POLITISCHER SONDERBERICHT Projektland: Marokko Datum: 29.11.2011 Vorgezogene Parlamentswahlen am 25.11.2011 in Marokko Am 25.11.2011 haben die Bürger Marokkos – nach einem Wahlkampf von knapp 12 Tagen – im Rahmen vorgezogener Parlamentswahlen die Mitglieder des nationalen Parlamentes gewählt. Von den insgesamt 33 Millionen Bürgern sind 45,4 % der 13,5 Millionen in die Wählerlisten eingetragenen Wahlberechtigten zur Wahl gegangen. Es wurden insgesamt 395 Sitze vergeben. Die Wahl wurde nach dem Verhältniswahlrecht (sog. Hare-Niemayer-Verfahren) durch eine Listenwahl in einem Wahlgang vollzogen. Die Wähler hatten über zwei Arten von Listen abzustimmen: Eine lokale Liste (für 305 Sitze) und eine landesweite Liste (für 90 Sitze). Letztere war eingeführt worden, um insbesondere die Teilnahme der Frauen und der Jugend zu fördern. Auf dieser Liste waren 60 Sitze den Frauen und 30 Sitze den jungen Menschen (im Alter von 18 bis 40 Jahren) vorbehalten. Schon bei den letzten Kommunalwahlen im Jahre 2009 hatte es zur Förderung der Teilnahme von Frauen eine landesweite Liste gegeben. Um eine Zersplitterung der politischen Landschaft zu vermeiden, wurden nur Stimmen für Parteien berücksichtigt, die ein Mindestquorum von 6 % der lokalen Listen und einen Anteil von mindestens 3 % der jeweiligen landesweiten Liste erreichten. (Damit wurde erstmalig die bereits 1998 vom HSS-Regionalprojekt angeregte Mindestklausel nach deutschem Vorbild konsequent angewandt.) Zu den Parlamentswahlen waren mehr als 31 Parteien angetreten, wobei 13 Parteien keinen Sitz erhielten. Von den 18 im Parlament vertretenen Parteien teilen sich die 8 Parteien mit den meisten Stimmen fast die Gesamtheit aller Sitze (378 von 395) wie folgt unter sich auf: Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Sonderbericht_Marokko 29.11.2011 1 Politische Parteien Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung / Parti de la Justice et du Développement (PJD), konservative islamistische Partei Istiqlal-Partei / Parti de l'Istiqlal (PI), konservative nationalistische Partei Landesweite Sammlung der Unabhängigen / Rassemblement National des Indépendants (RNI), liberale Partei Partei für Authentizität und Modernität / Parti Authenticité et Modernité (PAM), konservative Partei mit fortschrittlicher Ausrichtung Sozialiste Vereinigung der Volkskräfte / Union Socialiste des Forces Populaires (USFP), sozialistische Partei Volks-Bewegung / Mouvement Populaire (MP), liberalnationalistische Partei Verfassungs-Vereinigung / Union Constitutionnelle (UC), liberale Partei Partei für Fortschritt und Sozialismus / Parti du Progrès et du Socialisme (PPS), sozialistisch-fortschrittliche Partei Landesweite Liste Frauen Junge Menschen Gesamt Gesamt Lokale Liste 16 8 24 83 107 9 4 13 47 60 8 4 12 40 52 8 4 12 35 47 6 3 9 30 39 5 3 8 24 32 4 2 6 17 23 4 2 6 12 18 Auf den ersten Blick mag die Wahlbeteiligung von 45,4 % gering erscheinen. Jedoch ist sie deutlich höher als bei den letzten Parlamentswahlen im Jahre 2007, bei der die Beteiligung bei nur 37 % lag. Dieses ermutigende Anzeichen belegt, dass die Marokkaner wieder Vertrauen in das Wahlverfahren gewinnen. Erstmals waren die Wahlen nach übereinstimmendem Urteil transparent und haben unter fairen und korrekten Bedingungen stattgefunden. Dies wurde ebenfalls von den annähernd 4.000 internationalen Wahlbeobachtern bestätigt, die diese Wahl verfolgt haben und nur einige geringfügige Unregelmäßigkeiten zu beklagen hatten. Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Sonderbericht_Marokko 29.11.2011 2 Den Islamisten gelingt mit ihrer Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), die mit insgesamt 107 Sitzen mehr als ein Viertel der Parlamentssitze auf sich vereinigen konnten, ein erster politischer Durchbruch. Dies ist vor allem durch die Tatsache zu erklären, dass diese Partei einen echten Bruch mit der Vergangenheit ermöglicht, da sie noch nie zuvor regiert hat und die Wähler sich insoweit mithilfe dieser Partei einen Neuanfang erhoffen. Im Übrigen entspricht diese Partei auch den tieferen Bestrebungen der immer noch sehr konservativen marokkanischen Gesellschaft, für die ein ethischer Bezug zum Islam von Bedeutung ist. Die PJD hat sich den Ruf einer gut organisierten und disziplinierten Partei erarbeitet, deren Wahlkampfslogan die Korruptionsbekämpfung war und die sich der Demokratie und der guten Regierungsführung verschrieben hat. Gemäß der neuen Verfassung obliegt es dem König den neuen Regierungschef aus den Reihen der stärksten Partei zu ernennen. Entsprechend ernannte König Mohammed VI den Generalsekretär der PJD, Abdelillah Benkirane, zum Regierungschef. Unmittelbar im Anschluss an die Ernennung des neuen Regierungschefs haben die Verhandlungen im Hinblick auf die Bildung der neuen Regierung begonnen. Die PJD hat sich bereit erklärt, Bündnisse mit verschiedenen Parteien in Betracht zu ziehen – nicht jedoch mit der Partei für Authentizität und Modernität (PAM), deren erklärtes Ziel darin bestand, der PJD entgegenzutreten und die definitionsgemäß der erklärte Gegner der PJD ist. Folglich sind mehrere Szenarien der Regierungsbildung denkbar. Am wahrscheinlichsten ist ein Bündnis mit den Parteien des Koutla-Bündnisses (Istiqlal, USFP, PPS), d.h. mit den historischen, aus der marokkanischen Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangenen Parteien. Während sich die nationalkonservative Istiqlal-Partei bereits zu einem derartigen Bündnis bereit erklärt, hat sich die sozialistische USFP-Partei diesbezüglich noch nicht geäußert. Ein Bündnis mit den Islamisten, die sie bislang bekämpft hat, könnte der USFP Probleme bereiten. In diesem Fall würde sich jedenfalls das aus acht Parteien bestehende, und aus diesem Grunde auch „G8“ genannte, liberale Bündnis „Allianz für die Demokratie“ (RNI, PAM, MP, FFD und vier kleine Parteien, darunter eine islamistische Partei) in die Opposition begeben. Die PJD schließt jedoch ein Bündnis mit den Parteien dieser Gruppe, insbesondere mit der MP-Partei, nicht aus. Mit dem Ausgang dieser ersten Wahl nach Annahme der neuen Verfassung überwiegt der Eindruck, dass Marokko nun in eine Phase der politischen Entwicklung eingetreten ist und sich zu einer wirklichen Demokratie entwickelt. Die PJD erscheint nunmehr wie eine ganz normale politische Partei, die nicht mehr wegen ihrer Bezugnahme auf den Islam verteufelt wird. Die PJD hat – ebenso wie die Ennahda-Partei in Tunesien – realisiert, dass sie nicht allein regieren kann und auf Kompromisse mit anderen Parteien angewiesen ist. Diese Botschaft sollte auch von den westlichen Ländern Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Sonderbericht_Marokko 29.11.2011 3 verstanden werden, in denen es ebenfalls konservative Parteien gibt, die sich auf religiöse Werte berufen. Die neue Regierung steht nun vor vielen Herausforderungen und übernimmt unter anderem auch die Verantwortung für die gesetzgeberische Ausformung der neuen Verfassung Marokkos, mit der eine fortgeschrittene Demokratie sowie die Beachtung der Menschenrechte und des Rechtsstaates festgeschrieben werden sollen. In diesem Zusammenhang sind in den nächsten fünf Jahren rund zwanzig grundlegende Gesetze über Staatsorgane zu erarbeiten und zu verabschieden. Insgesamt bestätigt dieses Wahlergebnis die Hoffnungen, die viele Menschen mit der Demokratisierung der arabischen Länder verbinden. Der Autor Dr. Jürgen Theres ist Auslandsmitarbeiter der Hanns-Seidel-Stiftung in Tunis, Tunesien Bericht erstellt unter Mitarbeit von Juliette Borsenberger, Büroleiterin Rabat/Marokko, und Christina Kerll, Projektassistentin Maghreb IMPRESSUM Erstellt: 29.11.2011 Herausgeber: Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Copyright 2011 Lazarettstr. 33, 80636 München Vorsitzender: Prof. Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, Staatsminister a.D., Senator E.h. Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf Verantwortlich: Christian J. Hegemer, Leiter des Instituts für Internationale Zusammenarbeit Tel. +49 (0)89 1258-0 | Fax -359 E-Mail: [email protected], www.hss.de Hanns-Seidel-Stiftung_Politischer Sonderbericht_Marokko 29.11.2011 4