Die Kirche ist noch immer verblendet!

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INTERVIEW
OBERSEE NACHRICHTEN Donnerstag, 25. März 2010
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Eugen Bütler, Theologe und Sexualtherapeut, hofft nach jüngsten Missbrauchsfällen auf eine Neuausrichtung der kirchlichen Ideale
«Die Kirche ist noch immer verblendet!»
Nach Bekanntwerden der
jüngsten Missbrauchsfälle
hängt der Kirchsegen schief.
Sexologe Eugen Bütler sieht
Handlungsbedarf in der Kirche
und fordert sie zu einer grundlegenden Neuorientierung
ihrer Haltung gegenüber der
Sexualität auf.
lung zur Sexualität, welche die Kirche
über weite Strecken vorlebt, führt zu einer Abwertung natürlicher Gegebenheiten. Auch die Frau wird in diesem
«Weltbild» zur Gefahr, ausser die Frau
als Mutter und natürlich die Jungfrau
Maria. Wirkt eine Frau aber erotisch,
stellt sie sexuell eine Gefahr dar, der
man auszuweichen versucht. Da bleiben – bös gesagt – nur noch Kinder und
Jugendliche, zu denen man engen Kontakt pflegt.
Obersee Nachrichten: Eugen Bütler,
Sie sind Sexualtherapeut und gleichzeitig Theologe. Ist das nicht ein totaler Widerspruch?
Kurzum: Wenn man ein enthaltsames
Leben führt oder dies muss, sind
zwangsläufig körperliche und seelische Störungen die Folge?
Eugen Bütler: Für mich nicht. Klar ist
es eine ungewohnte Kombination,
wenn ein Theologe, der in der Kirche
studiert hat, in die Sexologie einsteigt.
Aber wenn ich davon ausgehe, dass sich
die Spiritualität mit der Liebe zu Gott
befasst und die Sexualität mit jener zum
Mitmenschen oder auch dem eigenen
Körper, hat das viele Parallelen. Dazwischen gibt’s nur eine dünne Trennwand.
Leider hat man im Laufe der Geschichte etwas auseinander genommen, was
zusammengehört.
Eugen Bütler: Nur wenn man es führen muss. Wer sich frei zum enthaltsamen Leben entscheidet und frei dabei
bleibt, ist weniger gefährdet. Das ist das
grosse Problem der Kirche: Wer nicht
mehr so leben will, den Weg des Zölibates verlassen will, muss mit Sanktionen rechnen. Die Kirche droht mit Entlassung und Ächtung. Leuten, die ihr
Priesteramt aufgeben und doch noch
heiraten wollen, wird das Leben sehr
schwer gemacht. Da muss die Kirche
dringend Lösungen anbieten. Den
Zwang aufrechtzuerhalten, das geht
offenbar schief. Da müsste die Kirche
dynamischer handeln.
Wenn Ihnen in der Beratung ein Klient
sexuelle Neigungen zu Kindern anvertraut, was ist Ihre Reaktion?
Eugen Bütler: Zuerst versuche ich herauszufinden, weshalb er solche Präferenzen hat. Ich würde ihm zunächst Verständnis entgegenbringen, denn es gibt
ja verschiedene sexuelle Vorlieben.
Nicht alle führen zu Verletzungen wie
die Pädophilie. Kommt jemand beispielsweise durch Reizwäsche in Fahrt
oder durchs kalte Metall einer Dampflokomotive, ist das zwar ungewöhnlich,
verletzt aber direkt niemanden. Ganz
anders bei der Pädophilie. Fühlt sich jemand sexuell zu Kindern hingezogen,
muss man die Person darauf aufmerksam machen, wie verletzlich ein Kind
ist. Das würde ich tun und dann mit ihm
daran arbeiten, damit er mit seiner Neigung positiv umgehen kann.
Müssten Sie solche Informationen
verschweigen oder wären Sie dazu
verpflichtet, diese weiterzuleiten, um
sich nicht strafbar zu machen?
Eugen Bütler: Solange er nur seine
Neigung ausdrückt, würde ich das wohl
verschweigen. Erzählt er aber Details
zu möglichen Übergriffen, empfehle
ich ihm eine Therapie. Sind die Übergriffe massiv, müsste ich das den Behörden melden. Für eine Anzeige müsste ich mindestens ein Opfer kennen und
seine Einwilligung erhalten. Denn die
Aufarbeitung vor Gericht kann für einen seelisch verletzten Menschen eine
Überforderung sein und zusätzlich traumatisieren. Auf jeden Fall darf man
nicht wegschauen und einfach die Sache ad acta legen, wie es leider in der
Kirche vorgekommen ist.
«Es existiert eine
Ladehemmung»
Was dachten Sie, als die Verfehlungen von Pater Gregor Müller aus
Schübelbach bekannt wurden?
Eugen Bütler: Ich fand es eigenartig,
dass das eine Bistum über seine Vergangenheit Bescheid wusste, das andere
aber keine Kenntnis davon hatte. Eine
solche Information müsste bei der Anstellung eines Pfarrers vorhanden sein.
In letzter Zeit wurden in Europa hunderte Missbrauchsfälle bekannt. Erwarten Sie, dass eine solche Welle
nun auch die Schweiz erfasst?
Eugen Bütler: Verschiedene Fälle werden nun laufend aufgedeckt. In Einsiedeln haben sich Mönche gemeldet und
Eine Entschuldigung kann das aber
nicht sein! Denn wer nicht regelmässig Sex hat, kann sich auch nicht auf
irgendeine Frau stürzen und diese
vergewaltigen!
Theologe Eugen Bütler ist überzeugt: «Die Kirche müsste über den Spirit in
der Sexualität sprechen.»
auch in Disentis soll es Missbräuche
gegeben haben. Übergriffe gab es immer wieder. Nur kommen sie jetzt nach
und nach ans Licht. Auch deshalb, weil
die Kirche Opfer dazu aufruft, Missbräuche zu melden. Fairerweise muss
man sagen, dass Übergriffe auch in anderen Bereichen vorkommen, leider
häufig auch im familiären Bereich.
Eugen Bütler: Ja, unbedingt. Man
kann ihnen eine bestimmte Ausrichtung
geben. Wenn eine pädophile Neigung
jedoch schon sehr stark mit der Lebensgeschichte verknüpft ist, wirds schwieriger. In einem solchen Fall geht es primär noch darum, wie man die Neigung
kanalisieren kann, damit kein Kind verletzt wird.
Sind die bisher aufgedeckten Fälle
also erst die Spitze des Eisbergs?
«Frau wird sexuell
zur Gefahr»
Eugen Bütler: In unserer Gesellschaft
auf jeden Fall. Die Gesellschaft reagiert
so stark auf die sexuellen Übergriffe
durch Kirchenleute, weil man verärgert
und verletzt ist von der engen Sexualmoral der Kirche. Ich denke an die Ablehnung von Verhütungsmitteln, die Bevorzugung des zölibatären Weges vor
der partnerschaftlichen Lebensform.
Jahrelang hat die Kirche ein geistiges
Ideal gepredigt, das Sexualität unter
Generalverdacht stellte. Und nun kommen solche inakzeptablen sexuellen
Misstritte ans Licht.
Abt Martin Werlen ermutigt mögliche
Täter zur Selbstanzeige. Ist dieser
Aufruf nicht ein wenig naiv?
Eugen Bütler: Er fordert Einzelne dazu auf, sich selber anzuzeigen, damit
das die Kirche nicht tun muss. Sie ist jedoch bei Einverständnis der Opfer dazu
verpflichtet. Nur existiert da eine Ladehemmung. Es ist halt nicht ganz einfach, einen Mitbruder anzeigen zu müssen. Ein Missbrauch muss aber in jedem
Fall geahndet werden! Der Abt von Einsiedeln erkannte als einer der ersten,
welch grossen Handlungsbedarf die
Kirche da noch hat.
Naiv scheint hingegen der Umgang
gewisser Leute mit dem Thema
Kindsmissbrauch. Jemand meinte,
dass man mit 50 nicht mehr der gleiche Mensch sei wie mit 25 – kann
man denn pädophile Neigungen
überhaupt therapieren?
Die Grundsatz-Frage bleibt die gleiche: Züchtet die Kirche pädophile
Priester heran oder zieht sie Männer
mit solchen Neigungen eher an, weil
sie sich im Schutz der Kirche sicherer fühlen?
Eugen Bütler: So hart würde ich das
nicht formulieren. Es gab und gibt immer wieder Menschen, die als Ehelose
ganz gut zurechtkommen. Andererseits
kann die zölibatäre Lebensform schon
ungünstige Entwicklungen fördern. So
kann der Umgang mit dem geistigen
Ideal dazu führen, dass die eigene Sexualität als Konkurrenz zur Ehelosigkeit erlebt wird. Die sinnlich erotischen
Impulse müssen klein gehalten und verdrängt werden, damit sie den zölibatären Weg nicht gefährden. Dies führt zu
einer mangelnden Erfahrung im sexuellen Bereich. Verdrängte, nicht gelebte
sinnlich-erotische Anteile der Person
können zu einem unkontrollierten Ausbruch der eigenen Sexualität führen.
Natürlich ist nicht jeder Zölibatäre dieser Versuchung ausgeliefert. Aber es ist
sicher so, dass der Pflichtzölibat solche
Verfehlungen begünstigen kann.
Liegt es also daran, dass angehenden Priestern schlichtweg der Kontakt zu Frauen fehlt?
Eugen Bütler: Heutzutage haben
Geistliche mehr Kontakt zu Frauen als
früher. Aber die «abwehrende» Einstel-
Eugen Bütler: Eine Entschuldigung ist
das bestimmt nicht! Es gibt verschiedene Formen von Missbrauch und
Übergriffen. Es gibt den gewalttätigen
Missbrauch unter Strafandrohung und
Ausübung der Macht. In Kollegien in
Irland war das zum Beispiel der Fall.
Dann gibt es aber auch jenen, der eher
aus dem Wunsch auf Nähe entstanden
ist und von den Opfern anders erlebt
wird. Der Betreffende fühlt sich auf einer anderen Ebene angegriffen und
auch die Absicht ist eine andere. Trotzdem verletzt es und ist absolut nicht
entschuldbar.
Der Papst zeigt sich in seinem Hirtenbrief zwar tief betroffen, erntet
wegen fehlenden Lösungsvorschlägen jedoch viel Kritik. Er scheint mit
der Situation komplett überfordert –
oder weshalb übernimmt er denn
nicht endlich Verantwortung?
Eugen Bütler: In der Kirche geht es
noch immer darum, ein Ideal aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel jenes der Sakramente oder des Priesteramts. Es
wird um jeden Preis vermieden, etwas
daran in Frage zu stellen. Deshalb sind
fast ausschliesslich jene schuld, die die
Fehltritte gemacht haben. Die Kirche
erhebt für sich – im Namen Gottes und
der Tradition – einen derart absoluten
Anspruch, dass sie nicht mehr fähig ist,
Kritik anzunehmen, geschweige denn
Selbstkritik zu üben.
Die Kirche windet sich aber extrem,
denn mit «Beten, Busse tun, Reue
zeigen» oder «sich ein Beispiel am
Leiden Jesu Christi zu nehmen»
nimmt man Täter ja noch in Schutz!
Eugen Bütler: Genau mit dieser Haltung zwingt man den Menschen wieder
etwas auf, sagt ihnen, was ihnen fehlt.
Meine Beobachtungen sind aber, dass
oft spirituelle Zölibatäre schliesslich
den Weg der Partnerschaft für sich gewählt haben, weil sie spüren, dass dies
der Weg der Liebe für sie ist. Die Liebes- und Lebensenergie, die jeder in
sich trägt und ausleben möchte, wird in
der offiziellen Kirche einfach zuwenig
in ihrer körperlichen Dimension ernst
genommen. Ich frage mich, warum man
das Ideal des ehelosen und sexlosen
Menschen derart aufrechterhält. Im
Christentum heisst es ja: Das Wort ist
Fleisch geworden. Da müsste es doch
auch da Fleisch werden dürfen.
Missbrauchsfälle wurden ja in der Vergangenheit immer wieder bekannt,
doch jetzt erreichen wir eine neue Dimension: Der Damm ist gebrochen.
Erwarten Sie, dass der Kirche die
Schafe nun in Scharen davonlaufen?
Eugen Bütler: Es gibt Leute, die ihr
die Stange halten, weil sie auch all das
Gute sehen, das es in den einzelnen
Kirchgemeinden gibt. Klar wird’s aufgrund der jüngsten Vorfälle auch Austritte geben. Und der Graben zwischen
den Oberen und der Basis könnte tiefer
werden. Die abgehobenen Ideale überfordern manche Menschen oder stossen
sie vor den Kopf.
«Sexualität hat
auch Spirituelles»
Wie kann die Kirche denn ihre mehr
als angekratzte Glaubwürdigkeit
wieder zurück gewinnen?
Eugen Bütler: Meiner Meinung nach
müsste sie eine andere, positiv besetzte
Sexualität propagieren. Die Kirche
müsste dazu beitragen, dass die Sexualität auch spirituell erfahren werden
kann. Dies wäre mehr ihre Aufgabe, als
Grenzen aufzuzeigen und mit dem
Drohfinger Verbote zu erteilen. Viel
wichtiger wäre es zu zeigen, wie man in
der Sexualität auch das Göttliche ins
Menschliche einbringen kann. Unser
Sexualverhalten ist von jenem des
Konsums gesteuert, von einem mechanistischen Verständnis. Dabei geht die
spirituell-geistige Dimension verloren.
Über den Spirit in der Sexualität, darüber müsste die Kirche sprechen.
Abt Martin Werlen fordert Richtlinien
für den Umgang mit Übergriffen und
dass in Rom eine interne schwarze
Liste geführt wird. Bringt das überhaupt nocht etwas?
Eugen Bütler: Potenziellen Opfern
bringt das sehr viel. Eine solche Liste
muss über die Kirche hinausgehen. So
müssen auch Sportvereine wissen, wer
pädophile Neigungen hat. Wer sich
schon vergangen hat, darf schlichtweg
nicht mehr mit Kindern arbeiten. Und
Handlungsbedarf besteht auch strafrechtlich.
Jetzt sind sich viele einig: Das Zölibat muss endlich abgeschafft werden. Was kann man denn noch tun,
um zu verhindern, dass es keine
Missbräuche mehr gibt?
Eugen Bütler: Ein Meldesystem ist
sicher gut, aber es braucht gleichzeitig
auch eine Anlaufstelle für Opfer, insbesondere Kinder und Jugendliche.
Und ebenso für Leute mit pädophilen
Neigungen.
Und Sie bieten bald Sexualtherapien
für katholische Priester an?
Eugen Bütler: Ich biete Sexualberatung für Paare und Einzelne jedwelcher
Ausrichtung an. Als Theologe habe ich
sicher viel Verständnis auch für die
zölibatäre Lebensform und der Auseinandersetzung damit. Von daher sind
auch katholische Priester willkommen.
Sicher ist: Es lohnt sich, über die eigene Sexualität zu reden. Das gibt Klarheit und lässt Wünsche und Bedürfnisse bewusst werden und dann auch
bewusst und verantwortet leben.
Dominic Duss
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