab nicht länger mehr Könige
und Souveräne, sondern „Häuptlinge“, die in Beziehung zur kolonialen
Bürokratie standen.
Die Verwaltungen und Steuerpolitiken des frankophonen Afrika waren stärker
auf Einnahmen gerichtet als in den britischen Kolonien oder den arabischen
Besitzungen Frankreichs. Dies war eine Folge der relativen Unterentwicklung
der Region. Andererseits gab es nie die rigorose Rassentrennung wie in
Südafrika oder im anglophonen Afrika. Soziale Konfrontationen gab es im
frankophonen Afrika mehr zwischen Klassen als zwischen Rassen.
Politik und Regierung des frankophonen Afrika unterschieden sich stark vom
anglophonen Afrika: die Armeen waren größer, militärische Expeditionen
wichtiger als im anglophonen Afrika. Im frankophonen Afrika waren relativ
mehr Europäer beschäftigt, und die Theorie der „unmittelbaren Herrschaft“
korrespondierte mit der größeren Anzahl von Europäern in der Verwaltung. Die
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anglophonen Kolonien beruhten dagegen auf der Vorstellung der indirect rule,
der indirekten Herrschaft.
FOLIE: SOZIALE UND WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNGEN
In der kolonialen Phase gab es große sozio-ökonomische Veränderungen: so
entstand vor dem 2. Weltkrieg eine Klasse von Arbeitern und Arbeitnehmern,
die in Geld entlohnt wurden und die sich intern differenzierte. Ein afrikanisches
Bürgertum entstand (Besitzer von kleinen Unternehmen oder Handelshäusern
bzw. Plantagen). Kleinproduzenten und Kleinhändler entwickelten sich in
größerem Maße, insbesondere in Städten. Mit Geld entlohnte Arbeit wuchs im
kolonialen Regime erheblich an, insbesondere um Minen und Städte herum,
betrug aber nie mehr als ca. 5% der afrikanischen Arbeitsbevölkerung in 1940.
Die weit größere Anzahl von Zwangsarbeitern ist hier nicht eingerechnet. Das
Aufkommen des Kapitalismus bedeutete nicht unbedingt mehr Geld, mehr
Reichtum oder ein Plus an sozialen Diensten.
Die Gesamtzahl afrikanischer Kinder in Schulen blieb klein. Wohl gingen mehr
Kinder in Koranschulen als in christliche oder westlich säkulare. In den 1920er
Jahren gingen nicht mehr als 3% aller Kinder in staatliche Grundschulen oder
Missionarsschulen. Weiterführende Schulen (7.-9. Klasse) gab es in den 20er
Jahren. Vor 1945 gab es eine einzige Akademie, die Lehrer und Funktionäre
ausbildete: die William Ponty Schule in Dakar. Sie vergab bis 1945 insgesamt
2800 Abschlusszeugnisse. Seit 1918 gab es in Dakar auch eine medizinische
Hochschule.
FOLIE: FRÜHE FORMEN DER POLITISIERUNG
Erstmals wurde 1914 ein Afrikaner in die französische Nationalversammlung
gewählt – Blaise Diagne aus Senegal. Dem vorausgegangen war 1912 ein neues
Gesetz des Generalgouvernements, das es Afrikanern ermöglichte, unter sehr
hohen Auflagen – Lese- und Schreibfähigkeit, Empfehlungen etc – die
französische Staatsbürgerschaft zu erwerben. 1922 besaßen weniger als 100
diese Staatsbürgerschaft. Nach dem 1. Weltkrieg entwickelten sich zwei Formen
politischer Aktivität: erstens der Schwarze Nationalismus des in den USA
lebenden Jamaikaners Marcus Garvey, und der Kommunismus. Letzterer fand
Anklang bei der kleinen Schicht afrikanischer Arbeiter, vermittelte auch darüber
hinaus wichtige politisierende Impulse.
FOLIE: KRIEGSENDE: MOMENTE DER HOFFNUNG
Für Afrikaner bedeutete das Kriegsende 1945 ein Moment der Hoffnung, der
Hoffnung auf Gleichheit und politische Rechte, soziales Standing und
wirtschaftliche Möglichkeiten. Die Gründung der UN 1945, die Verabschiedung
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der Menschenrechtserklärung 1947 und die indische Unabhängigkeit 1947
gaben diesen Hoffnungen weiteren Auftrieb. Nach dem Krieg wurden die
politischen Rechte in den französischen Kolonien ausgeweitet. Afrikaner
konnten nun Vertreter für die territorialen Räte wählen und an den Wahlen zur
französischen Nationalversammlung teilhaben. Die darin vertretenen Afrikaner
setzten 1946 das Verbot von Zwangsarbeit durch, ihre Parlamentsarbeit gab
Anlass zu Hoffnung auf weitere Verbesserungen.
FOLIE: VERÄNDERUNGEN DER LEBENSWELTEN
Städte im frankophonen Afrika wuchsen nach 1880 an, aber um 1940 wohnten
immer noch nur ca. 3% der Menschen in Städten. Urbanisierung nahm nach dem
2. Weltkrieg dramatisch zu, 1985 lebten bereits 30% der Afrikaner in Städten,
und im Kongo oder in Gabun waren es sogar über 50%.
Eine der wichtigsten Veränderungen im Leben der Landbevölkerung war das
Sinken der Kindersterblichkeitsrate. Damit stieg beispielsweise die
Lebenserwartung in der Elfenbeinküste von 40 Jahren in 1940 auf 50 in 1980.
Die Ursachen dieser Entwicklung sind noch nicht vollständig untersucht. Zum
Teil haben sie mit der Verbreitung westlicher Medizin zu tun. Zudem war diese
Entwicklung regional unterschiedlich. In den zentralafrikanischen
Territorien/Staaten Gabun, Kongo, Zentralafrika und im nördlichen Zaire blieb
die Geburtenrate sehr niedrig (feucht-warmes Reizklima, Krankheitserreger
etc.).
Ländliche Familien waren nun größer, und damit veränderten sich deren
Strukturen und Organisationsformen. Mehr Kinder gingen zur Schule und
erfuhren einen Teil ihrer Ausbildung nicht mehr im elterlich-dörflichen Umfeld.
In christlichen Kontexten nahm Polygamie deutlich ab, in muslimischen
Kontexten dagegen nahm sie zu oder wurde neu interpretiert. Scheidungen
wurden nach der Unabhängigkeit überall erlaubt, und zunehmend machten
Frauen davon Gebrauch.
Im wirtschaftlichen Bereich kam es nach 1946 zu einem zwei Jahrzehnte
anhaltenden Wachstum. Preise für Exportprodukte, vor allem Rohstoffe,
nahmen erheblich zu, die Einkommen von Afrikanern stiegen und ermöglichten
mehr Konsum als bisher. Durch das Wirtschaftswachstum konnten mehr
Schulen und Krankenhäuser finanziert werden, Investitionen im Bereich
Transport, Kommunikation und Infrastruktur nahmen erheblich zu. Auf dem
Höhepunkt dieser Entwicklung vollzog sich der Machttransfer zwischen 1958
und 1962. Die allgemeine Stimmung Afrikas war optimistisch. Nach 1965
stürzten die Preise für Rohstoffe ab. Größe Trockenperioden zwischen 1967 und
1974 sowie zwischen 1979 und 1985 in den nördlichen Savannengebieten
bewirkten Hungerkatastrophen.
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Während der 1930er Jahre hatte sich die Steuerlast verdoppelt. In den 1950ern
stieg sie nochmals erheblich an, auch weil nun sehr viel mehr Geld auf
öffentlichen Arbeiten, Entwicklung und soziale Dienste ausgegeben wurde. Da
nun auch Afrikaner ihre lokalen Regierungen wählen durften, nahm die Zahl der
Volksvertreter drastisch zu. Afrikanische Beamte verlangten nun gleiche
Bezahlung für gleiche Arbeit (das Grundgehalt gegenüber Franzosen in
vergleichbarer Stellung war gleich, aber Franzosen erhielten das Doppelte durch
Auslandszuschläge etc.). Im Verlauf der 50er Jahre wurden dann die Gehälter
afrikanischer Beamter dem Niveau französischer angeglichen. Auch
gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer erhielten ab 1950 die gleichen
Löhne wie Franzosen. Diese Entwicklung war eine Ursache für die große
Einkommensschere bei den Gehältern von Regierungsangestellten und
Arbeitnehmern nach der Unabhängigkeit.
FOLIE: POLITISCHE ENTWICKLUNGEN
Nach dem Krieg kam es zu politischen Veränderungen. Afrikaner konnten nun
wählen, sich in Gewerkschaften organisieren, Schritte hin zu einem
einheitlichen Staatsbürgerschaftsrecht mit gleichen Rechten für alle wurden
unternommen. Ab 1956 nahm dann die Entwicklung hin zur Unabhängigkeit an
Dynamik zu.
Das Ende des Weltkrieges bewirkte eine große Streikwelle, bei der es um mehr
Lohn und politische Partizipation ging. So wichtig klassenbedingte
Auseinandersetzungen waren, in der Mehrzahl der Konflikte im postkolonialen
Afrika handelt es sich um ethnische Konflikte. In den ersten Wahlen nach
Kriegsende gab es noch relativ wenige politische Führer. Sie traten landesweit
und überethnisch auf. Je mehr die Wählerbeteiligung zunahm und auch die
Anzahl von Kandidaten, desto mehr wurden Kampagnen auf spezifische
ethnische Kontexte zugeschnitten. In dieser Hinsicht ist „Tribalismus“, seit 1955
ein fester Bestandteil politischer Auseinandersetzung, ein neues Phänomen.
Eine französische Verfassung gebende Versammlung, die 1946 tagte, war schon
von Afrikaner beschickt. Von 586 Abgeordneten waren immerhin 64 Afrikaner;
24 davon waren frei gewählt worden. Sie verabschiedeten die Französische
Union, die gleiche Rechte für alle im französischen Reich vorsah. Eine
Volksabstimmung in Frankreich sprach sich allerdings dagegen aus, und eine
neue Verfassung gebende Versammlung musst einberufen werden. Diese
erarbeitete ein kompliziertes Wahlrecht, das Kolonialbürger gegenüber
Franzosen deutlich benachteiligte. Viele afrikanische Abgeordnete empfanden
dies als ungerecht. Die Teilung von afrikanischen Befürwortern und Gegnern
der Verfassung markierte den Beginn einer politischen Auseinandersetzung in
Afrika. Nach 1946 wurden zahlreiche Wahlen abgehalten: vier
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Volksbefragungen, zwei für Verfassungen, drei zu Nationalversammlungen und
drei zu Territorialversammlungen. In manchen Städten fanden
Kommunalwahlen statt. Einerseits wurde das Wählen dadurch einfacher, dass
Kandidaten sich für mehrere Wahlämter beworben, aber dies machte Regieren
schwieriger. Außerdem bestanden zwei Wählerkategorien fort, die über
unterschiedliche Stimmrechte verfügten. Allerdings nahm beispielsweise in
Kamerun die Zahl eher privilegierter Wähler zwischen 1946 und 1953 von
40.000 auf 592.000 zu.
Die Ausweitung des Wahlrechts und der Wahlämter korrespondierte mit einer
Ausweitung der Bürokratie. Diese wuchs insbesondere im Zusammenhang mit
den verstärkten Entwicklungsbemühungen erheblich an.
Die
Erfolge
der Gewerkschaftsbewegung
und
die
Ausweitung
gewerkschaftlicher Organisation hatten politische Implikationen jenseits von
Lohnerhöhungen und sozialer Mobilisierung. Politische Parteien suchten sich
die Erfolge von Gewerkschaften und deren Mobilisierungsgrad zunutze zu
machen. Beispielsweise entwickelte sich die Demokratische Partei von Guinea
unter Ahmed Sékou Touré aus der Gewerkschaftsbewegung heraus.
Längerfristig begann die Partei die Gewerkschaften zu dominieren und
schließlich zu marginalisieren.
FOLIE: ELFENBEINKÜSTE
Hier gründete Félix Houphouet-Boigny (HB) die Demokratische Partei der
Elfenbeinküste nach kommunistischem Vorbild, also mit lokalen Zellen im
ganzen Land, einer guten Parteikommunikation, und der Fähigkeit, die Massen
zu mobilisieren. Allerdings arbeitete die Führung der Partei keineswegs auf eine
Revolution hin. Vielmehr leitete HB eine Koalition von afrikanischen
Unternehmern und Bauern, die sich gemeinsam gegen die Kolonialverwaltung
wandten. Diese bevorzugte nämlich eine kleine Gruppe weißer
Plantagenbesitzer und versuchte nun, die Partei zu diskriminieren und zu
unterdrücken. So mussten Dorfvorsteher, die in der Partei waren, mehr Steuern
abliefern als andere. Nachdem sich aber HB Anfang der fünfziger Jahre
vollständig von den Kommunisten losgesagt hatte, kooperierten
Kolonialverwaltung und Partei. Diese gipfelte schließlich in der Berufung HB
zum Minister in Paris.
FOLIE: DYNAMIK DER DEKOLONISIERUNG
Anfang der 50er Jahre waren also Anzeichen für die Dekolonisierung sichtbar.
Sie gewann nach 1956 deutlich an Dynamik. Afrikanische Parteien strebten nun
nicht mehr nach Assimilierung, sondern nach Unabhängigkeit. Diese kam dann,
aber um den Preis der Balkanisierung. Zwei große Föderationen brachen
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auseinander in 12 kleinere Territorien. Beeinflusst wurde diese Entwicklung
durch die Tendenz der neuen Parteien, sich regional/territorial bzw. entlang
ethnischer Gemeinschaften zu organisieren.
Allerdings kamen die Stimmen und Argumente, die für die Unabhängigkeit
sprachen, zunächst eher von außerhalb des frankophonen Afrika (Dien Bien
Phu, Algerienkrieg, Unabhängigkeit von Marokko und Tunesien 1956,
Unabhängigkeit von Ghana 1957). In 1956 wurde ein loi cadre verabschiedet,
das von HB befürwortet worden war und für die Territorien der Föderation das
allgemeine Wahlrecht für territoriale Parlamente vorsah. Diese sollten
verantwortliche Minister wählen. Dieses Gesetz war notwendig geworden, um
die Mandatsgebiete Kamerun und Togo Richtung Unabhängigkeit zu führen.
Mit dem loi cacre verloren die beiden Generalgouverneure ihre Macht und
Funktionen; innerhalb von drei Jahren bestanden sie nicht mehr.
Warum diese rasche Auflösung der Föderationen, die von einen bis heute
begrüßt, von anderen bis heute bedauert wird? Einerseits lag es an der Dynamik
der politischen Entwicklung in Afrika: HB beispielsweise war ein starker
Befürworter der Auflösung. Er argumentierte, die Föderation habe dafür gesorgt,
dass der Elfenbeinküsten Ressourcen entzogen worden waren, die anderen
Föderationsmitgliedern zugekommen waren. Außerdem war HBs politische
Heimat und Basis die Elfenbeinküste, und in Föderationswahlen hätte er keine
dominante Stellung einnehmen können. Léopold Senghor aus dem Senegal
meinte, die einzelnen Länder seien zu klein und zu arm an Ressourcen, um sich
behaupten zu können. Auf französischer Seite hat wohl die Überzeugung
vorgeherrscht, man könne mit 12 kleinen Territorien mehr Einfluss behalten als
mit zwei großen.
In Frankreich fand 1958 eine Volksabstimmung für eine neue Verfassung statt,
die dem Präsidenten – Charles de Gaulle – wesentlich mehr Macht einräumte. In
den Kolonien wurde auch eine Volksabstimmung abgehalten. Diese ging aber
darüber, ob die Kolonien im französischen Reichsverband bleiben wollten oder
nicht. In den meisten afrikanischen Kolonien wollten Mehrheiten in einem
Reichsverband bleiben. In Niger und in Kamerun entschieden sich die
Menschen dagegen, und ganz überwiegend auch in Guinea, das daraufhin mehr
oder weniger über Nacht in die Unabhängigkeit katapultiert wurde. Beim
fluchtartigen Aufbruch der Franzosen wurden selbst alle Büromöbel entfernt
oder zertrümmert, Telefonleitungen herausgerissen. Touré erklärte: „Wir
bevorzugen Armut in Freiheit statt Reichtum in Sklaverei“. Zwei Jahre später
waren, zu günstigeren Bedingungen, alle Kolonien frei: Ghana und Guinea
hatten Beispiele gesetzt, der sich die herrschenden Eliten der französischen
Territorien nicht mehr entziehen konnten.
FOLIE: FRANKREICH UND DIE UNABHÄNGIGEN STAATEN
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Im Kontext der Dekolonisierung des französischen Kolonialreiches in Afrika
gewann der von Kwame Nkrumah geprägte politische Kampfbegriff des „NeoKolonialismus“ an Bedeutung. Denn Frankreich ging nach der Unabhängigkeit
der ehemaligen Kolonien Klientelbeziehungen mit den neuen Staaten ein. Die
Währungen der Staaten blieben – bis heute – an den Francs und dann an den
Euro gebunden, Frankreich sicherte sich Stationierungsrechte und spielte bei
politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Länder immer mal wieder das
Zünglein an der Waage. In den Vereinten Nationen agierten die frankophonen
Staaten immer wieder als willfähriger Block, der für Frankreichs Interessen
stimmte. Frankreichs Botschafter galten und gelten als die einflussreichsten
Personen in einer ganzen Reihe von Staaten: sie entwickelten sich zu
Prokonsuln.
Das brachte den neuen unabhängigen Staaten aber nicht nur Nachteile: sie
verfügten über stabile Währungen, erhielten relativ gesehen mehr
Entwicklungshilfe, insbesondere auch von der EU bzw. deren
Vorgängerorganisationen. Alle Staaten gelangten in den Genuss von
Handelsabkommen mit der EU, die ihnen den Zugang zu Exportmärkten
erleichterten (Abkommen Yaundé 1963 und Lomé I 1975). Mit allen Mitteln
und mit einigem Erfolg bemüht(e) sich die französische Politik, die ehemaligen
Kolonien amerikanischem Einfluss zu entziehen. Bis heute ist Frankreich die
Macht mit dem relativ größten Einfluss im frankophonen Afrika.
FOLIE: DEKOLONISIERUNG UND UNABHÄNGIGKEIT
Vier große Problemkreise:
 Vertretung politischer Interessen in den neuen Ländern
 Frage effektiver Verwaltungen
 Entwicklung
 Sozialpolitik
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren die postkolonialen Regierungen
repräsentativer als die kolonialen Regime. Allerdings brach die Demokratie
unter der Last der Probleme bald zusammen. Ethnische Konflikte brachen auf,
die von der Kolonialmacht unterdrückt, aber auch provoziert worden waren,
etwa in Dahomey. Dennoch: Bürger des unabhängigen Afrika verfügten in der
Regel über mehr Bürgerrecht, und die Regime konnten sich einer breiteren
Zustimmung erfreuen als die Kolonialregierungen. Insgesamt waren an die
Sozialpolitik und an Entwicklung die größten Hoffnungen geknüpft, hier lagen
die größten Probleme, aber hier war auch das größte Versagen. Überwiegend
bedienten die Regime die Interessen ihrer Klientel, die städtischen Schichten etc.
Bauern blieben die am meisten diskriminierte Schicht, und die Schicht, die am
stärksten zur Finanzierung von Entwicklung herangezogen wurde. Damit
schlachtete man die Kuh, die man melken wollte. Der Staat subventionierte
Grundnahrungsmittel oder legte Preise fest, die letztlich den Interessen der
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Bauern schadeten und einseitig Städter begünstigten. Damit stabilisierten
Regimes zunächst ihre Macht; längerfristig führte diese Entwicklung zur
Beschleunigung von Konflikten zwischen Land und Stadt und in vielen Fällen
zur Etablierung autokratischer Herrschaft.
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