Die Saisonniers vo D er Rieseneinflug im Herbst ist am eindrucksvollsten», sagt einer, der es wissen muss: Harald Jacoby. Doch vor der Person wenden wir uns dem Spektakel zu – dem Ententourismus. Der Bodensee beherbergt im Winter 300 000 Wasservögel, die über 30 000 Tonnen Biomasse aus dem See vertilgen und damit zur Stabilisierung des ökologischen Gleichgewichts massiv beitragen. Die Einheimischen werden im Herbst schnell zur Minderheit, zum Beispiel brüten in der Schweiz nur ein paar 46 Natürlich | 12-2006 wenige Tafelenten (Aythya ferina), im Winter kommen bis zu 120 000 Gäste dazu, und die fressen locker 1000 Tonnen Muscheln – pro Tag. Aus ihren Brutgebieten in den Weiten Russlands, Sibiriens und Skandinaviens fliegen die 700 bis 1100 Gramm schweren, 46 Zentimeter grossen Tafelenten gen Süden, nachts und schnell. Enten, die kurz nach der Brutzeit Ende Juli losfliegen, haben jedoch keine Eile auf dem Weg in den Süden, sie machen viele Pausen. Anders die Nachzügler. Wer erst im November loszieht, fliegt sprichwörtlich ins Winter- quartier: Acht bis zehn Stunden können die Enten in einer Nacht fliegen. Mit Rückenwind, nicht zu arg darf er sein, kommen sie dabei bis zu 1000 Kilometer weit und finden so bald eisfreie Gewässer. Explosionsartige Futter-Vermehrung «Als Treibstoff für den weiten Flug dienen die Fettpolster», sagt Matthias Kestenholz von der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Diese bauen sie sich nach der Mauser und mit Beginn der Flug- Foto: Okapia Kolbenenten-Erpel Wandern mit WWF NATUR Das WWF-Alpenprogramm Für die Serie «Wandern mit WWF» arbeiten WWF und «Natürlich» zusammen. In der Serie werden Tiere und Pflanzen vorgestellt, die in Naturgebieten und so genannten Smaragd-Gebieten vorkommen. Smaragd-Gebiete sind Lebensräume, die im Rahmen des WWF-Alpenprogramms als besonders schützenswert erachtet werden. Mit dem Smaragd-Netzwerk wird die langfristige Erhaltung von bedrohten Arten und Lebensräumen angestrebt sowie Naturschutzlücken geschlossen. Weitere Infos: www.wwf.ch/alpen Die Schweiz beherbergt im Winter rund eine halbe Million Wasservögel aus ganz Europa und Asien. Vor allem der Bodensee hat als Winter- Bisher erschienen: 6-2006: Ringelnatter, Mastrilser Auen 7-2006: Adonislibelle, Les Grangettes 8-2006: Murmeltier, Fellital 9-2006: Hirsch, Schwägalp 10-2006: Sumpfschildkröte, Le Moulin-de-Vert 11-2006: Gämse, Stockhorn quartier eine herausragende Bedeutung – besonders für Reiher-, Tafel- und Kolbenenten. Text: Andreas Krebs m Bodensee bereitschaft dank verändertem Stoffwechsel in wenigen Tagen auf. Trotzdem nimmt man laut Kestenholz an, dass die Tiere nach grossen Etappen einige Tage Erholung brauchen. Und natürlich Futter. Das gibt es massenhaft im Bodensee, vor allem Armleuchteralgen für die Kolbenente (siehe Kasten) und Dreikantmuscheln (Dreissena polymorpha) für die Tafelenten. Die, auch Wander- oder Zebramuscheln genannt, waren bis Anfang der Sechzigerjahre in der Schweiz völlig unbekannt. 1962 wurden die ersten Wandermuscheln im Genfersee entdeckt. 1964 bis 1966 besiedelten sie den Bodensee, und 1967 folgte der Neuenburgersee. Heute hat sie alle grösseren Seen und Flüsse der Schweiz besiedelt, manchmal bis zu 100 000 Individuen pro Quadratmeter. Wandermuscheln wurden durch die Schifffahrt aus dem Schwarzen Meer und dem Einzugsgebiet der Donau in andere Gewässersysteme eingeschleppt. In den Achtzigerjahren gelang es der Wandermuschel, angeheftet an Schiffsrümpfen oder als Larven im Ballastwasser der grossen Frachtschiffe, auch die grossen Seen Amerikas zu besiedeln. Eine unerschöpfliche Futterquelle Die bis zu 40 Millimeter langen Muscheln sind dunkelbraun bis schwarz und hellbraun gestreift. Mit ihren scharfkantigen Schalen haben sie schon manches Fischernetz und einige Fusssohlen zerschnitten. Das ist den Tafelenten egal. Wie bei allen Tauchenten (Aythyini) sitzen die Füsse der Tafelenten weit hinten am Körper. Das erleichtert das Tauchen nach Schnecken, Wasserinsekten und eben Muscheln, die sie mit den Tastzellen an ihrem kräftigen Schnabel am Grund von fünf bis zehn Metern tiefen Gewässern aufspüren. Die Tauchenten reissen die Muscheln vom kiesigen Grund und schlucken sie samt Schale, die aus Kalk besteht und sich im salzsäurehaltigen Magensaft auflöst. Jeder Vogel vertilgt täglich 800 bis 1000 Gramm, das sind gegen 4000 Muscheln. Im Laufe eines Winters weiden die Wasservögel stellenweise über 95 Prozent der Muscheln ab. Ausgerottet werden diese dadurch aber nicht. Im Sommerhalbjahr wachsen aus jungen Muscheln Natürlich | 12-2006 47 Foto: SVS Birdlife / Werner Müller NATUR Wandern mit WWF Vögel beobachten im Ermatinger Becken Das 530 Hektaren grosse WasservogelSchutzreservat Ermatinger Becken ist Teil des zum Bodensee gehörenden Untersees und gehört zu den Smaragd-Gebieten. Von September bis November leben bis zu 20 Prozent der Wasservögel vom Bodensee im Ermatinger Becken; die meisten im deutschen Teil. Wenn die flachen Buchten zufrieren, weichen die Vögel auf andere Gewässer aus. Ein gutes Gebiet für Vogelbeobachtungen ist auch das Schutzgebiet in Stein am Rhein. Wer nicht nur beobachten, sondern auch wandern will, kann von Steckborn oder Kreuz- lingen in gemütlichen 2,5 Stunden nach Ermatingen spazieren und sich dort voll und ganz den Vögeln widmen. Wer die bis zu 500 Meter grosse Fluchtdistanz der Wasservögel respektiert, verringert Störungen und ihre Folgen für die Vögel beträchtlich. Heute zählt der Bodensee im mitteleuro- päischen Binnenland zu den repräsentativsten und wichtigsten Lebensräumen für die Pflanzen und Tiere von Feuchtgebieten. Europäisch bedeutsam sind die hohen Herbstund Winterbestände folgender Arten (maximale Tageswerte): Haubentaucher (12 700), Tafelente (80 000), Kolbenente (20 400), Schnatterente (12 600), Reiherente (116 000), Blässhuhn (77 600). Unter den durchschnittlich 33 erfassten Arten befinden sich regelmässig auch die weltweit bedrohte Moorente und 11 weitere Arten mit europäischer Schutzpriorität, zu der auch die Kolbenente gehört, sowie verschiedene Seetaucherarten. Wichtig Für die Vogelbeobachtung Fernrohr oder Feldstecher nicht vergessen. Foto: Andreas Krebs An- und Abreise mit dem Zug Die Fahrt mit den SBB von Zürich nach Kreuzlingen oder Steckborn dauert rund 1,5 Stunden. In etwa derselben Zeit ist man von Ermatingen zurück in Zürich. Wanderinfos aus dem Internet • www.wandersite.ch/Thurgauer.html • www.thurgau-tourismus.ch/de/ navpage-HikeTG.html Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA068228) Ufer und Wanderung für die Vogelbeobachtung 48 Natürlich | 12-2006 Wandern mit WWF NATUR Jahren Wasservögel auf dem Untersee, dem westlichen Teil des Bodensees. «Möglichst jeden Vogel», sagt er, «aber 10 000 Reiherenten zähle ich nicht eins, zwei, drei, die erfasse ich in Fünferund Zehnergruppen.» Dazu «scannt» er Sektor für Sektor das Band der Vögel langsam mit dem Fernrohr ab. 33 Wasservogelarten werden auf dem Bodensee regelmässig erfasst. Fressen oder schlafen die Enten nicht, putzen sie ihr Kleid. Mit dem Schnabel streichen sie jede Feder sorgfältig aus und entfernen so den kleinsten Schmutz. Zugleich verteilen sie auf dem Federkleid ein ölig-wächsernes Sekret aus der Bürzeldrüse, der einzigen Hautdrüse vieler und Muschellarven auf Gewässergründen und Bootswänden neue dicke Schichten. Diese locken Winter für Winter Zigtausende Wasservögel zu den Seen. «Die älteren Enten kennen die guten Gewässer, die anderen schliessen sich an», sagt Kestenholz. Die Kunst der Vogelzählung Seit 1967 werden die Wasservögel in der Schweiz systematisch erfasst. Um sie zu zählen, brauche es neben der richtigen Ausrüstung Geduld und Routine, sagt Harald Jacoby. Er hat beides – und dazu auch noch Ausdauer. Der Koblenzer Hobbyornithologe zählt seit über 45 Vogelarten. Das Sekret unterstützt die Wasser abstossende Wirkung der Federn, die aber hauptsächlich auf deren Struktur beruht. Trotz sorgfältigster Pflege nutzen sich die Federn ab. Deshalb wechseln Enten jedes Jahr ein- bis zweimal ihr Kleid; der Federwechsel wird Mauser genannt. Anders als andere Vögel werfen Enten alle Schwungfedern gleichzeitig ab; Ende Juni, Anfang Juli können deshalb die Männchen (Erpel) der Stockenten nicht fliegen. Die Weibchen erneuern ihr Kleid erst im Herbst, wenn ihre Jungen selbstständig sind. In diesem Flug-behinderten Zustand leben Enten heimlich im dichten Pflanzenwuchs. Die Kolbenente – der Kuckuck unter den Wasservögeln Die Erpel der 55 Zentimeter grossen und 400 hen die immergrünen Armleuchteralgen bebrütet ihre acht bis elf Eier während 26 bis bis 600 Gramm schweren Kolbenente (Netta besser in nährstoffarmem Wasser. 28 Tagen. Der Erpel bleibt stets wachend in Nestnähe. Die Jungtiere werden nach dem rufina) haben einen orangeroten, buschigen Kopf mit knallrotem Schnabel; Hals und Eier in fremde Nester Schlüpfen noch 45 bis 50 Tagen vom Weibchen Unterseite sind schwarz. Die Ente ist bräun- Am Bodensee, wo an günstigen Brutplätzen allein geführt – die Saisonehe ist zu Ende, die lich und hat weissgraue Wangen, die sich mit dichter Ufervegetation verschiedene Erpel versammeln sich zur Mauser und fliegen scharf von der dunklen Kopfplatte abheben; Entenarten nah beieinander brüten, legen dann in separaten Schwärmen gen Norden. ihr Schnabel ist dunkelgrau. Kolbenenten ihre Eier zuweilen in fremde Der europäische Bestand wird heute auf etwa Kolbenenten können 30 Sekunden tauchen, Nester. So kommt es vor, dass Tafel-, Reiher- 15 000 Brutpaare geschätzt. In der Schweiz sich an Land aber kaum fortbewegen – das ist oder Stockenten neben ihren eigenen Jungen brüten nur 50 bis 100 Paare, doch als Winter- typisch für Tauchenten. Diese liegen tiefer im auch Kolbenenten aufziehen. gäste werden bis zu 14 000 Tiere gezählt. Wasser als Schwimmenten und wirken gedrun- Brüten sie selber, bauen Kolbenenten ihr Nest Auf der Roten Liste 2001 wurde die zu den gener. Bevor sie auffliegen können, müssen sie immer in Wassernähe, meist auf einer erhöhten Smaragd-Arten gehörende Kolbenente noch eine längere Strecke übers Wasser rennen – Stelle inmitten hoher Ufervegetation. Die Ente als «stark gefährdet» geführt. deshalb schwimmen sie bei Gefahr lieber weg. Kolbenenten (Männchen und Weibchen) bei der Nahrungssuche Umgekehrte Reiserichtung Der Zug der Kolbenente ist dem der meisten anderen Arten genau entgegengesetzt: Nach der Brutzeit fliegen sie aus dem Süden, vor allem Spanien, zu uns, überwintern hier und fliegen im Frühling wieder zurück nach Südeuropa. Ein schönes Beispiel dafür, dass der Vogelzug nicht in erster Linie wegen der Temperatur erfolgt, sondern wegen des Nahrungsangebots. Grund: In Spanien trocknen im Spätsommer viele Gewässer aus («Natürlich» 1990 die Armleuchteralgen, der Kolbenente Lieblingsspeise, wieder stark. Dies dank der Qualitätsverbesserungen der Gewässer, denn im Gegensatz zu anderen Algenarten gedei- Foto: René Berner 10-06), und in der Schweiz vermehren sich seit Natürlich | 12-2006 49 Wandermuschel: Ihr massenhaftes Auftreten zieht Reiherund Tafelenten an Wandern mit WWF NATUR Fotos: René Berner Foto: Okapia Oben Schnatterente, unten Spiessente Hinten Reiherente, vorne Tafelente Schutzgebiete und Jagdgesetze Das und noch viel mehr lässt sich am Untersee beobachten. «In Deutschland und der Schweiz gibt es kein anderes Gebiet mit einer solchen Vielfalt», schwärmt Jacoby. Zu dieser Vielfalt trägt wesentlich der Schutzstatus des Ermatinger Beckens bei. Seine grossen Flachwasserzonen, verbunden mit den Unterwasserwäldern aus Armleuchteralgen, sind vor allem für Schwimmenten ideal. Und obwohl hier keine Dreikantmuscheln leben – der sandigschlammige Grund ist für sie ungeeignet – versammeln sich im Becken doch tausende Tauchenten. Sie ruhen hier tagsüber, und fliegen erst in der Dämmerung los zu den Tauchplätzen. Dort herrscht am Tag der Mensch. Der will Kanu fahren, angeln, surfen und segeln, und das immer mehr auch im Winter. Ausserdem werden Wasservögel ausserhalb der Schutzgebiete von August bis Februar gejagt. «Ein Anachronismus», meint Jacoby. Tatsächlich scheint manches Jagdgesetz veraltet. So ist die mittlerweile recht häufige Kolbenente geschützt, die viel seltenere Spiessente oder die auf der roten Liste als «stark gefährdet» geführte Schnatterente hingegen dürfen geschossen werden. «Wieso weiss der Geier», sagt Jacoby. «Möglicherweise aus politischen Gründen.» Entenbrüstli für den Jäger Aus ökologischen Gründen ist eine Jagd auf Wasservögel nicht notwendig, schreibt die Vogelwarte Sempach in ihrer Broschüre «Wasservögel». Der Wasservogeljäger jagt tatsächlich einzig zu seinem Vergnügen. «Die Jäger reduzierten nicht den Schweizer Bestand», sagt Peter Steiner, Jagdausbilder und Gründer der Schweizerischen Wildtierwarte in Niedergösgen SO. «Wir jagen Zugvögel. Die kommen immer wieder.» Laut eidgenössischer Jagdstatistik wurden 2005 in der Schweiz 9367 Enten geschossen, davon 6438 Stock- und 216 Tafelenten. Die Jäger behalten ihre Beute meist für sich, sagt Steiner, und essen sie. Meist zwar nur Brüstli und Oberschenkel. Die der Tafelente seien am leckersten, heisst es, von daher kommt auch ihr Name. Vielfalt dank Jagdverbot 1984 wurde durch einen Volksentscheid die «Gemeinschaftliche Wasserjagd» im Ermatinger Becken verboten. «Die Auswirkungen sind eklatant», sagt Jacoby. Heute beherbergt das Ermatinger Becken 40 000 Wintergäste, darunter regelmässig bis zu 150 Singschwäne und Brachvögel und über 1000 Spiessenten. «Das ist an keinem anderen Platz der Schweiz denkbar», sagt Jacoby. Diese regelmässigen Spezialitäten seien wichtige Vögel, sagt er, seltene Gäste hingegen seien nicht von Bedeutung, aber trotzdem interessant: Silberreiher, Zwerg- und Mittelsäger, Rothalstaucher, Samtenten und viele rare Gäste mehr wurden hier schon beobachtet – kurzum: der Untersee ist ein Eldorado für Vogelfreunde. ■ I N FO B OX Literatur: • «Vögel in der Schweiz», erhältlich bei der Schweizerischen Vogelwarte, 6204 Sempach, Fr. 58.–, + Versandkosten • Lenz: «Entenparadies Bodensee», Verlag Stadler, 1997, ISBN: 3-7977-0341-4, Fr. 32.– • Puchta: «Wasservögel – Erkennen und bestimmen», Verlag Ulmer, 2002, ISBN: 3-8001-4277-5, Fr. 18.– • Sacchi/Laesser/Ritschard/Rüegg: «Vögel beobachten in der Schweiz», h.e.p. verlag, 2006, ISBN 3-7225-0023-0, Fr. 38.– Internet: • www.vogelwarte.ch • www.pronatura.ch • www.fjv.zh.ch/internet/bd/aln/fjv/de/ jagd/info/wasservoegel.html Natürlich | 12-2006 51