Karl Schönherr Der Weibsteufel Für unser Stück heute Abend stehen wir vor einer recht besonderen Ausgangslage: Karl Schönherrs „Weibsteufel“ ist als Text nicht aufzutreiben gewesen. Es gibt das Drama weder im Buchhandel noch in den Suchmaschinen der Antiquariate, welche doch mehrere Millionen Bücher anbieten. Ich habe dann den Text von den „Theatergastspielen Fürth“ erhalten und ihn dann nach langem Suchen auch irgendwo versteckt im Internet gefunden. Das alles wäre ja noch nicht so aussergewöhnlich. Aber aussergewöhnlich ist es doch, dass ein Stück, das weder im Buchhandel noch im Antiquariat erhältlich ist, in dieser Spielzeit in zehn Theatern aufgeführt wird, in Bern, im Residenztheater in München, am Burgtheater in Wien und auf vielen weiteren Bühnen. Auch wurde das Stück verfilmt. Was ist das für ein Drama, das einerseits im ganzen deutschen Sprachraum aufgeführt wird, aber als Buch nirgends erhältlich ist. Es wird heuer hundert Jahre alt, das mag eine Erklärung sein, die aber nicht viel weiter hilft. Meine Damen und Herren! Vielleicht zeigt sich darin etwas, was für das Theater und vor allem für das Dramatische wichtig ist: Man soll Stücke nicht lesen, man soll sie auf der Bühne sehen! Ein gutes Drama ist nicht fürs Lesen gedacht, sondern für die Aufführung. Dort soll es sich entwickeln und dort soll es Eindruck machen, auf der Bühne zeigt sich seine Qualität und nicht bei der Lektüre. Das ist für das Drama etwas ganz Zentrales. Gut, es ist natürlich nicht immer möglich, was man gerne kennen würde, gleich auf der Bühne zu sehen, so dass wir halt doch, gerade wir Deutschlehrer, zur Lektüre Zuflucht nehmen müssen. Aber ich bin jedes Mal wieder neu erstaunt, wie ganz anders klassische Dramen wirken, wenn wir sie sehen. Wir kämpfen uns pflichtbewusst etwa durch Schillers „Tell“ oder Lessings „Nathan“, wenn wir sie dann aber auf der Bühne sehen, sind es ganz andere Stücke, eine Unzahl von Fragen stellt sich gar nicht mehr, plötzlich ist dieselbe Handlung, durch die wir uns lesend haben durchbeissen müssen, höchst spannend. Ein gutes Theaterstück ist auf die Aufführung angelegt, nicht auf die Lektüre. Es gibt ja auch sogenannte „Lesedramen“, die eben auf die Lektüre angelegt sind und nicht auf die Aufführung. Dort ist es umgekehrt. Die Lektüre ist spannend, die Aufführung langweilig, weil der Autor eben das eminent Dramatische, das Sichtbarmachen auf der Bühne, nicht in den Vordergrund stellt. Diese Ausgangslage, meine Damen und Herren, haben wir heute Abend. Es macht gar nichts, wenn der „Weibsteufel“ als Text nicht erhältlich ist. Man muss das Stück nicht lesen. Es ist derart wirksam auf der Bühne, dass die Lektüre eigentlich keinen Vorteil bringt. Diesen Gedanken müssen wir noch weiterspinnen. Ich möchte Ihnen aber zuerst den Inhalt des Stücks kurz erzählen, damit Sie besser beurteilen können, was ich meine. Wir befinden uns in den Tiroler Alpen, in einer eher ärmlichen Wohnung eines Ehepaares. Die Ärmlichkeit ist jedoch bloss vorgetäuscht, denn das Ehepaar lebt vom einträglichen Schmuggel. Der Ehemann ist körperlich ein dürftiges, schwächliches Mensch, ein „Saugflaschenmandl“ wird er genannt. Aber wie es oft ist, der Mann kompensiert seine körperliche Dürftigkeit mit Schlauheit und Verschlagenheit, die auch nötig ist, wenn man als Schmuggler erfolgreich sein will. Seine Frau dagegen ist eine Schönheit, strotzt vor Kraft, Gesundheit und Weiblichkeit. Sie ahnen den Konflikt bereits, meine Damen und Herren. Das Paar ist kinderlos. Der Mann eröffnet nun seiner Frau, dass er vom Schmuggel nun fast genug Geld zusammengerafft habe, um das schöne Haus am Marktplatz in der Kreisstadt zu kaufen. Die Schmuggelware versteckt er jeweilen unter dem Fussboden in der Stube. Karl Schönherr: Der Weibsteufel Ein neuer Polizeikommandant will nun aber den Schmugglern endgültig das Handwerk legen. Er hat den Mann schon lange im Auge und er beauftragt nun einen neuen Grenzwächter zu einer List. Dieser soll sich an die junge, schöne Frau heranmachen, um ihr in einem Schäferstündchen die für eine Verhaftung nötigen Geheimnisse zu entlocken. Der Jäger geht auf dieses unmoralische Ansinnen seines Chefs ein, denn er erhofft sich eine Beförderung, „ein „Sterndl mehr“ an seinem Kragen, wenn er die Informationen beschafft. Der Mann hat aber von diesen Plänen der Polizeit erfahren und er zwingt nun seine Frau, den Spiess gleichsam umzukehren und dem gesunden und kräftigen Grenzjäger mindestens so lange schöne Augen zu machen, bis er die Schmuggelware in Sicherheit gebracht hat. Das kann nicht gut gehen! Die Frau sträubt sich anfänglich, aber als der Grenzjäger kommt, erwachen in beiden die Sinne und aus dem Plan wird mehr und mehr bitterer Ernst. Der Jäger wehrt sich gegen die Umstrickung, öffnet mit Gewalt in der Stube eine Truhe, in der er Schmuggelgut vermutet. Als er darin aber nur Kinderkleidchen und Windeln findet, ahnt er die Sehnsucht der unbefriedigten Frau. Noch kann er widerstehen und verlässt das Haus. Noch einmal gelingt es ihm, die Pflicht über die Leidenschaft zu stellen. Er droht mit einer Anzeige. Auch die Frau – oder das Weib, wie es im Stück immer genannt wird – weiss, dass sie dem Burschen nicht mehr lange wird widerstehen können. Unterdessen hat der Mann den Keller leergeräumt und ist ganz vergnügt, dass seine Frau mit so grossem Erfolg auf seinen Plan eingegangen ist. Dass aus der Sache Ernst werden könnte, merkt er nicht. Der weitere Verlauf des Dramas, meine Damen und Herren, ist klar. Es kommt natürlich so, wie es kommen muss. Der Jäger hat keine Anzeige erstattet, er kommt wieder ins Haus, um die Truhe, die er beim letzten Mal zerstört hat, zu bezahlen. Die Spannung in diesem Dreieck wird unerträglich und es kommt zu Tätlichkeiten. Der Mann merkt nun endlich, dass sein Haus brennt und er macht der Frau Vorwürfe. Diese aber verhöhnt ihn und sagt, dass er sein Haus selber angezündet habe. Nun eskaliert die ganze Sache. Der Grenzjäger und die Frau suchen nach einem Weg, den Mann loszuwerden, ein gütliche Trennung ist nicht möglich. „Erschlag ihn!“ sagt sie zu ihrem Liebhaber. Das „Jammermandl“ ist aber nicht untätig gewesen. Er hat den Jäger beim Kommandanten angezeigt. Der Beamte habe geschmuggelte Ware von seiner Frau als Geschenk angenommen. Der Jäger will nun nur noch eines: sich aus der Verstrickung zwischen Liebe, Trieb, Pflicht und Leidenschaft zu lösen und den Ort verlassen. So gesteht er seine Schuld beim Kommandanten ein, obwohl er gar nichts angenommen hat. Er will damit seine Strafversetzung erreichen, die ihn aus diesem Ort wegführen wird. Die Frau bittet ihn aber, noch einmal zu einem Abschiedstrunk herzukommen. Er lehnt ab. Da beginnt nun die Frau, besser das Weib, zu handeln. Bevor der Jäger geht, muss er ihr den „Schutthaufen, den Ehemann“, wie sie sagt, vom Halse schaffen. Wohlweislich lässt sie sich aber zuerst das Haus am Marktplatz, das der Mann inzwischen gekauft hat, testamentarisch überschreiben. Dann will sie sich, wenn sie beide Männer los ist, als junge Witwe mit einem „jungen Kraftkerl“ in das Haus am Marktplatz setzen. Der Jäger erscheint nun doch noch zum Abschiedstrunk und es kommt zum Äussersten. Mit einem wilden Tanz reizt das Weib die beiden Männer zu rasender Eifersucht, sie gehen mit dem Messer aufeinander los, diesmal ersticht der Jäger den Mann. Die Frau verhöhnt nun auch ihn: „“Ihr Mannsteufel! Euch ist man noch über!“ Das sind die letzten triumphierenden Worte des Dramas. In der ersten Fassung tötet der Jäger darauf auch noch die Frau. Das ist die Handlung! Einfach, geradlinig, keine Nebenhandlung, die Einheiten des Ortes und der Handlung sind gewahrt, die Einheit der Zeit auch einigermassen. 2 Karl Schönherr: Der Weibsteufel Wir haben also ein ganz einfaches Drama vor uns, eine Ausgangssituation, ein erregendes Moment, dann eine ungeheure Steigerung bis zur Katastrophe. Wir haben eingangs gesagt, dass wir den Gedanken, Theater müsse durch die Aufführung, durch das Gesehenwerden wirken. Das haben Sie hier in hohem Masse erfüllt. Das Stück ist dramaturgisch ausserordentlich geschickt gemacht, der arme Grenzjäger versucht in jedem der fünf Akte sich aus der Umstrickung und aus der sich abzeichnenden Katastrophe zu befreien und gerät mit jedem Schritt tiefer hinein. An den entscheidenden Stellen, an denen sich eine Wendung abzeichnen könnte, kommt immer wieder das Motiv des Hauskaufs zum Tragen und stachelt die Habgier der Frau an. Das ist ausserordentlich geschickt gemacht und man hat den Dramatiker Schönherr oft mit Ibsen und Strindberg verglichen. Die Erotik der Frau soll den materiellen Interessen der beiden Männer dienen, die Frau aber sprengt diese gleichsam ökonomischen Absichten, die sich da um ihren Körper herum aufbauen und bringt echte Gefühle und ihre Sehnsüchte und Verletzungen ins Spiel. Aus der Annäherung an den Jäger aus taktischen Gründen wird Leidenschaft und sexuelle Attraktion und aus der scheinbaren Grosszügigkeit des Ehemannes in Sachen Eroticis wird eine brennende Eifersucht. Dass die Rechnungen der beiden Männer nicht aufgehen, liegt einerseits natürlich in der Natur des Menschen, da sich Triebe und die Dynamik des Begehrens nicht unter Kontrolle bringen lassen. Andererseits wird die Frau sich plötzlich bewusst, wie unwert sie all die Jahre gehalten worden ist. Sie wird sich plötzlich ihres eigenen Wertes bewusst. Sie, die sie von den Männern zur Ware degradiert worden ist, erkennt nun ihren Wert und setzt ihn als Kampfmittel ein, sie steigert ihren Wert, setzt und tauscht ihn ein und schlägt am Schluss die Männer mit deren eigenen Mitteln. Die Frau hat zwar gesiegt, aber sie erscheint nicht geläutert, die Tatsache, dass sie ihres eigenen Wertes bewusst geworden ist, erhebt sie keineswegs in moralischem Sinne, was bleibt, ist die Habgier und die Lust. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich den Gedanken, dass Theater immer sichtbar macht, dass ich diesen Gedanken nochmals aufgreifen möchte. Sie werden heute Abend ein Stück sehen, das wahrhaftig die Entwicklung einer Frau vom Engel zur Valadine, zur Teufelin, sichtbar macht. Dies macht „der Weibsteufel“ in der Tat sichtbar. Aber es stellt sich die Frage, ob das denn genügt für ein Theaterstück? Wenn ich sage, Theater mache sichtbar, dann kann und soll man natürlich mit Recht fragen: was macht Theater sichtbar? Ein gutes Theaterstück macht immer innere Vorgänge sichtbar. Es zeigt Wirkungen und Wandlungen aus denen wir etwas lernen können. Ich meine das nicht in einem platten oder mechanischen Sinn. Etwas lernen kann man immer und überall und auch vom dümmsten Kerl. Und auch wenn ich sagen würde, ein gutes Theaterstück solle „zum Denken anregen“, so ist das ebenso ein Gemeinplatz. Der Zweck eines bedeutenden Stücks ist immer das „Erkenne dich selbst“. Sie sehen den Unterschied: es ist ein gewaltiger Unterscheid, ob ich nach einem Theaterbesuch nach Hause gehe und von der Schlechtigkeit der Frauen, die von Engeln zu Teufeln werden, nachdenke oder ob ich inne werde, dass da auf der Bühne von mir die Rede war. Das „erkenne dich selbst“ kann seine Wirkung nur entfalten, wenn wir Zuschauer uns in den Figuren wiederfinden, wenn wir uns mit ihnen identifizieren können. Wenn das möglich ist, dann sind wir auch in der Lage, die Handlungsweisen der Figuren zu verstehen und aus ihnen zu schöpfen. Wenn wir uns nicht identifizieren können, keine Empathie mit den Figuren empfinden, wenn uns die Figuren und ihre Art und Weise des Handelns fremd bleiben, dann geht auch das ganze Stück an uns vorbei. Empfinden wir Empathie, dann gibt uns das Stück etwas, was über die reine Unterhaltung hinausgeht. Und darauf kommt es letztlich an. 3 Karl Schönherr: Der Weibsteufel Theater ist immer religiösen Ursprungs. In allen Kulturen liegt dem Ursprung des Theaterspielens Kult und Liturgie zu Grunde. Der Zuschauer soll eingebunden werden in die Gemeinschaft des Glaubens. Gottesdienst ist denn auch der ursprüngliche Sinn der griechischen Tragödie. Die Tragödie ist ein Gottesdienst für den Gott Dionysos. Tragödie heisst Bocksgesang, weil die Böcke dem Dionysos heilig waren. Und der Sinn der Tragödie liegt darin, dem Zuschauer vor Augen zu führen, dass er in seinem Handeln und Tun nicht allein ist, dass auch die Helden fehl gehen in ihrem Denken und Handeln. Dass alles letztlich menschlich ist. Und in der Identifikation mit dem tragischen Helden konnte der Zuschauer gleichsam geläutert werden. Die griechische Tragödie hatte eine fast psychoanalytische Funktion. Der obligate Chor weist den Zuschauer immer wieder auf die menschlichen Verfehlungen der Figuren und Helden hin, zum Zwecke der Katharsis, der Läuterung. Damit diese Läuterung aber möglich ist, braucht es echte Tragik. Was ist das „echte Tragik?“ Der Held oder die Figur kommt in eine Situation, aus der es keinen Ausweg gibt. Er kommt in ein echtes Dilemma. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Sie kennen bestimmt Verdis „Aida“. Aida ist die Tochter des Königs von Äthiopien, lebt aber als kriegsgefangene Sklavin in Ägypten. Sie liebt den ägyptischen Heerführer Radames, der sich zum Kriegszug gegen ihr Volk rüstet. Das bringt sie in eine echt tragische Situation, aus der es keinen Ausweg gibt, es sei denn durch den Tod. Schlägt sie sich auf die Seite ihres Geliebten, dann verrät sie ihren Vater, ihr Volk und ihre Heimat. Stellt sie sich auf die Seite ihres Vaters und Volks, dann verrät sie ihre Liebe zu Radames. Ihre Situation ist ausweglos. Dazu kommt, dass sie aber ohne Schuld in dieses Dilemma gekommen ist. Sie kann weder etwas für ihre Liebe, noch etwas für ihre Herkunft. Sie ist unschuldig, macht sich aber schuldig, was immer sie auch tut. Das ist das Wesen des Tragischen und damit das Wesen der Tragödie: Ausweglose Situation und unschuldig schuldig sein. Aida ist eine tragische Figur, Schillers Don Carlos und Maria Stuart sind tragische Figuren. Aida entzündet in uns Empathie, wir werden inne, dass Leben und Lieben tragisch werden kann, dass wir alle auch immer in dieser Gefahr stehen. Auch wenn wir nicht gleich mit dem Leben bezahlen müssen, so kennen wir alle Situationen, aus denen wir uns nur lösen können, indem wir andere Menschen verletzen. Zu erkennen, dass dies zum Leben und seiner Dialektik gehört, das ist der Sinn der Tragödie. Denn darin liegt Trost und Hilfe. Sie wird uns aber von der Bühne her nur zu Teil, wenn wir uns auch mit den Figuren identifizieren können. Gelingt dies nicht, verlassen wir das Theater, ohne dass uns etwas zu Teil geworden wäre. Und hier nun, meine Damen und Herren, „klemmt es“ heute Abend. Können wir uns identifizieren mit einer dieser Figuren in diesem Stück? Können wir Empathie empfinden mit dem Weibsteufel? Das dürfte doch nicht einfach sein. Die Frau oder das Weib ist keineswegs in einer tragischen Situation! Sie steht nicht in einem ausweglosen Dilemma zwischen Liebe und Pflicht. Gewiss, sie ist jahrelang als Ware behandelt worden von dem „Saugflaschenmandl“ Sie ist als Frau verletzt und unbefriedigt. Aber eine tragische Figur ist sie keineswegs. Es gäbe hundert Auswege. Sie hätte ihren Mann verlassen können, sie hätte seine Strategie konsequent ablehnen können. Das tut sie alles nicht. Sie wird zur Teufelin und nimmt Rache am anderen Geschlecht. Habgier und Lust siegen. Am ehesten könnten wir uns noch mit dem Jäger identifizieren, der echt versucht, auch unter Schmerzen und zu seinem Nachteil aus der Sache heraus zu kommen. Es gelingt ihm nicht. Leidenschaft und Lust sind stärker. Hier haben wir Ansätze einer tragischen Figur. Mit ihm können wir mitleiden, in ihm können wir uns – zumindest teilweise – wiedererkennen. Der Schmuggler dagegen gibt uns gar nichts. Er ist ein Lump und wir empfinden kein Mitleid mit ihm. Also eine Tragödie, die uns gleichsam läutert, steht uns heute Abend nicht bevor. 4 Karl Schönherr: Der Weibsteufel Was ist es dann? Es gibt im Theater noch etwas anderes als Läuterung in der Tragödie, etwas anderes als Bildung, das Theater ist nicht nur eine „moralische Anstalt“. Um mit Schiller zu sprechen. Es ist auch och etwa anderes! Sie sind ja von mir schon einiges gewohnt. Und zur Erklärung dessen, was ich meine, möchte ich Ihnen einen Witz erzählen. Zwei Frauen – ihre Haarfarbe verrate ich Ihnen nicht – gehen ins Kino. Im Film steigt ein Mann im 27. Stock aufs Fensterbrett und schickt sich an, in die Tiefe zu springen. Starr vor Schreck wetten die beiden Frauen, ob er nun springt oder nicht. Noch ein Moment und dann springt er. Eine hat die Wette gewonnen, die andere verloren. Nach dem Kino gehen sie in die Bar, um noch etwas zu trinken. Da sagt diejenige, welche die Wette gewonnen hat: „Du ich muss dir etwas gestehen. Ich habe den Film schon mal gesehen. Aber ich hätte nie gedacht, dass er nochmals springt!“ Was soll dieser blöde Blondinenwitz, und was hat er mit unserem Stück zu tun? In der Tat gehen wir ins Theater und auch ins Kino, auch wenn wir genau wissen, was geschieht. Wir gehen in Schillers Maria Stuart, obwohl wir wissen, dass Maria am Ende hingerichtet wird. Wir gehen ins Theater, auch wenn wir wissen, dass Gessler keine Chance hat und dass Don Carlos am Ende stirbt. Dass Aida mit Radames eingemauert wird, wissen wir auch und trotzdem gehen wir hin. Wir können dagegen gar nichts machen. Mimi in der Bohème stirbt jedesmal, wir wissen es. Aber trotzdem ertappen wir uns im Laufe des Abends in der Hoffnung, es könnte alles gut gegen und die Liebenden würden nicht getrennt. Es gibt im Theater eben noch etwas anderes als die Läuterung durch die Tragödie, wir können auch noch durch etwas anderes im Theater als Zuschauer ernst genommen werden: Theater ist immer auch Unterhaltung und Spannung! Und wie unser Witz zeigt, werden wir unterhalten, auch wenn uns die Story bekannt ist. Unterhaltung ist etwas Wesentliches, wir achten es keineswegs gering. Gute Unterhaltung ist nichts Einfaches! Es ist eine hohe Kunst, gute Unterhaltung zu machen. So gute eben, dass wir hingehen, auch wenn wir den Ausgang kennen und es trotzdem spannend ist! Und das haben Sie heute Abend: Ein Theaterstück als beste Unterhaltung! Ein Stück, in welchem eine Schauspielerin und zwei Schauspieler brillieren können. Sie werden nicht durch eine Tragödie geläutert heute Abend, das Stück macht kaum innere Vorgänge sichtbar. Aber es ist beste Unterhaltung. Vieles an diesem Stück ist plakativ, vieles wird für meinen Geschmack zu dick aufgetragen. Die Wandlung des Weibs geht gar schnell von Statten und ihr Weg von der süssen und demütigen Gattin zur Teufelin ist nicht besonders tief und nachvollziehbar motiviert. Aber das macht nichts! Trotzdem: es ist beste Unterhaltung. Und es ist trotz allem auch eine Unterhaltung mit Niveau! Das Stück stellt hohe Anforderungen, es ist gut gemacht, es ist spannend, auch wenn man weiss, wie es ausgeht! Und wenn man vergleicht mit der Unterhaltung, die am Samstag Abend jeweilen im Fernsehen geboten wird, dann haben Sie sehr gut daran getan, heute hierher zu kommen! 5. Dezember 2015 5