Gedichtinterpretation zum Thema Expressionismus

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Gedichtinterpretation zum Thema Expressionismus, von Tanja Vallaster
Georg Heyms „Die Irren“
Das 1910 von Georg Heym verfasste Gedicht „Die Irren“ ist eine Kritik an der Gesellschaft des frühen 20.
Jahrhunderts, die metaphorisch durch die Geschehnisse in einem Irrenhaus bei Nacht dargestellt
werden.
„Der Mond tritt aus der gelben Wolkenwand.“
Ein Mond tritt in der Regel überhaupt nirgends heraus, als ein willenloses Objekt kann er dass nicht. Die
Fähigkeit etwas aktiv zu tun verleiht ihm erst die hier angewandte Personifikation, ein häufiges Stilmittel
des Expressionismus. Dem nunmehr also handelnden Mond wird eine gewisse Bedrohlichkeit verliehen
durch die Wolkenwand der er entspringt. Ihre Farbe ist nicht unmissverständlich zuzuordnen, aber das
Gelb verleiht ihr etwas Unnatürliches, Krankes. Dieses Bild passt auch zum nächsten Vers, in dem der
Mond den Ausbruch des Wahnsinns unter den Irren zu verursachen scheint.
Die Irren sind eine von der Gesellschaft der damaligen, wie wohl auch heutigen Zeit, an den Rand
gedrängte Gruppe, mit der sich die Expressionisten gut identifizieren konnten, da sie sich ja selbst häufig
in derselben Position befanden. Gleich den Kranken wurde alles Hässliche von der wilhelministischen
Gesellschaft abgelehnt. Hier kommt der Vergleich der Irren mit großen Spinnen, die an der Mauer
kleben, gerade recht. Er verstärkt die Assoziation mit dem Schlechten, dem zu Meidendem, noch
weiter, ruft Ekel und folglich eine Empörung über die Missachtung der klassischen Ideale der
Zeitgenossen Heyms hervor.
Die bisher offensichtlich Eingesperrten erlangen eine Aussicht auf Freiheit, als sie in der Lage sind, den
Gartenzaun zu berühren, der aber letztlich doch nur eine Beschränkung darstellt. Mit den offenen Sälen,
in denen die Tänzer sich ungebunden zu bewegen scheinen, ist der Eindruck der Gefangenschaft
merkwürdig aufgehoben. Es ist ein Ball, man ist vergnügt und nichts zeugt von der Krankheit die noch
wenige Verse zuvor die anonymen Irren hinter den Gitterstäben lechzen ließ. Als plötzlich der Wahnsinn
(und nicht die Wahnsinnigen) aufschreit, sodass die Schallwellen den offen scheinenden Raum rasant
einnehmen, bis sie doch dessen Endlichkeit erfassen und die Mauern erbeben lassen.
Ein vom Wahnsinn Gepackter hat eben noch mit einem Arzt über Hume gesprochen, einen schottischen
Vertreter der Aufklärung und des Empirismus. Es gab also eine Annäherung zwischen gesellschaftlich
Verstoßenem und gesellschaftlich Anerkanntem in einer gebildeten Konversation über Philosophie.
Würde ein von Grund auf Verrückter in der Lage zu einem solchen Austausch sein? Das Wissen über die
besprochene Persönlichkeit philosophischen Einflusses ist niemandem a priori geschenkt. Hat der Irre
also eine akademische Ausbildung hinter sich? Ein Vergleich drängt sich hier mit dem Werk Friedrich
Dürrenmatts auf. In dessen „Die Physiker“ sind die drei Irren eines Sanatoriums tatsächlich
Wissenschaftler, die einer schrecklichen Entdeckung wegen bewusst eine psychische Krankheit
vorspielen, und diesen Schein mit allen Mitteln, die bis hin zum Mord reichen, zu wahren versuchen.
Tatsächlich gilt Dürrenmatt, der etwa 15 Jahre nach dem Ende des Expressionismus zu schreiben begann,
als ein von dieser Stilrichtung beeinflusster Schriftsteller. Aber zurück zu Heyms Irren, der ebenfalls einen
Mord verübt. Die Tat, nach der der Schädel des Arztes zerbrochen ist wie ein Tonkrug – ein weiteres
Stilmittel des Expressionismus, die Synthese wird hier angewandt, und verhindert auch an dieser Stelle
wieder den Bezug zu einem Individuum, alle Personen bleiben anonym und gegenständlich – wird von
dem „Haufen Irrer“ gutgeheißen.
Der Umsturz der Hierarchie der Irrenanstalt ist jedoch nicht von Dauer, als schon kurz darauf „die
Peitsche knallt“ und die zuvor so rebellischen Verrückten sich ängstlich zerstreuen. Die Peitsche zeugt
von einem unnatürlich harten Vorgehen des Anstaltspersonals – das das Bürgertum und die Väterwelt
darstellt – gegen die Irren, also die Unangepassten, denen in den strengen Grenzen des
gesellschaftlichen Irrenhauses keine Revolution bestehender Verhältnisse gelingt. Ihnen bleibt also
nichts anderes als sich zu verkriechen.
Heym erhoffte sich eine radikale Veränderung in der Gesellschaft, die in einer Zeit des wirtschaftlichen
Umbruchs erstarrt geblieben war. In dieser Gesellschaft konnte es keine individuelle Entfaltung geben,
kein Anders-Sein. So gesehen waren die Irren zu beneiden, denn nur sie konnten wirklich frei handeln,
ohne noch dem Druck des Bürgertums ausgesetzt zu sein. Diesen Druck auszuüben, war denn nicht die
Gesellschaft das Irrenhaus, und die Reaktion der Außenseiter eine natürliche gegenüber widrigen
Umständen?
Auch heute gibt es durchaus auch Menschen, die sich nicht gesellschaftlichen Konventionen
unterwerfen, letztlich formen sie jedoch nur Subkulturen. Der überwiegende Teil der Bevölkerung führt
ein „normales“ Leben. Unter der Woche arbeiten, etwas fernsehen, Wochenends und abends ein
Gläschen Wein. Oder zwei. Wenn man mit Freunden zusammensitzt gern auch einmal eine Flasche. Pro
Person. Da ist die Stimmung schnell gehoben, man muss geradezu aufpassen dass sie nicht abhebt. Die
Inhalte der Gespräche verselbstständigen sich wie es scheint, das Verhalten der Beteiligten nimmt
skurrile, völlig untypische Züge an. Der hier vollzogene Wandel wird gesellschaftlich gebilligt, aber in
einer solchen Situation ist man schon nicht mehr ganz so Herr seiner Selbst, wie man sonst vorgibt zu
sein. Lustiger Weise schaut die Sache mit der Akzeptanz schnell nicht mehr so heiter aus, handelt es sich
um eine illegale Substanz oder das Verhalten, das eine Person auch im Alltag an den Tag legt.
Heute weiß man, dass die Gesellschaft, die dann über einen urteilt, Schuld sein kann an der Situation. Die
Gesellschaft nimmt sich das Recht zu entscheiden was richtiges Verhalten ist und was falsches, wo die
Zwänge, die sie einem gleichzeitig auferlegt, viele in die – als falsch bezeichnete – Richtung treiben.
Welch Ode an das Paradoxon! Die Gesellschaft kann krank machen, wir vermögen das zu erkennen, 1910
war „die Gesellschaft“ geradezu unantastbar, und jene die sich doch daran versuchten, an ihrer
glänzenden, hauchdünnen Oberfläche zu kratzen, mussten schließlich doch enthuschen wie die Mäuse.
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