Zur musikalischen Satztechnik in Theorie und Praxis um 1750 ZUR MUSIKALISCHEN SATZTECHNIK IN THEORIE UND PRAXIS UM 1750 PETER BENARY Allzu oft ist von Johann Sebastian Bach in der Weise die Rede, als sei mit seinem Namen auch sein kompositorisches Schaffen als eine feste Größe benannt. Zweifellos sind das Italienische Konzert, die Kaffeekantate, die c-MollPassacaglia und das Musikalische Opfer Werke Bachs; und doch würde es ohne entsprechendes Vorwissen beträchtliche Mühe bereiten, an diesen Werken die Autorschaft eines einzigen Komponisten nachzuweisen. Eben diese Schwierigkeit könnte als Indiz der inkommensurablen Größe Bachs gelten. Sogar im Blick auf ein Einzelwerk wie das 6. Brandenburgische Konzert, die h-Moll-Messe oder die Triosonate im Musikalischen Opfer ist der Radius dessen, was da ‚Bach‘ heißt, von personalstilistischer Identifizierbarkeit weit entfernt. Unser Thema, Heinrich Besselers Formulierung „Bach als Wegbereiter“, zielt nicht auf den „ganzen“ Bach, sondern auf jene Bereiche seines Schaffens und seiner musikalischen Existenz, denen eine Zukunftswirksamkeit zugesprochen werden kann oder muß. Jedoch welche Zukunft gerät dabei ins Visier? Die naheliegende Annahme, Bach habe am meisten auf die unmittelbare Folgezeit eingewirkt, seine Zukunftswirksamkeit trete am deutlichsten an der Generation seiner Söhne und Schüler zutage, bestätigt sich nicht. Es ist daher zwischen Folgezeit und sachbezogener Nachfolge zu unterscheiden. Zu fragen ist, wo und inwiefern Bachs Musik und Persönlichkeit Nachwirkungen hatte, ebenso ist aber auch nach einer Abkehr von ihm und nach deren Ursachen zu fragen. Denn von Wegbereitung ist nicht nur dann zu sprechen, sie kann nicht nur dann als geschichtswirksam gelten, wenn der gewiesene Weg nachweisbar von der Folgegeneration beschritten wird, sondern auch wenn die Wegbereitung in eine gewissermaßen anonyme Zukunft zielt, also zum Inhalt des historischen Gedächtnisses wird. Die Konturen einer musikalischen Epoche lassen sich ausschließlich weder von der Kompositionspraxis noch von der Musiktheorie her nachzeichnen. Deren Divergenzen waren um 1750 besonders groß. Versteht man unter Satztechnik einen Bereich, in dem Theorie und Praxis gleichermaßen, wenn auch Peter Benary nicht in gleicher Weise wurzeln, so mag von ihr her und auf sie bezogen Bachs Stellung in der Musikgeschichte sich abzeichnen. Ein schlüssiges Bild ist dennoch kaum zu erwarten, weil die Divergenzen zwischen Theorie und Praxis um 1750 einer Häufung von Ungleichzeitigkeiten des damals Gleichzeitigen entspringen. Das wird an Hand der verschiedenen Teilgebiete der musikalischen Satztechnik zu zeigen sein. Hier liegt auch der Grund dafür, daß ein vergangenheitsbezogenes Bach-Bild ebenso Bestätigungen findet wie eine zukunftsbezogene Sicht. Ich werde versuchen, dieser Vielschichtigkeit gerecht zu werden, indem ich die wichtigsten Teilgebiete der musikalischen Satztechnik, nach ihrem Stilalter geordnet, erörtere: Kontrapunkt, Generalbaß, Harmonik, Melodik, Metrik und Rhetorik. Zuvor aber noch ein Wort zum 18. Jahrhundert als musikalischer Epoche. „Bach und Mozart“ ist nicht das Problem! Mozart kam zwar nur sechs Jahre nach Bachs Tod zur Welt, doch trat Bach nicht vor 1782 in Mozarts musikalischen Horizont; und die Werke Bachs, an die Mozart auf Grund seiner stilistischen Position anknüpfen konnte, entstanden vor 1735. So ergibt sich ein Zeitintervall von immerhin einem Halbjahrhundert. Abermals bestätigt sich, daß es wenig sinnvoll ist, das 18. Jahrhundert als Epoche, verführt durch die Daten von Bachs Tod und Goethes Geburt, zu halbieren; dann bliebe die Frage, wie Mozart so bald nach Bach möglich war1, unbeantwortbar. Zwischen Bachs Spätbarock und Mozarts Klassizität liegt vielmehr eine Epoche, in der sich Noch und Schon, Nicht-mehr und Noch-nicht auf eine allenfalls mit der Situation um 1600 vergleichbare Weise überlagern. Ein Symptom hierfür ist die Vielzahl der Etikettierungen, die man für diese Zwischenepoche gefunden hat. Es soll daher im folgenden weniger die Zeit Haydns und Mozarts als die Jahrhundertmitte, als die Bach-Söhne-Generation ins Musikgeschehen eingriff, als die eigentliche Folgezeit nach Johann Sebastian Bach gelten. Kontrapunkt „Den“ Kontrapunkt gab und gibt es nicht; am wenigsten läßt er sich als Begriff und Erscheinung um 1750 auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Während Palestrinas Kontrapunkt sich weitgehend auf Regeln reduzieren läßt, wie dies Johann Joseph Fux mit rigoroser Methodik versucht hat, entzieht sich Bachs Kontrapunkt einer analogen satztechnischen Festlegung. Und auch „den“ Bachschen Kontrapunkt gibt es nur, sofern man ihn als ein Sammelbekken unterschiedlicher Traditionen und Techniken versteht. Bach hat zwar die 1 H. H. Eggebrecht, Über Bachs geschichtlichen Ort, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31, 1957, S. 527-556. Zur musikalischen Satztechnik in Theorie und Praxis um 1750 Tradition des Stile antico aufgegriffen, daneben ist aber seine kontrapunktische Schreibweise auch durch eine monodisch-kantable Linienführung einschließlich Chromatik charakterisiert – und überdies in vergleichsloser Weise harmonisch bereichert. Der Streit um einen linearen oder harmonischen Primat in Bachs Kontrapunkt ist insofern müßig, als beide Prinzipien derart verzahnt sind, daß Analyse unter beiden Aspekten zu angemessenen Ergebnissen gelangen kann2. Eben diese Verbindung von unterschiedlichen Traditionen zugehörigen Techniken macht den satztechnischen und ästhetischen Rang des Bachschen Kontrapunkts aus. Auch dort, wo Bach an den Stile antico anknüpft, indem er ein dem Fundus der Vokalpolyphonie entstammendes Thema wie das der E-Dur-Fuge im Wohltemperierten Klavier II wählt, Notenbeispiel 1 gelangt er zu harmonischen Verdichtungen, die ebenso aus einer konsequenten Linearität der Stimmführung wie aus einer quasi generalbaßmäßigen Akkordik resultieren. Notenbeispiel 2 Wenn hier Motettenstil auf Claviermusik übertragen ist, so basieren andererseits etliche Vokalfugen Bachs auf instrumental charakterisierten Themen, beispielsweise die Chorfuge „Die Kinder Zions“ in der Motette „Singet dem Herrn“. Notenbeispiel 3 2 P. Benary, Zur Methode harmonischer Analyse bei J. S. Bach, in: Bach-Jahrbuch 1962, S. 80-87. Peter Benary Und wie nahe eine Fuge im Charakter einer Gigue und eine fugierte Gigue sich thematisch stehen können, mag folgende Gegenüberstellung zeigen: Fuge G-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier I und Gigue der Französischen Suite G-Dur. Notenbeispiel 4 Notenbeispiel 5 Diese Beobachtungen ergänzen sich insofern, als sich bei Bach zahlreiche Themen finden, die zwar durchaus fugentauglich wären, jedoch nicht für Fugen oder auch nur für imitatorischen Satz genutzt werden; so etwa in der Allemande der Violin-Partita d-Moll, Notenbeispiel 6 im Menuett der Suite für Violincello solo in d-Moll Notenbeispiel 7 oder im letzten Satz des Cembalokonzerts d-Moll, Notenbeispiel 8 nicht zufällig drei Werke in d-Moll, einer Tonart, die vermutlich ihrer dorischen Mitgift wegen in der Bach-Zeit für Fugen bevorzugt wurde. Zur musikalischen Satztechnik in Theorie und Praxis um 1750 Mehr noch interessieren jene Fugenthemen, die in ihrer lied- und tanzhaften Paartaktigkeit für fugierten Stil ungeeignet erscheinen, und zwar nicht nur in ihrem Themenhabitus, sondern auch im Blick auf Bachs Fugenverständnis. So kann man sich fragen, ob ein Thema wie das der Cis-Dur-Fuge im Wohltemperierten Klavier I Notenbeispiel 9 ein melodischer Einfall war, dem Bach eine Fuge abgetrotzt hat, oder ob Bachs Fugenverständnis Themen wie dieses ohne weiteres einschloß, das doch eher zur Oberstimme eines homophonen Satzes taugen würde. Mit Bach gelangt die Geschichte des Kontrapunkts an ein vorläufiges Ende. Der ins Extrem gesteigerte Kontrapunkt des späten Bach, der sich letztlich von Sweelinck herleitet und weitgehend an die evangelische Orgel- und Motettenkomposition gebunden war, erlaubte schlechterdings keine Fortsetzung oder Weiterentwicklung. Dagegen überlebte der von Fux gelehrte Kontrapunkt in der katholischen Kirchenmusik. Nicht Bachs Kunst der Fuge, sondern der Gradus ad Parnassum von Fux wurde zum Kontrapunkt-Lehrbuch der folgenden Generationen. Freilich ging es weniger um die Fuge als um den Kontrapunkt als ein tradiertes Teilgebiet der Satztechnik, dem nun, als das periodische Prinzip das lineare ablöste, ein neuer Stellenwert zukam. Die annähernde Gleichsetzung von Kontrapunkt und Fuge mag, wenn nicht im Blick auf die Bach-Zeit, so doch auf Bach einige Berechtigung haben. Nach Bach Fugen zu schreiben, war wohl noch problematischer als Sinfonien nach Beethoven. Bei Passacaglia und Chaconne sah es kaum anders aus; und der Cantus-firmus-Satz erlosch zusammen mit Kirchenkantate und Orgelchoral. Der Gesang der Geharnischten in Mozarts Zauberflöte gibt als Opernnummer den ästhetischen Abstand zur angewandten Satztechnik zu erkennen. Am ehesten überlebte noch die Fuge den Stilwandel: in den traditionell fugiert gesetzten Teilen der Messe, im fugierten Stil des Streichquartetts als Ausweis kompositorischer Meisterschaft – so in Haydns opus 20 von 1772, in Mozarts Quartetten KV 168, 171 und 173 von 1773 und in Florian Gassmanns im gleichen Jahr publizierten Quartetten – sowie in Finalsätzen als Mittel, sie auf ein Niveau oberhalb des munteren Kehraus zu heben. Mit der bloßen Feststellung strenger Kontrapunktik in den Finalsätzen von Haydns opus 20 ist nicht viel gesagt, solange man die Unterschiedlichkeit ihrer Themen ausklammert. Während das Hauptthema im 5. Quartett in f-Moll Peter Benary aus dem Fundus barocker Soggetti stammt, Notenbeispiel 10 läßt sich das erste der vier Soggetti im 2. Quartett ohne weiteres als Thema eines homophon konzipierten Finalsatzes vorstellen; Notenbeispiel 11 und das erste der drei Soggetti im 6. Quartett offenbart erst in der sequenzierenden Fortspinnung seine Kontrapunkt-Tauglichkeit. Notenbeispiel 12 Einerseits belegen diese Quartett-Finale die Affinität der Gattung Streichquartett schon in deren Frühzeit ans satztechnische Experiment, andererseits hat die durch Haydns ausdrücklichen Hinweis auf die Zahl der Soggetti betonte Kontrapunktik noch wenig zu tun mit dem obligaten Accompagnement späterer Haydn- und Mozart-Quartette. Inwieweit das obligate Accompagnement mit seiner Aufwertung der Mittelstimmen das Erbe der Generalbaßpraxis oder des Kontrapunktes antritt, wobei eines das andere nicht ausschließt, hängt vor allem von einer engen oder weiten Begriffsbestimmung ab. Die Tatsache, daß die Musiktheorie sich oft Gebieten zuwendet, wenn diese stilgeschichtlich in eine Endphase treten, bestätigt sich um 1750 mehrfach, vor allem auf dem Gebiet des Generalbasses und des Kontrapunktes. Der strenge Kontrapunkt wird bei Fux unter Berufung auf Palestrina mit rigoroser Methodik aufbereitet. Solche Rückwärtsgewandtheit stand aber einer Zukunftswirksamkeit keineswegs im Wege3, sie kam ihr sogar im Sinne einer 3 Die deutsche Übersetzung durch Lorenz Mizler erschien 1742, eine italienische 1761, eine englische 1770, eine französische 1773. Zur musikalischen Satztechnik in Theorie und Praxis um 1750 Lehr- und Lernbarkeit einer freilich mehr propädeutisch für wichtig gehaltenen als kompositionspraktisch angewandten Satztechnik entgegen. Friedrich Wilhelm Marpurgs Abhandlung von der Fuge erschien 1753, als die Geschichte der Fuge als Inbegriff barocken Kontrapunkts an ein Ende gelangt war. Bachs Kunst der Fuge markiert dieses Ende in imponierendster Weise. Sie hat Marpurg zu seiner Abhandlung angeregt. Im Vorwort zu Bachs Fugenwerk schreibt Marpurg, daß ihn, Bach, „keiner in der tiefen Wissenschaft und Ausübung der Harmonie (hier soviel wie Mehrstimmigkeit) ... einer tiefsinnigen Durcharbeitung sonderbarer, sinnreicher, von der gemeinen Art entfernter und doch dabei natürlicher Gedanken übertreffen wird“4. Dennoch bemerkt er über das Thema der Kunst der Fuge lediglich, „dass alle … vorkommende verschiedene Gattungen von Fugen und Contrapuncten über eben denselben Hauptsatz aus dem D moll … gesetzt sind“5. Kein Wort über dessen Beschaffenheit, seine melodische Gestalt und Fugentauglichkeit! Marpurgs Fugenlehrbuch befaßt sich auf nur vier von insgesamt 333 Seiten mit „der Beschaffenheit eines Fugensatzes oder dem Führer“, also mit dem Dux6. Man solle eine „edle und singbare Einfalt“ beachten. Das ist die Terminologie der Bach-Söhne-Generation: Marpurg ist 1718 geboren. Und die Melodielehre interessierte sich für anderes als für Fugenthemen. – Die Abhandlung von der Fuge steht an einem Endpunkt; trotzdem war auch ihr – mit Fux durchaus vergleichbar – eine beträchtliche Zukunftswirksamkeit beschieden: Bald folgten eine französische und eine italienische Übersetzung; noch 1843 gab Simon Sechter sie neu heraus; und Robert Schumanns Beschäftigung mit Bachs Kunst der Fuge wurde durch Marpurgs Abhandlung angeregt7. Das vorläufige Ende der Fuge als Kompositionsgattung um 1750 bedeutete also kein Ende der Fugenlehre als Teilgebiet satztechnischer Unterweisung. Generalbaß Der Generalbaß besaß für Bach, zumal für ihn als Lehrer, Primat im Rahmen der musikalischen Satzkunst. Er nannte ihn „das vollkommenste Fundament der Music“. Die im Generalbaß angelegte, harmonisch ergänzbare, übergeordnete Zweistimmigkeit taugte als satztechnisches Regulativ für den zwei- bis 4 Zitiert nach W. Kolneder, Die Kunst der Fuge. Teil IV: Kritische Chronologie, Wilhelmshaven 1977, S. 475. 5 Ebenda, S. 458. 6 P. Benary, Die deutsche Kompositionslehre des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1961 (= Jenaer Beiträge zur Musikforschung 3), S. 131. 7 Vergleiche Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd 12, Kassel Basel 1965, Sp. 280. Peter Benary vielstimmigen Kontrapunkt, für den vierstimmigen Choralsatz, für die Harmonik – Rameau erlangte für Bach keine Bedeutung – und für die Melodik –, diese verstanden im Sinne linearer Stimmführung wie auch als führende Oberstimme im homophonen Satz. Hugo Riemanns Begriff „Generalbaßzeitalter“ suggeriert ein Ende des Generalbasses um 1750. Er überlebte aber als Begleitpraxis im kirchenmusikalischen Bereich bis weit ins l9. Jahrhundert hinein und auch im Rahmen allgemein musikalischer Unterweisung, wo er oft einen methodischen Ausgangspunkt bildete; so etwa in Daniel Gottlob Türks in den 1780er und 90er Jahren erschienenen Schriften zum Klavierspiel. Die harmonische Schlichtheit, wie sie dem Handstück und Lied seit etwa 1730 eigen war, ließ sich zwanglos vom Generalbaß her erfassen. Dennoch hörte er in der Folgezeit auf, jenes Sammelbecken für Kontrapunkt und Linearität, für akkordisches und polyphones Satzgeschehen zu sein, das er für Bach noch bedeutete. Er schrumpft zu einem Teilgebiet oder zu einem Propädeutikum. Diese Entwicklung läßt sich verkürzt, aber symptomatisch an den Titeln zweier Lehrschriften ablesen, die um 1750 erschienen; zum einen an Georg Andreas Sorges Vorgemach der musicalischen Composition oder: Ausführliche, ordentliche und vor heutige Praxin hinlängliche Anweisung zum General-Bass, durch we1che ein Studiosus musices zu einer gründlichen Erkänntnis aller in der Composition und Clavier vorkommenden con- und dissonirenden Grundsätze .... kommen, folglich nicht nur ein gutes Clavier als ein Compositor extemporaneus spielen lernen, sondern auch in der Composition selbst wichtige ... Profectus machen kann; zum andern an Johann Friedrich Daubes Generalbass in drey Accorden, womit in heutiger Terminologie der Tonika-Dreiklang, der Dominantseptakkord und der Subdominant-Dreiklang mit Sixte ajoutée gemeint waren. Zwar sind diese beiden Schriften dicht nacheinander, 1745 und 1756, erschienen, aber Sorge, 1703 geboren, war eine Generation, genau 30 Jahre, älter als Daube. Altersmäßig zwischen ihnen steht Johann Philipp Kirnberger, 1721 geboren; er war 1739/41 Bachs Schüler. Er sieht 1771 weder im Generalbaß noch im zweistimmigen Kontrapunkt den methodischen Ausgangspunkt seiner Kunst des reinen Satzes, sondern im vierstimmigen Satz; denn „man tut am besten, dass man bei dem vierstimmigen (sc.Kontrapunkt) anfängt, weil es nicht möglich ist, zwei- oder dreistimmig vollkommen zu setzen, bis man es in vier Stimmen kann. Denn da die vollständige Harmonie vierstimmig ist, ... so kann man nicht eher mit Zuverlässigkeit beurteilen, was in den verschiedentlich vorkommenden Fällen von der Harmonie wegzulassen sei, bis man eine vollkommene Kenntnis des vierstimmigen Satzes hat“8. Indem er von Weglassen spricht, vertritt Kirnberger hier 8 Zitiert nach P. Benary, Die deutsche Kompositionslehre des 18. Jahrhunderts, a. a. O., S. 124. Zur musikalischen Satztechnik in Theorie und Praxis um 1750 eine strikte Gegenposition zu seinem Lehrer; denn Bach wäre zweifellos die Frage wichtiger gewesen, wie man von der mit Sopran und Baß gegebenen Zweistimmigkeit zur Vielstimmigkeit gelangen könne. Man hat um 1750 immer wieder gefragt, ob die Melodie die Mutter der Harmonie oder ein umgekehrtes Verwandtschaftsverhältnis anzunehmen sei. Joseph Riepel meinte 1755: „Ohne Kenntnis des Gesanges ist mit dem Basse nichts auszurichten“9, Georg Andreas Sorge dagegen 1747: „Die Harmonie zeuget eine Tochter, das ist die Melodie“10, und Caspar Ruetz, einer der klügsten damaligen Autoren, meinte 1754: „Der Gesang hat sein Wesen für sich selbsten, wenn auch keine Harmonie hinzu kommt“11. Die Beachtung, die man der Frage nach einem melodischen oder harmonischen Primat schenkte, belegt den Verlust der für Bach noch selbstverständlichen Korrelation der Außenstimmen sowie des Gleichgewichtes zwischen vertikalen und horizontalen Satzstrukturen, das sich für ihn im Generalbaß manifestierte. Andererseits ist die Frage nach einem Primat von Gesang oder Baß keineswegs belanglos, wenn man bedenkt, daß Jean Philipp Rameau von der These ausging, die Durtonleiter stelle eine horizontale Entfaltung der drei funktionalen Grundharmonien dar und daraus folgerte, die Melodie werde aus der Harmonie geboren12. Die Ziffern der Generalbaßschrift waren zunächst unmittelbar verständliche Symbole der Kon- und Dissonanzen im Sinne kontrapunktischer Intervallverträglichkeit; später wurden sie zu Abkürzungen für Akkorde. Analoges ereignete sich in der Kontrapunktlehre: Die prinzipielle Zweistimmigkeit, die auch den mehrstimmigen Kontrapunkt regelte, verkürzte sich zu einer Intervallik, die einen Akkord repräsentierte oder supponierte. Der Übergang vom Intervallsatz zum Akkordsatz bedeutete weniger eine Schwächung der mit den Außenstimmen gegebenen Satzklammer als deren Umdeutung und Neubewertung. Der Generalbaß verlor die ihm immanente Kontrapunktik; aus dem „vollkommensten Fundament der Music“ wurde satztechnisch ein Surrogat der Harmonik und klavieristisch ein Propädeutikum. Das satztechnische Gleichgewicht von Horizontale und Vertikale ging zugunsten eines Vorrangs von Melodie oder Harmonie verloren. 9 10 Ebenda, S. 88. Ebenda, S. 104. 11 C. Ruetz, Sendschreiben eines Freundes an den andern über einige Ausdrücke des Herrn Batteux von der Musik, 1754; zitiert nach P. Benary, Vom Als-ob in Musik und Musikanschauung des 18. Jahrhunderts, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis XIII, 1989, S. 107. 12 Vergleiche C. Dahlhaus, Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Zweiter Teil, Deutschland, Darmstadt 1989 (= Geschichte der Musiktheorie, Bd 11), S. 64. Peter Benary Harmonik Über den Harmoniker Bach ist viel geschrieben worden. Dabei standen meistens Erscheinungen im Vordergrund, die für die Bach-Zeit erstaunlich und in Bachs Schaffen als affektive oder textbezogene Ausnahmen selten sind. Sie betreffen vor allem Alteration, Enharmonik, Dissonanzschärfe und Dissonanzhäufung. Eine andere Einschränkung erfährt die Literatur zu Bachs Harmonik insofern, als sie oft von Begriffen und Deutungen ausgeht, die mit denen der Bach-Zeit wenig oder nichts zu tun haben. Näher an Bachs Harmonik führt die Frage nach seinem tonalen Verständnis kirchentonaler Melodien, wie es sich an deren Harmonisierung zeigt, sowie nach dem Verhältnis von Horizontale und Vertikale im mehrstimmigen Satz, also nach den harmonischen Konsequenzen des Kontrapunkts. Jean Philipp Rameau hat als Musiktheoretiker keine Bedeutung für Bach gewonnen; auch betrifft Rameaus musiktheoretische Leistung nicht die Harmonik, sondern die Harmonielehre; und wie weit diese voneinander entfernt sein können, zeigt sich gerade bei harmonischen Analysen Bachscher Werke, zumal seiner Choralsätze, mit den Mitteln und Begriffen der funktionalen Harmonielehre, die auch in der Folgezeit, ähnlich wie die Lehrschriften zu Generalbaß und Kontrapunkt, keine kompositionspraktische Bedeutung erlangte. Zweifellos verlaufen von Johann Sebastian zu Philipp Emanuel Linien der Vorbildhaftigkeit und Einflußnahme, gewiß aber auch solche der Abgrenzung; zugleich ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, diese Linien im einzelnen zu verfolgen und nachzuweisen. Das kompositorische Format Carl Philipp Emanuels zwingt dazu, in jedem einzelnen Fall Abhängigkeit und Eigenständigkeit, epochen- und individualstilistische Elemente gegeneinander abzuwägen; so etwa die auffallende Häufigkeit von Molltonarten bei Philipp Emanuel, und zwar bereits in seinem frühen Schaffen und nicht erst in den Jahren des „Sturm und Drang“, als Moll zu den bevorzugten Ausdrucksmitteln gehörte. (In seinen Solokonzerten verhalten sich Dur- zu Mollwerken wie 40:16, in den Triosonaten sogar wie 25:11.) Moll und Fantasie verbinden sich bei Philipp Emanuel (auch außerhalb der Gattung Fantasie) oft zu einer Schroffheit der Tonsprache, zu der die Harmonik wesentlich beiträgt. Da Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann Bach sowie Johann Gottfried Müthel die einzigen Musiker mit kompositorischem Format waren, die Vater Bachs künstlerisch-musikalische Vorstellungswelt aus persönlicher Nähe kannten, muß die Beantwortung der Frage nach einem Nachwirken der Harmonik Johann Sebastians bei ihnen ansetzen; da bleibt noch viel zu tun. Wenigstens an einem Beispiel sei die Harmonik Bachs in satztechnischer Hinsicht erörtert, und zwar am Präludium b-Moll aus dem l. Band des Wohltemperierten Klaviers, das heißt an dessen berühmter Steigerung zum neun Zur musikalischen Satztechnik in Theorie und Praxis um 1750 stimmig gesetzten verminderten Septakkord. Notenbeispiel 13 Heinrich Besseler13 sprach von etwas Neuem, bisher Unerhörtem, von Dynamisierung der Musik von innen heraus, von individuell-persönlichem Musikerlebnis, von der Umwandlung der bisherigen ‚Strukturform‘ in eine neue ‚Erlebnisform‘, von ,Entladung‘ gar, – ein Wort, das im Umkreis des „Sturm und Drang“ aufkam. – Hans Heinrich Eggebrecht14 dagegen meinte, dieses Präludium könne wesentlich von der Begrifflichkeit des 17. Jahrhunderts her angesprochen werden, es habe seinen Ort in der barocken Kompositionslehre, zumal der Figurenlehre; die Harmonik sei zwar der modernste Faktor dieser Takte, aber dieses Neue stehe nicht in Widerspruch zu den traditionellen Figuren, es gäbe nichts auf, es sei in die alte Welt hineingeschaffen. Es geht hier nicht darum, welche Sicht mehr oder weniger zutrifft; die Gegenüberstellung sollte vielmehr zeigen, daß hier (und nicht nur hier) Bachs Musik im Sinne eines Noch u n d Schon interpretiert werden kann und, wenn man ihrem historischen Ort gerecht werden will, von diesem Noch und Schon her gedeutet werden m u ß. Der Vorteil der vergangenheitsbezogenen Deutung besteht in ihrer Verläßlichkeit, indem die Vergangenheit bekannt, die Zukunft unbekannt ist. Der Vorteil der zukunftsbezogenen Deutung besteht darin, daß immanente Momente zutage treten. Der Nachteil der vergangenheitsbezogenen Sicht besteht in der Vernachlässigung jener Erscheinungen, die als Ausdruck eines Genies ihrer Zeit voraus sind. Der Nachteil der zukunftsorientierten Sicht besteht in der Neigung zu unbeweisbaren Spekulationen. Zweifellos ist die Harmonik, zusammen mit dem Crescendo-Effekt der zunehmenden Stimmenzahl, der „modernste Faktor“ dieser Takte. Der verminderte Septakkord, den Bach wohl als erster nicht nur als harmonischen Ziel- 13 H. Besseler, Bach als Wegbereiter, in: Archiv für Musikwissenschaft XII, 1955, S. 25. 14 H. H. Eggebrecht, Über Bachs geschichtlichen Ort, a. a. O., S. 532 f. Peter Benary punkt vor einer Schlußkadenz, sondern im Sinne und mit dem Effekt eines affektiven Höhepunkts verwendet hat – man denke an das „Barabbam“ der Matthäus-Passion oder an die g-Moll-Orgelfantasie (BWV 542) –, behielt auch in der Folgezeit diesen Ausdruckswert; erinnert sei beispielsweise an die Comthur-Szene in Mozarts Don Giovanni, an die Schreckensfanfare in Beethovens IX. Sinfonie, an den „Wolfsschlucht-Akkord“ bei Weber – oder, näher liegend, – an viele Kompositionen Carl Philipp Emanuels und Müthels. Daneben nutzt sich der Dissonanzgrad ab; die Wendung I – (VII7) : V verliert die ihr ehedem eigene Expressivität. Alteration und Enharmonik bleiben auch nach Bach Ausnahmeerscheinungen der Harmonik. Die Dissonanzschärfe resultiert bei Bach meistens aus rigoroser Linearität, später aus akkordischer Harmonik. Die Dissonanzhäufung, das heißt die Aufeinanderfolge mehrerer dissonanter Intervalle, resultiert bei Bach ebenfalls aus einer konsequent linearen Stimmführung, Notenbeispiel 14 nach Bach kommt sie in derart kontrapunktisch geregeltem Zusammenhang kaum mehr vor. Die Bedeutung, die der Harmonik in Bachs Tonsprache zukommt, und die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen steht in einem geradezu grotesk anmutenden Mißverhältnis zu dem, was die Harmonielehren des 18. Jahrhunderts enthielten, womit nicht die Bemühungen um eine Systematik der Harmonik und um ihre Begründung aus „natürlichen“ Gegebenheiten gemeint sind, sondern die erörterten Akkordformen und Akkordverbindungen. Die Kluft zwischen Kompositionspraxis und Musiktheorie war wohl nie so groß wie zur BachZeit. Der Weg, der von Bachs Harmonik zu derjenigen der Bach-Söhne-Generation und der Wiener Klassiker führt, ist noch wenig erforscht worden – vielleicht weil es fraglich ist, ob sich überhaupt eine Entwicklungslinie abzeichnet und nachweisen läßt. Bachs Harmonik läßt sich mit den Begriffen und im Sinne der Harmonielehre seit Rameau weder vollständig noch gültig erschließen; zu sehr wurzelt sie noch im Intervallsatz; zu sehr ist sie von einem Gleichgewicht vertikal-akkordischer und horizontal-linearer Strukturen geprägt, als daß eine Akkordlehre ihr gerecht werden könnte, bei der „gute Zur musikalischen Satztechnik in Theorie und Praxis um 1750 Stimmführung“ nur noch wenig mit der vorherigen kontrapunktischen Linearität zu tun hat. Auch kirchentonale Cantus firmi lassen sich mit der funktionalen Harmonik der Dur-Moll-Tonalität nicht ohne weiteres in Einklang bringen. Melodik und Melodielehre Größer noch als der Abstand zwischen Harmonik und Harmonielehre war um 1750 derjenige zwischen Melodik und Melodielehre. Mit dieser verhält es sich in mehrerlei Hinsicht merkwürdig und widersprüchlich. Einerseits gehört sie – von Johann Mattheson (Kern melodischer Wissenschaft, 1737) über Christoph Nichelmann (Die Melodie nach ihrem Wesen sowohl als nach ihren Eigenschaften, 1755) und Joseph Riepel (Grundregeln der Tonordnung insgemein, 1755) bis zu Heinrich Christoph Koch (Versuch einer Anleitung zur Composition, 1782/93) – zu den originelleren Erscheinungen der Musiktheorie im 18. Jahrhundert; andererseits rannte sie insofern offene Türen ein, als ihre Forderung nach einem „überall herrschenden Cantabile“ (Johann Adolph Scheibe), also nach liedhafter Oberstimmenführung in Brunette, Air tendresse, Generalbaßlied und frühem Singspiel bereits erfüllt war und ebenso ihre Forderung nach einer „rednerischen Anzahl der Täcte“ (Ernst Gottlieb Baron), also nach periodischer Gliederung, nach paartaktigem Phrasenbau in den Tanzsätzen der Suiten und im Lied. Einerseits hat Joseph Riepel die Schriften zur Melodielehre von Mattheson und Nichelmann in der Verbindlichkeit der Anweisungen beträchtlich übertroffen; andererseits die allzu anspruchsvoll „ars combinatoria“ genannte, in banal rationalistischer Systematik befangene Permutation kleingliedriger Melodiebausteine seitenlang ausgebreitet, während Johann Philipp Kirnberger (Der allzeit fertige Polonoisen- und Menuettenkomponist, 1757) sie mit Ironie bedacht hat: „Sollte jemand sich finden, welcher diese Kleinigkeit mit einem spöttischen Lächeln beehren wollte: so gesteht der Verfasser aufrichtig, dass er selbst der erste gewesen, welcher recht herzlich gelacht hat, als ihm … die Ausführung dieses Unternehmens … so gut gelungen war“15. Einerseits steht die Melodielehre um die Jahrhundertmitte in engem Zusammenhang mit der Geschmacksbildung; daher kommt sie auch in Publikationen zur Sprache, die sich nicht primär mit Melodik befassen. Andererseits war sie wohl mehr ein Symptom des musikalischen Denkens um 1750 als eine eigentliche Lehre oder Theorie. Insoweit die Musik der Mannheimer und 15 Zitiert nach P. Benary, Ästhetik und Musiktheorie um 1750, in: Studia Philosophica 43, 1984, S. 153. Peter Benary Wiener Frühklassik der gleichen Ästhetik entsprang und entsprach, so doch gewiß nicht als Frucht eines Studiums der Schriften zur Melodielehre. Die Periodizität war ein integrierender Bestandteil der Melodielehre, der dann bei Heinrich Christoph Koch in Gestalt der Formenlehre eine beachtenswerte, weil zukunftswirksame Bedeutung im Rahmen der Kompositionslehre erlangte; doch war die Periodizität seit Jahrhunderten ein Charakteristikum von Lied und Tanz. Daß Bach, wie schon erwähnt, eine periodisch gegliederte Melodik auch in die Fugenthematik übertrug, ist zwar für Bach bemerkenswert, blieb jedoch für die Melodielehre als Teilgebiet der Kompositionslehre belanglos, da sie an Fuge und Kontrapunkt kein Interesse hatte. Die Melodielehre verdrängte zwar die Kontrapunktlehre, ohne sie jedoch in satztechnischer Hinsicht verdrängen zu können; denn weder war sie eine theoretisch fundierte Lehre, weshalb es auch zu keiner internen Diskussion kam, noch war sie in ihrer stilistischen Symptomatik eine dem Kontrapunkt vergleichbare satztechnische Disziplin. Die Schriften zur Melodielehre nahmen zwar nirgends auf Bach und seine Musik Bezug, hätten dazu aber allen Grund gehabt. Schon 1723 fordert Bach im Titel seiner Inventionen „eine cantable Art im Spielen“ und nennt damit das zentrale Stichwort der Bemühungen um Geschmacksbildung, in deren Rahmen die Melodielehre zu sehen ist. In nahezu allen Gattungen hat Bach immer wieder zu einer liedhaft-periodisch gegliederten Melodik gefunden, die den Forderungen und Idealen der Melodielehre genau entsprach; dies zumal auch und besonders interessant wegen der vokalen wie instrumentalen Tauglichkeit in vielen Arienthemen samt Instrumentalritornell; dies freilich auf einem Niveau, das den Autoren der Melodielehren versagt war, die im übrigen Bachs Kantaten kaum gekannt haben dürften. Der Schritt von Begriff und Erscheinung der Periodizität zur Theorie und Lehre vom Rhythmus ist nicht groß; doch würde deren sachliche und begriffliche Vielfalt eine Ausführlichkeit erfordern, die sich im hier gegebenen Rahmen verbietet16. Das gleiche gilt für den Begriff der Rhetorik, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Bedeutung annahm, die mit der barocken Oratorie nicht mehr viel zu tun hatte. Dazu ein Zitat aus Johann Nikolaus Forkels Einleitung zu seiner Allgemeinen Geschichte der Musik (1788): „Zu einer Zeit ... in welcher der Vollkommene Capellmeister erschien, war die Musik noch nicht von der Beschaffenheit, dass sich eine zusammenhängende Rhetorik aus ihr hätte abstrahieren lassen. Es fehlte ihr nicht nur Feinheit und Geschmack, sondern auch ... derjenige Zusammenhang ihrer Teile, die sie ... erst 16 Verwiesen sei auf das Kapitel ‚Metrik und Rhythmik‘ in: C. Dahlhaus, Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert, a. a. O., S. 157-203. Zur musikalischen Satztechnik in Theorie und Praxis um 1750 zu einer förmlichen Empfindungsrede machte“17. Erstaunliche Sätze des Verfassers einer Musikgeschichte! Hier aber interessiert, daß Forkel Rhetorik als Empfindungsrede bezeichnet, ein Begriff, der den Abstand zur Oratorie im Sinne von Matthesons „Klang-Rede“ deutlich macht. Er läßt aber auch fragen, ob Bachs Musik dank der Spannweite ihrer Ausdrucksmittel nicht auch diese, ihm terminologisch noch unbekannte, spätere Rhetorik-Bedeutung einschloß. Es würde keine Mühe bereiten, eine große Zahl von Beispielen, auch hier vor allem aus Arien, zu nennen, die in ihrer Expressivität mit dem Wort Empfindungsrede durchaus angemessen umschrieben wäre18. Damit wird abermals eine Sicht Johann Sebastian Bachs angesprochen, die Vergangenheit u n d Zukunft, Tradition u n d Progression einbezieht. – Die musikalische Satztechnik, wie sie sich um 1750 in Theorie und Praxis präsentiert, spiegelt den auf mehreren Ebenen sich vollziehenden Stilwandel, der die erwähnte Epoche zwischen Barock und Klassik prägt. Sie ist weniger durch Erscheinungen und Tendenzen bestimmt, die sich auf Bach zurückführen lassen, als durch Ideen und Ideale, die die Bach-Söhne-Generation verfolgte, durch Konsequenzen, die sich aus Rameaus Theorien ergaben, durch das Ideal einer vokalen oder quasi-vokalen Melodik sowie durch Bestrebungen der Ästhetik, der Geschmacksbildung und des Rationalismus, die ebenfalls der Bach-Söhne-Generation mehr als der Zeit Johann Sebastian Bachs entsprachen. Die Kurve, die Bachs kompositorisches Schaffen beschreibt, führt unter satztechnischem Aspekt allenfalls bis etwa 1735 von Altem zu Neuem; danach kehrt sie auf neuer Ebene zu älteren Traditionen zurück. Daher läßt es sich nicht einheitlich vergangenheits- oder zukunftsbezogen bestimmen. Bachs kompositorisches Schaffen übersteigt die satztechnischen Traditionen des Barock, in denen es wurzelt, wie es sich andererseits nicht mit den satztechnischen Neuerungen der nachfolgenden Generation identifizieren läßt, zu denen es gleichwohl in einem genau kaum zu bestimmenden Ausmaß beitrug. 17 Zitiert nach P. Benary, Vom Als-Ob in Musik und Musikanschauung des 18. Jahrhunderts, a. a. O., S. 107. 18 So zum Beispiel „Mein Jesus will es tun“ in BWV 72; „Schlummert ein, ihr matten Augen“ in BWV 82; „Beglückte Herden Jesu Schafe“ in BWV 104; „Sein Allmacht zu ergründen“ in BWV 128, von Max Reger als Thema seiner Bach-Variationen, op. 81, verwendet.