Dynamische Raumkonzepte der zeitgenössischen Oper

Werbung
Hausarbeit zur Erlangung des Diploms
Dynamische Raumkonzepte der
zeitgenössischen Oper
von Stefanie Kuhn
Referent: Prof. Heiner Goebbels
Vorgelegt im Wintersemester 2003/2004
Justus-Liebig-Universität Gießen
Institut für Angewandte Theaterwissenschaft
62
führung aber auf den Ort des Hangars beschränkt, die Busfahrten hin und zurück
sind kein szenischer Bestandteil der Oper.
Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten und noch folgenden Opernprojekten
konzipierte Alessandro Melchiorre ...unreported.inbound.palermo... weder kompositorisch noch szenisch speziell für diesen Raum. Ursprünglich kam das Werk,
in Form einer szenischen Kantate bei der Biennale in Venedig zur Uraufführung.
Lediglich auf Initiative des Leiters und Regisseurs der Pocket Opera, Peter B.
Wyrsch, fand die Realisierung der Oper innerhalb des thematischen Schwerpunkts „Neues italienisches Musiktheater“ 192 in diesem Aufführungsraum statt.
Abb. 15: ...unreported.inbound.palermo... - Grundstruktur des Hangars
2.
Andrea Molino the smiling carcass. the opera
2.1
Oper und Werbung
Andrea Molinos (*1964) Oper the smiling carcass. the opera: Werbung ist das
Gegenteil von Liebe ist ebenso wie ...unreported.inbound.palermo... eine Produktion der Pocket Opera Company Nürnberg. Die Uraufführung193 fand am 18. April
192
vgl. o.A.. “Ein neuer Schwerpunkt der POC - neues italienisches Musiktheater.” In: Melchiorre,
$unreported.inbound.palermo$ [Programmheft]. o.S.
193
Regie: Peter B. Wyrsch; Musikalische Leitung: Andrea Molino; Darsteller u.a.: Dave: Frank Rebel; RealMAN: Matthias Lüderitz; RealWOMAN: Katrin Aebischer; Sax: Daniel Kientzy; Models: I
Valentina Tomasello, II Eun-Jin Seo III Elisabeth Vass IV Sascha Wienhausen V Vanya Abrahams
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1999 im Stadttheater und Citycenter Fürth statt. Bei ersten konzeptionellen Gesprächen, 1997, wollten Peter B. Wyrsch und Andrea Molino ihr Opernprojekt
dem Benetton-Fotografen Oliviero Toscani widmen. Doch das monographische
Thema weitete sich auf das Feld der Werbung aus. In das work-in-progress wurde der Kontext nicht nur thematisch, sondern auch strategisch eingearbeitet. Daher gab es im Vorfeld der Uraufführung eine Werbekampagne (reality campaign),
die sogenannte truisms (Wahrheitsslogans)194 - Bestandteile des Librettos - als
elektronische Displays oder Spots im Radio verbreitete. Seit dem 7. September
1998 informierte das virtuelle Ensemblemitglied Dave auf der Homepage der Pocket Opera Company195 über die Oper. Angelehnt an Verfahren der Marktforschung, die Produkte vor ihrem Erscheinen an einer kleinen Auswahl von Kunden prüfen, wurde in einem Pretest eine Arbeitsversion der Oper getestet; dieser
fand am 30. September 1998 als Prolog der 12. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik in einem ortsansässigen Kaufhaus statt. Vor der Fürther Uraufführung veranstaltete das Ensemble Pressekonferenzen innerhalb des Theaterraums und verteilte an Werbeständen Informationsmaterial und Promotion-CDs.
Das Libretto von Berthold Schneider orientiert sich an den Thesen des Buches
Die Werbung ist ein lächelndes Aas196 von Oliviero Toscani. Darin rechtfertigt der
Werbechef des italienischen Modelabels Benetton seine provokanten Werbekampagnen, in denen er auf großformatigen Plakaten beispielsweise einen sterbenden Aidskranken oder ein neugeborenes Baby zeigte. Toscani distanziert
sich von der Werbebranche, die - seiner Ansicht nach - horrende Summen dafür
ausgibt, die Konsumenten zu betrügen und ihnen Lebensmodelle vorzugaukeln,
die sie mit dem Kauf des Produktes niemals realisieren können. Stattdessen bietet für ihn Werbung, verstanden als Straßenkunst, die Möglichkeit zu zeigen,
„dass auch ein großes Unternehmen ein ´sozialer Akteur´ sein kann und durchaus in der Lage ist, in einen intelligenten Dialog zu treten mit den
´Konsumenten´.“197
VI Rupert Bergmann; Announcer: Michael Nowak; DIN A 13 Tanzcompany; Demoé Percussion Ensemble; Pocket Opera Ensemble. [Entnommen: Andrea Molino. the smiling carcass. the opera.
Programmheft der Pocket Opera Company Nürnberg und des Stadttheaters Fürth [Redaktion Barbara Bredow, Ruth Hager, Thomas Dietrich]. 1999, 2f]
194
Z.B. „You are Real“, „Time is Real“, „Money is Real“, „Love is Real“. Zititert nach: Andrea Molino. the smiling carcass. the opera. CD, Stradivarius, 2000. [Booklet]. 30.
195
http://www.pocket-opera.com/ Die ursprüngliche Seite mit Dave ist nicht archiviert.
196
Oliviero Toscani. Die Werbung ist ein lächelndes Aas. (Übersetzung: Barbara Neeb). Frankfurt:
Fischer, 1997. (Originalausgabe: La Pub est une charogne qui nous sourit, Paris: Editions Hoëbeke, 1995).
197
Toscani. 195.
64
Der Ablauf der Oper orientiert sich grob an den Inhalten des Buches und bezieht
gleichzeitig Leserbriefe und Texte der „Fan and Hate“-Internetseite198 von Benetton mit ein, in der Reaktionen auf die Werbekampagnen der Firma dokumentiert
waren. Innerhalb der Oper gibt es weder eine durchgehende Erzählung noch
feststehende Charaktere. Zwei Figuren tauchen allerdings immer wieder in antagonistischer Funktion auf: Eine davon ist Sax, der Saxophonist Daniel Kientzy,
der in einer Art musikalischen Analogie Toscanis Wesenszüge zum Ausdruck
bringt.199 Für Andrea Molino verkörpert das Saxophon „Toscanis Aura, es hat
einen extrovertierten, sehr virtuosen Klang, es kann auch ´unschön´ und
´unklassisch´ tönen.“200 Die zweite ist Dave, der „Werbegott“, eine virtuelle Internetfigur, die von Zeit zu Zeit auf den Monitoren erscheint und von einem Schauspieler (Frank Rebel) dargestellt und danach digital verfremdet wurde. Die restlichen Figuren - Models, RealMAN, RealWOMAN und der Announcer - nehmen
unterschiedlichste Rollen ein. Im neobarocken Stadttheater von Fürth findet die
Oper ihren Anfang: Das Publikum wird auf die Bühne gebeten und von Dave in
eine kurze Geschichte der Werbung eingeführt, unterbrochen von Sax´ musikalischen Einlagen. Das Publikum ist von Videoprojektionen mit Bildern des benachbarten Citycenters umgeben und kann sich durch die Schatten, die es selbst darauf wirft, als scheinbarer Bestandteil der Shopping-Mall empfinden. Daran anschließend wird es durch eine Unterführung entlang der Tiefgarage vom Theater
direkt in den Lichthof des Citycenters geführt, in dem der Hauptteil der Aufführung stattfindet. In „The World of Your Dreams“ begrüßen die Darsteller die Besucher in der Mall (“Schön, dass Sie da sind.”201) und hüllen sie in eine perfekte
Welt der Werbung ein. Models fahren von Lichtnebeln umgeben entlang der Rolltreppen auf und ab (vgl. Abb. 16).202
198
http://www.benetton.com/benetton-web/advertising/fanhatemail.html. Diese Adresse war noch
am 31.10.1997 online. (Quelle: http://www.langkaer.dk/bd/eng/benetton.htm. Heute finden sich auf
der Benetton-Website keine Leserreaktionen mehr, man kann lediglich die Plakate der Kampagnen
betrachten: http://www.benetton.com/html/whatwesay/campaigns/photogallery.html).
199
vgl. Thomas Dietrich. “Gespräch mit Andrea Molino und Peter B. Wyrsch.” In: Molino. the smiling
carcass. the opera. [Programmheft]. 18f.
200
Thomas Heinold. “Komponist Molino zu `The Smiling Carcass´ ´Die Wahrheit ertragen viele
Menschen nicht´.“ In: Nürnberger Zeitung, 15.04.1999.
201
Andrea Molino. THE SMILING CARCASS. Nürnberger Fassung. [Partitur]. Mailand: Ricordi,
1999. Z. 48. 7.
202
vgl. Molino. the smiling carcass. the opera. [Booklet]. 33.
65
Abb. 16: the smiling carcass - Citycenter Fürth Rolltreppe
Die Toscani-Figur Sax erscheint erneut und dominiert schließlich die zweite Szene „Halleluja! (unser Baby pinkelt blau!)“, in der die Schilderung der schönen
Werbe-Welt immer mehr ironisiert wird („mit Hilfe eines Zauberpulvers verwandelt
sie Berge von schmutziger Wäsche in ordentliche Stapel neuer Kleidung“203).
Oliviero Toscani selbst bricht die Situation endgültig, von einer Leinwand herab
beendet er mit einem deutlichen „Basta!“ die Szene. RealMAN und RealWOMAN
eröffnen daraufhin, gleichsam in der Rolle Toscanis, „den Nürnberger Prozess
gegen die Werbung“.204 Zusammen mit den Models (Sängern sowie behinderten
und nichtbehinderten Mitgliedern der Tanzensembles DIN A 13) verkünden sie
die Fehler der Werbung und deren bevorstehenden Tod. Im darauffolgenden
„Break“ werden die Motive des Vorspiels im Theater wieder aufgenommen, Dave
203
204
Molino. the smiling carcass. the opera. [Partitur]. Z. 67. 35.
Molino. the smiling carcass. the opera. [Partitur]. Z. 64ff. 60f.
66
wiederholt Werbegeschichte und Sax interveniert. Eine „Kleine Reise durch die
Welt der Vorurteile“ schildert anhand der auf Leinwänden reproduzierten Toscani-Bilder205 die positiven wie auch negativen Reaktionen der internationalen Öffentlichkeit. Anhand der Photographie, die einen Aids-Kranken (David Kirby, so
auch der gleichnamige Titel der Aufnahme) auf dem Sterbebett - umgeben von
seinen Angehörigen - zeigt, wird in der Szene „HIV“ der Konflikt zwischen Toscani (RealWOMAN) und dem aidskranken Olivier Besnard-Rousseau206 (RealMAN)
nachgestellt. Letzterer fordert: „Niemand hat das Recht, den Schmerz anderer zu
verkaufen.“207 In einem erneuten „Break“ steigt Dave wieder in die Geschichte
der Werbung ein. „Fan and Hate“ zitiert mit den Models, die am Mikrophon
Schlange stehen, Reaktionen junger Leute auf die Benetton-Kampagnen. In der
darauffolgenden Szene „Gods & Media“ teilen sich die Darsteller in zwei Gruppen
auf, von denen eine auf einer höheren Ebene der Shopping-Mall das „Abendmahl
der Werbung“208 feiert, bei dem RealMAN das durch Werbung hervorgerufene
Paradies verspricht.209 Der andere Teil beginnt einen Mediendiskurs unter der
Anführung von RealWOMAN: „Wir sind unter der Herrschaft der Fernsehdiktatur.“210 In „The Mall“ werden alle Geschäfte des City-Centers erleuchtet und mit
der Geräuschkulisse der geöffneten Einkaufsmeile, die tagsüber aufgenommen
wurde, bespielt. Es kommt zum großen „Showdown“, der letzten Auseinandersetzung zwischen Sax und Dave, der die Wahrheit über die Werbebranche verkündet: „Ja, wir lügen (...). Doch die Menschen lieben uns.“211 Auf Monitoren
werden die weltweit verbrauchten Kosten für Werbung dokumentiert. „Threnos“212
betont die absolute Ubiquität von Werbung, die schließlich in der „Coda“ nach
205
Priest and Nun (1991), Newborn Baby (1991/92), Bosnia Soldier (1994), HIV positive back
(1993/94).
Entnommen: Toscani. Bildteil sowie http://www.benetton.com/press/ (Pfad: Photo Gallery, Campaigns) http://www.benetton.com/html/whatwesay/campaigns/photogallery.html.
206
“AIDS Sufferer Denounces Benetton's Use of Disease Reuters (10/11/93) Paris--A terminally ill
French AIDS patient struck back at controversial "HIV positive" ads by Italian clothier Benetton with
his own full-page newspaper advertisement. Olivier Besnard-Rousseau's ad featured a picture of
an emaciated man smiling sadly with the words "HIV positive" stamped above him. "Business as
usual during the agony," read the copy. The advertisement was directly addressed to Luciano Benetton in the caption. Liberation, the left-wing daily that printed both Benetton's and BesnardRousseau's ads, said that the AIDS patient did so of his own initiative and paid the same price as
did Benetton. Controversial publicity campaigns by the fashion firm showing naked body parts tattooed with the words "HIV positive" have prompted bans of the ads, as well as a lawsuit. The company insists that the campaign was designed to denounce treatment of people with AIDS as pariahs.” Entnommen: http://www.aegis.com/news/ads/1993/AD931848.html
207
Molino. the smiling carcass. the opera. [Partitur]. Z. 2ff. 96ff.
208
vgl. Molino. the smiling carcass. the opera. [Booklet]. 55.
209
vgl. Molino. the smiling carcass. the opera. [Booklet]. 55.
210
Molino. the smiling carcass. the opera. [Partitur]. Z. 115. 133.
211
Molino. the smiling carcass. the opera. [Partitur]. Z. 74. 155.
212
Griechisch für „Trauer- oder Klagelied das bei der Aufbahrung oder beim Leichenbegängnis
gesungen wurde.“ Entnommen: Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. Mannheim: F. A. Brockhaus, o.J. Band 22.
67
wütenden Reaktionen durch Sax in Daves These gipfelt, dass Werbung ein Religionsersatz sei. Die Szene endet mit ruhigem Saxophonspiel.
Andrea Molinos Musik213 lässt zahlreiche Einflüsse aus dem Bereich der Werbejingles und des Musicals erkennen. Gleichzeitig finden sich experimentelle Elemente (z.B. Kieselaktionen der Darsteller zu Beginn des Stücks oder bei den Ölfässern des Percussionsensembles), die auf eine archaische Ebene hindeuten,
wie sie beispielsweise in „Threnos“ wieder aufgenommen wird.214 Die Besonderheit der Musik besteht nach Angaben des Komponisten darin, dass vorhandene
Stile zwar anklingen, aber modifiziert werden. Ähnlich der Komposition Melchiorres liegt hier der Schwerpunkt eher auf dem gesprochenen als auf dem gesungenen Wort. Im Gegensatz zu dessen Aufteilung der Figuren in Schauspieler und
Sänger, sprechen hier Sänger und Schauspieler gleichermaßen. Da Molino besonders mit den Feinheiten der sprachlichen Artikulation arbeitet sind alle Darsteller mikrophoniert. So können die lautsprachlichen Details (wie z.B. Transformationen von Konsonanten in Geräusche) genau wahrgenommen und gleichzeitig „live“ am Computer manipuliert werden.215
2.2
Realer Raum
Vermittels besonderer baulicher Gegebenheiten ist es möglich, vom Stadttheater
Fürth unterirdisch (über die Tiefgarage) in das benachbarte Citycenter (vgl. Abb.
17) zu gelangen. Ausgehend vom Lichthof als Zentrum wurden dort die unterschiedlichen Ebenen des Einkaufszentrums bespielt. Dies sind inklusive des
Erdgeschosses drei Stockwerke. Davon abgehend, zweigen jeweils vier Passagen zu den Rändern des Gebäudes ab. Die verschiedenen Stockwerke sind
durch eine Treppengalerie, diverse Rolltreppen und einen gläsernen Aufzug miteinander verbunden (vgl. Abb. 18). Dieses gesamte Areal wurde zur Aktionsfläche für die Darsteller. Zwei Kameramänner filmten das Geschehen, das simultan
auf einen Videoscreen, der schräg am Boden des Lichthofes lag, übertragen
wurde.
213
Besetzung: Solistisches Sax (Kontralt, Bariton, Bass, Kontrabass), rez. und singende Männerstimme, Schauspielerin, madrigalisches Ensemble (Sopr, Mezzosopr, Kontralt, Ten, Bar, Bass), Fl,
Klar in B, Hr in F, Pos, el. Bassgitarre, Keyboard, 3 Perc, Vla, Vc, Kb. Entnommen: Molino. the
smiling carcass. the opera. [Partitur]. o.S.
214
Dietrich. 18.
215
vgl. Heinold. a.a.O.
68
Abb. 17: the smiling carcass - Citycenter Fürth (li.) und Stadttheater (re.)
An einem solchen theatralen Aufführungsort ist sicherlich die konkrete Verbindung zur Werbung aufschlussreich. Das Citycenter deckt als Einkaufszentrum mit
seinen vielfältigen Läden einen großen Bestandteil der Produktpalette, die in der
Werbung offeriert wird, ab. Trotzdem wird hier der Inhalt nicht 1:1 auf den Aufführungsort übertragen: Dieser üblicherweise nachts nicht mehr zugängliche Komplex mit den für die Vorstellung nicht eigens erleuchteten und geöffneten Geschäften, zeigt die Welt des Konsums in ihrem nicht-funktionalen Zustand.216 Mit
der Modifikation des realen Raumes durch dessen nächtliche Nutzung und
theatrale Dekoration (Lastkäfig, Leinwand, Monitore) entwickelt sich eine
Theatralisierung. Die Hybridität des Raumes, einerseits die positive Konnotation
der Konsumwelt, andererseits die negative aufgrund der nicht-funktionalen
Fassade durch die nicht erleuchteten und in Betrieb genommenen Geschäfte,
spiegelt sich in der inhaltlichen Konzeption wider. Neben thematischen
Auswahlkriterien erschließt die theatrale Nutzung eines alltäglichen Ortes für
Peter B. Wyrsch auch eine neue Art des Publikums, das an das Medium des
Musiktheaters
herangezogen
werden
soll.
Mit
einem
nicht-theatralen
Aufführungsort soll es „die Scheu vor den sogenannten ehrfürchtigen Hallen
verlieren.“217
216
vgl. Das lächelnde Aas. Werbung ist das Gegenteil von Liebe. [Manuskript]. Pocket Opera
Company. 1.12.1997. 2.
217
Dietrich. 17.
69
2.3
Simultaner Raum
Bei einer genaueren Analyse der theatralen Nutzung des Raumes ´Citycenter´
kann dieser in Anlehnung an das Phänomen der Simultanbühne218 als Simultanraum beschrieben werden. An mehreren Orten innerhalb des Lichthofes, der
Kaufhausebenen, sowie der unterschiedlichen Verbindungswege findet gleichzeitig das szenische Geschehen statt (vgl. Abb. 19). Das Orchester ist hingegen fest
zur Linken des Fahrstuhls im Lichthof platziert. Im Gegensatz zum simultanen
Bühnenspiel, bei dem der wahrnehmende Zuschauer lediglich visuelle und optische Fokussierungen durchführen muss, wird hier der Selektionsvorgang weitaus
körperlicher. Die fehlende Fixierung des Zuschauerraums (beispielsweise durch
eine Bestuhlung) fordert das Publikum auf, sich frei innerhalb des gesamten
Lichthofes zu bewegen. Erst in der permanenten Bewegung der Zuschauer durch
die verschiedenen Schichten des Raumes zeigen sich ihnen die einzelnen szenischen Vorgänge. Somit entwickelt sich der erfahrene Raum zum selektierten
szenischen, der für jeden Betrachter aufgrund seiner individuellen Position innerhalb des architektonischen Raums anders aussieht. Da bewusst keine, sich ähnlich wie bei Melchiorre - von Ort zu Ort bewegende räumliche Dramaturgie
gewählt wurde, besteht eine Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu
erreichen. Diese wird mit der Live-Übertragung des Geschehens auf Monitore
durch zwei filmende Kameramänner geringfügig gelenkt. Ebenfalls wird das Publikum an manchen Stellen von den Darstellern mit Absperrbändern geradezu
„eingefangen“ und direkt in den Ablauf involviert.
218
Die Simultanbühne ist ein Phänomen des mittelalterlichen Theaters. Sie existiert in einer kubischen und einer flächigen (auf die Breite bezogenen) Form und es erlaubt gleichzeitige szenische
Aktionen darzustellen. Sie wurde beispielsweise bei Passionsspielen benutzt. Vgl. Heinz Kindermann, Bühne und Zuschauerraum. Ihre Zueinanderordnung seit der griechischen Antike. Wien:
Hermann Böhlaus Nachfolger, 1963. Kap. 3.
70
Abb. 18: the smiling carcass - Citycenter Fürth Lichthof mit Aufzug und Rolltreppen
Im Gegensatz zur traditionellen räumlichen Theatersituation, die den Zuschauerraum von der Bühne separiert, ist diese liminale Trennung hier nicht mehr eindeutig festzulegen. Szenischer und erfahrener Raum sind nicht fixierbar und überschneiden sich teilweise. Im Gegensatz dazu ist der musikalische Raum überall und mit gleicher Intensität vorhanden. Ein komplexes Lautsprechersystem
(Kugellautsprecher) beschallt den gesamten Aufführungsraum gleichmäßig mit
den Klängen des Orchesters und der sich frei bewegenden Darsteller. Die technische Unterstützung des Citycenters hat ihren Ursprung in einer nicht theatergeeigneten Akustik; bedingt durch die anderweitige Konzeption der Räumlichkeiten. Aufgrund der baulichen Gegebenheiten ist die Kommunikation von Sängern
und Dirigent im Vergleich zur Übersichtlichkeit einer Bühne gestört. Dort ist ent-
71
weder ein direkter Sichtkontakt oder zumindest ein einseitiger mithilfe eines Monitors möglich, über den der Sänger die Einsätze des Dirigenten verfolgen kann.
Im Citycenter wird diese Interaktion aber aufgrund der räumlichen Situation verhindert. Daher kommunizieren die Partner statt auf visueller Ebene über Mikroports und Innenohrmonitoren miteinander. Die Problematik der daraus resultierenden Allverfügbarkeit der Musik liegt in einer fehlenden akustischen Orientierungsmöglichkeit. Für die Zuhörenden kann keine räumliche Ortung des Klangs
geschaffen werden, da aufgrund einer Beschneidung der natürlichen Schallverläufe nie klar ist, wo die Darsteller, sofern sie nicht sichtbar sind, momentan agieren. So bewirkt der ubiquitäre musikalische Raum eine Trennung von Optik und
Akustik, die - gemäß Peter B. Wyrsch219 - nicht im Konzept beabsichtigt war. Integraler Bestandteil der Konzeption hingegen ist ein „disparates Bild“220 der
Situation der Werbung, das sowohl Pro- als auch Contra-Positionen vereinen will.
Auch der Aufführungsort soll diese partielle Wahrnehmung, zu der die Zuschauer
inhaltlich gezwungen sind, auf szenischer und erfahrener Ebene verstärken. „Jeder muss sich selber sein Bild machen,“ fordert Peter B. Wyrsch im Interview.221
Der Zuschauer unterliegt keinem Konsumzwang. Parallel dazu fordert die nonlineare Handlung auch nicht unbedingt eine lineare Rezeption. Nach der vorgenommenen Topologie stellt sich damit innerhalb des nicht-theatralen, architektonischen Raumes ein dynamischer, teilweise simultaner szenischer und erfahrener Raum dar. Dieser wird von einem zugleich fixen und ubiquitären musikalischen Raum ergänzt.
219
vgl. Wyrsch. Telefoninterview.
Dietrich. 17.
221
Sh. u. vgl. Dietrich. 17.
220
72
Abb. 19: the smiling carcass – Spielflächen entlang der Galerien und Rolltreppen222
3.
Thematischer Raum
Das Konzept des annektierten Raumes berücksichtigt Aufführungsorte, die aufgrund ihres nicht-theatralen Status gewählt wurden. Anhand technischer Gegebenheiten (Spielmöglichkeiten im Freien), inhaltlicher Parallelen (Hangar) oder
des symbolischen Gehalts wegen (Shopping Mall) wurden Alltagsräume zum
Spielort ausersehen. Allen Beispielen ist gemeinsam, dass der bestehende reale
Raum nicht großartig modifiziert wurde, beispielsweise durch nachträgliche Bühneneinbauten. Der Grund liegt darin, dass gerade dessen vorgefundene Anordnung das szenische Geschehen bestimmt, respektive in Abstimmung dazu gewählt wurde. Im Gegensatz zum szenischen Raum des Theaters der ursprünglich
„neutral“ ist und erst durch das Bühnenbild näher spezifiert wird, ist dieser von
vorneherein mit einer Bedeutung „beschrieben“. Den drei Stücken von Daniel Ott,
Alessandro Melchiorre und Andrea Molino ist gemeinsam, dass sie Alltagsräume,
die in keiner Verbindung zu einer theatralen Repräsentation stehen, für das szenische Geschehen ausgewählt haben. Jene werden wiederum in einem gewissermaßen ritualisierten Weg vom Theater aus in Benutzung genommen. Die stufenweise Anordnung der Opernprojekte entspricht neben der zunehmenden Vergrößerung des Raumes, ausgehend von der Kasernenhalle über den Hangar bis
zum Einkaufszentrum, vor allem dessen immer komplexerer Nutzung: Während
222
Die Abbildung orientiert sich an einem architektonischen Plan des Citycenters Fürth, der von der
Pocket Opera Company zur Verfügung gestellt wurde.
73
zu Beginn der szenische und der erfahrene Raum wie im Theater erhalten bleiben, werden sie einander zunehmend angenähert und überschneiden sich im
letzten Beispiel teilweise vollkommen.
Bei Otts ojota IV findet innerhalb der Kasernenhalle - wie auch mehr oder weniger in der Spielsituation im Freien - eine herkömmliche Trennung von Zuschauerraum und szenischem Raum statt. Lediglich die genaue Differenzierung zwischen
musikalischem und szenischem Raum innerhalb des szenischen Raumes ist
durch die darstellerische Funktion der Musiker und die instrumentale Position der
Sänger nicht mehr relevant.
Im Gegensatz dazu steht die Inszenierung von Alessandro Melchiorres
...unreported.inbound.palermo.... Dort passt sich der erfahrene Raum der Mobilität des szenischen und teilweise auch des musikalischen Raumes (durch die separierten Musiker) innerhalb der Hangarhalle an.
the smiling carcass. the opera von Andrea Molino schafft den kompliziertesten
erfahrenen Raum, da sich das szenische Geschehen simultan über die unterschiedlichen Ebenen des Einkaufcenters verteilt. Dieser Ort der Rezeption kann
als ausschnitthaft und selektiv durch das gleichzeitige Ablaufen der verschiedenen szenischen Aktionen beschreiben werden. Im Gegensatz dazu ist der musikalische Raum durch die technische Reproduktion der Musik ubiquitär.
Anders als bei den Opern des zirkulierenden Raumes sind die Konzepte des annektierten Raumes grundsätzlich eher einem inszenatorischen, als einem kompositorischen Impuls zuzuordnen. Dies ist am auffälligsten an Alessandro Mechiorres ...unreported.inbound.palermo... sichtbar, das nicht zwingend für einen
Hangar konzipiert wurde. Anders liegt der Fall bei Daniel Ott, der nicht nur Komponist und Regisseur in Personalunion ist, sondern auch das Verhältnis von
Szene und Musik innerhalb eines theatralen Raumes völlig anders definiert. Bei
the smiling carcass liegt eine zur Kompositionsphase parallele Entwicklung des
Regiekonzepts vor. Damit fließen in das Werk von Beginn an die Möglichkeiten
dieses Raumes mit ein.
Die Konsequenzen eines nicht ausschlaggebend kompositorischen Impulses liegen in der musikalischen Qualität aller Stücke, die den Innovationsgrad der ersten Beispiele qualitativ nicht überschreitet. Im Zusammenhang mit den Werken
Lachenmanns und Stockhausens kann Daniel Otts ojota IV in den Kontext des
´instrumentalen Theaters´ eingeordnet werden. Walter Gieseler definiert es als
ein Theater, in dem „das Spiel mit Instrumenten und Bühnengerät mit schauspie-
74
lerischer Aktion auf der Szene“223 verbunden wird. Mit einer derartigen Verschmelzung von szenischem und musikalischem Raum, die in neuer Weise die
Umgebung der Bühne mit den Mitteln der Musik nutzt, ergibt sich laut Gieseler
eine Querverbindung zu multimedial konzipierter Environment-Kunst, wie sie im
nach-folgenden Kapitel behandelt wird.
In erneuter Anlehnung an Frank Hilbergs Unterscheidung musikalischer
Raumausnutzung entspräche das Modell des annektierten Raums dem „konzeptuellen Raum“. Damit wird das Phänomen einer Komposition beschrieben, die mit
„bestimmter Absicht für einen bestimmten Raum maßgeschneidert wurde.“ 224
IV.
Distribuierter Raum
1.
Oper im Datenraum
Der traditionelle Aufbau des Opernhauses bildet grundsätzlich mit szenischem
(Bühne), musikalischem (Orchestergraben) und erfahrenem Ort (Zuschauerhaus
oder imaginärer Raum) ein Gefüge von drei Räumen innerhalb eines einzigen
architektonischen. Jene Orte können erweitert, umgestellt oder aus dem euklidischen Raum heraus in den nicht-euklidischen verlegt werden. Unter distribuierten
Räumen werden daher theatrale Konzepte verstanden, die nicht allein in einem
fix bestehenden theatralen oder nicht-theatralen Raum stattfinden, sondern diesen transzendieren und damit innerhalb der vorliegenden Topologie die Kategorie eines nicht konkret fassbaren, nicht-euklidischen Raumes einführen. Dieser
kann eine Vielzahl von Raumvorstellungen, unter ihnen den imaginären, intendieren. Das Internet mit seiner „netzförmigen Topologie“ und dennoch „linearen Erschließungsbewegung“ stellt einen solchen schwer fassbaren Raum dar. Im alltäglichen, nicht theaterspezifischen Gebrauch wird das „Datenuniversum nach
dem Muster der Architektur, bzw. der Stadtlandschaft“225 gedacht, was sich
schon in den Termini Cyberspace, Datenhighway oder Chatroom widerspiegelt.
Für den Bereich der theatralen Internetkunst wird diese der Realität entlehnte
Begrifflichkeit allerdings schnell obsolet. Hier gilt es, eine Terminologie des Raumes hinsichtlich der Produktion wie auch der Rezeption der jeweiligen Werke zu
entwerfen. Das nachfolgende Kapitel beschäftigt sich mit Internetopern und un223
Sh. u. vgl. im Folgenden: Gieseler. 195.
Beide Zitate: Hilberg. 11.
225
Siehe beide Zitate u. vgl. im Folgenden: Hartmut Winkler. „Songlines. Landschaft und Architektur als Modell für den Datenraum.“ In: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen
(Hgg.). HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien. Basel, Frankfurt: Stroemfeld
Nexus 1997, 229.
224
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