Präferenzrelationen Seminararbeit aus Finanz- und Versicherungsmathematik Alexios-Vasileios Alexopoulos - e1026968 27. Juli 2013 1 Inhaltsverzeichnis 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2 Präferenzrelationen und Numerische Repräsentation . 2.1 Strikte und schwache Präferenzrelationen . . . . . . . . 2.2 Numerische Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Stetigkeit von Präferenzrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 4 5 6 3 Von 3.1 3.2 3.3 3.4 Neumann-Morgenstern Repräsentation . . VNM-Repräsentation, Eigenschaften und Axiome VNM-Repräsentation auf endliche Mengen . . . . VNM-Repräsentation auf unendliche Mengen . . Das Allais-Paradoxon . . . . . . . . . . . . . . . 4 Risikoaversion . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Risikoaversion und deren Eigenschaften 4.2 Das Sankt-Petersburg-Paradoxon . . . . 4.3 Arrow-Pratt-Maß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 . 8 . 10 . 11 . 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 16 19 21 5 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2 1 Einführung Modelle, die den Finanzmarkt beschreiben, müssen stochastisch sein, um das Risiko adäquat modellieren zu können. Ein Markt ist ein Ort, an dem Güter und Dienstleistungen von Agenten ausgetauscht werden, deren Handlungen durch ihre Präferenzen bestimmt werden. In einem vollständigen Markt wird der Preis eines Contigent Claims mittels Arbitrage Argumenten beschrieben, ohne die Präferenzen eines Agentens zu beteiligen. In einem unvollständingen Markt umfasst die Bestimmung solcher Preise ein Risiko. Daher müssen die Präferenzen des Investors deutlich angegeben werden, was mit dem Konzept des erwarteten Nutzens möglich ist. Zu Beginn beschreiben wir Präferenzrelationen in einer nichtleeren Menge X , die aus Wahlmöglichkeiten eines Agenten besteht. In den finanziellen Rahmenbedingungen können solche Wahlmöglichkeiten als “Payoff Profiles” bezeichnet werden, die numerisch dargestellt werden können durch ein Funktional U auf X . Im Kapitel 2 und 3 wird das Konzept des erwarteten Nutzens beschrieben. Daher werden wir uns mit Entscheidungen unter Unsicherheit beschäftigen, die als Lotterien modelliert werden. Eine Präferenzrelation für eine Lotterie µ kann durch ein Funktional der Form Z u(x)µ(dx) dargestellt werden, wobei u die Nutzenfunktion ist. Diese Formulierung wurde von D.Bernoulli1 durchgesetzt; und den Ansatz der axiomatischen Theorie haben J.von Neumann2 und O.Morgenstern3 initiiert. 1 Daniel Bernoulli, 1700-1782 John von Neumann, 1903-1957 3 Oskar Morgenstern, 1902-1977 2 3 2 Präferenzrelationen und Numerische Repräsentation 2.1 Strikte und schwache Präferenzrelationen Sei X eine nichtleere Menge und x, y ∈ X Wahlmöglichkeiten eines Agenten. Definition 2.1: Eine binäre Relation ⊆ X × X heißt (strikte) Präferenzrelation (auch Präferenzordnung), falls sie folgende Eigenschaften erfüllt: Asymmetrie: ∀x, y ∈ X : Wenn x y =⇒ y x. Negative Transitivität: ∀x, y, z ∈ X Wenn x y =⇒ x z oder z y oder beide. Unter der negativen Transitivität versteht man, dass es immer eine eindeutige Präferenz geben wird, egal wie viele Wahlmöglichkeiten angeboten werden. Zum Beispiel: Haben wir eine klare Präferenz x oder y und wird eine dritte z angeboten, dann bleibt immer noch eine Wahlmöglichkeit, die weniger (y, falls z y) oder mehr (x, falls x z) bevorzugt wird. Definition 2.2: Eine Schwache Präferenzrelation ist definiert als: x y :⇐⇒ y x. Eine Indifferenzrelation ist definiert als: x ∼ y :⇐⇒ x y und y x. Somit folgert man, dass, wenn x y dann wird entweder x statt y bevorzugt oder es gibt keine eindeutige Präferenz zwischen den beiden. Die Indifferenzrelation ist eine Mischung von einem Gleichwertigkeitsurteil und ein “sich nicht entscheiden können”. Beispiel: X = R, x y ⇐⇒ x ≥ y. Bemerkung 2.3: Asymmetrie und negative Transitivität von sind äquivalent zu den folgenden Eigenschaften von : 1. Vollständigkeit: ∀x, y ∈ X : x y oder y x oder beide. 2. Transitivität: Wenn x y und y z =⇒ x z. Jede vollständige und transitive Relation induziert eine Präferenzrelation durch die Negation von , also y x ⇐⇒ x y. Die Indifferenzrelation ∼ ist reflexiv, symmetrisch und transitiv. 4 2.2 Numerische Repräsentation Hat man eine vollständige und transitive Präferenzrelation so kann der Nutzen mittels einer Nutzenfunktion U numerisch repräsentiert werden, das heißt durch Zahlen dargestellt werden. Definition 2.4: Eine numerische Repräsentation einer Präferenzordnung ist eine Funktion U : X −→ R sodass x y ⇐⇒ U (x ) > U (y) Offensichtlich ist dies äquivalent zu x y ⇐⇒ U (x ) ≥ U (y). Bemerkung 2.5: Eine numerische Repräsentation ist nicht eindeutig: Sei f eine streng monoton wachsene (x) := f (U (x )) auch eine numerische Repräsentation. de Funktion, dann ist U Für die Existenz einer numerischen Repräsentation brauchen wir den aus der Analysis bekannten Begriff der dichten Teilmenge: Sei eine Präferenzrelation auf X . Eine Teilmenge Z von X heißt dicht, falls für beliebige x, y ∈ X mit x y ein z ∈ Z existiert, sodass x z y ist. Satz 2.6: Für die Existenz einer numerischen Repräsentation einer Präferenzrelation ist es notwendig und hinreichend, dass X eine abzählbare Teilmenge Z enthält, die dicht in X liegt. Insbesondere hat jede Präferenzordnung eine numerische Repräsentation, falls X abzählbar ist. Beweis Für eine abzählbare Teilmenge Z aus X sei Z(x) := {z ∈ Z|z x} und Z(x) := {z ∈ Z|x z}. Aus der Präferenzordnung x y folgt, dass Z(x) ⊆ Z(y) und Z(x) ⊇ Z(y) ist. Gilt x y, dann ist mindestens eine der zwei Inklusionen strikt. Sei dafür z ∈ Z mit x z y, sodass entweder x z y oder x z y. Im ersten Fall gilt: z ∈ Z(x)\Z(y) und im zweiten Fall gilt: z ∈ Z(y)\Z(x). 5 Für eine Wahrscheinlichkeitsverteilung µ auf Z sei X X µ(z) − U (x) := µ(z). z∈Z(x) z∈Z(x) Mit obiger Bezeichnung gilt U (x) > U (y) ⇐⇒ x y. Daher ist U die numerische Repräsentation. Eine gegebene Präferenzenordnung hat nicht immer eine numerische Repräsentation, selbst wenn es eine eindeutige Wahlmöglichkeit gibt, was folgendes Gegenbeispiel illustriert. Sei zunächst X = R2 und die lexikographische Ordnung auf X , also (x1 , x2 ) (y1 , y2 ) ⇐⇒ x1 > y1 oder x1 = y1 und (gleichzeitig! ) x2 > y2 . Beispiel 2.7: Angenommen es existiert eine numerische Repräsentation, also eine Funktion U (x ). ∀r ∈ R und r ≥ 0: (r, 2) (r, 1) =⇒ U ((r , 2)) > U ((r , 1)) und es ∃q ∈ Q sodass U ((r , 2)) > q > U ((r , 1)) Für r > r0 ≥ 0 gilt: (r, 1) (r0 , 2) =⇒ U ((r , 1)) > U ((r 0 , 2)) und qr > U ((r , 1)) > U ((r 0 , 2)) > qr0 Daher gilt, dass aus r 6= r0 =⇒ qr 6= qr0 , aber dann würde r 7−→ qr eine injektive Abbildung von R in Q sein und das ist ein Widerspruch, da Q abzählbar und R überabzählbar ist. 2.3 Stetigkeit von Präferenzrelationen Die lexikographische Ordnung aus Beispiel 2.7 ist nicht stetig. Man kann eine Folge (xn )n∈N finden, die nicht stetig ist. Sei also xn = (xn1 , xn2 ) = (y1 + n1 , y2 ) eine Folge und die Punkte y = (y1 , y2 ), a = (y1 , y2 + 1). Die Folge xn konvergiert gegen den Punkt y. Es gilt für alle n ∈ N, dass xn1 = y1 + n1 > y1 = a1 , also auch U (xn ) > U (a). Weiterhin gilt y1 = a1 und y2 < y2 + 1 = a2 , also U (y) < U (a). Wäre U eine stetige Funktion, so müsste gelten: lim U (xn ) = U (y). n→∞ Damit gilt aber mit den betrachteten Ungleichungen: U (y) = lim U (xn ) = U (y) ≥ U (a) > U (y). n→∞ Dieser Widerspruch löst sich nur auf, wenn man die Stetigkeitsannahme fallen läßt. Es existiert also keine stetige Funktion U . 6 Um solche Stetigkeitsprobleme zu verhindern, betrachten wir die Definitionen 2.8 und 2.9. Wie wir später sehen werden, ist die Stetigkeit von sehr großer Bedeutung. Es sei festgehalten, dass jene Präferenzordnung, die eine stetige numerische Repräsentation hat, selbst stetig ist. Definition 2.8: Sei X ein topologischer Raum. Eine Präferenzrelation heißt stetig, falls ∀x ∈ X : B(x) := {y ∈ X |y x} und B(x) := {y ∈ X |x y} offene Mengen in X sind. Definition 2.9: Sei X ein topologischer Raum, für den mindestens eine von den folgenden Eigenschaften erfüllt ist: X hat eine abzählbare Basis 4 von offenen Mengen X ist separable 5 und zusammenhängend 6 Dann hat jede stetige Präferenzordnung auf X eine stetige numerische Repräsentation. Obige Definitionen kann man mit Satz 2.6 kombinieren, um die Existenz der numerischen Repräsentation zu zeigen. 4 Ein System B von Teilmengen eines topologischen Raumes (X, T ) heißt Basis der Topologie, wenn 1. jede Menge aus B offen bezüglich T ist und 2. jede offene Menge des Raumes sich als Vereinigung von Mengen aus B darstellen lässt. 5 Ein topologischer Raum heißt separabel, wenn es eine höchstens abzählbare Teilmenge gibt, die in diesem Raum dicht liegt. 6 Ein topologischer Raum heißt zusammenhängend, falls es nicht möglich ist, ihn in zwei disjunkte, nichtleere, offene Teilmengen aufzuteilen. 7 3 Von Neumann-Morgenstern Repräsentation 3.1 VNM-Repräsentation, Eigenschaften und Axiome Entscheidungen unter Unsicherheit werden mikroökonomisch oft als Lotterien (siehe unten) modelliert. Der Nutzen der Wahl einer Alternative ist hier nicht unmittelbar bekannt. Statt einer Nutzenfunktion wird daher eine “Erwartungsnutzenfunktion”7 für die Modellierung der Präferenzen (des Akteurs) eingesetzt. Die Nutzenfunktion der jeweiligen Alternativen und deren Wahrscheinlichkeitsverteilungen bestimmen daher den Nutzen einer Lotterie. Bevor wir die von Neumann-Morgenstern Repräsentation definieren, seien zunächst einige wichtige Vorausetzungen festgehalten. Jede Wahlmöglichkeit eines Agenten soll durch eine Wahrscheinlichkeitsverteilung auf einer Menge von Szenarien beschrieben werden. Sei dafür M1 (S, S) die Menge aller Wahrscheinlichkeitsverteilungen auf den messbaren Raum (S, S) und M eine Teilmenge von M1 (S, S). Daher sei X = M. Die Elemente von M werden Lotterien gennant. Wir setzen voraus, dass M konvex ist, das heißt: ∀µ, ν ∈ M und ∀α ∈ [0, 1] : αµ + (1 − α)ν ∈ M Unser Ziel ist es, jene Präferenzordnung auf M zu charakterisieren, die eine numerische Repräsentation U der Form Z U (µ) = u(x)µ(dx) ∀µ ∈ M (1) hat, wobei u eine reele Funktion auf S ist. Definition 3.1: Eine numerische Repräsentation einer Präferenzordnung wird von Neumann-Morgenstern Repräsentation genannt, falls sie von der Form (1) ist, also: Z U (µ) = u(x)µ(dx) ∀µ ∈ M. Wir werden später die Funktion u, wenn sie gewisse Voraussetzungen erfüllt, Nutzenfunktion nennen. Jede von Neumann-Morgenstern Repräsentation ist affin, das heißt: U (αµ + (1 − α)ν) = αU (µ) + (1 − α)U (ν) ∀µ, ν ∈ M und α ∈ [0, 1]. 7 Erwartungsnutzen ist einfach der Erwartungswert des Nutzens der Alternativen. Eine solche Nutzenfunktion wird auch als Von Neumann-Morgenstern-(Erwartungs)-Nutzenfunktion bezeichnet. 8 Wir betrachten beispielsweise eine Zufallsvariable X auf einem Wahrscheinlichkeitsraum (Ω, F, P ), die die Auszahlung einer Anlagemöglichkeit angibt. Ist etwa S ⊆ R, S = B8 , dann bezeichnet das Integral in der Definition 3.1 den Erwartungswert von u(X), wobei u messbar (später stetig) sei und X die Verteilung µ(B) := P X (B) = P (X −1 (B)) ∀B ∈ B besitzt. Aus der Affinität lassen sich 2 wichtige Eigenschaften beziehungsweise (bzw.) Axiome für eine Präferenzrelation auf M herleiten. I Unabhängigkeitseigenschaft I Archimedeseigenschaft (auch Stetigkeitseigenschaft) Definition 3.2: Eine Präferenzordnung erfüllt die Unabhängigkeitseigenschaft, wenn für alle µ, ν ∈ M mit µ ν gilt: αµ + (1 − α)λ αν + (1 − α)λ ∀λ ∈ M und ∀α ∈ (0, 1]. Haben wir also eine zusammengesetzte Lotterie mit Verteilung αµ + (1 − α), dann schauen wir uns entweder µ oder λ an mit Wahrscheinlichkeit α bzw. (1 − α). Dies ist aber äquivalent, wenn man die “ganze” Lotterie αµ + (1 − α) betrachtet. λ wird mit Wahrscheinlichkeit (1 − α) gezogen und daher gibt es keinen Unterschied in der zusammengesetzten Lotterie, wo man ν mit µ vertauscht. Zieht man µ mit Wahrscheinlichkeit α, wobei µ ν ist, so bevorzugen wir die zusammengesetzte Lotterie mit µ statt die mit ν. Definition 3.3: Eine Präferenzordnung erfüllt die Archimedeseigenschaft, wenn zu jedem Tripel µ λ ν Konstante α, β ∈ (0, 1) existieren, sodass folgendes gilt: αµ + (1 − α)ν λ βµ + (1 − β)ν Die Archimedeseigenschaft ergibt sich aus dem Archimedischen Prinzip der reellen Analysis: ∀ > 0 und jedes große x, gibt es ein n ∈ N sodass n > x. Diese Eigenschaft wird manchmal auch Stetigkeitseigenschaft gennant da sie für die Stetigkeit von in einer geeigneten Topologie auf M verantwortlich ist. Versehen wir also M mit einer Topologie, wo Konvexkombinationen stetige Kurven sind, das heißt αµ + (1 − α)ν konvergiert gegen ν bzw. µ wenn α ↓ 0 bzw. α ↑ 1, dann impliziert die Stetigkeit dieser Präferenzordnung in dieser Topologie die Archimedeseigenschaft. 8 Borelsche σ-Algebra 9 Nun stellt sich die Frage, wann eine von Neumann-Morgenstern Repräsentation existiert. Bevor wir jedoch diese beantworten, versuchen wir zuerst die Existenz einer affinen numerischen Repräsentation zu zeigen. Dafür verwenden wir die zwei oben beschriebenen Axiome. Satz 3.4: Sei eine Präferenzordnung auf M, welche die zwei Axiome erfüllt. Dann existiert eine affine numerische Repräsentation U von . Dabei ist U bis auf alle positiven afe finen Transformationen eindeutig, also jede andere affine numerische Repräsentation U e mit diesen Eigenschaften hat die Form U = aU + b mit a > 0 und b ∈ R. Bemerkung 3.5: Diese numerische Repräsentation muss keine VNM-Repräsentation sein. Wir werden jedoch zwei wichtige Fälle untersuchen, wo solche affine numerische Repräsentationen bereits eine von Neumann-Morgenstern Form haben. Dabei unterscheidet man zwischen endlichen und unendlichen Mengen. 3.2 VNM-Repräsentation auf endliche Mengen Kommen wir zur unserer Frage zurück: Wann existiert eine VNM-Repräsentation? Um diese Frage zu beantworten, benötigen wir den Begriff der “einfachen Wahrscheinlichkeitsverteilung” 9 . Zieht man Wahrscheinlichkeitsverteilungen heran, so existiert ein N P Wahrscheinlichkeitsmaß µ auf S, das sich als Linearkombination µ = αi δxi von i=1 x1 , · · · · · · , xN ∈ S mit Koeffizienten α1 , · · · · · · , αN ∈ (0, 1] darstellen lässt. Dabei bezeichnet δx das Dirac-Maß10 . Satz 3.6: Sei M die Menge aller einfachen Wahrscheinlichkeitsverteilungen auf S und sei eine Präferenzordnung auf M, welche die zwei Axiome erfüllt. Dann existiert eine von Neumann-Morgenstern Repräsentation U von . Dabei sind U und u bis auf alle positiven affinen Transformationen eindeutig. Beweis Laut Satz 3.4 existiert eine affine numerische Repräsentation U . Wir definieren u(x) := U (δx ) für x ∈ S. Ist µ ∈ M von der Form µ = α1 δx1 + · · · · · · + αN δxN , so ergibt die Affinität von U : Z N X U (µ) = αi U (δxi ) = u(x)µ(dx). i=1 Das ist die erwünschte von Neumann-Morgenstern Repräsentation. 9 Eine Funktion heißt einfach, wenn sie messbar ist und nur endlich viele Werte annimmt. ( 1, x∈A 10 δx (A) := 0, sonst 10 Bemerkung 3.7: Auf einer endlichen Menge S ist jedes Wahrscheinlichkeitsmaß einfach. Daher ist Satz 3.6 für endliche Mengen S gültig. Somit erhalten wir folgendes Resultat. Satz 3.8: Sei M die Menge aller Wahrscheinlichkeitsverteilungen auf einer endlichen Menge S und sei eine Präferenzordnung auf M, welche das Unabhängigkeits- und Archimedesaxiom erfüllt. Dann existiert eine von Neumann-Morgenstern Repräsentation U von . Dabei sind U und u bis auf alle positiven affinen Transformationen eindeutig. 3.3 VNM-Repräsentation auf unendliche Mengen Ist M die Menge aller Wahrscheinlichkeitsverteilungen auf eine endliche Menge S, dann ist jede affine numerische Repräsentation bereits eine von Neumann-Morgenstern Repräsentation. Die Situation wird etwas komplizierter, wenn man unendliche Mengen S betrachtet. Folgendes Beispiel zeigt, dass es nicht immer möglich, ist eine VNMRepräsentation auf unendlichen Mengen zu handhaben. Beispiel 3.9: Sei M die Menge aller Borelmaßen auf S:=[0,1] und sei λ das Lebesgue Maß auf S. Gemäß dem Zerlegungssatz von Lebesgue11 kann jedes σ-endliches Maß µ ∈ M in einen absolutstetigen und singulären Anteil bezüglich eines anderen σ-endlichen Maßes zerlegt werden, also µ = µs + µα wobei µs der singuläre Anteil bezüglich λ und µα der absolutstetige Anteil ist. Definiere die Funktion U : M −→ [0, 1] mit Z U (µ) := xµα (dx). Offensichtlich ist U eine affine Funktion auf M. Daher induziert U eine Präferenzordnung auf M, die das Unabhängigkeits- und Archimedesaxiom erfüllt. kann jedoch keine von Neumann-Morgenstern Repräsentation besitzen: Ist U (δx ) = 0 für alle x, so kann die einzig mögliche Wahl für u aus Definition (3.1) nur u ≡ 0 sein. Aber dann würde die Präferenzrelation trivial sein, also µ∼λ ∀µ ∈ M und das ist ein Widerspruch zum Beispiel zu U (λ) = 1 2 und U (δ 1 ) = 0 2 Also selbst wenn bis jetzt alle bekannten und hinreichend genügenden Vorausetzungen der endlichen Mengen erfüllt sind, reichen die nicht aus, um die Existenz einer von Neumann-Morgenstern Repräsentation auf unendliche Mengen nachzuweisen. 11 Henri Léon Lebesgue, 1875-1941 11 Um eine von Neumann-Morgenstern Repräsentation zu bekommen, verlangt man zusätzliche Stetigkeitseigenschaften. Man unterscheidet zwischen beschränkte und unbeschränkte Funktionen. Betrachten wir zuerst den (einfacheren) Fall der beschränkten Funktionen. Beschränkte Funktionen Wie wir bereits bemerkt haben, impliziert jene Topologie, wo Konvexkombinationen stetige Kurven sind, das Archimedesaxiom. Die Rede ist von der schwachen Topologie auf der Menge M1 (S, S) aller Wahrscheinlichkeitsmaßen, wobei S ein separabler metrischer Raum ist, versehen mit der σ-Algebra S der Borel Mengen. Definition 3.10: Die schwache Topologie 12 auf M1 (S, S) ist die gröbste13 Topologie von der alle Abbildungen Z M1 (S, S) 3 µ 7−→ f dµ, f ∈ Cb stetig sind. Cb ist die Menge der beschränkten stetigen Funktionen. Satz 3.11: Sei M = M1 (S, S) die Menge aller Wahrscheinlichkeitsmaßen auf S versehen mit der schwachen Topologie und sei eine stetige Präferenzordnung auf M, die das Unabhängikeitsaxiom erfüllt. Dann existiert eine von Neumann-Morgenstern Repräsentation Z U (µ) = u(x)µ(dx), wobei u : S −→ R stetig und beschränkt ist. U und u sind bis auf alle positiven affinen Transformationen eindeutig. Bevor wir Satz 3.11 beweisen, betrachten wir folgende Lemmata. Lemma 3.12: Der Raum M(S, S) aller nicht-negativ endlichen Maßen ist separabel und metrisierbar 14 . Ist S0 eine dichte Teilmenge in S, so ist die Menge ( n ) X αi δxi | αi ∈ Q+ , xi ∈ S0 , n ∈ N i=1 aller Wahrscheinlichkeitsverteilungen mit rationalen Gewichten dicht in M(S, S). 12 Die schwache Topologie ist lokal konvex. Man nennt eine Topologie T “feiner ” als eine Topologie S, wenn S⊆T ist, wenn also jede in S offene Menge auch in T offen ist. S heißt dann “gröber ” als T. 14 Ein topologischer Raum X heißt metrisierbar, wenn er zu einem metrischen Raum homomorph ist. Damit ist ein topologischer Raum (X,T) metrisierbar, wenn eine Metrik d auf X existiert, welche die Topologie T induziert. 13 12 Lemma 3.13: Sei X ein zusammenhängender metrischer Raum mit einer stetigen Präferenzordnung . Ist U −→ R eine stetige Funktion und ist ihre Einschränkung auf der dichten Teilmenge Z eine numerische Repräsentation für die Einschränkung von auf Z, so ist U auch eine numerische Repräsentation für auf X . Beweis von Satz 3.11 Sei Ms die Menge aller einfachen Wahrscheinlichkeitsverteilungen auf S. Aus der Stetigkeit von folgt die Archimedeseigenschaft. Da die Menge aller Wahrscheinlichkeitsmaßen Ms Teilmenge von M1 ist, so folgt nach Satz 3.6, dass eingeschränkt auf Ms eine von Neumann-Morgenstern Repräsentation hat. Wir zeigen nun, dass u beschränkt und stetig ist. Annahme: u ist nach oben unbeschränkt. Dann gibt es x0 , x1 , · · · ∈ S, sodass u(x0 ) < u(x1 ) und u(xn ) > n ist. Nun sei 1 1 µn := 1 − √ δx0 + √ δxn . n n W Offensichtlich konvergiert µn schwach gegen δx0 , i.Z µn −→ δx0 für n ↑ ∞. Angenommen δx1 δx0 , so folgt wegen der Stetigkeit von , dass δx1 µn für √ hinreichend große n ist. Aber dann liegt U (µn ) > n im Widerspruch zu δx1 µn . Annahme: u ist nicht stetig. Dann ∃x ∈ S und eine Folge (xn )n∈N ⊂ S, sodass xn −→ x aber u(xn ) −→ 6 u(x). Mit Hilfe einer Teilfolge von xn können wir annehmen, dass u(xn ) gegen eine beliebige Zahl a 6= u(x) kovergiert. Wähle 0 < := u(x) − a. Dann ∃m ∈ N : |u(xn ) − a| < ∀n ≥ m U (δx ) = a + > a + 3 ∀n ≥ m. Sei nun µ := 1 2 (δx + δxm ). Dann gilt 1 2 > (u(x) + u(xm )) = U (µ) > a + > U (δxn ). 3 2 3 Daher gilt δx µ δxn obwohl δxn schwach gegen δx kovergiert. Das ist ein Widerspruch zur Stetigkeit von . Den Fall u(x) < a betrachtet man analog. So bleibt zu zeigen, dass Z U (µ) = u(x)µ(dx) für µ ∈ M eine numerische Repräsentation ist. Da u beschränkt und stetig ist, folgt, dass U stetig bezüglich der schwachen Topologie ist. Aus Lemma 3.12 folgt, dass Ms eine dichte Teilmenge von einem zusammenhängenden metrisierbaren Raum M ist. Direkte Anwedung von Lemma 3.13 vervollständigt den Beweis. 13 Unbeschränkte Funktionen Im nächsten Kapitel werden wir konkave Funktionen auf S = R untersuchen. Solche Funktionen sind unbeschränkt, außer wenn sie konstant sind. Daher müssen wir die Bedingungen von Satz 3.11 etwas abschwächen. Sei ψ eine stetige Funktion mit ψ : S 7−→ [1, ∞). Wir bezeichnen mit Cψ (S) := {f ∈ C(S) | ∃c : |f (x)| ≤ c · ψ(x), ∀x ∈ S} den linearen Raum aller stetigen Funktionen auf S. Ist ψ = 1 so ist Cψ (S) die Menge aller beschränkten stetigen Funktionen. ψ RWeiters sei M (S) die Menge aller nicht-negativen endlichen Maßen, sodass ψd(µ) < ∞, also Z ψ M1 (S) := {µ ∈ M1 (S)| ψ(x)µ(dx) < ∞}. Betrachtet man also ψ als eine unbeschränkte Funktion, so können wir auf eine von Neumann-Morgenstern Repräsentation bezüglich unbeschränkte Funktionen u schließen. Analog zu den beschränkten Fall definieren wir nun die ψ-schwache Topologie. Definition 3.14 Die ψ-schwache Topologie ist die gröbste Topologie von der alle Abbildungen Z ψ M (S) 3 µ 7−→ f d(µ), f ∈ Cψ (S) stetig sind. Da die Funktion ψ Werte auf [1, ∞) annimmt, gehört jede beschränkte und stetige Funktion f zu Cψ (S). Der folgende Satz ist eine zu Satz 3.11 ähnliche Version bezüglich der ψ-schwachen Topologie, dessen Beweis analog zu den von Satz 3.11 verläuft. Satz 3.15 Sei eine Präferenzordnung auf Mψ 1 (S), die das Unabhängigkeitsaxiom erfüllt und stetig in der ψ-schwachen Topologie ist. Dann existiert eine von Neumann-Morgenstern Repräsentation Z U (µ) = u(x)µ(dx) mit u ∈ Cψ (S). U und u sind bis auf alle positiven affinen Transformationen eindeutig. 14 3.4 Das Allais-Paradoxon Das Allais-Paradoxon15 ist ein experimentell beobachtbarer Verstoß gegen das Unabhängigkeitsaxiom der wirtschaftswissenschaftlichen Entscheidungstheorie. Betrachten wir folgende Tabelle. Tabelle 1: WS/Gewinn 0.66 0.33 0.01 Experiment A Lotterie µ1 Lotterie µ2 2400 2400 2500 2400 0 2400 Experiment B Lotterie ν1 Lotterie ν2 0 0 2500 2400 0 2400 Tabelle 1 zeigt zwei Experimente A und B, die jeweils aus zwei Lotterien bestehen. Also Experiment A besteht aus µ1 und µ2 und Experiment B aus ν1 und ν2 . Gemäß dem Unabhängigkeitsaxiom sollte der Inhalt der ersten Zeile keinen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten haben. Es wurde festgestellt16 , dass 82% der Versuchspersonen im Experiment A die Lotterie µ2 wählten und 83% der Versuchspersonen wählten im Experiment B die Lotterie ν1 . Daraus folgt, dass mindestens 65% der Versuchspersonen µ2 µ1 und (gleichzeitig!) ν1 ν2 wählten. Wir haben also folgende Fälle: µ2 µ1 : u(2400) > 0.66u(2400) + 0.33u(2500) + 0.01u(0) ν1 ν2 : 0.67u(0) + 0.33u(2500) > 0.66u(0) + 0.34u(2400) Umformung liefert: 0.34u(2400) > 0.33u(2500) + 0.01u(0) 0.34u(2400) < 0.33u(2500) + 0.01u(0) Die letzten zwei Aussagen widersprechen sich. Daher ist das Unabhängigkeitsaxiom nicht erfüllt. Wäre das Unabhängigkeitsaxiom erfüllt, dann sollte gelten: αµ2 + (1 − α)ν1 αµ1 + (1 − α)ν1 αµ1 + (1 − α)ν2 ∀α ∈ (0, 1). Wählen wir α = 21 , so bekommen wir 1 1 (µ2 + ν1 ) (µ1 + ν2 ), 2 2 das ein Widerspruch zu 1 1 (µ2 + ν1 ) = (µ1 + ν2 ) 2 2 ist. Daher wurde das Unabhängigkeitsaxiom von mindestens 65% der Versuchspersonen verletzt. 15 16 Maurice Allais, 1911- 2010 Verantwortlich dafür sind Amos Tversky und Daniel Kahneman. 15 4 Risikoaversion In diesem Kapitel betrachten wir Anlagemöglichkeiten (z.B Aktien), deren Verteilung zu einem fixen Zeitpunkt bekannt ist. Die Verteilung wird als Wahrscheinlichkeitsverteilung auf S ⊂ R angenommen. M sei die Menge aller Borel-Wahrscheinlichkeitsmaßen. Wir werden uns mit weiteren Eigenschaften der Funktion u, die in der von NeumannMorgenstern Repräsentation auftritt, bekannt machen. Wir nehmen an, dass M konvex ist und alle Punktmaße δx für x ∈ S enthält. Für alle µ ∈ M sei die Erwartung Z m(µ) := xµ(dx) ∈ R wohldefiniert. Man nennt diese auch “fairen Preis”. Bevor wir die mathematische Definition der Risikoaversion formulieren, werden wir zuerst die Idee dahinter beschreiben. In der Entscheidungstheorie bezeichnet der Begriff der Risikoaversion (auch Risikoscheu) die Eigenschaft eines Agenten (z.B eines Investors), bei der Wahl zwischen mehreren Alternativen mit gleichen Erwartungswert jene Alternative zu bevorzugen, die das kleinste Risiko und damit auch den geringstmöglichsten Verlust hat. Beispiel 4.1 Ein Investor würde sein Geld auf ein Konto legen, das einen niedrigeren, aber garantierten Zinssatz hat, anstatt in einem Stock, der hohe erwartete Returns aber auch ein hohes Risiko hat. 4.1 Risikoaversion und deren Eigenschaften Definition 4.2 Eine Präferenzrelation auf M heißt monoton, wenn x > y =⇒ δx > δy . Eine Präferenzrelation heißt risikoavers, falls ∀µ ∈ M gilt δm(µ) µ, außer wenn δm(µ) = µ. Satz 4.3 Sei eine Präferenzrelation mit der von Neumann-Morgenstern Repräsentation Z U (µ) = u dµ. Dann gilt, dass: 1. ist monoton ⇐⇒ u streng monoton wachsend ist. 2. ist risikovers ⇐⇒ u streng konkav ist. 16 Beweis: 1. Sei x > y. Monotonie ist äquivalent zu Z u(x) = u(s)δx (ds) = U (δx ) > U (δy ) = u(y). 2. “ =⇒” Sei risikoavers. Dann gilt für verschiedene x, y ∈ S und α ∈ (0, 1) δαx+(1−α)y αδx + (1 − α)δy =⇒ u(αx + (1 − α)y) > αu(x) + (1 − α)u(y) =⇒ u streng konkav. “ ⇐=” Sei u streng konkav. Risikoaversion folgt mittels der Jensen-Ungleichung: Z Z U (δm(µ) ) = u(m(µ)) = u( xµ(dx)) ≥ u(x)µ(dx) = U (µ) Es gilt Gleichheit für µ = δm(µ) . Definition 4.4 Eine Funktion u : S −→ R heißt Nutzenfunktion, falls sie streng konkav, streng monoton wachsend und stetig ist. Bemerkung 4.5 Eine wachsende konkave Funktion u ist sicher stetig auf ein halboffenes Intervall (a, b] ⊆ S. Daher ist die Stetigkeit nur relevant, wenn die untere Schranke von S in S enthalten ist. Weiters sei festgehalten, dass die Nutzenfunktion u(x) linear für x ↓ inf S fällt. Daher kann u nach unten nicht beschränkt sein, außer wenn inf S > −∞. Da der Graph der Nutzenfunktion u konkav ist, handelt es sich um eine Funktion mit fallendem Grenznutzen u0 (x). Also wiegt das Risiko möglicher Vermögensverluste bei der Entscheidungsfindung schwerer als die Aussicht auf mögliche Vermögensgewinne. Wir betrachten nun jene Präferenzrelationen auf M, die eine von Neumann-Morgenstern R Repräsentation U (µ) = u dµ mit einer Nutzenfunktion u : S −→ R haben. Die Anwendung des Zwischenwertsatzes auf die streng monoton wachsende, stetige Funktion u liefert für jedes µ ∈ M die Existenz der eindeutigen reelen Zahl c(µ) ∈ S mit Z u(c(µ)) = U (µ) = u dµ. Dann gilt δc(µ) ∼ µ, das heißt, der Agent ist indifferent zwischen der sicheren Auszahlung c(µ) und der Lotterie µ. 17 Definition 4.6 Das Sicherheitsäquivalent einer Lotterie µ ∈ M ist die reelle Zahl c(µ) ∈ S, die Z u(c(µ)) = U (µ) = u dµ. löst. Die Risikoprämie von µ ist definiert als ρ(µ) := m(µ) − c(µ). Anwendung der Jensen Ungleichung ergibt c(µ) ≤ m(µ) und c(µ) < m(µ) ⇔ µ 6= δm(µ) . Das Sicherheitsäquivalent kann als obere Grenze für beliebige Preise betrachtet werden. Daher muss man den fairen Preis m(µ) um ρ(µ) reduzieren, falls man möchte, dass der Agent das Asset mit Verteilung µ kauft. Andernfalls hat der Agent das Asset mit Verteilung µ schon, dann kann man die Risikoprämie ρ(µ) als den Betrag den der Agent bezahlen würde, betrachten, sodass er das Asset für die Erwartung m(µ) austauscht. Praktische Bedeutung Es wird gewöhnlich davon ausgegangen, dass Investoren risikoavers sind und für eingegangene Risiken eine entsprechende Risikoprämie erwarten. So fordert auch das Capital Asset Pricing Model (CAPM) explizite Risikoprämien. Diese aber können bei einem negativen Zusammenhang von betrachtetem Wertpapier und Marktportfolio auch negativ ausfallen, sodass das betreffende Wertpapier selbst mit einer Rendite unterhalb des risikofreien Zinssatzes am Markt bestehen kann. Es ist allerdings sehr schwer, solche Wertpapiere mit negativen Betas zu finden, sodass man auch im Arbitrage Pricing Model (APM) in der Regel von positiven Prämien für das Risiko ausgeht. 18 4.2 Das Sankt-Petersburg-Paradoxon Das Sankt-Petersburg-Paradoxon beschreibt ein Paradoxon in einem Glücksspiel. Das Paradox erhielt seinen Namen von Daniel Bernoullis Präsentation des Problems und seiner Lösung, die er 1738 in dem Commentaries of the Imperial Academy of Science of Saint Petersburg veröffentlichte. Nikolaus I. Bernoulli17 erwähnte das Problem jedoch schon 1713. Betrachten wir die Lotterie ∞ X µ= 2−n δ2n−1 . n=1 In diesem Glücksspiel wird vom Spieler eine Teilnahmegebühr von einem Euro verlangt (vor dem ersten Wurf). Eine faire Münze wird geworfen und das Spiel wird solange fortgesetzt, bis zum ersten Mal “Kopf” fällt. Der Gewinn verdoppelt sich, falls “Zahl” erscheint. Nach n Würfen (also beim n-ten Wurf fällt “Kopf”) gewinnt man also 2n − 1 Euro. Man kommt genau dann zum n-ten Wurf, wenn man vorher (n − 1)-mal Zahl geworfen hat. Daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das erste Mal beim n-ten Münzwurf “Kopf” fällt, P = 21n . Solange das Spiel fortgesetzt wird, wird die nicht-negative Wahrscheinlichkeit immer kleiner. Der erwartete Gewinn ist jedoch immer 21 , wie wir in Tabelle 2 sehen. Tabelle 2: Wurf 1 2 3 .. . Gewinn 1 2 4 .. . WS 1/2 1/4 1/8 .. . Erwartete Gewinn 1 · 1/2 = 1/2 2 · 1/4 = 1/2 4 · 1/8 = 1/2 .. . n .. . 2n−1 .. . 1/2n .. . 2n−1 · 1/2n = 1/2 .. . Der Erwatungswert ist daher m(µ) = ∞ ∞ X 1 n−1 X 1 2 = = ∞. 2n 2 n=1 n=1 Der Widerspruch liegt darin, dass der Veranstalter und Spieler sich nicht einigen würden, denn: Der Veranstalter würde eine Teilnahmegebühr, die größer oder gleich des durchschnittlichen Gewinnes, ist verlangen (sodass er auch einen Gewinn hat!), also “unendlich viele Euro”. Der Spieler würde nicht auf eine große Teilnahmegebühr A zustimmen, (z.B A ≈ ∞), weil er davon ausgeht, nicht so viel Glück zu haben, einen großen Betrag zu gewinnen, da die Wahrscheinlichkeit sehr klein ist. 17 Nicolaus I. Bernoulli, 1687-1759 19 Obiges Paradoxon zeigt uns, dass ein Geldbetrag unterschiedlich bewertet wird. Zum Beispiel ist der relative Unterschied in der (subjektiven) Nutzlichkeit von 2 Billionen Euro zu 1 Billion Euro sicher kleiner als der entsprechende Unterschied zwischen 1 Billion Euro und gar keinem Geld. Die Beziehung zwischen Geldwert und Nutzen ist also nicht-linear. Lösungen des Paradoxons Es gibt mehrere Ansätze, dieses Paradoxon zu lösen. 1. Einer davon, den Bernoulli vorgeschlagen hat, ist die Nutzenfunktion u(x) = ln(x) zu wählen. Dann hat die Sankt-Petersburg-Lotterie einen endlichen Wert, und zwar µ= ∞ X ln(2n − 1) n=1 2n = ln(2) < ∞. Diese Lösung ist jedoch nicht ganz befriedigend, da die Lotterie in einer Weise geändert werden kann, sodass das Paradox wieder auftritt: Dazu müssen wir ledign lich die Lotterie so ändern, dass die Auszahlungen e2 betragen. Dann ist der Wert der Lotterie, berechnet mit der logarithmischen Nutzenfunktion, wieder unendlich. Allgemein kann man für jede nach oben unbeschränkte Nutzenfunktion eine Variante des Sankt-Petersburg-Paradoxon finden, die einen unendlichen Wert liefert, wie von dem österreichischen Mathematiker Karl Menger18 als erstem bemerkt wurde. 2. Eine andere Lösung ist, dass man Folgendes berücksichtigt: Ein Kasino soll nur Lotterien anbieten, die endlichen Erwartungswert haben. So lässt sich zeigen, dass das Paradox verschwindet, falls die Nutzenfunktion konkav ist, was nach Satz 4.3 bedeutet, dass man eine Risikoaversion (zumindest für hohe Geldbeträge) voraussetzt. 3. Man könnte auch annehmen, dass die Nutzenfunktion nach oben beschränkt ist. Die bedeutet nicht, dass die Nutzenfunktion ab einem bestimmten Wert konstant sein muss. Als Beispiel betrachte man u(x) = 1 − e−x . 18 Karl Menger, 1902-1985 20 4.3 Arrow-Pratt-Maß Im Folgenden definieren wir zwei Maße, die den Grad der Risikoaversion quantifizieren. Es sei festgehalten, dass wir uns lediglich auf die konkave Funktion u beschränken wollen. Für zweimal stetig differenzierbare u ∈ C 2 gilt u konkav ⇐⇒ u00 ≤ 0. Wir betrachten einen Agenten mit Vermögen x und Nutzenfunktion u ∈ C 2 . Die Präferenzen des Agenten werden durch die Nutzenfunktion u ausgedrückt. Falls man den Agenten einen Contingent Claim (CC) anbietet, dann stellt sich die Frage, wann er den CC annehmen wird. Dafür sei die Zufallsvariable Y der Contingent Claim. Der Agent wird den CC genau dann annehmen, wenn E[u(x + Y )] ≥ E[u(x)] = u(x) Für “kleine” Y liefert eine Taylorentwicklung um x: 1 0 ≤ E[u(x + Y ) − u(x)] ≈ E[u0 (x)Y + u00 (x)Y 2 ]. 2 Unsere Beobachtungen ergeben folgendes Resultat: Der Agent wird Y haben wollen, falls 2EY −u00 (x) ≥ = α(x) =: ARA(x), E[Y 2 ] u0 (x) wobei ARA(·) das Arrow-Pratt-Maß19 der absoluten Risikoaversion bezeichnet. Dabei implizieren negative Werte Risikofreude (Risikoaffinität) und positive Werte Risikoaversion (Risikoscheu). Nimmt das Maß schließlich den Wert Null an, ist der Entscheider risikoneutral. Alternativ investiert ein Agent in eine risikobehaftete Anlagemöglichkeit, die zum Zeitpunkt 1 den Wert x(1 + Y ) hat. Der Agent bevorzugt die Investition, falls E[u(x + Y )] ≥ E[u(x)] = u(x). Eine Taylorentwicklung ergibt: 1 0 ≤ E[u(x(1 + Y )) − u(x)] ≈ E[u0 (x)xY + u00 (x)x2 Y 2 ]. 2 Der Agent wird Y haben wollen, falls 2EY −xu00 (x) ≥ =α e(x) =: RRA(x), E[Y 2 ] u0 (x) wobei RRA(·) das Arrow-Pratt-Maß der relativen Risikoaversion bezeichnet. 19 Kenneth Arrow, John Winsor Pratt 21 Dabei entspricht das Arrow-Pratt-Maß der relativen Risikoaversion RRA(·) der Nutzenelastizität20 des möglichen Einkommens, welche eine Änderung der Risikobereitschaft bei veränderten möglichen Einkommen aus der Entscheidung ausdrückt. Bemerkung 4.7 In beiden Fällen wird der Agent Y lieber haben, wenn EY groß oder E[Y 2 ] klein ist. Ist ARA(x) konstant, so heißt u CARA-Nutzenfunktion (constant absolute risk aversion function). Ein Beispiel dafür ist: Für α(x) = −(ln u0 (x))0 folgt u(x) = α − βe−αx . Eine affine Transformation liefert dann u(x) = 1 − e−αx . Ist RRA(x) konstant, so heißt u CRRA-Nutzenfunktion (constant relative risk aversion function). Es gibt noch weitere Arten von Risikoaversion, eine davon ist die sogenannte “hyperbolic absolute risk aversion” (HARA). Mit HARA kann man leicht empirische Daten erhalten und analysieren. Definition 4.8 Eine Nutzenfunktion u : R −→ R heißt HARA-Nutzenfunktion, falls für u ∈ C 2 und für Konstante γ < 1: ln x falls γ = 0 (1 − γ) α(x) = =⇒ u(x) = 1 γ falls γ < 0 x γx Diese Funktionen bezeichnet man öfters als CRRA-Nutzenfunktionen, weil ihre “relative Risikoaversion” xα(x) konstant ist. Der “Risikoneutrale” Fall tritt auf, falls γ = 1 ist und entspricht der affinen Nutzenfunktion u. Bemerkung 4.9 Die CARA-, CRRA-Nutzenfunktionen sind HARA-Nutzenfunktionen. 20 Die Elastizität bezeichnet das Verhältnis der relativen Änderung einer Größe zu der relativen Veränderung derjenigen Größe, die sie verursacht hat. Bei wirtschaftlichen Berechnungen ist dies das Reaktionsvermögen abhängiger Variablen auf Veränderungen bei unabhängigen Variablen. Bei diesen Variablen handelt es sich um messbare Einheiten, von denen sich einige (abhängige) verändern, wenn sich andere (unabhängige) ändern. 22 u(x) x 0 α = 0, 5 α=2 α=1 Abbildung 1: Die CARA-Funktion: u(x) = −eαx , α > 0. u(x) ε = 0, 2 ε = 0, 4 0 ε = 0, 8 x Abbildung 2: Die “Nutzenfunktion” u(x) = x − 2ε x2 , ε > 0. u(x) ist konkav, aber nicht monoton wachsend. Trotzdem wird sie als ”Nutzenfunktion” verwendet, da sie einfach zu handhaben ist. 23 5 Literaturverzeichnis Literatur [1] Hans Föllmer, Alexander Schied: Stochastic Finance. An Introduction in Discrete Time, 2. Auflage [2] Norbert Kusolitsch: Maß und Wahrscheinlichkeitstheorie - Eine Einführung, Springer Verlag [3] Wolfgang Wertz: Mass- & Wahrscheinlichkeitstheorie [4] Martin Blömlinger: Analysis 3 [5] Wikipedia: http://en.wikipedia.org [6] Dr. Veraart: Mitschrieb der Vorlesung “Finanzmathematik 1”, Wintersemester 08/09, Universität Karlsruhe 24