Dann wird der König zu denen auf seiner Rechten sagen: Kommt

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Obdach für Leib und Seele
Ethisch-theologische Reflexion eines existenziellen Bedürfnisses
(Stephanie Bohlen, KH Freiburg)
1.
Wohnungslosigkeit in Deutschland
Es geht uns relativ gut in Deutschland. Die Zahl der Arbeitslosen nimmt ab. Doch noch
bekommen in Deutschland trotz abnehmender Arbeitslosenzahlen Menschen Jahre lang keine
Arbeit. Noch kann es sein, dass die, die Arbeit haben, dennoch nicht in der Lage sind, ihren
Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Noch gibt es Menschen ohne angemessenen Wohnraum,
Menschen, die in Ersatzunterkünften leben, und solche, für die die Straße ihr Lebensraum ist.
Folgt man der BAG Wohnungslosenhilfe e.V., 1 ist die Zahl der Wohnungslosen von 2008 bis
2010 nicht nur um ca. 10 % gestiegen. Der Anstieg wird sich bis zum Jahr 2015 eher noch
verstärken. 2010 waren ca. 248.000 Menschen in Deutschland wohnungslos, 22.000 von
ihnen lebten auf der Straße, 2015 könnten 280.000 Menschen ohne Wohnung sein. Das
Problem der Wohnungslosigkeit ist auch in Zeiten abnehmender Arbeitslosenzahlen ein
aktuelles Problem.
Doch was bedeutet es für einen Menschen, seine Wohnung zu verlieren? Was bedeutet es,
nicht angemessen wohnen zu können? Das sind meine Fragen. Ich möchte sie dadurch
beantworten, dass ich in einem ersten Schritt mittels einer philosophischen Reflexion kläre,
was es für den Menschen bedeutet zu wohnen. Dabei gehe ich einerseits davon aus, dass die
Vorstellung von dem Nichtsesshafen, der nicht beheimatet sein will, ein Mythos ist,2
andererseits fokussiere ich mich auf das Wohnen selbst. Die sozialen Probleme, die mit dem
Verlust der Wohnung verbunden sein können und das Recht auf Hilfen nach §§ 67ff SGB
XII begründen, werden nicht zur Sprache kommen. In einem zweiten Schritt soll das Wohnen
dann theologisch reflektiert werden, damit die Heilsbedeutung des Wohnens in den Blick
kommt, ehe dann in einem dritten Schritt ethische Folgerungen abzuleiten sind.
1
http://www.bagw.de/index2.html
Treuberg, E. von: Mythos Nichtseßhaftigkeit. Zur Geschichte des wissenschaftlichen, staatlichen und
privatwohltätigen Umgangs mit einem diskriminierten Phänomen, Bielefeld 1990.
2
1
2.
Die Bedeutung des Wohnens für den Menschen – philosophische und ethische
Reflexion
2.1
Wohnen: ein Menschenrecht
Sowohl in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 als auch in dem
Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 wird vom
Recht auf eine Wohnung gesprochen. 3 Die Vereinten Nationen verstehen unter
Menschenrechten solche Rechte, „die unserer Natur eigen sind und ohne die wir als
menschliche Wesen nicht existieren können.“ 4 Damit ist gesagt, dass es sich bei den
Menschenrechten um Rechte auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen handelt. Werden
solche Bedürfnisse nicht befriedigt, kann ein Mensch nicht menschlich oder menschenwürdig
leben. Deutschland hat sowohl die Menschenrechtserklärung als auch den Sozialpakt
ratifiziert und sich damit auf die Sicherung der dort genannten Rechte verpflichtet.
Die Wohnung wird in Artikel 25 der Menschenrechtserklärung genannt als Aspekt eines
„Lebensstandards, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet.“ Nun
kann man verstehen, dass Gesundheit ein existenzielles Bedürfnis ist. Das gilt auch für die
Sicherheit des Menschen, die Unverletzlichkeit seines Körpers. 5 Aber gehört auch das
Wohlbefinden (well-being) zu den fundamentalen Bedürfnissen? Kann man nicht menschlich
leben, wenn man sich nicht wohlfühlt? Oder darf man das Wohlbefinden auf das Wohl des
Körpers und das körperliche Wohlsein auf die Sicherheit reduzieren? Was ist das überhaupt:
Wohlbefinden?
Um das zu klären, möchte ich nun einen Ausflug in die Philosophie machen. Denn anhand der
philosophischen Reflexion auf das Wohnen kann uns bewusst werden, dass die Wohnung
nicht nur unser Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt, sondern ein konstitutiver Aspekt der
Ausbildung unseres Selbstverständnisses, unserer Identität ist.
3
Spieß, K.: Das internationale Recht auf Wohnen – ein Überblick. In: Schröder, H. (Hg.): Ist soziale Integration
noch möglich? Die Wohnungslosenhilfe in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung, Bielefeld 2008 (Materialien zur
Wohnungslosenhilfe, Bd. 60), S. 97-103.
4
UN, Human Rights: Questions and Answers, 1987. Zitiert nach Vereinte Nationen – Zentrum für
Menschenrechte/ Internationaler Verband der SozialarbeiterInnen / Internationale Vereinigung der
Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit: Menschenrechte und Soziale Arbeit. Weingarten 1997, S. 5.
5
Wo von Grundbedürfnissen die Rede ist, richtet sich der Blick gängig auf die Bedürfnistheorie von Abraham
Maslow. Nach Maslow sind die körperlichen Bedürfnisse fundamentale Bedürfnisse. Unter ihnen nennt er neben
dem Bedürfnis nach Gesundheit auch das nach Sicherheit. Ihm wird die Wohnung zuordnet.
2
2.2
Die Thematisierung des Wohnens in der Philosophie
2.2.1 Der Dualismus Descartes
Im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ wird zum Begriff des Wohnens mitgeteilt, die
philosophische Reflexion habe erst mit dem 20. Jahrhundert eingesetzt. 6 Das Wohnen ist
lange Zeit kein Thema der Philosophie gewesen sein, weil auch der Körper von der
Philosophie „vergessen“ wurde. Aufgrund seines Körpers lebt der Mensch nicht nur in sich,
sondern existiert im Raum und erlebt sich selbst als räumlich. 7 Wer wohnt, hat einen Raum
inne. Nur dort, wo mit dem Körper des Menschen auch seine Räumlichkeit gedacht wird,
kann daher das Wohnen zum Thema werden.
Der Körper des Menschen aber war bis ins 20. Jahrhundert kein Thema, dem sich die
Philosophie gestellt hätte, sah man doch im Menschen vorrangig das vernunftbegabte Wesen.
Auch von den Sozialwissenschaften wurde der Mensch lange Zeit nur als „rational handelnder
Akteur“ verstanden, der Körper galt „als unwesentlicher Aspekt sozialen Handelns“. 8 Die
„Leibvergessenheit“ 9 sowohl der Philosophie als auch der Sozialwissenschaften führt Robert
Gugutzer darauf zurück, dass man dem Dualismus Descartes zum Ausgangspunkt der
Reflexion auf den Menschen machte. Der Cartesianismus musste überwunden werden, sollte
es zu einer Thematisierung des Körpers und der Leiblichkeit in der Philosophie und dann
auch den Sozialwissenschaften kommen.
Für Descartes ist der Mensch das denkende, seiner selbst bewusste Ich. Als ego cogito kann er
seiner selbst sicher sein. Das macht ihn als Menschen, als Subjekt aus. Er ist denkendes Ich,
doch er hat einen Körper. Den Körper denkt Descartes in Analogie zu einer Maschine, die
durch das Denken gesteuert wird. In seiner Philosophie wird der Mensch zu einem Wesen,
das aus einer denkenden Substanz einerseits, einer körperlichen Substanz andererseits besteht.
Dabei hat Descartes zwar erkannt, dass der Körper mit dem Ich „sehr eng verbunden ist.“10
Die Verbundenheit aber zu reflektieren, sah er keinen Anlass, ging es ihm doch darum zu
6
Hahn, A.: Art. „Wohnen“. In: Hist. Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter und K. Gründer, Bd. 12,
Basel 2004, Sp. 1015-1018. Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass im „Handbuch der Anthropologie“ die
Grundbegriffe der Anthropologie besprochen werden ohne dass das Wohnen zur Sprache käme. Vgl. Bohlken,
E. / Thies, Ch. (Hg.): Handbuch Anthropologie, Stuttgart 2009.
7
Vgl. dazu die Analysen Otto Friedrich Bollnows zur Leiblichkeit des Menschen. Bollnow, O. F.: Mensch und
Raum, 9. Aufl., Stuttgart 2000.
8
Gugutzer, R.: Soziologie des Körpers, Bielefeld 2004, S. 21.
9
Gugutzer, Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung zur personalen
Identität, Wiesbaden 2002, S. S. 19 und 57.
10
Vgl. Descartes, R.: Meditationes de prima philosophia, hg. von L. Gäbe, Hamburg 1959, S. 141 (VI, 9).
3
beweisen, dass der Mensch als denkendes Ich auch ohne Körper existieren kann. In einer
solchen Konzeption ist der Mensch als denkendes Ich bei sich selbst zu Hause. Der Körper
hat im Grunde keine Relevanz für das, was den Menschen ausmacht. Er ist nur eine Art von
Maschine.
2.2.2 Menschsein als In-der-Welt-sein und Wohnen
Mit seiner Überwindung des Cartesianismus hat Edmund Husserl die Fundamente zu einer
gewandelten Thematisierung des Körpers und der Leiblichkeit des Menschen im 20.
Jahrhundert begründet. Husserl spricht sowohl vom Körper des Menschen als auch von
seinem Leib, um deutlich zu machen, dass der Körper des Menschen nicht nur ein Objekt
unter den anderen Objekten ist. In seinem Konzept des „fungierenden Leibes“ kommt zur
Sprache, dass der Körper/Leib die Funktion hat, uns für die Welt aufzuschließen. 11 Der
Mensch hat nicht nur eine Stelle im physikalischen Raum inne, sondern er lebt aufgeschlossen
für die Welt, die ihm leibhaftig zugänglich ist und die sich ihm daher auch von seinem Leib
her erschließt. Und die Wohnung ist eine Art der Erweiterung des Raumes, den der Mensch
aufgrund seiner Leiblichkeit inne hat. 12
Die Impulse Husserls wurden aufgegriffen unter anderem von Martin Heidegger, der
erkannte, dass in der Philosophie Husserls der Überwindung der Vorstellung von einem
Subjekt, das als „Ich denke“ in sich selbst verschlossen gedacht wird, vorgegriffen ist. Er
verabschiedet die Subjektivitätsphilosophie, indem er nun explizit davon ausgeht, dass
Menschsein nur als leibhaftiges In-der-Welt-sein gedacht werden kann. Sofern der Mensch
existiert, ist er auch aufgeschlossen für die Welt, die sich ihm leibhaftig erschließt.
Heideggers Deutung der menschlichen Existenz durch den Begriff des In-der-Welt-seins
macht also deutlich, dass der Mensch aufgrund seiner Leiblichkeit stets eingebunden ist in
eine Welt. 13 Welt aber ist anderes als nur ein Raum, in dem der Mensch verortet ist. Welt ist
jene Lebenswelt, in der sich ein Mensch bewegt. Heidegger spricht explizit vom „Wohnen“
in der Welt. In seiner Abhandlung „Sein und Zeit“ gibt er zu bedenken, das Sein des
Menschen sei als In-der-Welt-sein ein „wohnen bei …, vertraut sein mit“. 14
11
Vgl. u.a. Husserl, E.: Texte aus dem Nachlaß. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, hg. von I. Kern, The
Hague 1973 (Ges. Werke, Bd. XIV, 2) S. 57.
12
D. Funke spricht von einem „größeren Umraum“. Vgl. Funke, D.: Die dritte Haut. Psychoanalyse des
Wohnens, Gießen 2006, S. 292.
13
Vgl. dazu auch die Analysen von Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966.
14
Heidegger, M.: Sein und Zeit, 15 Aufl., Tübingen 1979, S. 54.
4
Leibhaftig zu existieren bedeutet, sich selbst in Stimmungen zu erleben. Nach Heidegger sind
es die Stimmungen, die uns unsere Befindlichkeiten erschließen und uns dadurch Zugang zu
unserem eigenen Sein verschaffen. Damit der Mensch danach fragen kann, wer er ist, muss
sich ihm sein eigenes Sein, sein Befinden, zu denken geben. Das geschieht durch die
Stimmungen. Sie teilen mit, wie es um einen steht. In einem Aufsatz von 1952 teilt Heidegger
dazu mit: „Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde
sind, ist […] das Wohnen. Mensch sein heiß: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt:
wohnen.“ 15 Demnach bedeutet Wohnen nicht nur einfach „sein“, sondern hebt auf die Art und
Weise ab, in der der Mensch lebt. Sein gibt es für den Menschen nur auf die ein oder andere
Art: als Sich-Wohlfühlen, als Beheimatet-Sein, Unbehaust-Sein etc. Noch ehe der Mensch
über sich nachdenken kann, erfährt er sich in Stimmungen versetzt. Er fühlt sich wohl „in
seiner Haut“ und im Gefühl des Wohlseins erschließt sich ihm sein In-der-Welt-sein als ein
Vertrautsein mit dem, was ihn umgibt. Oder er erfährt sich „unbehaust“. Das, was ihn umgibt,
ist ihm nicht vertraut. Das macht ihn unsicher. Der Bezug des Menschen zu der Welt, in der er
lebt, ist also nicht primär der eines theoretischen Reflektierens, sondern stellt sich dar als
„vorreflexives“ Eingestimmtsein auf Welt und Bestimmtsein durch das, was einen als Welt
umgibt. 16 Daraus folgt aber nun für unser Thema unmittelbar, dass der Mensch seiner selbst
nicht sicher sein kann, erlebt er sich unsicher in seiner Welt. Und die Sicherheit, die Welt
gibt, ist das, was einen Menschen seiner selbst sicher machen kann. Wo das Recht auf
Wohnen eingefordert wird, geht es also um das Recht darauf, seiner selbst sicher sein zu
dürfen oder – anders gesagt: zu wissen, wer man selbst ist und woran man mit sich selbst ist.
2.2.3
Die Bedeutung des Wohnens für die Konstruktion menschlicher Identität
Heidegger selbst hat die Frage nach dem Menschen nicht in den Fokus seines Denkens
gestellt. Folglich hat er seine Gedanken auch nicht zu einer Anthropologie ausgearbeitet, in
der die Frage nach der Identität des Menschen zur Sprache gekommen wäre. Ich möchte aber
mit Robert Gugutzer von der Philosophie Heideggers her auf Identitätstheorien blicken, um
die Folgen, die sich aus seinem Ansatz für die Frage nach der Identität ergeben könnten, zu
benennen. 17
15
Heidegger, M.: Bauen Wohnen Denken, Stuttgart 1978, S. 33.
Vgl. auch Merlau-Ponty, M: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 291.
17
Die Bedeutung des Leibes für die Identität des Menschen deutet sich nach Gugutzer an bei Erikson, der von
dem „bewusste[n] Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen“ spricht. Zu Erikson vgl. Gugutzer, R.: Leib,
16
5
Aktuelle Identitätstheorien gehen davon aus, dass der Mensch sein Leben lang daran arbeitet,
die Frage, wer er selbst ist, zu beantworten. Identitätsarbeit geschieht dabei als narrative
Konstruktion von Kohärenz. Der Mensch erzählt von dem, was er erlebt und erfahren hat.
Dabei hat das Erzählen die Funktion, sich an das, was geschehen ist, zu erinnern und das
Erinnerte auf eine Art zu verknüpfen, die das eigene Leben als in sich kohärente
Lebensgeschichte verständlich macht.
Unter Identitätstheoretikern gilt als unstrittig, dass es unter den Bedingungen unserer spätoder postmodernen Gesellschaft unmöglich ist, ein Leben ohne Brüche zu leben. 18 Folglich
stellt sich jede Identitätskonstruktion dar als Verknüpfung von solchem, das nur bedingt als
kohärentes Ganzes zu erzählen ist. Das gilt insbesondere für solche Menschen, die die Frage,
wer sie selbst sind, beantworten müssen in der Erinnerung an Erfahrungen, die ihnen ihr
Leben als von Grund auf brüchig zu denken geben. Trifft es nun zu, dass die Stimmungen
dem Menschen das eigene Befinden erschließen, noch ehe er über sich selbst nachdenken
kann, geht das gefühlte Wissen um das eigene Sein der Identität, die durch das Erzählen
konstruiert wird, voraus. Gugutzer vertritt daher die These, dass Identität vorrangig zu
verstehen sei als ein leibhaftiges Sich-Selbstempfinden. 19 Daraus folge dann aber auch, dass
jede konstruierte Identität der „spürbaren Stützung“ bedürfe. „Um eine aus der Sicht des
Subjekts echte Selbstidentifikation handelt es sich erst dann, wenn die konstruierte
Kontinuität der eigenen Lebensgeschichte auch empfunden wird, wenn sie also eine spürbare
Stützung erfährt.“ 20 Wo ein Mensch auf dem Weg zur Ausbildung persönlicher Identität ist,
stellt sich ein „Wohlbefinden“ ein. 21 Wohlbefinden aber ist keine Frage des Denkens und der
Vernunft, sondern der körperlichen Befindlichkeit. Wo sich ein Mensch „wohl fühlt in seiner
Haut“ verknüpft sich die narrativ konstruierte Identität ist mit dem Gefühl, mit sich selbst eins
zu sein. Aus der Perspektive der Psychologin thematisiert Antje Flade die Funktion der
Wohnung für die Ausbildung von Identität: „Wenn die Wohnung gleich bleibt, die der
Mensch als seinen erweiterten persönlichen Raum betrachtet, fällt es ihm leichter, sich als
Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung zur personalen Identität, Wiesbaden
2002, S. S. 22-28.
18
Keupp, H. u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 1999.
19
Gugutzer, R.: Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung zur personalen
Identität, Wiesbaden 2002, S. 101f.
20
S. 129f.
21
Vgl. Erikson, E.H.: Das Problem der Ich-Identität. In: Ders.: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/M., S. 123212, 147.
6
Ich-Selbst zu fühlen und sich nicht […] zu verlieren.“ 22 Die Wohnung gibt dem Menschen
Sicherheit, wobei unter Sicherheit nun die durch das Gefühl gestützte Selbstsicherheit
gemeint ist. Von da aus wird auch verständlich, warum wir Wohnungen als solche Orte
gestalten, wo alles seinen Platz hat, wo einem „alles vertraut“ ist. 23 Das Gefühl der Kohärenz
ist eng verbunden mit dem Gefühl, das Leben im Griff zu haben. Darum brauchen Menschen
das, was ihnen vertraut ist, worauf sie sich verstehen.
Im Kontext der Gedanken zum Wohnen muss noch ein Aspekt benannt werden, der in den
Blick kommt, sobald Identität als narratives Konstrukt gedeutet wird. Wer von sich erzählt,
stellt sich vor anderen dar. Dabei stellt auch der Körper ein Mittel dar, auf das man
zurückgreifen kann, um sich selbst darzustellen. Will man wer sein, muss man in sein
Körperkapital investieren. Man muss an seinem eigenen Körper arbeiten, um ihm die Gestalt
zu geben, in der man sich den anderen darstellen will. Was für den Körper gilt, gilt dann auch
für die Wohnung. Wer eine Wohnung hat, hat auch die Möglichkeit, sich durch sie
darzustellen, sich zu inszenieren. Und auch das ist bedeutend für die Identitätsarbeit,
stabilisiert sich Identität doch durch die Anerkennung der anderen. Es versteht sich, dass eine
solche Form der Identitätsarbeit daran gebunden ist, dass man überhaupt über einen
Wohnraum verfügt, den man gestalten kann und darf. Das Recht auf Wohnen stellt sich uns
mithin dar als Recht auf einen vertrauten Lebensraum, den man gestalten kann und darf, um
sich dadurch als Selbst zu stabilisieren.
3.
Das Wohnen als Thema der Theologie
Nachdem deutlich geworden sein dürfte, dass das Wohnen insofern ein Grundbedürfnis des
Menschen ist, als es für die Ausbildung menschlicher Identität von Bedeutung ist, möchte ich
nun eine theologische Reflexion des Wohnens in Angriff nehmen. Für mich verknüpfen sich
die beiden Gedankengänge. Denn die Theologie verstanden werden kann als Explikation einer
religiösen Identitätsarbeit des Menschen. Auch in der Religion geht es darum, dass der
Mensch die Frage beantwortet, wer er selbst ist, indem er von sich und seinen Erfahrungen
erzählt und durch die Deutung der Erfahrungen dem eigenen Leben Kohärenz gibt. Auch für
den religiösen Menschen stellt sich die Frage nach dem eigenen Sein und danach, ob er darauf
hoffen darf, dass die Brüche in seinem Leben geheilt werden können. Die Frage der Religion
ist die Frage nach dem Heil. Und „Wohnen“ ist ein Begriff für das Heil ist, das Gott dem
22
Flade, A.: Wohnen psychologisch betrachtet. Bern, Stuttgart, Toronto 1987, S. 56.
7
Menschen anbietet. Zur Explikation der Heilsbedeutung des Wohnens nehme ich Bezug auf
das Alte und Neue Testament und auf Grundaussagen der Katholischen Soziallehre.
3.1
Wohnen im Alten und Neuen Testament
3.1.1
„Wohnen im Hause des Herrn“
Nach Ulrich Thien steht eine „Theologie des Wohnens“ noch aus. 24 Dabei ist das Wohnen
kein theologisch unbedeutender Begriff. Denn das Wohnen wird sowohl im Alten als auch im
Neuen Testament eng mit der Erwartung von Heil verbunden. Der Beter spricht seine
Hoffnung aus: „Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang, und im Haus des
Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.“ (Ps 23,6. Vgl. Ps 42,3).
Wo der Betende das „Haus des Herrn“ nennt, denkt er an das Heiligtum in Jerusalem. Für ihn
hat Gott dort seine Wohnung unter den Menschen (Vgl. Ps 84). Doch nicht nur das „Haus des
Herrn“ ist Ort des Heils, sondern auch die Wohnung, die der Familie Sicherheit und
Geborgenheit bietet. Wer mit seiner Familie in der eigenen Wohnung leben darf, kann das
Heil, das Gott dem Menschen zugedacht hat, am eigenen Leib zu spüren (Ps 128; Jer 29,5
u.ö.).Dort, wo Gott mitten unter den Menschen präsent ist, gibt es Frieden und Sicherheit. Die
Stadt Jerusalem mit ihrem Heiligtum ist daher für den Juden die ideale Stadt, eine Stadt mit
Mauern, die Sicherheit bieten, mit Häusern, in denen man gut leben kann, aber auch mit
Toren, durch die alle, die zum Heiligtum wollen, in die Stadt kommen können (Ps 122).
Jesus greift solche Vorstellungen auf. „Im Hause meines Vaters gibt es viele Wohnungen“,
sagt er denen zu, die ihm auf seinem Weg folgen (Joh 14, 2). Das Wohnen-dürfen bei Gott, im
Haus oder auch in der Stadt Gottes, ist das Ideal, nach dem sich die Menschen sehnen. Denn
bei Gott wohnen zu dürfen bedeutet, eine Heimat zu haben, die dadurch als Ort des Heils
begründet ist, dass Gott dort präsent ist.
Die Sehnsucht nach dem Wohnen in einer Stadt, die Frieden und Sicherheit bietet, ergibt sich
im Kontrast zu den Erfahrungen kontrastiert, die mit dem Weg durch die Wüste nach der
Befreiung aus Ägypten verbunden waren, einerseits, den Erfahrungen des Lebens im
23
Ebd,
Thien, U.: Wohnungsnot im Reichtum. Das Menschenrecht auf Wohnung in der Sozialpastoral, Mainz 1998,
S. 148.
24
8
babylonischen Exil andererseits. In Ägypten handelt Gott befreiend an seinem Volk. Doch er
will nicht nur, dass sein Volk frei sei. Er möchte das Heil der Menschen. Darum führt er das
von ihm befreite Volk durch die Wüste, wo es erfährt, was es bedeutet, keine sicheren
Wohnungen zu haben. Er führt es in das gelobte Land, damit es dort Wohnung nehmen kann.
Das Wohnen im Haus und damit in Sicherheit wird im Kontrast zu den Wüstenerfahrungen
zum Inbegriff des heilen Daseins. Wo man sich an die Zeit im babylonischen Exil erinnert,
kommen Gefühle des Fremdseins zur Sprache. Im Gebet erinnern sich die Juden: „An den
Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.“ Das Gebet
erinnert daran, was es bedeutet, die Heimat verloren zu haben: „Wie könnten wir singen die
Lieder des Herrn, fern auf fremder Erde.“ (Ps 137,1-4). Die Erinnerung an die Fremde
verbindet sich mit der Sehnsucht nach Heimat, nach dem Heiligtum Gottes auf dem Zion. Es
wird deutlich: die Heimat ist für den Juden nicht nur ein Ort auf der Erde sondern der Ort des
Heils.
3.1.2
Die Schöpfung der Erde, des Lebensraums für den Menschen
Für den Juden hat das Wohnen bei Gott, das er sich als Heil erhofft, ein
schöpfungstheologisches Korrelat. Denn die Schöpfung wird in den Schöpfungserzählungen
gedeutet als Schaffung eines Lebensraums. Die erste Schöpfungserzählung, mit der das Alte
Testament anhebt, geht von einem Urzustand aus, der als Wüste von Wassern gedacht wird.
Gott, erzählt man, habe ein Gewölbe gemacht und die Wasser oberhalb des Gewölbes von den
Wassern unterhalb des Gewölbes geschieden. Die Scheidung der Wasser schafft Raum. Dann
schafft Gott den Menschen. Die Schöpfung vollendet sich darin, dass Gott dem Menschen die
Erde als jenen Lebensraum übergibt, in dem ihm alle Mittel zur Verfügung stehen, mit denen
er sein Leben gestalten kann.
Jene Erzählungen des Alten Testamentes, die an den Anfang der Zeiten erinnern, enden aber
nicht damit, dass der Mensch seinen Lebensraum bekommt. Sie erzählen auch davon, dass
Gott dem Menschen eine Grenze setzt. Sie wird anschaulich in dem Mythos, in dem erzählt
wird, Gott habe verboten, sich an dem Baum in der Mitte des Gartens zu vergreifen. Der
Mensch will nicht anerkennen, dass ihm Grenzen gesetzt sind. Er widersetzt sich Gottes
Gebot und schafft dadurch Zustände, die man als „tödlich“ begreifen kann. Die Menschen
verlieren die Heimat, in der sie alles zur Verfügung hatten, und der Nachkomme Adams tötet
den eigenen Bruder. Der Mythos gibt zu denken: Wo sich der Mensch dem Gesetz Gottes, das
9
ein Gesetz des Lebens ist, widersetzt, wird der Tod zur Realität, die das Leben ergreift. Und
der Tod ist in dem Fall der Inbegriff für alle die Verhältnisse, die das Leben des Menschen in
Frage stellen.
3.1.3
Die prophetische Tradition des Alten Testaments
Die Erzählungen vom Anfang sind jenen Erzählungen, in denen sich die Juden an das
befreiende Handeln Gottes erinnern, vorangestellt. Betend machen sich die Juden Tag für Tag
bewusst, dass die Heimat, die sie nach der Wanderung durch die Wüste im gelobten Land
gefunden haben, einen Zustand der Geborgenheit darstellt, den Gott für sie gewollt und
ermöglicht hat (vgl. Dtn. 12,10). Aber Sicherheit und Geborgenheit, auch dessen gilt es sich
bewusst zu sein, gibt es nur dort, wo sich die Menschen am Gesetz Gottes, dem Gesetz des
Lebens, ausrichten. Von daher ist zu verstehen, dass in den prophetischen Texten des
Judentums die Sehnsucht nach der Heimat, die man verloren hatte, als jene Grundstimmung
greifbar wird, von der her die Aufforderung zur Umkehr zur mächtigen Stimme wird. Umkehr
geschieht, wo Menschen ihr Handeln neu am Willen Gottes ausrichten. Dass die Propheten
zur Umkehr auffordern, ist nur zu verstehen unter der Bedingung, dass die Orientierung am
Willen Gottes faktisch verloren gegangen war. Dafür sprachen den Propheten zufolge die
sozialen Probleme, die die Gesellschaft spalteten.
Der Prophet Amos nennt die Gründe für die Spaltung der Gesellschaft beim Namen: die
Armen werden ausgebeutet, die Reichen häufen allen Besitz an (Am 8,4; Jes 5,8). Von den
Armen nimmt man Pacht und Zins, die nicht bezahlbar sind (Am 5,11). Die Reichen leben
von dem, was sie den Armen genommen haben (Jes 3,14). Die Reichen bestechen, die
Schwachen werden nicht gehört, ihr Recht wird gebeugt. Solche Fakten, die nicht durch
Verschulden der Armen, sondern durch Ausbeutung durch die Reichen verursacht sind,
widersprechen dem Gesetz Gottes. Dessen ist sich Amos sicher.
Zu Zeiten des Propheten Amos gab es eine Sozialgesetzgebung, mittels derer radikale Armut
strukturell verhindert werden sollte. Bedeutsam in unserem Kontext sind u.a. die Gesetze, die
die Möglichkeiten, Pfand zu nehmen, begrenzten (Dtn 24,6.17), das Zinsverbot oder auch die
Verpflichtung zur Abgabe des Zehnten, einer Sozialsteuer (Dtn 14,22). Zu nennen sind die
Regelungen zum Schuldenwesen, denen zufolge alle sieben Jahre auch die Schulden
brachliegen sollten. Auf Grundbesitz gab es ein Rückkaufrecht (Lev 25,24). Nach 50 Jahren
10
waren die, die sich verschulden mussten, frei zu sprechen, damit sie zu ihrem Besitz
heimkehren konnten. Solche Gesetze, die die Möglichkeiten, Besitz anzuhäufen, begrenzten,
um die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich zu verhindern, wurden damit begründet,
dass Gott zwar dem Menschen die Erde als seinen Lebensraum zugedacht habe, ohne dass die
Erde dadurch aber in das Eigentum des Menschen übergegangen wäre (Ps 24,1; Ex 19,5). Da
Gott der Herr der Erde ist, kann der Mensch mit der Erde auch nicht machen, was er will,
sondern muss sich in seinem Handeln an Gottes Willen orientieren.
Dass Gott einerseits der Eigentümer der Erde ist, andererseits will, dass die Armen zu ihrem
Recht kommen, hat zur Folge, dass das religiöse Gesetz der Juden primär ein Sozialgesetz ist,
das jedem das sichert, was er zum Leben braucht. Darum können sich die Propheten dann
auch auf den Willen Gottes berufen und zur Orientierung am Gesetz aufrufen. Im Namen
Gottes fordern sie Solidarität ein, die nicht in einem Gefühl fundiert ist, sondern im Wissen
um das, was vor Gott rechtens ist und jedem Menschen zusteht.
3.1.4
Die Reich-Gottes-Botschaft Jesu
Mit seiner Reich-Gottes-Botschaft greift Jesus die Perspektive der jüdischen Prophetie auf.
Auch er verbindet die Botschaft vom Reich Gottes mit der Aufforderung zur Umkehr. Soll
das Reich Gottes wachsen, müssen die Menschen umkehren und das Unrecht beseitigen.
Dann müssen auch die Armen Zugang bekommen zu dem, was Leben möglich macht.
Teilhabe muss allen zugestanden werden. Dabei steht Jesus auf der Seite der Armen. Ihnen
sagt er nicht nur im Namen Gottes zu: Ihr werdet das Land erben (vgl. Mt 5,3-5), sondern er
realisiert die Zusage durch sein eigenes Handeln, seine Zuwendung zu den Ausgegrenzten der
damaligen Gesellschaft. Wo Jesus agiert, werden Grenzen durchbrochen. Und wo es keine
Grenzen gibt, gibt es auch keine Spaltung der Gesellschaft, keine Exklusion.
An der Stelle komme ich kaum umhin, auf die Möglichkeit auch des Missbrauchs von
religiösen Vorstellungen hinzuweisen. Auch Paulus greift die Differenz von Fremde und
Heimat auf, um die Hoffnung auf Heil zur Sprache zu bringen. „Wir wissen: wenn unser
irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von
Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel“ (2 Kor 5,1). Für uns verbindet sich der
Begriff des Himmels gängig mit dem des Jenseits. Dafür, dass es rechtens ist, die Sehnsucht
nach einer Heimat mit der Hoffnung auf ein jenseitiges Leben zu verbinden, spricht auch,
11
dass Paulus zu bedenken gibt, solange der Mensch im Leib zu Hause sei, lebe er fern vom
Herrn in der Fremde, der Mensch strebe aber danach, aus dem Leib auszuwandern, um dann
beim Herrn daheim sein zu können (2 Kor 5,6-8). Bedeutet das nicht, dass wir uns dort, wo es
uns nicht gut geht, damit trösten können, dass wir unterwegs sind, um eines Tages bei Gott
wohnen zu dürfen?
Der Vorwurf, dass die Religion auf das Jenseits vertröste, statt zur Veränderung der
gesellschaftlichen Strukturen aufzufordern, ist der Fokus aller Religionskritik. Es wäre in der
Tat problematisch, würden wir uns von der Verantwortung für die Gestaltung unserer
Gesellschaft und die Beseitigung der sozialen Probleme dadurch frei sprechen, dass wir
unseren Blick nur auf das Jenseits richten. Nun trifft es aber nicht zu, dass der Begriff des
Himmels ausschließlich auf das Jenseits bezogen ist. 25 Die Verknüpfung des Himmels mit
dem Jenseits ist konstitutiv für die Vorstellungen der Apokalyptik. Die paulinische und
deutlicher noch die jesuanische Konzeption des Himmels unterscheiden sich von der der
Apokalyptiker darin, dass Jesus den Himmel oder das Himmelreich nicht nur im Jenseits
verortet. Ihm geht es in seiner Botschaft um den Anbruch des Gottesreichs im Diesseits. Das
Reich Gottes ist bekanntlich wie ein Senfkorn. Das Korn ist in die Erde gelegt, der Baum
muss nur noch wachsen, soll er zur Wohnung werden für die Geschöpfe des Himmels. Das
Reich Gottes ist demnach für Jesus nicht nur ein jenseitiges Reich, sondern eine Möglichkeit
zu leben, die uns Gott zugesagt hat und deren Realisierung nun an der Zeit ist. Darum tut die
Kirche gut daran, nicht nur vom jener Heimat zu sprechen, die uns im Himmel erwartet,
sondern auch davon, dass in dem Begriff des „Himmel“ eine Vision ausgesprochen ist, die für
uns zwar nach dem Tod zur endgültigen Realität werden mag, aber dadurch, dass sie sich in
diesem Leben zu erfahren geben will, zum Appell wird, die gesellschaftlichen Strukturen auf
die Vision hin zu verändern. Um es einfach zu sagen: Wer nie den „Himmel auf Erden“
erfahren durfte, für den wird der Begriff des Himmels kaum Lebensrelevanz bekommen. Wer
nie erfahren durfte, was es bedeutet zu wohnen, wird der „Wohnung im Himmel“ keine
Bedeutung für sein Leben, zusprechen. Darum sind wir gefordert, Wohnerfahrungen zu
ermöglichen, die als Vorwegnahme des endgültigen Wohnens bei Gott die Relevanz der
Botschaft Jesu greifbar machen.
3.2
Das Recht auf Wohnen in der Perspektive der Katholischen Soziallehre
25
So auch Junglas, M.: Das Recht auf Wohnen unter anthropologischen und theologischen Gesichtspunkten. In:
Wohnungslos 4/1999, S. 141-144.
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Die Katholische Soziallehre will Menschen nicht auf das Jenseits vertrösten. Sie will die
„Zeichen der Zeit“ erkennen, um von dorther jene Fragen zu stellen, die einer Antwort
bedürfen. Solche Antworten ergeben sich für die Katholische Soziallehre im Rückgriff auf das
Alte und Neue Testament einerseits, auf philosophische Grundprinzipien andererseits.
In der Enzyklika „Rerum novarum“ 26 aus dem Jahr 1891 nimmt Papst Leo XIII. Stellung zu
der Frage, ob die Abschaffung des Privateigentums ein Weg ist, um die Spaltung der
Gesellschaft in Arm und Reich strukturell zu beseitigen. Er wendet sich gegen die Forderung,
das Privateigentum abzuschaffen. Das Streben nach Eigentum sei in der Natur des Menschen
verwurzelt. Doch dürfe es weder zur Anhäufung von Besitz nur auf Seiten der Reichen
kommen, noch auch dazu, dass Menschen unmöglich wird, ihren Lebensunterhalt und den
ihrer Familien mittels ihres Lohnes auch zu bestreiten. Die Sicherung des Lebensunterhalts
wird in der Enzyklika mit der Möglichkeit verknüpft, Grundbesitz zu erwerben. Gedacht ist
daran, dass in der Regel jeder privaten Grundbesitz hat, um dort mit seiner Familie leben zu
können. Nun gebe es Menschen, die keinen Grundbesitz haben. Ihre Würde sei zwar nicht in
Frage gestellt, doch dürften sie es schwer haben, können sie doch ihrer Familie kein Heim
bieten. Der Staat sei daher verpflichtet, ihnen und ihren Familien zu ermöglichen, ein „in
Sicherheit hinsichtlich Wohnung, Kleidung und Nahrung […] weniger schweres Leben [zu]
führen.“ 27
Die Enzyklika „Rerum novarum“ legt die Basis zur Beantwortung der Wohnungsfrage durch
die Katholische Soziallehre. Die Unterordnung des Privateigentums unter das Gemeinwohl,
die in „Rerum novarum“ auf den Weg gebracht ist, wird in Folge zu einem der
Grundprinzipien der Katholischen Soziallehre, dem Gemeinwohlprinzip, das seine
Begründung auch von der alttestamentlichen Aussage her erfährt, dass Gott, der Eigentümer
der Erde, wolle, dass alle Menschen die Güter zur Verfügung haben, mittels derer sie ihren
Lebensunterhalt sichern können. 28 Die Wohnung wird dort, wo sie in den Enzykliken zum
Thema wird, als Aspekt des Lebensunterhaltes benannt. Auch in der Pastoralkonstitution des
2. Vatikanischen Konzils wird das, was der Mensch zu einem menschlichen Leben braucht,
durch die Trias von Nahrung, Kleidung und Wohnung expliziert, ehe andere Grundrechte
angefügt werden. 29 In die Pflicht genommen wird der Staat. Es ist an ihm, sowohl zu sichern,
26
Die Enzykliken werden zitiert nach: Texte zur katholischen Soziallehre, hg. vom Bundesverband der
Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands, 5. Aufl., Kevelaer 1982.
27
Rerum novarum 27.
28
Vgl. U.a. die Enzyklika Sollicitudo rei socialis 39.
29
Pastoralkonstitution Gaudium et spes 26.
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dass das Gemeinwohl dem Privateigentum vorgeordnet wird, als auch dort zu helfen, wo ein
Mensch seinen Lebensunterhalt nicht selbst erarbeiten kann. Er ist aufgefordert zu einer
Politik, die den Wohnungsbau fördert. 30
In der Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ wird eigens bedacht, dass die Ausrichtung auf das
Gemeinwohl sowohl die Gemeinschaft als auch den Staat dazu verpflichtet, die
Benachteiligten eigens in den Blick zu nehmen und das Handeln in dem Willen zu fundieren,
auch ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. In der genannten Enzyklika ist von
der „Option für die Armen“ die Rede, die fortan als Grundprinzip in der Katholischen
Soziallehre fungiert. Die Armen, das sind alle Benachteiligten in der Gesellschaft, die
Enzyklika nennt eigens „die unzähligen Scharen von Hungernden, Bettlern, Obdachlosen.“ 31
Ein Dokument, das das Problem der Wohnungslosigkeit eigens in den Blick nimmt, wurde
erarbeitet von der Päpstlichen Kommission „Justita et Pax“. Das Wohnungsproblem wird dort
nicht nur als „eine der schwersten sozialen Fragen unserer Zeit“ beurteilt, 32 sondern auch als
„Beweis für ungerechte Verteilung der Güter, die ursprünglich für alle bestimmt waren.“ 33
Zwar sei der Verlust der Wohnung ab und an die Folge eines persönlichen Scheiterns. Auf das
Ganze gesehen aber handele es sich um ein strukturell verursachtes Problem, dass vor allem
darin bestehe, dass der Lohn der Arbeit die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und die der
Familie nicht sichert.
Das Problem der Wohnungslosigkeit, betont die Kommission, müsse von den fundamentalen
Bedürfnissen eines Menschen her verstanden werden. Genannt werden: Erziehung, Nahrung,
Wohnung, Kleidung und Beschäftigung. Der Verlust der Wohnung wird dadurch als
Verletzung eines menschlichen Grundrechts bestimmt. Auch im Fortgang wird deutlich, dass
die Kommission von dem Rechtsanspruch auf Wohnung ausgeht. In der ethischen Beurteilung
wird explizit darauf verwiesen, dass das Recht auf Wohnung ein Menschenrecht sei.
Wo von einem Menschenrecht ausgegangen wird, kommen die Verpflichtungen der
Gesellschaft in den Blick. Es sei erforderlich, gegen jeden Gebrauch von Eigentum
vorzugehen, in dem Wohnraum seiner Funktion, dem menschlichen Leben zu dienen,
entzogen wird. Auch sich selbst sieht die Kirche in der Pflicht. Ihr Einsatz für die
Realisierung des Wohnrechtes der benachteiligten Menschen sei ein „Zeichen der Solidarität,
30
Populorum progressio 53.
Sollicitudo rei socialis 42.
32
Päpstliche Kommission „Justita et pax“: Was hast du für deinen obdachlosen Bruder getan? In: L´osservatore
romano 18 (1988), Nr. 11, Beilage 10. I, 1.
33
Ebd. I, 3.
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des Heiles und der Befreiung, eine Vorwegnahme des Reiches Gottes unter uns.“ 34 Das ist ein
hoher Anspruch, den die Kirche an sich selbst stellt, darum wissend, dass die Benachteiligten
in unserer Gesellschaft „konkrete Antworten“ erwarten.
Um welche Antworten könnte es sich handeln? Ich nenne Impulse, die sich für mich ergeben:
Jeder Mensch hat ein Recht auf angemessenen Wohnraum. Es kann sein, dass auch dort, wo
ein Mensch unterkommen kann, das Menschenrecht auf eine angemessene Wohnung verletzt
wird. Denn nicht jede Unterkunft ist eine Wohnung. Eine Wohnung ist nur dann angemessen,
wenn sie die Ausbildung von Identität dadurch fördert, dass sich ein Mensch in ihr
wohlfühlen kann. Dazu ist auch erforderlich, dass ein Mensch sich durch seine Wohnung
selbst darstellen kann. Das Recht auf eine Wohnung ist daher verknüpft mit dem Recht auf
die Gestaltung des eigenen Wohnraums.
Es braucht eine Politik, die den Bau solcher Wohnungen fördert, die den Bedürfnissen der
Menschen angemessen sind. Dabei ist der Privatbesitz dem Gemeinwohl unterzuordnen und
die nur an ökonomischen Interessen orientierte Nutzung von Wohnraum strukturell zu
verhindern.
Ich schließe ab mit einem Gedanken, der zu kurz gekommen ist. Wo es um das Wohnen geht,
ist aktuell auch die Rede vom „cocooning“, dem Rückzug in die eigene Wohnung, die einen
vor der Welt draußen, die eine unheimliche Welt ist, absichert. 35 Nicht nur von unseren
Wohnungen, auch von unseren Städten fordern wir, dass sie unser Sicherheitsbedürfnis
befriedigen. Doch auch unser Sicherheitsbedürfnis könnte ein „Zeichen der Zeit“ sein, das
einer Antwort bedarf. In den Gebeten und Erzählungen des Alten Testaments wird Jerusalem
als die ideale Stadt vor Augen gestellt. Jerusalem ist kein Ort des Rückzugs von der Welt. Die
Mauern Jerusalems haben Tore. Man sieht der Stadt an, dass sie zugängig ist für andere. Ich
verstehe die Vision der idealen Stadt Jerusalem, in der Gott mitten unter den Menschen lebt,
als eine Herausforderung, in der Gestaltung unserer Städte nicht einseitig am Bedürfnis nach
Sicherheit zu orientieren. Wir sollten der Gastfreundschaft Raum zu geben sowohl in unseren
Wohnungen als auch in unseren Städten. Auch der, dem wir nur auf Zeit einen Ort bieten
dürfen, an dem er sich auch wohlfühlen kann, hat ein Recht, unter uns zu leben und an dem
teilzuhaben, was die Stadt zu bieten hat. Ich sage dass nicht nur im Wissen, dass jeder Mensch
das Recht auf einen solchen Lebensraum hat. Es sage das auch als Theologin, die sich dessen
34
Ebd. IV, 1.
Vgl. Funke, D.: Die dritte Haut. Psychoanalyse des Wohnens, Gießen 2006, S. 232f. Vgl. auch König, H.:
Trautes Heim – Glück allein? In: Psychologie heute 1/2012, S. 30-34.
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bewusst ist, dass sich der Gast, den man beherbergt, am Ende als ein besonderer Gast
erweisen könnte.
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