Rechtsstaat1

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Rechtsstaat
Horst Pötzsch
Grundprinzipien
Alles staatliche Handeln ist an das Gesetz gebunden (Rechtssicherheit), vor dem Gesetz sind alle Bürger
gleich (Rechtsgleichheit), unabhängige Gerichte schützen die Bürger vor willkürlichen Eingriffen des Staates
(Rechtsschutz). In der Wirtschaft soll nach den Grundsätzen des liberalen Rechtsstaates das freie Spiel der
Kräfte herrschen, Produzenten und Konsumenten sollen ihre wirtschaftlichen Interessen ohne staatliche
Eingriffe verfolgen können, der Staat soll lediglich durch rechtliche Regelungen die Voraussetzungen dafür
schaffen: Garantie des Privateigentums, freier Wettbewerb, Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit, freier Handel.
Rechtsstaat und soziale Frage
Die Freiheits- und Rechtsgarantien des liberalen Rechtsstaates sind wesentliche Bestandteile des heutigen
Rechtsstaates. Sie erwiesen sich jedoch in zweierlei Hinsicht als ergänzungsbedürftig. Schon im 19.
Jahrhundert wurde offenkundig, dass der ungehemmte Wirtschaftsliberalismus die soziale Ungleichheit und
die daraus folgenden sozialen Missstände derart verschärfte, dass der Staat zum Eingreifen gezwungen war.
Damit setzte eine Entwicklung ein, die zum modernen Sozialstaat führte. Das Grundgesetz verknüpft
folgerichtig Rechtsstaat und Sozialstaat zum sozialen Rechtsstaat.
Gesetzesstaat und materieller Rechtsstaat
Spätere Erfahrungen zeigten, dass die bloße Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz, der nur formale
Gesetzesstaat, keinen Schutz vor staatlicher Willkür bietet. Das nationalsozialistische Herrschaftssystem
kleidete seine Unrechtsmaßnahmen formal in Gesetze, vom Ermächtigungsgesetz bis zu den
Rassengesetzen, und zerstörte damit den Rechtsstaat. In der DDR herrschte die "sozialistische
Gesetzlichkeit", in der das Recht dazu diente, den Willen der Partei zu vollstrecken. Die bloß formale
Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz reicht offensichtlich nicht aus, um den Rechtsstaat zu bewahren.
Hinzutreten muss die inhaltliche Bindung an eine höherrangige Wertordnung, zum Beispiel an das
Naturrecht. Das formale Prinzip des Gesetzesstaates muss ergänzt werden durch das inhaltliche, materielle
Rechtsstaatsprinzip. Nach dem Grundgesetz ist die Würde des Menschen der oberste Grundwert, dem alle
staatliche Gewalt verpflichtet ist.
Der Rechtsstaat im Grundgesetz
Artikel 28
(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen,
demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. (...)
Der Begriff "Rechtsstaat" kommt im Grundgesetz nur einmal vor, in Art. 28 als verbindliche
Verfassungsordnung für die Länder; für den Bund wird er damit vorausgesetzt. Der Rechtsstaat findet
seinen Ausdruck vor allem in der Garantie der Grundrechte und in der Unabhängigkeit der Rechtsprechung.
Darüber hinaus wird er in vielen Artikeln des Grundgesetzes näher beschrieben. Zu den wichtigsten
gehören:
Artikel 20
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die
Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
Verfassungsmäßigkeit und Rechtsbindung
Als erste deutsche Verfassung hat das Grundgesetz den Vorrang der Verfassung vor der Gesetzgebung
eingeführt. Damit sollte verhindert werden, dass - wie in der Weimarer Republik - mit
verfassungsändernden Mehrheiten Gesetze beschlossen werden, die gegen die Verfassung verstoßen
(Verfassungsdurchbrechung). Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bindet die Verwaltung an
die Gesetze. Er schließt beispielsweise Ermessensentscheidungen aus, die gegen ein Gesetz oder eine
andere Rechtsvorschrift verstoßen.
Artikel 19
(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.
Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. (...)
Rechtsweggarantie
Jeder Bürger hat das Recht, bei einer Verwaltungsbehörde einen förmlichen Widerspruch einzureichen, wenn
er sich durch deren Maßnahmen zu Unrecht belastet bzw. in seinen Rechten unmittelbar und persönlich
verletzt sieht. Führt der Widerspruch nicht zum Erfolg, hat der Bürger das Recht, die Gerichte anzurufen.
Diese Rechtsweggarantie beseitigt die "Selbstherrlichkeit der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum
Bürger" (Bundesverfassungsgericht), der Einzelne steht nicht als "Untertan" einer nach Belieben handelnden
"Obrigkeit" gegenüber. In der Regel sind Verwaltungsgerichte für Klagen gegen die Verwaltung zuständig.
Glaubt ein Bürger, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein, kann er nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a beim
Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde einlegen.
Rechtsstaat und Widerstandsrecht
Artikel 20
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum
Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Das Widerstandsrecht wurde erst im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung von 1968 in das
Grundgesetz aufgenommen. Widerstand ist nur zulässig gegen den Versuch, "diese Ordnung" zu beseitigen,
das bedeutet die Verfassungsordnung, wie sie in den vorausgehenden Abs. 1-3 des Art. 20 festgelegt ist:
Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat, Sozialstaat. Widerstand kann sich gegen "jeden" richten, sowohl
gegen die Staatsgewalt, einen "Staatsstreich von oben", als auch gegen revolutionäre Kräfte, einen
"Staatsstreich von unten". Widerstand ist nur erlaubt, wenn "andere Abhilfe nicht möglich ist". Es ist das
letzte Mittel, wenn die Institutionen des Rechtsstaates, besonders unabhängige Gerichte, nicht mehr
handlungsfähig sind. Auf das Widerstandsrecht kann sich nicht berufen, wer einzelne staatliche Handlungen,
zum Beispiel die friedliche Nutzung der Kernenergie, aus Gewissensgründen ablehnt.
Aus: Pötzsch, Horst: Die deutsche Demokratie. 4. aktualisierte Aufl., Bonn: Bundeszentrale für politische
Bildung 2005, S. 24-26. 01. Februar 2007
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