Die Saisonniers vom Bodensee (Seiten 46-51)

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Die Saisonniers vo
D
er Rieseneinflug im Herbst ist
am eindrucksvollsten», sagt einer, der es wissen muss: Harald
Jacoby. Doch vor der Person
wenden wir uns dem Spektakel zu – dem
Ententourismus.
Der Bodensee beherbergt im Winter
300 000 Wasservögel, die über 30 000
Tonnen Biomasse aus dem See vertilgen
und damit zur Stabilisierung des ökologischen Gleichgewichts massiv beitragen.
Die Einheimischen werden im Herbst
schnell zur Minderheit, zum Beispiel
brüten in der Schweiz nur ein paar
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wenige Tafelenten (Aythya ferina), im
Winter kommen bis zu 120 000 Gäste
dazu, und die fressen locker 1000 Tonnen
Muscheln – pro Tag.
Aus ihren Brutgebieten in den Weiten
Russlands, Sibiriens und Skandinaviens
fliegen die 700 bis 1100 Gramm schweren,
46 Zentimeter grossen Tafelenten gen
Süden, nachts und schnell. Enten, die kurz
nach der Brutzeit Ende Juli losfliegen, haben jedoch keine Eile auf dem Weg in den
Süden, sie machen viele Pausen. Anders
die Nachzügler. Wer erst im November
loszieht, fliegt sprichwörtlich ins Winter-
quartier: Acht bis zehn Stunden können
die Enten in einer Nacht fliegen. Mit
Rückenwind, nicht zu arg darf er sein,
kommen sie dabei bis zu 1000 Kilometer
weit und finden so bald eisfreie Gewässer.
Explosionsartige
Futter-Vermehrung
«Als Treibstoff für den weiten Flug dienen
die Fettpolster», sagt Matthias Kestenholz
von der Schweizerischen Vogelwarte
Sempach. Diese bauen sie sich nach der
Mauser und mit Beginn der Flug-
Foto: Okapia
Kolbenenten-Erpel
Wandern mit WWF NATUR
Das WWF-Alpenprogramm
Für die Serie «Wandern mit
WWF» arbeiten WWF und
«Natürlich» zusammen.
In der Serie werden Tiere und
Pflanzen vorgestellt, die in
Naturgebieten und so genannten Smaragd-Gebieten vorkommen.
Smaragd-Gebiete sind Lebensräume, die im
Rahmen des WWF-Alpenprogramms als
besonders schützenswert erachtet werden.
Mit dem Smaragd-Netzwerk wird die langfristige Erhaltung von bedrohten Arten und
Lebensräumen angestrebt sowie Naturschutzlücken geschlossen.
Weitere Infos: www.wwf.ch/alpen
Die Schweiz beherbergt im Winter rund eine
halbe Million Wasservögel aus ganz Europa
und Asien. Vor allem der Bodensee hat als Winter-
Bisher erschienen:
6-2006: Ringelnatter, Mastrilser Auen
7-2006: Adonislibelle, Les Grangettes
8-2006: Murmeltier, Fellital
9-2006: Hirsch, Schwägalp
10-2006: Sumpfschildkröte, Le Moulin-de-Vert
11-2006: Gämse, Stockhorn
quartier eine herausragende Bedeutung –
besonders für Reiher-, Tafel- und Kolbenenten.
Text: Andreas Krebs
m Bodensee
bereitschaft dank verändertem Stoffwechsel in wenigen Tagen auf. Trotzdem nimmt
man laut Kestenholz an, dass die Tiere
nach grossen Etappen einige Tage Erholung brauchen. Und natürlich Futter.
Das gibt es massenhaft im Bodensee,
vor allem Armleuchteralgen für die
Kolbenente (siehe Kasten) und Dreikantmuscheln (Dreissena polymorpha) für die
Tafelenten. Die, auch Wander- oder Zebramuscheln genannt, waren bis Anfang der
Sechzigerjahre in der Schweiz völlig unbekannt. 1962 wurden die ersten Wandermuscheln im Genfersee entdeckt. 1964 bis
1966 besiedelten sie den Bodensee, und
1967 folgte der Neuenburgersee. Heute
hat sie alle grösseren Seen und Flüsse
der Schweiz besiedelt, manchmal bis zu
100 000 Individuen pro Quadratmeter.
Wandermuscheln wurden durch die
Schifffahrt aus dem Schwarzen Meer und
dem Einzugsgebiet der Donau in andere
Gewässersysteme eingeschleppt. In den
Achtzigerjahren gelang es der Wandermuschel, angeheftet an Schiffsrümpfen
oder als Larven im Ballastwasser der
grossen Frachtschiffe, auch die grossen
Seen Amerikas zu besiedeln.
Eine unerschöpfliche
Futterquelle
Die bis zu 40 Millimeter langen Muscheln
sind dunkelbraun bis schwarz und hellbraun gestreift. Mit ihren scharfkantigen
Schalen haben sie schon manches
Fischernetz und einige Fusssohlen zerschnitten. Das ist den Tafelenten egal.
Wie bei allen Tauchenten (Aythyini)
sitzen die Füsse der Tafelenten weit hinten am Körper. Das erleichtert das
Tauchen nach Schnecken, Wasserinsekten und eben Muscheln, die sie mit den
Tastzellen an ihrem kräftigen Schnabel
am Grund von fünf bis zehn Metern
tiefen Gewässern aufspüren.
Die Tauchenten reissen die Muscheln
vom kiesigen Grund und schlucken sie
samt Schale, die aus Kalk besteht und
sich im salzsäurehaltigen Magensaft auflöst. Jeder Vogel vertilgt täglich 800
bis 1000 Gramm, das sind gegen 4000
Muscheln.
Im Laufe eines Winters weiden die
Wasservögel stellenweise über 95 Prozent
der Muscheln ab. Ausgerottet werden
diese dadurch aber nicht. Im Sommerhalbjahr wachsen aus jungen Muscheln
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Foto: SVS Birdlife / Werner Müller
NATUR Wandern mit WWF
Vögel beobachten
im Ermatinger Becken
Das 530 Hektaren grosse WasservogelSchutzreservat Ermatinger Becken ist Teil
des zum Bodensee gehörenden Untersees
und gehört zu den Smaragd-Gebieten. Von
September bis November leben bis zu 20 Prozent der Wasservögel vom Bodensee im
Ermatinger Becken; die meisten im deutschen
Teil. Wenn die flachen Buchten zufrieren,
weichen die Vögel auf andere Gewässer aus.
Ein gutes Gebiet für Vogelbeobachtungen ist
auch das Schutzgebiet in Stein am Rhein.
Wer nicht nur beobachten, sondern auch
wandern will, kann von Steckborn oder Kreuz-
lingen in gemütlichen 2,5 Stunden nach
Ermatingen spazieren und sich dort voll und
ganz den Vögeln widmen. Wer die bis zu
500 Meter grosse Fluchtdistanz der Wasservögel respektiert, verringert Störungen und
ihre Folgen für die Vögel beträchtlich.
Heute zählt der Bodensee im mitteleuro-
päischen Binnenland zu den repräsentativsten und wichtigsten Lebensräumen für die
Pflanzen und Tiere von Feuchtgebieten.
Europäisch bedeutsam sind die hohen Herbstund Winterbestände folgender Arten (maximale Tageswerte): Haubentaucher (12 700),
Tafelente (80 000), Kolbenente (20 400),
Schnatterente (12 600), Reiherente (116 000),
Blässhuhn (77 600). Unter den durchschnittlich 33 erfassten Arten befinden sich regelmässig auch die weltweit bedrohte Moorente
und 11 weitere Arten mit europäischer Schutzpriorität, zu der auch die Kolbenente gehört,
sowie verschiedene Seetaucherarten.
Wichtig
Für die Vogelbeobachtung Fernrohr oder Feldstecher nicht vergessen.
Foto: Andreas Krebs
An- und Abreise mit dem Zug
Die Fahrt mit den SBB von Zürich nach
Kreuzlingen oder Steckborn dauert rund
1,5 Stunden. In etwa derselben Zeit ist man
von Ermatingen zurück in Zürich.
Wanderinfos aus dem Internet
• www.wandersite.ch/Thurgauer.html
• www.thurgau-tourismus.ch/de/
navpage-HikeTG.html
Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA068228)
Ufer und Wanderung für die Vogelbeobachtung
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Wandern mit WWF NATUR
Jahren Wasservögel auf dem Untersee,
dem westlichen Teil des Bodensees.
«Möglichst jeden Vogel», sagt er, «aber
10 000 Reiherenten zähle ich nicht eins,
zwei, drei, die erfasse ich in Fünferund Zehnergruppen.» Dazu «scannt» er
Sektor für Sektor das Band der Vögel
langsam mit dem Fernrohr ab.
33 Wasservogelarten werden auf
dem Bodensee regelmässig erfasst. Fressen oder schlafen die Enten nicht, putzen sie ihr Kleid. Mit dem Schnabel
streichen sie jede Feder sorgfältig aus
und entfernen so den kleinsten Schmutz.
Zugleich verteilen sie auf dem Federkleid
ein ölig-wächsernes Sekret aus der Bürzeldrüse, der einzigen Hautdrüse vieler
und Muschellarven auf Gewässergründen
und Bootswänden neue dicke Schichten.
Diese locken Winter für Winter Zigtausende Wasservögel zu den Seen. «Die
älteren Enten kennen die guten Gewässer, die anderen schliessen sich an», sagt
Kestenholz.
Die Kunst der Vogelzählung
Seit 1967 werden die Wasservögel in
der Schweiz systematisch erfasst. Um
sie zu zählen, brauche es neben der richtigen Ausrüstung Geduld und Routine,
sagt Harald Jacoby. Er hat beides – und
dazu auch noch Ausdauer. Der Koblenzer
Hobbyornithologe zählt seit über 45
Vogelarten. Das Sekret unterstützt die
Wasser abstossende Wirkung der Federn,
die aber hauptsächlich auf deren Struktur
beruht.
Trotz sorgfältigster Pflege nutzen
sich die Federn ab. Deshalb wechseln
Enten jedes Jahr ein- bis zweimal ihr
Kleid; der Federwechsel wird Mauser genannt. Anders als andere Vögel werfen
Enten alle Schwungfedern gleichzeitig
ab; Ende Juni, Anfang Juli können deshalb die Männchen (Erpel) der Stockenten nicht fliegen. Die Weibchen erneuern ihr Kleid erst im Herbst, wenn
ihre Jungen selbstständig sind. In diesem
Flug-behinderten Zustand leben Enten
heimlich im dichten Pflanzenwuchs.
Die Kolbenente – der Kuckuck unter den Wasservögeln
Die Erpel der 55 Zentimeter grossen und 400
hen die immergrünen Armleuchteralgen
bebrütet ihre acht bis elf Eier während 26 bis
bis 600 Gramm schweren Kolbenente (Netta
besser in nährstoffarmem Wasser.
28 Tagen. Der Erpel bleibt stets wachend in
Nestnähe. Die Jungtiere werden nach dem
rufina) haben einen orangeroten, buschigen
Kopf mit knallrotem Schnabel; Hals und
Eier in fremde Nester
Schlüpfen noch 45 bis 50 Tagen vom Weibchen
Unterseite sind schwarz. Die Ente ist bräun-
Am Bodensee, wo an günstigen Brutplätzen
allein geführt – die Saisonehe ist zu Ende, die
lich und hat weissgraue Wangen, die sich
mit dichter Ufervegetation verschiedene
Erpel versammeln sich zur Mauser und fliegen
scharf von der dunklen Kopfplatte abheben;
Entenarten nah beieinander brüten, legen
dann in separaten Schwärmen gen Norden.
ihr Schnabel ist dunkelgrau.
Kolbenenten ihre Eier zuweilen in fremde
Der europäische Bestand wird heute auf etwa
Kolbenenten können 30 Sekunden tauchen,
Nester. So kommt es vor, dass Tafel-, Reiher-
15 000 Brutpaare geschätzt. In der Schweiz
sich an Land aber kaum fortbewegen – das ist
oder Stockenten neben ihren eigenen Jungen
brüten nur 50 bis 100 Paare, doch als Winter-
typisch für Tauchenten. Diese liegen tiefer im
auch Kolbenenten aufziehen.
gäste werden bis zu 14 000 Tiere gezählt.
Wasser als Schwimmenten und wirken gedrun-
Brüten sie selber, bauen Kolbenenten ihr Nest
Auf der Roten Liste 2001 wurde die zu den
gener. Bevor sie auffliegen können, müssen sie
immer in Wassernähe, meist auf einer erhöhten
Smaragd-Arten gehörende Kolbenente noch
eine längere Strecke übers Wasser rennen –
Stelle inmitten hoher Ufervegetation. Die Ente
als «stark gefährdet» geführt.
deshalb schwimmen sie bei Gefahr lieber weg.
Kolbenenten (Männchen und Weibchen) bei der Nahrungssuche
Umgekehrte Reiserichtung
Der Zug der Kolbenente ist dem der meisten
anderen Arten genau entgegengesetzt: Nach
der Brutzeit fliegen sie aus dem Süden, vor
allem Spanien, zu uns, überwintern hier und
fliegen im Frühling wieder zurück nach Südeuropa. Ein schönes Beispiel dafür, dass der
Vogelzug nicht in erster Linie wegen der Temperatur erfolgt, sondern wegen des Nahrungsangebots. Grund: In Spanien trocknen im
Spätsommer viele Gewässer aus («Natürlich»
1990 die Armleuchteralgen, der Kolbenente
Lieblingsspeise, wieder stark. Dies dank der
Qualitätsverbesserungen der Gewässer, denn
im Gegensatz zu anderen Algenarten gedei-
Foto: René Berner
10-06), und in der Schweiz vermehren sich seit
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Wandermuschel:
Ihr massenhaftes
Auftreten zieht Reiherund Tafelenten an
Wandern mit WWF NATUR
Fotos: René Berner
Foto: Okapia
Oben Schnatterente, unten Spiessente
Hinten Reiherente, vorne Tafelente
Schutzgebiete
und Jagdgesetze
Das und noch viel mehr lässt sich am Untersee beobachten. «In Deutschland und
der Schweiz gibt es kein anderes Gebiet
mit einer solchen Vielfalt», schwärmt
Jacoby. Zu dieser Vielfalt trägt wesentlich
der Schutzstatus des Ermatinger Beckens
bei. Seine grossen Flachwasserzonen,
verbunden mit den Unterwasserwäldern
aus Armleuchteralgen, sind vor allem
für Schwimmenten ideal. Und obwohl
hier keine Dreikantmuscheln leben – der
sandigschlammige Grund ist für sie ungeeignet – versammeln sich im Becken doch
tausende Tauchenten. Sie ruhen hier
tagsüber, und fliegen erst in der Dämmerung los zu den Tauchplätzen. Dort
herrscht am Tag der Mensch. Der will
Kanu fahren, angeln, surfen und segeln,
und das immer mehr auch im Winter.
Ausserdem werden Wasservögel ausserhalb der Schutzgebiete von August bis
Februar gejagt. «Ein Anachronismus»,
meint Jacoby. Tatsächlich scheint manches Jagdgesetz veraltet. So ist die mittlerweile recht häufige Kolbenente geschützt, die viel seltenere Spiessente oder
die auf der roten Liste als «stark gefährdet» geführte Schnatterente hingegen
dürfen geschossen werden. «Wieso weiss
der Geier», sagt Jacoby. «Möglicherweise
aus politischen Gründen.»
Entenbrüstli für den Jäger
Aus ökologischen Gründen ist eine
Jagd auf Wasservögel nicht notwendig,
schreibt die Vogelwarte Sempach in ihrer
Broschüre «Wasservögel». Der Wasservogeljäger jagt tatsächlich einzig zu seinem Vergnügen. «Die Jäger reduzierten
nicht den Schweizer Bestand», sagt
Peter Steiner, Jagdausbilder und Gründer der Schweizerischen Wildtierwarte
in Niedergösgen SO. «Wir jagen Zugvögel. Die kommen immer wieder.»
Laut eidgenössischer Jagdstatistik wurden 2005 in der Schweiz 9367 Enten
geschossen, davon 6438 Stock- und 216
Tafelenten. Die Jäger behalten ihre Beute
meist für sich, sagt Steiner, und essen sie.
Meist zwar nur Brüstli und Oberschenkel.
Die der Tafelente seien am leckersten,
heisst es, von daher kommt auch ihr Name.
Vielfalt dank Jagdverbot
1984 wurde durch einen Volksentscheid
die «Gemeinschaftliche Wasserjagd» im
Ermatinger Becken verboten. «Die Auswirkungen sind eklatant», sagt Jacoby.
Heute beherbergt das Ermatinger Becken
40 000 Wintergäste, darunter regelmässig
bis zu 150 Singschwäne und Brachvögel
und über 1000 Spiessenten. «Das ist an
keinem anderen Platz der Schweiz denkbar», sagt Jacoby. Diese regelmässigen
Spezialitäten seien wichtige Vögel, sagt
er, seltene Gäste hingegen seien nicht
von Bedeutung, aber trotzdem interessant:
Silberreiher, Zwerg- und Mittelsäger,
Rothalstaucher, Samtenten und viele rare
Gäste mehr wurden hier schon beobachtet
– kurzum: der Untersee ist ein Eldorado
für Vogelfreunde.
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I N FO B OX
Literatur:
• «Vögel in der Schweiz», erhältlich bei der
Schweizerischen Vogelwarte,
6204 Sempach, Fr. 58.–, + Versandkosten
• Lenz: «Entenparadies Bodensee», Verlag
Stadler, 1997, ISBN: 3-7977-0341-4, Fr. 32.–
• Puchta: «Wasservögel – Erkennen und
bestimmen», Verlag Ulmer, 2002,
ISBN: 3-8001-4277-5, Fr. 18.–
• Sacchi/Laesser/Ritschard/Rüegg: «Vögel
beobachten in der Schweiz», h.e.p. verlag,
2006, ISBN 3-7225-0023-0, Fr. 38.–
Internet:
• www.vogelwarte.ch
• www.pronatura.ch
• www.fjv.zh.ch/internet/bd/aln/fjv/de/
jagd/info/wasservoegel.html
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