POLITISCHER HINTERGRUNDBERICHT Projektland: Marokko Datum: Oktober 2016 Moderate Islamisten gewinnen erneut Parlamentswahlen in Marokko Mit den Worten "Heute hat die Demokratie gewonnen“ kommentierte der Vorsitzende Abdelilah Benkirane den Sieg seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) bei den Parlamentswahlen in Marokko. Mit knapp über 31 Prozent konnte die PJD deutlich mehr Stimmen als die liberale Partei für Authentizität und Modernität (PAM) erringen, die knapp 26 Prozent erhielt. König Mohammed VI. beauftragte gemäß Artikel 47 der Verfassung den Spitzenkandidaten der PJD mit der Regierungsbildung. Offen bleibt allerdings die Frage nach den Koalitionspartnern. Experten rechnen jedoch angesichts der anstehenden internationalen Ereignisse in Marokko, die mit dem Weltklimagipfel COP 22 im November ihren Höhepunkt erreichen, mit einer zügigen Regierungsbildung. Liberale PAM mit massivem Stimmengewinn Mit 125 der 395 Parlamentssitze liegt die moderat islamistische PJD zwar deutlich vor der Partei für Authentizität und Modernität (PAM), doch konnte der Newcomer der marokkanischen Parteienlandschaft mit 102 Sitzen seinen Anteil im Vergleich zu den Wahlen von 2011 mehr als verdoppeln. Eine außergewöhnliche Leistung für die liberal-säkulare PAM, die vor knapp zehn Jahren von einem engen Berater des marokkanischen Königshauses, Fouad Al Himma, gegründet wurde. Als größter Konkurrent der konservativen PJD versuchte sich die PAM im Wahlkampf vor allem mit einem wirtschaftsliberalen Modernisierungsprogramm und der Stärkung von Frauenrechten von der PJD abzugrenzen. Die Komplexität des marokkanischen Wählerverhaltens zeigte sich erneut daran, dass die modernistische PAM ihre Wähler überwiegend in den ländlichen und mitunter strukturschwachen Regionen mobilisieren konnte. Dagegen rekrutierte die PJD wie bei den Kommunal- und Regionalwahlen im Jahr 2015 ihre Stimmen vor allem aus der breiten Mittelschicht der Großstädte Casablanca, Rabat, Marrakesch, Fès und Tanger. Die historisch gewachsenen Parteien wie die nationalkonservative Istiqlal und die Sozialistische Union der Volkskräfte (USFP) mussten wie bereits im Jahr 2011 schwere Verluste hinnehmen. Auch die sozialistische Partei für Fortschritt und Sozialismus (PPS) schnitt deutlich schlechter ab als bei den letzten Parlamentswahlen. Die Föderation der demokratischen Linken (FDG), ein Hanns-Seidel-Stiftung_Marokko_Hintergrundbericht Oktober_2016 1 Zusammenschluss aus den Linksparteien PSU, CNI und PADS1, mit Nabila Mounib als einziger weiblichen Kandidatin an der Spitze, konnte immerhin zwei Parlamentssitze erzielen. Trotz der Unterstützung zahlreicher Intellektueller und eines vielversprechenden Parteiprogramms konnte die FDG mit ihrem elitärprogressiven Ansatz keine breite Wählerschicht in Marokko ansprechen. Verluste hatte auch die liberale Partei der Nationalen Versammlung der Unabhängigen (RNI) zu beklagen. In der letzten Legislaturperiode war sie Partner in der von der PJD geführten Regierungskoalition und stellte mit Salaheddine Mezouar immerhin das wichtige Amt des Außenministers. Der stark populistisch geprägte Wahlkampf hat gezeigt, wie sehr die marokkanische Parteienlandschaft von Klientelismus geprägt ist. So war für den Wahlerfolg der PJD weniger das Parteiprogramm, sondern vielmehr die Popularität des Spitzenkandidaten Benkirane ausschlaggebend. Anhaltender Politikverdruss Mit nur 43 Prozent lag die Wahlbeteiligung 2016 zwar etwas niedriger als bei den letzten Parlamentswahlen Ende des Jahres 2011 (45 Prozent), blieb aber im Gegensatz zum vorangegangenen Jahrzehnt über der 40-Prozent-Marke. Allerdings bemisst sich die Wahlbeteiligung auf Grundlage der 15,7 Millionen in den Wählerlisten registrierten Bürgerinnen und Bürgern. Das entspricht etwa 70 Prozent der insgesamt etwas mehr als 21 Millionen wahlberechtigten Marokkanerinnen und Marokkaner. So lag die reale Wahlbeteiligung im Verhältnis zu den Wahlberechtigen bei etwa knapp 30 Prozent. Der verbreitete Politikverdruss ist weiterhin auf das geringe Vertrauen der Bevölkerung in die parteipolitischen Eliten und auf die nur schwachen sozioökonomischen Verbesserungen trotz sozialpolitischer Reformen zurückzuführen. Hinzu kommt ein marodes öffentliches Bildungssystem, das internationalen Wettbewerbskriterien nicht standhält und eine zunehmende Desintegration des privaten Bildungssektors fördert. Damit werden die Entwicklung einer bildungspolitischen Zweiklassengesellschaft und die Schwächung sozialer Kohäsion weiter vorangetrieben. Ein unzureichender öffentlicher Gesundheitssektor und die anhaltend schlechte Arbeitsmarktlage für junge Studienabgänger sind weitere Faktoren für das politische Desinteresse großer Teile der marokkanischen Bevölkerung. Da die Stimmenabgabe laut Wahlgesetz nur persönlich und nicht per Briefwahl möglich war, blieb den knapp 5 Millionen im Ausland lebenden Marokkanerinnen und Marokkanern eine Teilnahme an der Wahl verwehrt. Darüber hinaus waren auf der Grundlage des Wahlgesetzes Beamte der marokkanischen Sicherheitsexekutive, darunter Armee, Polizei und Gendarmerie, ebenfalls nicht wahlberechtigt. Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet, politische Neutralität zu wahren. Auffallend hoch war die Wahlbeteiligung in den südlichen Provinzen, die in manchen Wahlkreisen über 75 Prozent erreichte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass in den Sahara-Provinzen traditionell gewachsene 1 Partei der sozialistischen Einheit (PSU); Nationaler Kongress Ittihadi (CNI); Partei der demokratischen und sozialistischen Avant-garde (PADS) Hanns-Seidel-Stiftung_Marokko_Hintergrundbericht Oktober_2016 2 Parteien wie die Istiqlal und USFP nach wie vor hohen Zuspruch genießen: ein Beleg für das klare Bekenntnis der Südprovinzen zum Königreich Marokko und zur territorialen Integrität des Landes und gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Polisario. Trotz der im Vorfeld angespannten Situation zwischen dem Innenministerium und der PJD gratulierte Innenminister Mohammed Hassad der PJD noch am Wahlabend zu ihrem Wahlsieg und hob die Transparenz sowie den reibungslosen Ablauf der Wahlen hervor. Dem für die Wahlbeobachtung zuständigen Nationalen Rat für Menschenrechte (CNDH) zufolge wurden bei den Wahlen nur wenige und statistisch nicht relevante Unregelmäßigkeiten verzeichnet. Während des Wahlkampfes rückte immer wieder die Debatte um den Begriff tahakoum in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, der in Anspielung an das Innenministerium und den einflussreichen Beraterstab des Königs auf die indirekte Kontrolle und Einflussnahme auf die öffentliche Politik verwies. In diesem Zusammenhang wurde im Vorfeld der Wahlen auch die Absenkung der Prozenthürde für den Einzug in das Parlament von 6 auf 3 Prozent kontrovers diskutiert. Die Kritik spiegelte sich in der Befürchtung einer Zersplitterung und Schwächung der politischen Parteienlandschaft wider. Doch trotz der Senkung der Prozenthürde ist die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien im Vergleich zu 2011 von 18 auf 12 Parteien gesunken. Mit 21 Prozent weiblichen Parlamentsabgeordneten ist der Frauenanteil unter den Parlamentariern leicht angestiegen. 60 der insgesamt 81 weiblichen Abgeordneten konnten dank der Quotenregelung ins Parlament einziehen. Koalitionsoptionen Einige Parteien haben im Nachgang der Wahlen bereits erste Konsequenzen gezogen. Saleheddine Mezouar, bisheriger Außenminister Marokkos, kündigte bereits zwei Tage nach den Wahlen seinen Rücktritt als Vorsitzender der Nationalen Versammlung der Unabhängigen (RNI) an. Zu möglichen Regierungskoalitionen haben sich die Parteichefs bisher noch nicht geäußert. Eine Koalition der moderat islamistischen PJD und der liberal-säkularen PAM scheint weiterhin unwahrscheinlich. Die Vorsitzenden beider Parteien hatten noch wenige Tage vor den Wahlen eine solche Option definitiv ausgeschlossen. So ist die Formierung der bisherigen Regierungskoalition (PJD-RNI-MP-PPS) oder ein Zusammenschluss der PJD mit der nationalkonservativen Istiqlal denkbar. Laut des renommierten Politikwissenschaftlers Mohammed Tozy sei auch eine Oppositionsregierung, bestehend aus der PAM, Istiqlal, USFP und der Konstitutionellen Union (UC) nicht auszuschließen, sollte die mit der Regierungsbildung beauftragte stärkste Partei nicht innerhalb der vorgegebenen Frist in der Lage sein, eine stabile Regierung zu bilden. In diesem Fall könnte der König mit Zustimmung des Verfassungsrates auch ein Mitglied der nicht stimmenstärksten Partei des Landes zum Regierungschef ernennen. Das wichtigste Ziel bleibt daher zunächst die Bildung einer stabilen Regierung mit einer zuverlässigen Mehrheit der Parlamentssitze. Dabei hat insbesondere für das Königshaus die sicherheitspolitische Stabilität Priorität. Sie ist Hanns-Seidel-Stiftung_Marokko_Hintergrundbericht Oktober_2016 3 Grundvoraussetzung für die Fortsetzung des politischen Reformkurses, vor allem im Hinblick auf die Regionalisierung und wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Dazu gehören in erster Linie der Ausbau eines nachhaltigen Tourismussektors sowie administrative und ökonomische Strukturreformen auf regionaler und kommunaler Ebene. Wie die meisten Staaten in der MENA-Region steht auch Marokko angesichts der demographischen Entwicklung einer jungen und hungrigen Bevölkerung innerhalb der nächsten Jahre vor enormen sozioökonomischen Herausforderungen. Marokko ist zudem das einzige Land in der Region, in dem moderate Islamisten als stärkste Kraft für eine zweite Legislaturperiode hervorgegangen sind, ohne dass dieses Resultat negative innenund gesellschaftspolitische Auswirkungen hätte. In dieser Hinsicht präsentiert sich das Land weiterhin als Ausnahme in der MENA-Region und zeichnet sich durch eine konsensorientierte und auf Ausgleich abzielende Politik aus. Die Hanns-Seidel-Stiftung in Marokko Mit einer programmatischen Grundsatzrede eröffnete König Mohamed VI. am 14. Oktober 2016 die parlamentarische Geschäftszeit nach der Sommerpause. Die zurückliegenden Parlamentswahlen nahm der Monarch zum Anlass, nicht nur die neu gewählten Abgeordneten auf ihr Mandat einzuschwören und sie mit Nachdruck an die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen des Landes zu erinnern; er übte darüber hinaus auch scharfe Kritik am politischen Handlungswillen mancher Mandatsträger. Zudem kritisierte er massiv die nach wie vor mangelhaften Strukturen in der öffentlichen Verwaltung, die nicht nur dem Bürger bereits auf kommunaler Ebene Entwicklungsmöglichkeiten verwehre, sondern vor allem auch das Wachstum einer klein- und mittelständischen Unternehmenskultur sowie nachhaltige Investitionen verhinderten. Gerade im Hinblick auf die von König Mohamed VI. genannten strukturellen Defizite unterstützt die Hanns-Seidel-Stiftung zusammen mit staatlichen Forschungseinrichtungen, der akademischen und nicht-akademischen Zivilgesellschaft die Regionalisierung und Stärkung der Verwaltungskompetenzen. Ziel ist dabei, sozioökonomische Inklusion auch in strukturschwachen Regionen anzustoßen. Im Rahmen der von 2017 bis 2020 laufenden Stabilitätsinitiative für Nordafrika, die Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) ins Leben gerufen hat, wird die Hanns-Seidel-Stiftung ab 2017 explizit „Transformationsökonomie und Regionalisierung“ fördern . Wesentliche Ziele des Projekts sind die Verbesserung unternehmerfreundlicher Rahmenbedingungen auf der Verwaltungsebene und Initiativen zur Diversifizierung des ökonomischen Sektors auf regionaler und kommunaler Ebene. In diesem Zusammenhang ist auch eine Informationsreise marokkanischer Wirtschaftswissenschaftler und Mitglieder der Zivilgesellschaft nach Bayern geplant, um sich über regionale Entwicklungsmöglichkeiten sowie die strukturelle Stärkung klein- und mittelständischer Unternehmen zu informieren. Vor dem Hintergrund der politischen Stabilität Marokkos und der demographischen Herausforderung des Landes sind wirtschaftspolitische Initiativen zum strukturellen Wandel dringend geboten. Dies hat auch König Mohamed VI. in seiner programmatischen Grundsatzrede vom 14. Oktober unmissverständlich deutlich gemacht. Hanns-Seidel-Stiftung_Marokko_Hintergrundbericht Oktober_2016 4 http://Int.ma/discours-royal-au-parlement-ladministration-severement-critiquee/ Ingrid Heidlmayr, Wissenschaftskoordinatorin der Hanns-Seidel-Stiftung für Marokko / Mauretanien Dr. Jochen Lobah, Regionalbeauftragter der Hanns-Seidel-Stiftung Marokko/Mauretanien IMPRESSUM Erstellt: 12.Oktober 2016 Herausgeber: Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Copyright 2016 Lazarettstr. 33, 80636 München Vorsitzende: Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D., Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf Verantwortlich: Dr. Susanne Luther, Leiterin des Instituts für Internationale Zusammenarbeit Tel. +49 (0)89 1258-0 | Fax -359 E-Mail: [email protected], www.hss.de Hanns-Seidel-Stiftung_Marokko_Hintergrundbericht Oktober_2016 5