INTERVIEW OBERSEE NACHRICHTEN Donnerstag, 25. März 2010 31 Eugen Bütler, Theologe und Sexualtherapeut, hofft nach jüngsten Missbrauchsfällen auf eine Neuausrichtung der kirchlichen Ideale «Die Kirche ist noch immer verblendet!» Nach Bekanntwerden der jüngsten Missbrauchsfälle hängt der Kirchsegen schief. Sexologe Eugen Bütler sieht Handlungsbedarf in der Kirche und fordert sie zu einer grundlegenden Neuorientierung ihrer Haltung gegenüber der Sexualität auf. lung zur Sexualität, welche die Kirche über weite Strecken vorlebt, führt zu einer Abwertung natürlicher Gegebenheiten. Auch die Frau wird in diesem «Weltbild» zur Gefahr, ausser die Frau als Mutter und natürlich die Jungfrau Maria. Wirkt eine Frau aber erotisch, stellt sie sexuell eine Gefahr dar, der man auszuweichen versucht. Da bleiben – bös gesagt – nur noch Kinder und Jugendliche, zu denen man engen Kontakt pflegt. Obersee Nachrichten: Eugen Bütler, Sie sind Sexualtherapeut und gleichzeitig Theologe. Ist das nicht ein totaler Widerspruch? Kurzum: Wenn man ein enthaltsames Leben führt oder dies muss, sind zwangsläufig körperliche und seelische Störungen die Folge? Eugen Bütler: Für mich nicht. Klar ist es eine ungewohnte Kombination, wenn ein Theologe, der in der Kirche studiert hat, in die Sexologie einsteigt. Aber wenn ich davon ausgehe, dass sich die Spiritualität mit der Liebe zu Gott befasst und die Sexualität mit jener zum Mitmenschen oder auch dem eigenen Körper, hat das viele Parallelen. Dazwischen gibt’s nur eine dünne Trennwand. Leider hat man im Laufe der Geschichte etwas auseinander genommen, was zusammengehört. Eugen Bütler: Nur wenn man es führen muss. Wer sich frei zum enthaltsamen Leben entscheidet und frei dabei bleibt, ist weniger gefährdet. Das ist das grosse Problem der Kirche: Wer nicht mehr so leben will, den Weg des Zölibates verlassen will, muss mit Sanktionen rechnen. Die Kirche droht mit Entlassung und Ächtung. Leuten, die ihr Priesteramt aufgeben und doch noch heiraten wollen, wird das Leben sehr schwer gemacht. Da muss die Kirche dringend Lösungen anbieten. Den Zwang aufrechtzuerhalten, das geht offenbar schief. Da müsste die Kirche dynamischer handeln. Wenn Ihnen in der Beratung ein Klient sexuelle Neigungen zu Kindern anvertraut, was ist Ihre Reaktion? Eugen Bütler: Zuerst versuche ich herauszufinden, weshalb er solche Präferenzen hat. Ich würde ihm zunächst Verständnis entgegenbringen, denn es gibt ja verschiedene sexuelle Vorlieben. Nicht alle führen zu Verletzungen wie die Pädophilie. Kommt jemand beispielsweise durch Reizwäsche in Fahrt oder durchs kalte Metall einer Dampflokomotive, ist das zwar ungewöhnlich, verletzt aber direkt niemanden. Ganz anders bei der Pädophilie. Fühlt sich jemand sexuell zu Kindern hingezogen, muss man die Person darauf aufmerksam machen, wie verletzlich ein Kind ist. Das würde ich tun und dann mit ihm daran arbeiten, damit er mit seiner Neigung positiv umgehen kann. Müssten Sie solche Informationen verschweigen oder wären Sie dazu verpflichtet, diese weiterzuleiten, um sich nicht strafbar zu machen? Eugen Bütler: Solange er nur seine Neigung ausdrückt, würde ich das wohl verschweigen. Erzählt er aber Details zu möglichen Übergriffen, empfehle ich ihm eine Therapie. Sind die Übergriffe massiv, müsste ich das den Behörden melden. Für eine Anzeige müsste ich mindestens ein Opfer kennen und seine Einwilligung erhalten. Denn die Aufarbeitung vor Gericht kann für einen seelisch verletzten Menschen eine Überforderung sein und zusätzlich traumatisieren. Auf jeden Fall darf man nicht wegschauen und einfach die Sache ad acta legen, wie es leider in der Kirche vorgekommen ist. «Es existiert eine Ladehemmung» Was dachten Sie, als die Verfehlungen von Pater Gregor Müller aus Schübelbach bekannt wurden? Eugen Bütler: Ich fand es eigenartig, dass das eine Bistum über seine Vergangenheit Bescheid wusste, das andere aber keine Kenntnis davon hatte. Eine solche Information müsste bei der Anstellung eines Pfarrers vorhanden sein. In letzter Zeit wurden in Europa hunderte Missbrauchsfälle bekannt. Erwarten Sie, dass eine solche Welle nun auch die Schweiz erfasst? Eugen Bütler: Verschiedene Fälle werden nun laufend aufgedeckt. In Einsiedeln haben sich Mönche gemeldet und Eine Entschuldigung kann das aber nicht sein! Denn wer nicht regelmässig Sex hat, kann sich auch nicht auf irgendeine Frau stürzen und diese vergewaltigen! Theologe Eugen Bütler ist überzeugt: «Die Kirche müsste über den Spirit in der Sexualität sprechen.» auch in Disentis soll es Missbräuche gegeben haben. Übergriffe gab es immer wieder. Nur kommen sie jetzt nach und nach ans Licht. Auch deshalb, weil die Kirche Opfer dazu aufruft, Missbräuche zu melden. Fairerweise muss man sagen, dass Übergriffe auch in anderen Bereichen vorkommen, leider häufig auch im familiären Bereich. Eugen Bütler: Ja, unbedingt. Man kann ihnen eine bestimmte Ausrichtung geben. Wenn eine pädophile Neigung jedoch schon sehr stark mit der Lebensgeschichte verknüpft ist, wirds schwieriger. In einem solchen Fall geht es primär noch darum, wie man die Neigung kanalisieren kann, damit kein Kind verletzt wird. Sind die bisher aufgedeckten Fälle also erst die Spitze des Eisbergs? «Frau wird sexuell zur Gefahr» Eugen Bütler: In unserer Gesellschaft auf jeden Fall. Die Gesellschaft reagiert so stark auf die sexuellen Übergriffe durch Kirchenleute, weil man verärgert und verletzt ist von der engen Sexualmoral der Kirche. Ich denke an die Ablehnung von Verhütungsmitteln, die Bevorzugung des zölibatären Weges vor der partnerschaftlichen Lebensform. Jahrelang hat die Kirche ein geistiges Ideal gepredigt, das Sexualität unter Generalverdacht stellte. Und nun kommen solche inakzeptablen sexuellen Misstritte ans Licht. Abt Martin Werlen ermutigt mögliche Täter zur Selbstanzeige. Ist dieser Aufruf nicht ein wenig naiv? Eugen Bütler: Er fordert Einzelne dazu auf, sich selber anzuzeigen, damit das die Kirche nicht tun muss. Sie ist jedoch bei Einverständnis der Opfer dazu verpflichtet. Nur existiert da eine Ladehemmung. Es ist halt nicht ganz einfach, einen Mitbruder anzeigen zu müssen. Ein Missbrauch muss aber in jedem Fall geahndet werden! Der Abt von Einsiedeln erkannte als einer der ersten, welch grossen Handlungsbedarf die Kirche da noch hat. Naiv scheint hingegen der Umgang gewisser Leute mit dem Thema Kindsmissbrauch. Jemand meinte, dass man mit 50 nicht mehr der gleiche Mensch sei wie mit 25 – kann man denn pädophile Neigungen überhaupt therapieren? Die Grundsatz-Frage bleibt die gleiche: Züchtet die Kirche pädophile Priester heran oder zieht sie Männer mit solchen Neigungen eher an, weil sie sich im Schutz der Kirche sicherer fühlen? Eugen Bütler: So hart würde ich das nicht formulieren. Es gab und gibt immer wieder Menschen, die als Ehelose ganz gut zurechtkommen. Andererseits kann die zölibatäre Lebensform schon ungünstige Entwicklungen fördern. So kann der Umgang mit dem geistigen Ideal dazu führen, dass die eigene Sexualität als Konkurrenz zur Ehelosigkeit erlebt wird. Die sinnlich erotischen Impulse müssen klein gehalten und verdrängt werden, damit sie den zölibatären Weg nicht gefährden. Dies führt zu einer mangelnden Erfahrung im sexuellen Bereich. Verdrängte, nicht gelebte sinnlich-erotische Anteile der Person können zu einem unkontrollierten Ausbruch der eigenen Sexualität führen. Natürlich ist nicht jeder Zölibatäre dieser Versuchung ausgeliefert. Aber es ist sicher so, dass der Pflichtzölibat solche Verfehlungen begünstigen kann. Liegt es also daran, dass angehenden Priestern schlichtweg der Kontakt zu Frauen fehlt? Eugen Bütler: Heutzutage haben Geistliche mehr Kontakt zu Frauen als früher. Aber die «abwehrende» Einstel- Eugen Bütler: Eine Entschuldigung ist das bestimmt nicht! Es gibt verschiedene Formen von Missbrauch und Übergriffen. Es gibt den gewalttätigen Missbrauch unter Strafandrohung und Ausübung der Macht. In Kollegien in Irland war das zum Beispiel der Fall. Dann gibt es aber auch jenen, der eher aus dem Wunsch auf Nähe entstanden ist und von den Opfern anders erlebt wird. Der Betreffende fühlt sich auf einer anderen Ebene angegriffen und auch die Absicht ist eine andere. Trotzdem verletzt es und ist absolut nicht entschuldbar. Der Papst zeigt sich in seinem Hirtenbrief zwar tief betroffen, erntet wegen fehlenden Lösungsvorschlägen jedoch viel Kritik. Er scheint mit der Situation komplett überfordert – oder weshalb übernimmt er denn nicht endlich Verantwortung? Eugen Bütler: In der Kirche geht es noch immer darum, ein Ideal aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel jenes der Sakramente oder des Priesteramts. Es wird um jeden Preis vermieden, etwas daran in Frage zu stellen. Deshalb sind fast ausschliesslich jene schuld, die die Fehltritte gemacht haben. Die Kirche erhebt für sich – im Namen Gottes und der Tradition – einen derart absoluten Anspruch, dass sie nicht mehr fähig ist, Kritik anzunehmen, geschweige denn Selbstkritik zu üben. Die Kirche windet sich aber extrem, denn mit «Beten, Busse tun, Reue zeigen» oder «sich ein Beispiel am Leiden Jesu Christi zu nehmen» nimmt man Täter ja noch in Schutz! Eugen Bütler: Genau mit dieser Haltung zwingt man den Menschen wieder etwas auf, sagt ihnen, was ihnen fehlt. Meine Beobachtungen sind aber, dass oft spirituelle Zölibatäre schliesslich den Weg der Partnerschaft für sich gewählt haben, weil sie spüren, dass dies der Weg der Liebe für sie ist. Die Liebes- und Lebensenergie, die jeder in sich trägt und ausleben möchte, wird in der offiziellen Kirche einfach zuwenig in ihrer körperlichen Dimension ernst genommen. Ich frage mich, warum man das Ideal des ehelosen und sexlosen Menschen derart aufrechterhält. Im Christentum heisst es ja: Das Wort ist Fleisch geworden. Da müsste es doch auch da Fleisch werden dürfen. Missbrauchsfälle wurden ja in der Vergangenheit immer wieder bekannt, doch jetzt erreichen wir eine neue Dimension: Der Damm ist gebrochen. Erwarten Sie, dass der Kirche die Schafe nun in Scharen davonlaufen? Eugen Bütler: Es gibt Leute, die ihr die Stange halten, weil sie auch all das Gute sehen, das es in den einzelnen Kirchgemeinden gibt. Klar wird’s aufgrund der jüngsten Vorfälle auch Austritte geben. Und der Graben zwischen den Oberen und der Basis könnte tiefer werden. Die abgehobenen Ideale überfordern manche Menschen oder stossen sie vor den Kopf. «Sexualität hat auch Spirituelles» Wie kann die Kirche denn ihre mehr als angekratzte Glaubwürdigkeit wieder zurück gewinnen? Eugen Bütler: Meiner Meinung nach müsste sie eine andere, positiv besetzte Sexualität propagieren. Die Kirche müsste dazu beitragen, dass die Sexualität auch spirituell erfahren werden kann. Dies wäre mehr ihre Aufgabe, als Grenzen aufzuzeigen und mit dem Drohfinger Verbote zu erteilen. Viel wichtiger wäre es zu zeigen, wie man in der Sexualität auch das Göttliche ins Menschliche einbringen kann. Unser Sexualverhalten ist von jenem des Konsums gesteuert, von einem mechanistischen Verständnis. Dabei geht die spirituell-geistige Dimension verloren. Über den Spirit in der Sexualität, darüber müsste die Kirche sprechen. Abt Martin Werlen fordert Richtlinien für den Umgang mit Übergriffen und dass in Rom eine interne schwarze Liste geführt wird. Bringt das überhaupt nocht etwas? Eugen Bütler: Potenziellen Opfern bringt das sehr viel. Eine solche Liste muss über die Kirche hinausgehen. So müssen auch Sportvereine wissen, wer pädophile Neigungen hat. Wer sich schon vergangen hat, darf schlichtweg nicht mehr mit Kindern arbeiten. Und Handlungsbedarf besteht auch strafrechtlich. Jetzt sind sich viele einig: Das Zölibat muss endlich abgeschafft werden. Was kann man denn noch tun, um zu verhindern, dass es keine Missbräuche mehr gibt? Eugen Bütler: Ein Meldesystem ist sicher gut, aber es braucht gleichzeitig auch eine Anlaufstelle für Opfer, insbesondere Kinder und Jugendliche. Und ebenso für Leute mit pädophilen Neigungen. Und Sie bieten bald Sexualtherapien für katholische Priester an? Eugen Bütler: Ich biete Sexualberatung für Paare und Einzelne jedwelcher Ausrichtung an. Als Theologe habe ich sicher viel Verständnis auch für die zölibatäre Lebensform und der Auseinandersetzung damit. Von daher sind auch katholische Priester willkommen. Sicher ist: Es lohnt sich, über die eigene Sexualität zu reden. Das gibt Klarheit und lässt Wünsche und Bedürfnisse bewusst werden und dann auch bewusst und verantwortet leben. Dominic Duss