Karfreitag Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks 22.4.2011 Französische Friedrichstadtkirche Predigt über Lukas 23,33-49 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 Als sie an den Ort kamen, der Schädel genannt wird, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter, einen zur Rechten, den anderen zur Linken. Jesus aber sagte: Vater, erlass es ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Um seine Kleider zu verteilen, warfen sie Lose. Und das Volk stand da und schaute. Die Nase rümpften auch die Herrschenden und sagten: andere hat er befreit, so befreie er sich selbst, wenn dieser der Christus Gottes ist, der Erwählte. Es verhöhnten ihn auch die Soldaten, traten heran und reichten ihm Essig und sagten: wenn du der König der Juden bist, befreie dich selbst! Es war da auch eine Aufschrift über ihm: dieser ist der König der Juden. Einer der gehenkten Übeltäter lästerte ihn und sagte: bist du nicht der Christus? Befreie dich und uns! Da antwortete ihm der andere, herrschte ihn an und sprach: fürchtest du nicht Gott, da du unter demselben Urteil bist? Wir zwar zurecht, denn was unser Tun wert ist, empfangen wir – dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sagte: Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst. Und er sprach zu ihm: Amen, ich sage dir: heute wirst du mit mir im Paradies sein. Und es war schon um die sechste Stunde, und eine Finsternis geschah über dem ganzen Land bis zur neunten Stunde. Die Sonne war verschwunden, und der Vorhang des Tempels zerriss mittendurch. Und Jesus schrie mit gewaltiger Stimme und sprach: Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist. Als er das gesprochen hatte, hauchte er den Geist aus. Als aber der Hauptmann sah, was geschehen war, lobte er Gott und sprach: wirklich, dieser Mensch war ein Gerechter. Als alle die Massen, die zu diesem Schauspiel zusammengekommen waren, sahen, was geschehen war, schlugen sie sich an die Brust und wandten sich ab. Alle seine Bekannten standen von ferne; auch Frauen, die ihm von Galiläa her mitgefolgt waren, sahen dies. Ein Massenereignis – anders als bei anderen staatlich angeordneten und organisierten Tötungen wird Jesus nicht in irgendeinem Kellerverlies, irgendwo im Verborgenen klammheimlich getötet, kein Genickschuss, um später zu behaupten, der Mann sei auf der Flucht erschossen worden. Der Tod Jesu findet in aller Öffentlichkeit statt; Lukas sagt es noch deutlicher, sagt es drastisch: es handelt sich um ein Schauspiel, ein Spektakel – alle sind zusammengekommen zu diesem Schauspiel; das Volk stand da und schaute. Das kennen wir nicht nur aus ferner Vergangenheit oder aus fernen Ländern: öffentliche Hinrichtungen ziehen Schaulustige an, haben leider tatsächlich mit Lust zu tun, mit der Befriedigung aggressiver, terroristischer, mörderischer Gelüste. Wir erkennen uns auch selbst als Zuschauer, meist Fernsehzuschauer grausigen Geschehens, das uns bei aller Empörung doch fasziniert, fesselt. Es stößt uns ja nicht wirklich ab, was wir abstoßend nennen, es zieht uns an. Doch bei aller Kritik an unserer tatenlosen Zuschauerrolle – wir, die christliche, die Karfreitagsgemeinde, wir werden heute von vornherein darauf gestoßen, dass wir diesem Geschehen gegenüber tatsächlich passive Zuschauer sind und bleiben, dies Geschehen nur betrachten, nur auf uns wirken lassen können. Karfreitag Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks 22.4.2011 Französische Friedrichstadtkirche Die Öffentlichkeit um Jesus herum, im genauen Sinn also das Publikum dieses Schauspiels, schildert Lukas ausführlich und differenziert: da gibt es das Volk, da die Herrschenden, die freilich nur sehr begrenzt herrschen, dann die römischen Soldaten und ihren Hauptmann, auch die Mitgekreuzigten kommen in den Blick und kommen zu Wort, und schließlich, ganz am Rand, nur von ferne auch wir, seine Bekannten, darunter viele Frauen. Differenziert sind auch die Reaktionen auf das Geschehen: das Volk schaut stumm zu; Jesu Bekannte auch; die Herrschenden rümpfen die Nase und sagen das, was Herrschende immer sagen bis auf den heutigen Tag: er befreie sich selbst. Der will Befreier sein, Messias, erwählt – und ist doch selbst gefangen, kann sich selbst nicht befreien. Sie formulieren damit genau das Prinzip, das Gesetz der bestehenden Weltordnung, gegen das Jesus angetreten ist. Man könnte es das bürgerliche, das liberale Prinzip nennen: wer sich selbst nicht helfen kann, dem ist nicht zu helfen. Andersherum, positiv, verheißungsvoll ausgedrückt, ist dies Prinzip sprichwörtlich geworden: hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Liberale würden zwar nicht öffentlich von Gott reden, meinen aber genau dies: dann hilft dir der Gott, das Prinzip der bestehenden Welt, die unsichtbare Hand der Marktwirtschaft, die wunderbarerweise aus lauter einzelnen Eigeninteressen das Gemeinwohl schafft. Also nicht der biblische Gott, dessen Evangelium von dem erzählt, der nicht für sich selbst, sondern für andere lebt und stirbt. Nicht zufällig erinnert dies Prinzip an die Versuchung Jesu: wenn du Gottes Sohn bist, dann hilf dir selbst, denn in den Augen der biblischen Erzähler ist es vom Teufel. Ebenfalls kein Zufall, dass die römischen Soldaten, die bewaffnete Macht der wirklichen Machthaber, ähnlich reden, doch sie drücken dasselbe Prinzip nicht religiös aus, sondern politisch; reden nicht vom Messias, sondern vom König der Juden. Unter dieser Überschrift, also als Repräsentanten seines Volkes, haben sie ihn ja gekreuzigt und mit diesem Spektakel ein Exempel statuiert: so geht es jedem, der das jüdische Volk befreien will. Auch einer der mitgekreuzigten Verbrecher argumentiert so – Verbrecher spiegeln ja oft das herrschende Prinzip einer Gesellschaft wider, auch wenn sie gegen gesellschaftliche Regeln verstoßen; sie helfen sich selbst, verhelfen sich selbst zu dem, was sie wollen, und sei es durch Diebstahl, Raub oder Mord. Das Massenereignis zeigt: Jesus stirbt, wie er gelebt hat, nicht allein, sondern mit anderen. Doch die engste Gemeinschaft, auch Gesprächsgemeinschaft mit ihm haben jetzt nicht wir, die Seinen, die nur von ferne zuschauen, sondern zwei Verbrecher, und auch in dieser Gemeinschaft stellt sich heraus, dass sich an Jesus die Geister scheiden. Während der eine wie die Herrschenden und wie die Soldaten höhnisch auf Jesu Unfähigkeit zur Selbsthilfe hinweist – befreie dich und uns!, als ginge das eine nicht ohne das andere, bittet der andere: Gedenke mein, bittet damit freilich auch um Befreiung, und hört die erstaunliche Verheißung: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Jesu Tod eröffnet Zukunft auch für Verbrecher. Nicht schon zu Weihnachten, erst heute, am Karfreitag, schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis. Schon zuvor wurde deutlich: während die Zuschauer passiv bleiben, ist Jesus auch in seiner Passion durchaus aktiv, leidet nicht stumm, sondern agiert, bittet für seine Feinde, seine Mörder: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Jesus praktiziert, was er zuvor seinen Jüngern gewiesen hatte: Liebt eure Feinde! Tut wohl euren Hassern. Segnet, die euch fluchen. Betet für die, die euch kränken. Doch es geht hier nicht nur um Jesu persönliche Glaubwürdigkeit: dass er selbst tut, was er von anderen verlangt. Lukas geht es um die Deutung seines Todes. Schon die Autoren des Neuen Testaments haben ja verschiedene Versuche gemacht, dieser erschütternden Geschichte Gutes abzugewinnen, eine frohe Botschaft zu entnehmen, und viele Theologen seither auch. Manche sprechen in der Sprache des Priestertums und des Kultes von einem Sühneopfer, andere juristisch von einem Urteil 2 Karfreitag Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks 22.4.2011 Französische Friedrichstadtkirche und einem Freispruch, wieder andere von einem Lösegeld, das man einem Sklavenhalter bezahlen muss, um Sklaven freizukaufen. Alle diese Deutungen haben was für sich, haben ihr Recht, ihren Sinn. Doch heute hören wir auf die Deutung, die Lukas jedenfalls andeutet: der Tod Jesu als hingebungsvolle Fürbitte für uns alle: für Juden und Nichtjuden, Israel und die Völker; Verbrecher und Nichtverbrecher, Männer und Frauen. Wir vertrauen darauf, dass diese Fürbitte erhört wurde – wie wir es vorhin von Paulus hörten: Gott hat die Welt im Christus mit sich versöhnt, indem er ihnen ihre Verfehlungen nicht anrechnete. Anders als seine Kollegen Matthäus und Markus hat Lukas Jesus am Kreuz nicht den Beginn von Psalm 22 in den Mund gelegt – mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen –, sondern ein Wort aus Psalm 31: In deine Hände befehle ich meinen Geist. In diesem Psalm sind die Hände – die Hände Gottes und die Hände der Feinde – der springende Punkt: in deine Hände befehle ich meinen Geist, meine Zeit steht in deinen Händen – du übergibst mich nicht in die Hände des Feindes, errette mich von der Hand meiner Feinde. Jesus ist seinen Feinden in die Hände gefallen: einer seiner Jünger überlieferte ihn in die Hände der Oberen seines Volkes, und die wiederum in die Hände der Völker, die ihn umbringen. Doch seinen Geist befiehlt er in Gottes Hände, ehe er diesen Geist aushaucht, überlässt es seinem Vater, was aus seinem Geist wird. Lukas deutet an, dass das nicht vergeblich war: all die Massen, ursprünglich des Schauspiels wegen zusammengekommen, schlagen sich an die Brust; der römische Hauptmann, Befehlshaber derer, die Jesus verhöhnt und umgebracht haben, erkennt: dieser war wirklich ein Gerechter. Und so hoffen auch wir am heutigen Karfreitag, dass Gott aus dem, was wir Böses tun und zulassen, Gutes machen kann und wird. Amen. 3