a r z n e i - t e l e g r a m m Sonderausgabe 1 0 / 9 3 klärt, noch 1986 sei „eine kleine Menge eines nicht inaktivierten Faktor-IX-Präparates der Fa. Organon-Technika in den Verkehr” gelangt und damit einen HIV-Infektionsfall in Verbindung bringt.1 Die Bundesregierung lehnt eine Staatshaftung für HIV-Infektionen nach Blutprodukten ab, weil ein „Fehlverhalten von Beamten” nicht festgestellt werden kann. Ist die feststellbare Untätigkeit verantwortlicher Mediziner wie im Fall von Prof. STEINBACH, dem zuständigen Ministerialdirektor im Bundesgesundheitsministerium, nicht als Fehlverhalten zu erkennen? Die Katastrophe für 11 mit PPSB-BIOTEST behandelte Patienten hätte sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermeiden lassen, wenn die Überprüfung der Zuverlässigkeit der sogenannten Biotest-Kaltsterilisation 1987 erfolgt wäre. Am 1. Juli 1987 wurde der zuständige Abteilungsleiter des BGM, Prof. STEINBACH, auf das von PPSB-Gerinnungskonzentraten ausgehende Gefährdungspotential von einem Brancheninsider hingewiesen. Weder BMG noch BGA sahen nach diesen Hinweisen Handlungsbedarf für Risikoabwehrmaßnahmen bei Blutgerinnungspräparaten außer Faktor VIII trotz des Hinweises, Faktor-IX-haltige Präparate hätten im nahezu gleichen Ausmaß zu Anti-HIV-Positivität geführt, und es sei in der klinischen Anwendung zu einer unbekannten Zahl von HIV-Infektionen gekommen. FAZIT: Spätestens ab Herbst 1983 gab es den begründeten Verdacht, Blut und Blutderivate als Überträger von AIDS-Erkrankungen einzustufen. Sofort mögliche wirksame Abwehrmaßnahmen wie strenge Indikationsstellung für Blutgerinnungskonzentrate mit Dosisbeschränkungen, Poolgrößenlimits pro Herstellungscharge und Meldepflichten im Sinne des Seuchengesetzes für ansteckende Krankheiten für arzneimittelinduzierte Infektionen und ab 1984 Herstellungsvorschriften für die Viruselimination aus Blutprodukten unterblieben und wurden bis heute nicht eingeführt. Vor der Entdeckung von AIDS starb jeder zweite Bluter an den Folgen einer behandlungsbedingten Hepatitis. Ab 1981 standen hitzeinaktivierte, relativ hepatitissichere Gerinnungsfaktorenkonzentrate zur Verfügung. Diese hätten wahrscheinlich auch die AIDS-Infektionen verhindert. Darüber hinaus hätte Anfang der achtziger Jahre ein Importverbot für Blutprodukte genügt, um Bluter vor einer Infektion zu schützen, deren tödliche Folgen schon bekannt waren. 1 2 SEEHOFER, H.: „Zur HIV-Infektionsgefährdung durch Blutprodukte” vom 30. Nov. 1992 DEINHARDT, F., M. EIBL: 1. Rundtischgespräch über AIDS am 18. Juni 1983 in Frankfurt/M. ZEITTAFEL – ...Aids und HIV-Infektionen 1982 16. Juli 1982: Die US-amerikanische Seuchenbehörde CDC in Atlanta/USA berichtet über die ersten 3 Pneumocystis-carinii-Pneumonien – eine AIDS-definierende Erkrankung – bei Blutern im wöchentlich erscheinenden, in allen Ländern der Welt stark verbreiteten Berichtsheft MMWR „Morbidity Mortality Weekly Report”. Im Dezember 1982 erscheint im MMWR ein Update über 8 AIDS-Fälle bei Blutern. 1983 18. Februar 1983: Im Deutschen Ärzteblatt berichtet das Bundesgesundheitsamt (BGA) über die auch in 115 Deutschland neu aufgetretene Infektionskrankheit AIDS, führt die AIDS-definierenden Erkrankungen (u.a. progressive multifokale Leukenzephalopathie PML) auf und weist daraufhin, daß Empfänger von Faktor-VIII-Konzentraten besonders betroffen sind. 4. April 1983: Im „Bundesgesundheitsblatt” erscheint unter Seuchenhygiene der Artikel: „Erworbene Immundefekte, eine neue Infektionskrankheit AIDS”, in dem ausführlich die einzig möglich erscheinende infektiöse Ursache abgeleitet wird. 30. April 1983: Der Habilitand Dr. RIES von der Universitäts-Nervenklinik Bonn berichtet dem BGA über einen Bluter, der im April 1982 an autoptisch gesicherter progressiver multifokaler Leukenzephalopathie, einer AIDS definierenden opportunistischen Infektion, gestorben war, und weist darauf hin, daß wegen der zahlreichen Hämophilie-Patienten an den Bonner Universitäts-Kliniken mit ähnlichen Fällen zu rechnen ist. Der Kontakt zum BGA bricht ab, weil sein Chef verbietet, der Behörde weitere Informationen zu geben. – Bei dem Verstorbenen handelt es sich um einen Patienten des Bonner Hämophiliespezialisten Dr. BRACKMANN. Im Bericht des Bundesgesundheitsministeriums an den Bundestag vom 30. Nov. 1992 wird hingegen behauptet, „erstmals im Dezember 1983 ist ... dem BGA eine AIDS-Erkrankung bei einem Hämophiliepatienten in der Bundesrepublik Deutschland bekannt geworden.” 18. Juni 1983: Erstes Rundtischgespräch über AIDS bei Hämophilen in Frankfurt/Main. Prof. MONTAGNIER (Paris) berichtet dabei über das von ihm entdeckte Retrovirus „LAV” und führt aus, warum er dieses Virus für den Erreger von AIDS hält (u.a. sind Prof. EGLI und Dr. BRACKMANN von der Hämophilieambulanz der Universität Bonn anwesend). In dem 1984 veröffentlichten Berichtsband über das Rundtischgespräch bedauert Frau Prof. M. EIBL (Gattin des Besitzers der Fa. Immuno und Sponsor der Veranstaltung), daß der Bonner Fall in Lancet vom 10. Dez. (2 [1983], 1370) als AIDS-Fall bezeichnet wird. Vielmehr sei der Patient an chronischer Hepatitis (durch Übertragung mit Hepatitis-B-Viren verunreinigter Faktor-VIII-Konzentrate) und einem möglichen Alkoholkonsum gestorben. Der Virologe Prof. DEINHARDT behauptet, dieser Patient sei „erroneously” vom BGA als erster deutscher AIDS-Fall bei einem Bluter im oben genannten LancetArtikel aufgeführt worden. EIBL und DEINHARDT argumentieren: Da in Deutschland fast ausschließlich Faktorkonzentrate aus USA-Plasma in wesentlich höheren Dosierungen als international üblich gegeben werden (über 10fach), es aber noch keinen AIDS-Fall gibt, können diese Präparate nicht mit AIDS-Fällen in Zusammenhang gebracht werden. 23. Juni 1983: Leser des a-t 6 (1983), 59 werden gewarnt: Es bestehe die Gefahr, „daß durch den Import von Faktor-VIII-Präparaten aus den USA das dort häufigere, jetzt viel diskutierte AIDS-Syndrom in die Bundesrepublik” gelangt. 6. Sept. 1983: Das BGA erklärt: „Nationale Unabhängigkeit im Hinblick auf Blutprodukte ist anzustreben.” 14. Nov. 1983: Das BGA führt im Rahmen der Stufe 2 des gesetzlich vorgeschriebenen Stufenplans zur Abwehr von Arzneimittelrisiken eine Sondersitzung über Faktor VIII und AIDS durch. Ergebnis: Es besteht begründeter Verdacht, daß die Erreger der AIDS-Seuche durch Gerinnungskonzentrate übertragen werden. 15. Nov. 1983: Das Bundesamt für Sera und Impfstoffe (Paul-Ehrlich-Institut) gibt die Charge 011 des Impfstoffes HEVAC B nicht frei, weil das Ausgangsmaterial außereuropäisches Plasma enthält und Zweifel am Virusinaktivierungsverfahren bestehen. In einem sich hieran