1 Was wir einander vorwerfen können Leonhard Menges Institut für Philosophie, HU Berlin 1. Einleitung Thema: Angenommen, eine Person erfüllt die Bedingungen für moralische Vorwerfbarkeit auf paradigmatische Weise – was kann man ihr dann vorwerfen? Die Beantwortung dieser Frage bereichert unser Verständnis von moralischer Vorwerfbarkeit und wirft neues Licht auf folgenreiche Thesen (dass 'vorwerfbar' 'falsch' und dass 'moralische verpflichtet sein' 'können' impliziert). 2. Ausgangspunkte Die einfache Theorie der Vorwerfbarkeit: Wenn eine Person, die ihre Einstellungen und ihr Verhalten in gewisser Weise kontrollieren kann, aus moralisch fragwürdigen Absichten handelt, ist es angemessen, ihr Vorwürfe zu machen. Was kann man dieser Person vorwerfen? Viele Theorien der Vorwerfbarkeit besagen, dass man dieser Person ihre Handlung vorwerfen kann. Es ist aber umstritten, was ihre Handlung alles beinhaltet. Eine Theorie darüber, was wir einander vorwerfen können, sollte mit möglichst vielen plausiblen Handlungstheorien kompatibel sein. Deshalb werde ich den strittigen Handlungsbegriff vermeiden und den technischen Begriff des Akts verwenden: Die absichtliche Körperbewegung einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt ist ihr Akt. 3. Problematische Versuche, das Objekt angemessener Vorwürfe zu identifizieren Die Akttheorie: Wenn eine Person die Bedingungen der einfachen Theorie erfüllt, kann man ihr ihren Akt vorwerfen (z. B., dass sie mich schubst). Die Absichtstheorie: Wenn eine Person die Bedingungen der einfachen Theorie erfüllt, kann man ihr ihre fragwürdige Absicht vorwerfen (z. B., dass sie vor hat, mir Schmerzen zuzufügen). Die Akt- und Absichtstheorie: Wenn eine Person die Bedingungen der einfachen Theorie erfüllt, kann man ihr ihren Akt und ihre fragwürdige Absicht vorwerfen (z. B., dass sie mich schubst und dass sie vorhat, mir Schmerzen zu zufügen). 4. Ein neuer Vorschlag Die Komplextheorie: Wenn eine Person die Bedingungen der einfachen Theorie erfüllt, kann man ihr vorwerfen, dass sie aus ihren fragwürdigen Absichten einen Akt ausführt (z. B., dass sie mich schubst, um mir Schmerzen zuzufügen). 2 5. Anwendung der Komplextheorie Impliziert 'vorwerfbar' 'falsch' (VIF)? ◦ Scanlons Einwand: “it can be appropriate to blame a person who has done what was in fact the right thing if he or she did it for an extremely bad reason“ (Moral Dimensions, 2008, 124–5). ◦ Komplextheorie: Dieser Person kann man vorwerfen, aus fragwürdigen Absichten einen Akt auszuführen. ◦ Verteidigung von VIF: Da die Handlung der Person moralisch richtig ist, sollte man sich ihre Absichten genauer anschauen. Wahrscheinlich beinhalten sie die Absicht, eine Handlung auszuführen, die moralisch falsch ist, oder es fehlt die Absicht, eine Handlung auszuführen, die moralisch geboten ist. ◦ Hypothese: Moralische Vorwerfbarkeit setzt voraus, dass etwas an den Absichten des Akteurs falsch ist: Der Akteur hat eine Absicht, die er nicht haben soll, oder er hat eine Absicht nicht, die er haben soll. Impliziert 'moralisch verpflichtet sein, X zu tun' 'X tun können' (OIC)? ◦ Einwand: OIC impliziert, dass es unangebracht ist, bestimmten Personen bestimmte Handlungen vorzuwerfen, wobei es uns intuitiv angebracht erscheint, sie ihnen vorzuwerfen. ◦ Beispiel (nach Heuer, „Reasons and Impossibility“, 2010): Lilly ist verpflichtet, um 10.00 Uhr bei einer Konferenz zu sein, will aber nicht hingehen, schließt sich um 9.00 Uhr (lange bevor sie aus dem Haus muss) in einem Raum ein und wirft den Schlüssel weg. Wenn OIC wahr ist, ist Lilly ab 9.00 Uhr nicht mehr verpflichtet, um 10.00 Uhr bei der Konferenz zu sein. Ihre Kolleginnen scheinen ihr dann ab 10.00 Uhr nicht vorwerfen zu können, dass sie nicht zur Konferenz gekommen ist. ◦ Komplextheorie: Lilly kann man u. a. vorwerfen, dass sie den Schlüssel weggeworfen hat, um nicht zur Konferenz zu gehen. ◦ Verteidigung von OIC: Man kann Lilly zwar nicht vorwerfen, dass sie nicht zur Konferenz gekommen ist, wohl aber, dass sie die Absicht hatte, nicht zur Konferenz zu gehen. Dann gibt es keinen Grund, darauf zu bestehen, dass man ihr außerdem vorwerfen kann, dass sie nicht zur Konferenz gekommen ist. 6. Fazit In paradigmatischen Fällen ist es angebracht, Personen vorzuwerfen, dass sie aus fragwürdigen Absichten ihren Körper bewegen. Sektion Ethik/Metaethik, 29. September 2014 XXIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie 2014 in Münster [email protected]