Wenn ich vor deinem Kreuze stehe 2. Wenn ich vor deinem Kreuze stehe / und mich in deinem Bilde sehe, erfüllt mich neue Zuversicht. Wenn das Vergangene nicht rastet / und mich die alte Schuld belastet, ist es dein Kreuz, das lauter spricht. 3. Wenn ich vor deinem Kreuze stehe / und mich in deinem Bilde sehe, macht mich dein Leidensweg ganz still. Lass mich im Elend nicht verzagen / und lass mich dir mein Kreuz nachtragen / und gläubig sagen: Wie Gott will! 4. Wenn ich vor deinem Kreuze stehe / und mich in deinem Bilde sehe, lässt du mich auch die andern sehn. Du hast ein Beispiel uns gegeben, dass wir, wie du, für andre leben / und uns als Liebende verstehn. 5. Wenn ich vor deinem Kreuze stehe / und mich in deinem Bilde sehe, weiß ich, dass ich geborgen bin. Du lässt mich einst im Frieden sterben, lässt mich das wahre Leben erben / und machst mein Ende zum Beginn. Text: Johannes Jourdan 1978 Melodie: Friedrich Samuel Rothenberg 1980 Eine Liedbetrachtung zur Aktion „Sieben Wochen mit“ 2012 von Propst em. Manfred Weingarten, Verden/Aller Biblische Hinführung Als Jesus zum Tode verurteilt war und von den römischen Soldaten hingerichtet wurde, standen viele und sehr verschiedene Menschen unter seinem Kreuz. Da waren die Soldaten, die ihr grausames Handwerk ausübten und mehr oder weniger gelangweilt Jesus bewachten. Menschen aus dem Volk gingen vorüber und schüttelten nur den Kopf, weil sie etwas anderes von Jesus erwartet hatten. Die Obersten der Juden verspotteten den Gekreuzigten, weil er sich in seiner Hilflosigkeit so gar nicht als König Israels und Sohn Gottes beweisen konnte. Der römische Hauptmann legte angesichts des außergewöhnlichen Geschehens das Bekenntnis ab: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Und da war Jesus schon tot. Schließlich waren da viele Frauen, die Jesus nachgefolgt waren und jetzt von ferne zusahen. Auch Maria, die Mutter von Jesus, und Johannes, sein Lieblingsjünger, standen unter dem Kreuz und wurden von dem sterbenden Jesus noch angesprochen. Die Empfindungen all dieser Menschen beim Anblick des Gekreuzigten waren sehr unterschiedlich. Bei den einen ein eher unbeteiligtes Wahrnehmen des Geschehens. Bei anderen der große und überhebliche Abstand des Spottes. Und bei den Verwandten und Freunden das eigene Mitleiden und dann die Trauer. Die Evangelien haben uns die zahlreichen Menschen unter dem Kreuz deutlich beschrieben. (Matth.-Ev. 27, 31-56; Joh.-Ev. 19, 25-27) Und die Maler späterer Zeit haben sie zum Teil eindrucksvoll dargestellt. Auf dem bekannten Isenheimer Altar in Colmar zum Beispiel hat Matthias Grünewald in ergreifender Weise die Mutter Maria unter dem Kreuz gemalt, wie sie von Johannes gestützt wird und völlig erblasst die Hände ringt. Der eigene Schmerz angesichts des sterbenden Sohnes ist einfach zu groß und zu schwer. Hinführung zum Lied Das Lied von Johannes Jourdan aus dem Jahre 1978 stellt jeden, der es liest oder singt, ebenfalls unter das Kreuz Jesu. Sein Name wird zwar nicht ausdrücklich genannt, aber der Gesamtzusammenhang und auch die Anrede „Herr“ in der ersten Strophe machen es deutlich: Es geht um das Kreuz auf Golgatha. Es geht um Jesus Christus. Und da bin ich nicht der unbeteiligte Zuschauer, auch nicht ein Vorübereilender, auch nicht die persönlich Betroffene wie die trauernde Mutter. Ich stehe auch nicht als stiller Betrachter im Museum vor einem Gemälde. Ich stehe oft „vor deinem Kreuz“, wie es in jeder der fünf Strophen heißt: etwa in der Kirche vor dem Kruzifix auf oder über dem Altar; etwa im Vorbeifahren oder beim Wandern mit dem Blick auf ein Kreuz am Wegesrand; etwa beim Gang über den Friedhof beim Betrachten der Grabsteine. Und meistens sehe ich mich im Gegenüber zu dem, der da hängt und der die Situation von Golgatha in Erinnerung ruft. Mit den Worten dieses Liedes bin ich aber in erster Linie „ich selbst“,„wenn ich vor deinem Kreuze stehe“. Ich kann nicht mehr von mir selbst absehen. Ich kann mich nicht außen vor lassen. Ich „sehe mich in deinem Bild“. Als wollte der Dichter es ganz tief und unwiderruflich einprägen: Wenn ein Mensch in Jesus seinen Retter und Herrn erkennt, dann sieht er sich selbst dort am Kreuz hängen. Oder anders gesagt: Weil er in dem Gekreuzigten sich selbst erkennt, darum ist dieser Jesus sein Retter und Herr, sein Heiland. In den Tagen, als ich mich intensiv mit dem Text dieses Liedes befasste, sah ich beim Einkaufen an der Kasse vor mir Zwillingsschwestern, zweifelsfrei: eineiig! Sie waren für mich nicht zu unterscheiden, so wie es uns ja manchmal bei eineiigen Zwillingen geht. Ich versuchte mir vorzustellen, wie die beiden wohl empfinden, wenn sie sich gegenseitig ansehen. Muss da nicht manchmal der Gedanke kommen: „Das bin doch ich!“ Und eben darum sind sie ja wohl oft auch so eng miteinander verbunden. „Das bin doch ich!“ Fünfmal singe ich es in diesem Lied: „Wenn ich vor deinem Kreuze stehe und mich in deinem Bild sehe...“ Und jede Strophe begründet es, warum ich mich in dem Bild des Gekreuzigten selbst erkenne, noch ganz anders als beim Blick in den Spiegel oder beim gegenseitigen Ansehen der Zwillinge. Die einzelnen Strophen 1. Wenn ich vor deinem Kreuze stehe und mich in deinem Bilde sehe, erkenne ich, dass du mich liebst, denn du, Herr, bist zu mir gekommen, hast meine Schuld auf dich genommen, dass du sie mir am Kreuz vergibst. Zu Weihnachten haben wir die Geburt von Jesus gefeiert und haben es im Lied gesungen: „Christ ist erschienen, uns zu versühnen. Freue dich, o Christenheit!“ Am Ende seines Lebens steht das Kreuz. Und hier wird deutlich, wozu Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Er wollte und will uns Menschen mit Gott versühnen. Ja, er wollte und will unsere Schuld sühnen. Er nimmt sie auf sich und steht ganz für uns ein. Jesus steht auch an meiner Stelle. Ich sehe mich im Bild des Gekreuzigten. Eigentlich müsste ich diesen Tod erleiden und für meine Sünden vor Gott büßen. Aber er, Jesus, hat es für mich getan: „...hast meine Schuld auf dich genommen.“ Diese Erkenntnis beim Anblick des Gekreuzigten macht mich betroffen. Aber im selben Moment werde ich dankbar und froh. Der Sühnetod Jesu bewirkt ja bei Gott die Vergebung. Jesus tritt für mich ein und erwirkt beim Vater den Freispruch, für mich. Deshalb kann ich mich im Bild des Gekreuzigten erkennen und dem standhalten. Ich erfahre darin ja die Liebe des Heilandes. Das ist das Entscheidende und steht darum in dieser Strophe auch am Anfang des Erkennens: „Herr, dass du mich liebst.“ 2. Wenn ich vor deinem Kreuze stehe und mich in deinem Bilde sehe, erfüllt mich neue Zuversicht. Wenn das Vergangene nicht rastet und mich die alte Schuld belastet, ist es dein Kreuz, das lauter spricht. Auch in dieser Strophe steht die positive Erkenntnis am Anfang; beim Blick auf das Kreuz „erfüllt mich neue Zuversicht.“ Ich habe mich in dem Bild des Gekreuzigten als den Geretteten erfahren. Ich habe die Liebe Jesu dankbar aufgenommen. Aber das schließt nun nicht aus, dass die alte Schuld sich wieder meldet. Sie will mich immer neu belasten und mein Gewissen quälen. Ich finde von mir aus keine Ruhe, „... wenn das Vergangene nicht rastet und mich die alte Schuld belastet.“ Da hilft wiederum nur der Blick auf den Gekreuzigten. Ich weiß um die alte Schuld. Ich weiß auch, dass man die Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann. Aber die Frage ist auch hier, was mehr zählt und was mich trösten kann. Die Antwort wendet sich an Jesus und verlässt sich ganz auf ihn: „... es ist dein Kreuz, das lauter spricht.“ Und darauf will ich dann hören. 3. Wenn ich vor deinem Kreuze stehe und mich in deinem Bilde sehe, macht mich dein Leidensweg ganz still. Lass mich im Elend nicht verzagen und lass mich dir mein Kreuz nachtragen und gläubig sagen: Wie Gott will! Der Leidensweg Jesu – auch Passion genannt – wird in den 7 Wochen bis Ostern in den christlichen Gemeinden auf vielfältige Weise bedacht. Dabei werden die einzelnen Stationen dieses Weges nach gezeichnet und auch die Worte Jesu, die er noch am Kreuz gesprochen hat, gedeutet. Für gewöhnlich rührt uns der Leidensweg eines Menschen und wühlt uns eher auf. Das Elend der Hungernden in den Krisengebieten geht uns zu Herzen. Der Verlauf einer tödlichen Krankheit wird tief mit empfunden. Und erst recht das eigene Leiden will uns in Angst und Verzweiflung stürzen. Wie kann mich da der Leidensweg Jesu ganz still machen? So frage ich und möchte die Worte doch mit sprechen und mit singen. Von mir aus kann ich es nicht. Das weiß ich. Und darum wende ich mich mit den Worten dieser Strophe an den Gekreuzigten. Ich sehe ihn. Ich sehe mich. Und ich vertraue auf seine Hilfe, auf sein Vorbild, auf seine Zusage. Er lässt es ja zu, dass ich mein Kreuz, also all mein persönliches Leiden, in der gleichen Weise auf mich nehme, wie er es getan hat. Ich darf ihm gleich werden. Das kann ich aber nur, wenn ich mich ihm im Glauben anvertraue und in den Willen Gottes füge. 4. Wenn ich vor deinem Kreuze stehe und mich in deinem Bilde sehe, lässt du mich auch die andern sehn. Du hast ein Beispiel uns gegeben, dass wir, wie du für andre leben und uns als Liebende verstehn. Dieses Lied ist sehr persönlich gehalten: „Wenn ich vor deinem Kreuze stehe und mich in deinem Bilde sehe...“ Am Anfang einer jeden Strophe wird die Hinwendung des Einzelnen zu dem Gekreuzigten betont. Und das ist ja auch richtig, denn jeder muss und wird für sich den Blick aufs Kreuz tun. Und doch weiß ich, dass es unzählige Menschen in der gleichen Weise tun. Das verbindet mich mit ihnen. Das reißt mich auch aus der Isolation, die entweder in die Selbstüberhebung oder aber in die Enge führen würde. Der Gekreuzigte lässt mich auch die andern sehen, wie es in dieser Strophe heißt. Es sind alle die, die in ähnlich notvoller Lage sich befinden wie ich. Es sind diejenigen, denen es viel schlechter geht als mir. Es sind alle, die der Liebe bedürfen. Dafür hat Jesus uns das Vorbild und Beispiel gegeben, dass wir es ihm gleich tun: „... für andre leben und uns als Liebende verstehn.“ 5. Wenn ich vor deinem Kreuze stehe und mich in deinem Bilde sehe, weiß ich, dass ich geborgen bin. Du lässt mich einst im Frieden sterben, lässt mich das wahre Leben erben und machst mein Ende zum Beginn. Der Blick auf das Kreuz Jesu, auf seine Person und mich in ihm führt zu der letzten und oft beschworenen Frage, die aber sofort beantwortet wird: „Wo finde ich Geborgenheit in aller Unruhe und in allem Unfrieden dieses vergehenden Lebens?“ Wenn ich die Bilder anschaue, die mir täglich aus allen Teilen der Erde ins Haus flimmern, spüre ich die Zerrissenheit der Welt und die Gefährdung jeglichen, auch meines kleinen Lebens. Geborgen bin ich nur bei dem, der am Kreuz sein Leben für mich hingab und mich von Schuld und Verdammnis, Angst und Verzweiflung befreit. Und ich bin deshalb bei ihm geborgen, weil das für die Zeit meines Lebens und erst recht für die Ewigkeit gilt. Mit Jesus Christus an der Seite und geborgen in seiner Liebe, kann ich im Frieden sterben, denn ich habe ja Frieden mit Gott im Himmel. Er schenkt mir in der Ewigkeit das wahre Leben, das durch nichts mehr gefährdet oder auch nur angefochten wird. Darum wird das Ende meiner Tage der Beginn des neuen Lebens sein. Zum Schluss Johannes Jourdan hat mit diesem Lied zum Ausdruck gebracht, was in vielen Liedern früher schon gesagt und gesungen wurde. Er hat es aber von der ersten bis zur letzten Strophe so auf den Einzelnen bezogen, dass sich jeder wieder finden kann, ja wieder finden möchte: „Wenn ich vor deinem Kreuze stehe und mich in deinem Bilde sehe“, dann - so füge ich jetzt hinzu - , dann erfahre ich aufs Neue, was mir das Kreuz bedeutet. Der Text dieses Liedes ist bisher nur in wenige Gesangbücher aufgenommen worden. Es ist ja auch erst 34 Jahre alt. Es hat aber bereits mehrere Melodieschöpfungen erfahren. Wir geben den Text von Johannes Jourdan und die Melodie von Friedrich Samuel Rothenberger mit Erlaubnis des Mundorgel Verlages, Köln, wieder, der dafür die Rechte besitzt.