Zur Frühgeschichte der intermedialen Performance, wie sie heute

Werbung
Entdeckungsreise in andere Gefilde
Die Geigerin Barbara Lüneburg im Gespräch mit Stefan Drees
erscheint in:
Seiltanz. Zeitschrift für aktuelle Musik, Heft 2, April 2011
Entdeckungsreise in andere Gefilde
Die Geigerin Barbara Lüneburg im Gespräch mit Stefan Drees
B
arbara Lüneburg zählt zu den wenigen experimentierfreudigen Musikerinnen ihrer Generation, die sich unter anderem konsequent um die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten von Violine und Viola durch Einsatz von Medientechnologie bemühen. Das nachfolgend abgedruckte Gespräch wurde am 25. Februar 2010 via Skype geführt.
Barbara, während du 2006 für deine erste Solo-CD The Refined Ear einige rein akustische
Solowerke für Violine und Viola ausgewählt hast, bist du in den letzten Jahren ganz andere
Wege gegangen und hast dich verstärkt Kompositionen zugewandt, die – im Sinn einer »extended violin« – das Ausdrucksspektrum des Instruments durch elektronische und visuelle
Ebenen erweitern. Woher stammt dein Interesse an dieser speziellen Art von Musik?
Nach der ersten CD wollte ich unbedingt einen
anderen Aspekt meiner Arbeit zeigen: die Arbeit mit Angehörigen der jüngeren Komponistengeneration, die sich um Multimedialität bemühen und eine andere Art der neuen Musik
vertreten. Das hängt teilweise damit zusammen, dass ich auf der Suche nach Programmen
bin, mit denen ich auch ein junges Publikum
ansprechen kann. Das Interesse an einer medialen Erweiterung verdankt sich aber darüber
hinaus zu einem Großteil meiner Doktorarbeit,
die ich seit 2008 an der Brunel University in
London vorantreibe und in der ich mich mit
der Rolle des Interpreten beschäftige. Teil der
praktischen Arbeit war ein Forschungsprojekt
über die aktive kreative Zusammenarbeit von
Interpreten und Komponisten. Und da es sich
um Forschung handelt, wollte ich die Rahmenbedingungen für alle gleich haben und bat deswegen jeweils um die Entwicklung elektro© Didier Riva
akustischer und/oder multimedialer Stücke für
mich – und so hat sich auch die Idee von Programmen mit visuellen Anteilen herauskristallisiert. Daraus ist schließlich das DVD-Projekt entstanden, das ich während des vergangenen
Jahres in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk und dem ZKM erarbeitet habe und das
demnächst beim Label Ahornfelder veröffentlicht wird … Und ganz weit hinten am Horizont
erscheint auch schon das nächste DVD-Projekt, eine Kollaboration mit dem irischen Video-
künstler Anthony Kelly und dem deutsch-irischen Komponisten David Stalling, mit denen ich
gemeinsam ein beinahe halbstündiges Stück für Viola, Soundtrack und Videoinstallation mit
dem Titel A Way into a Place entwickelt habe sowie im Sommer Arrive alive für voraussichtlich Violine oder E-Violine, Soundtrack und Videoinstallation entwickeln werde. Diese Stücke
entstehen in gemeinschaftlicher kreativer Produktion.
Eine solche Zusammenarbeit bedarf gewisser Voraussetzungen, die nicht von Anfang an gegeben sind. Wie haben sich die überhaupt entwickelt: Bis du von dir aus auf bestimmte, für entsprechende Projekte in Frage kommende Komponisten zugegangen und hast eine Kooperation vorgeschlagen?
Genau. Das erste Stück, das in diese Richtung ging, war Alias für E-Violine, Live-Elektronik,
Licht und Laser von Marko Ciciliani aus dem Jahr 2007. Bei Marko wusste ich in der Tat,
dass seine Arbeiten in diese Richtung gehen. Er hat selbst eine Doktorarbeit über das Verhältnis zwischen Klang und Licht geschrieben und dabei das Licht als eigenständige Komponente
des Komponierens – und nicht etwa nur als begleitendes Element – herausgearbeitet. Damals
hatte ich gerade eine E-Violine bekommen und dachte mir: Das kann man mal ausprobieren,
das passt alles sehr gut zueinander. Marko hat daraufhin ein Stück komponiert, das von japanischen Mangas inspiriert ist und sehr poppige Farben hat.1 Es ist insgesamt ein wunderschönes Spektakel, die Realisierung hat auch wahnsinnig Spaß gemacht. Seitdem benutze ich Alias immer wieder als Abschlussstück, es gibt sehr viel her und hat den Leuten von Anfang an
gut gefallen.
Beim nächsten Projekt kam dann ein Komponist auf mich zu, nämlich Alexander Schubert: Er
wollte gern etwas unter Benutzung eines Bewegungssensors ausprobieren und zusätzlich mit
einer Kamera arbeiten, die meine Bewegungen aufnimmt und sie in ein abstraktes Bild auf der
Leinwand verwandelt. Das hat mich sehr interessiert, da es sich um einen Aspekt handelte,
den ich bislang in meiner Doktorarbeit noch nicht berücksichtigt hatte: dass nämlich andere
Medien in eine Aufführung mit hineinspielen und das Instrument gewissermaßen vergrößern,
es zu einem Meta-Instrument machen. Deshalb habe ich damals auch zugesagt, und auch dieses Stück, Weapon of Choice für Violine, Sensor, Live-Elektronik und Live-Video, ist ein
Renner in meinem Programm geworden.2 Wenn man das in einem schönen Saal mit einer
großen Leinwand aufführt, wirkt es sehr direkt auf das Publikum. Auf diese Weise hatte ich
dann schon zwei anspruchsvolle Stücke mit visueller Komponente zusammen, so dass relativ
bald auch die Idee entstanden ist, eine DVD mit ihnen zu produzieren.
Du räumst also der Zusammenarbeit mit Komponisten einen zentralen Stellenwert innerhalb
deiner Tätigkeit als Interpretin zeitgenössischer Musik ein?
1
2
Ein Video-Mitschnitt der Uraufführung im Rahmen des Festivals Wien Modern 2007 findet sich auf der In ternetseite von Marko Ciciliani (http://markociciliani.de/archive/alias.html, Zugriff: 1. März 2011).
Zahlreiche Standfotos sowie ein Video-Mitschnitt der Uraufführung im Rahmen des Blurred Edges Festival
in Hamburg vom 3. Mai 2009 finden sich auf der Internetseite von Alexander Schubert (http://www.alexanderschubert.net/weapon_of_choice/index.php, Zugriff: 1. März 2011).
Auf jeden Fall. Und ich denke, dass heute generell eine viel stärkere Zusammenarbeit gefragt
ist: Nicht nur die Komponisten müssen mit Interpreten zusammenarbeiten, sondern auch die
Interpreten sollten wiederum mit den Veranstaltern zusammenarbeiten, um ein zielgerichtetes
Programm machen zu können, mit dem das Publikum vor Ort angesprochen werden kann.
Das heißt nicht, dass man nur Programme macht, die jedem genehm sind, sondern eigentlich
geht es darum, dass man sein Publikum kennenlernt und weiß, wie man ihm begegnet, was
man ihm anbietet und wie viel Neues und Ungewohntes darunter sein kann.
Neigst du denn auch dazu, in deinen Programmen neuere und ältere Werke miteinander zu
vermischen oder bleibst du immer auf dem Boden von zeitgenössischer Musik und Nachkriegsavantgarde?
Ich mache zwar durchaus auch alte Musik, so beispielsweise im Zusammenhang mit einer
neuen CD, die voraussichtlich im Herbst bei Coviello Classics erscheinen wird und für die ich
die d-Moll-Partita von Bach eingespielt und sie mit drei Stücken von Giacinto Scelsi kombiniert habe. Aber das mache ich doch seltener als Programme, die sich ausschließlich auf neuere Musik stützen. Da liegt eben doch mein Schwerpunkt, zumal es auch hier inzwischen eine
ganze Reihe von Werken gibt, die den Status von Klassikern erlangt haben – oder eben
Stücke, auf die das Publikum eigentlich immer positiv reagiert. Aber es gibt dann natürlich
auch Sachen, die mit unbekannten Namen verbunden sind und den Zuhörern etwas abverlangen.
Was ich persönlich nicht mag sind Programme, die unter einem Motto stehen, in denen man
beispielsweise nur Stücke mit Geräuschklängen zu hören bekommt, bei denen eines leiser ist
als das andere. Ich mag es lieber, wenn Programme gemischt sind, wenn sie vielfältig sind.
Daher kombiniere ich auch rein akustische Stücke mit Werken, in denen Live-Elektronik oder
Projektionen zum Einsatz kommen. Zudem möchte ich Komponisten haben, die etwas wagen,
die aber zugleich auch sinnlich schreiben und mich auf diese Weise ansprechen. Dabei ist es
mir egal, ob dies nun auf eine zarte Art passiert oder wild und heftig … Wenn man als Interpret solche Dinge berücksichtigt, kann neue Musik ein Spielplatz sein – und zwar nicht nur
für den Interpreten, sondern auch für den Hörer. Ein Konzert kann dann wie eine Entdeckungsreise in andere Gefilde und andere Länder sein, die man sich staunend anschaut. Da
möchte ich mein Publikum gern hin mitnehmen.
Du bist auch vermittelnd tätig und unterrichtest an der Medienhochschule Darmstadt. Welche
Aufgaben nimmst du dort genau wahr?
Ich unterrichte Studenten der Medienwissenschaft, mache beispielsweise mit ihnen audiovisuelle Installationen in Theorie und Praxis oder führe sie in die »Musique concrète« ein. Ich
gebe dann immer einen Überblick über die Geschichte, die Kultur und die Gedanken in der
fraglichen Zeit und entwickle daraus die Aufgabenstellungen. In diesem Zusammenhang
mussten sich die Studenten ein Soundarchiv aufbauen, um auf dessen Basis ein »Musique
concrète«-Stück zu machen. Anschließend bekamen sie die Aufgabe, eine kleine musikalische
Visitenkarte von einem ihrer Kommilitonen realisieren, wobei sie dann auch lernen mussten,
den Menschen, der ihnen gegenübersteht, zu analysieren und dies wiederum in musikalische
Mittel zu übersetzen. Im vergangenen Semester haben wir Musik zu einem kleinen Filmausschnitt und zu Werbung gemacht. Solche Themen sind dann immer eingebunden in die Erläuterung von Kompositionstechniken oder Formen wie etwa der Variationsform – alles abgestimmt auf Studenten, die später einmal in die Medienwirtschaft gehen, die aber auch künstlerische Anregungen brauchen und haben wollen … und die auch gerne lernen wollen, wie man
komponiert, wie man analysiert und wie man hört …
Was hast du denn vor dem Hintergrund deiner Interpretentätigkeit für einen Eindruck von der
aktuellen musikalischen Ausbildung an den Hochschulen?
Da ich den Betrieb an Musikhochschulen nicht als Lehrende kenne, kann nur von meiner eigenen, mittlerweile schon eine ganze Zeit zurückliegenden Studienzeit ausgehen und dies mit
einzelnen Beobachtungen der gegenwärtigen musikalischen Situation in Verbindung bringen.
Ich denke vor allem, dass man die Antwort nicht verallgemeinern kann und die Situation sehr
länderspezifisch ist. Ich habe ja selbst in verschiedenen Ländern gelebt und studiert. So bin
ich beispielsweise 1988/89 nach meinem Studium in Lübeck mit einem Stipendium des
DAAD für ein Jahr nach Moskau ans Tschaikowsky-Konservatorium gegangen. Damals war
dort alles sehr konservativ und davon geprägt, dass die Russen ohnehin in allen Wettbewerben
»gewinnend« präsent gewesen sind und daher nie daran dachten, mal ihre Interpretationen in
Frage zu stellen. Für mich als Westeuropäerin, die damals noch rein im klassischen Bereich
agierte, war die Interpretation eher altmodisch, aber die instrumentale Ausbildung fantastisch.
Anschließend, also 1990/91, war ich mit Unterstützung der Studienstiftung des deutschen Volkes noch an der Guildhall School of Music and Drama in London, wo erfreulicherweise die
Ausbildung viel enger mit der Musikwissenschaft verbunden war und die Wissenschaft dadurch nicht so stark von der Praxis abgekoppelt wurde wie in Deutschland. Ich fand es ausgezeichnet, dass sowohl die Musikwissenschaftler von den Musikschaffenden profitierten als
auch die Musikschaffenden direkt an der Forschung der Musikwissenschaftler teilhaben konnten. Das habe ich immer als sehr anregend empfunden, was mich auch darin bestärkt hat, meine eigene Doktorarbeit in Angriff zu nehmen.
Und wie schätzt du jenseits deiner eigenen Erfahrungen die Situation in Deutschland ein?
Deutschland ist immer noch ein Land mit einer extrem starken Orchesterkultur, und daher
scheint mir hier auch heute der Schwerpunkt darauf zu liegen, die jungen Musikerinnen und
Musiker für eine Tätigkeit im Orchester auszubilden. Meiner Meinung nach fehlt dadurch einfach die gezielte Auseinandersetzung mit der Musik unserer Zeit. Das ist sehr bedauerlich,
denn eigentlich sollte die neue Musik ebenso von der klassischen Ausbildung profitieren, wie
umgekehrt die klassische Musik nicht die Auseinandersetzung mit heutigen Musiksprachen
vernachlässigen darf. Oft wird mit viel Arroganz auf die neue Musik herabgeschaut, im Sinne
der Aussage: »Nur wer nicht ordentlich spielen kann, macht neue Musik.« Ich habe das Ge-
fühl, dass diese Attitüde gerade im deutschsprachigen Raum immer noch sehr weit verbreitet
ist. Und das hängt leider auch damit zusammen, dass die Lehrer selbst aus einer anderen Tradition kommen und überhaupt nicht wissen, was es an neuerer, schöner und anspruchsvoller
Literatur gibt. Wie sollen sie dann geeignete Stücke für die Studenten aussuchen?
In den Niederlanden ist es wiederum ganz anders: Da es dort nicht so viele Orchester gibt, liegen die Schwerpunkte der Ausbildung woanders. Die Musiker werden sofort auf ein Dasein
als freischaffende Künstler vorbereitet, was eine möglichst große Vielseitigkeit einschließt.
Dabei ist – wie in Kunst und Architektur – das Neue ein weitaus bedeutenderer Bestandteil
der Gesellschaft als bei uns. Auch wenn diese Situation im Augenblick viel stärker in Frage
gestellt ist als noch vor fünf Jahren, kann man das Neue immer noch als wichtigen Teil der
Gesellschaft erleben … und das ist auch in der Ausbildung zu spüren.
Wie bist du denn eigentlich selbst zur zeitgenössischen Musik gekommen, wenn du die entsprechenden Impulse nicht durch dein Studium in Deutschland, Russland oder England erhalten hast?
Mein Interesse an Neuerem geht eigentlich sehr weit zurück: Schon als Neunjährige bin ich
mit meiner Mutter in Abonnementskonzerte gegangen. Da wurden eines Tages drei Streichquartette von Béla Bartók aufgeführt, und am nächsten Abend folgten die übrigen drei. Da
habe ich meine Mutter dann angefleht und gesagt: »Ich möchte morgen wieder ins Konzert
gehen, ich möchte die anderen drei Quartette auch noch hören.« Das ist damals für mich neue
Musik gewesen … Wichtig waren aber auch die Improvisationsstücke, die wir ab und zu im
Schulorchester gemacht haben. Ich fand es einfach toll, auf der Geige machen zu können, was
ich wollte, all diese komischen Sachen: hier ein wenig zu krächzen, dort ein wenig zu fauchen. In der Oberstufe hatte ich dann Musik als Leistungskurs bei einer Lehrerin, die wirklich
mit uns neue Musik behandelt hat, beispielsweise Luigi Nono, und die mit uns Alban Bergs
Wozzeck in der Oper angeschaut hat. Einmal sind wir sogar in ein Konzert gefahren, das
Karlheinz Stockhausen und seine Truppe bestritten haben. Davon war ich vollkommen hingerissen und beeindruckt. Dann kann ich mich auch noch daran erinnern, dass ich einmal zu
Hause auf dem Bett gelegen und mir im Radio eine Oper von Hans Werner Henze angehört
habe, das fand ich ebenfalls total faszinierend.
Demgegenüber ist meine ganze Ausbildung als Geigerin eigentlich richtig »klassisch« gewesen und blieb weitgehend vom Interesse an Neuem unberührt. Für mein eigentliches Studiums
habe ich im Grunde nie zeitgenössische Musik einstudieren müssen. Erst in Lübeck habe ich
aus eigenem Antrieb damit begonnen, Stücke aufzuführen, die Kommilitonen für mich geschrieben hatten. Damals habe ich dann auch gemeinsam mit einem Freund eine kleine Konzertreihe gegründet, die nur der neuen Musik gewidmet war und in der auch Stücke von Mitstudenten aufgeführt wurden. Das war eigentlich der Anfang meiner Aktivitäten. Nach meinem Studium in Moskau und in London kam ich dann nach Deutschland zurück und habe
1995 mit Burkhard Friedrich und Nils Grammerstorf zusammen das ensemble Intégrales gegründet.
Ihr habt inzwischen mit dem Ensemble eine ganze Reihe von CDs eingespielt und seid immer
wieder zu Konzerten unterwegs, so beispielsweise gerade Ende vergangenen Jahres in Mexiko. Wie ist bei deinen Konzertaktivitäten das Verhältnis zwischen reinen Soloprogrammen und
Auftritten als Ensemblemitglied?
Im Augenblick bekommt die Solokarriere ein immer größeres Gewicht. Diese Tendenz hat
sich seit der ersten Solo-CD angebahnt, im Zusammenhang mit der aktuellen DVD-Veröffentlichung hat es sich dann noch weiter intensiviert, weil sich viele Veranstalter für dieses Projekt interessieren. Es hängt aber auch damit zusammen, dass im Lauf der letzten drei Jahre gerade im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit ungefähr 30 neue Stücke für mich geschrieben wurden, die ich dann natürlich auch alle aufgeführt habe.
Kannst du konkret sagen, welche deiner Aktivitäten während der letzten Jahre für dich die
wichtigsten Erfahrungen als Musikerin gebracht haben?
Zu den bedeutenden Erfahrungen gehört sicherlich die Arbeit mit Komponisten im Rahmen
meiner Forschungen. Ich würde mir wünschen, solche Arbeitsphasen zu intensivieren, doch
meistens ist dafür weder Geld noch Zeit vorhanden. Aber ich denke und weiß es aus eigener
Erfahrung, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen Interpreten und Komponisten eine ganz
eigene Art von Kreativität weckt und einen anderen Zugang zur Instrumentenbehandlung nach
sich zieht. Selbst wenn Komponisten sich allein auf ihre Inspiration zu verlassen glauben, ändert sich doch etwas, wenn sie für eine bestimmte Person schreiben. Die Einflüsse reichen da
von technischen Details über die Auswahl spezieller Instrumente bis hin zur Art der Programmierung und Realisierung live-elektronischer Werke. Die damit verbundenen Prozesse und
der wechselseitige Ideenaustausch interessieren mich doch viel mehr als die Tatsache, einfach
nur immer neue Noten vorgelegt zu bekommen. Ich finde es spannend, wenn die Interpreten
in den Kompositionsprozess mit einbezogen werden und Ideen ausgetauscht werden.
Neben der Zusammenarbeit mit Komponisten ist aber auch die bewusste Gestaltung meiner
Konzerte sehr wichtig geworden, etwa in Bezug auf die Programmauswahl oder die Art, wie
ich die Bühne aufbaue, aber auch im Hinblick darauf, wie ich heute über Veranstalter nachdenke und mit ihnen zusammen Programme erarbeite. Dies alles sind Gegebenheiten, über die
ich während der Arbeit an meinem Forschungsprojekt intensiv nachgedacht und viel erfahren
habe und für die ich auch ein Interesse entwickelt habe.
Du hast jetzt mehrfach deine Erfahrungen bei der Kooperation und Wechselwirkung zwischen
Interpret und Komponist erwähnt. Mich würde interessieren, inwiefern dabei tatsächlich eine
andere Qualität als bei der Zusammenarbeit in früheren Zeiten entsteht, denn damals ging es
ja – wenn du beispielsweise an Johannes Brahms und Joseph Joachim denkst – auch immer
wieder um die Fragen der Machbarkeit und Erweiterung von Spieltechniken und Ausdrucksmöglichkeiten … Und wie hängt das genau mit deinen Forschungen zusammen?
Neu ist, dass es nicht mehr darum geht, nur ein paar Läufe zu korrigieren oder Spieltechniken
zu erweitern. Die Rolle des Interpreten, so wie ich sie verstehe, ist sehr viel kreativer. Die Zu -
sammenarbeit mit den Komponisten ist nur der Anfang … In meiner Dissertation fasse ich die
Rolle des Interpreten als eine Art »Interface« zwischen Instrument, Komponist und Publikum
auf. Was ist ein Interface? Viele Menschen denken dabei zuerst an eine technische Schnittstelle zwischen zwei Geräten, aber das englische Wort »interface« bedeutet auch soviel wie »Fakten, Probleme, Überlegungen, Theorien und Praktiken, die zwischen zwei oder mehr Disziplinen geteilt werden« oder auch ganz einfach »Kommunikation und Interaktion«. Das kann ich
so direkt auf meine Tätigkeit anwenden: In der Kollaboration mit Komponisten kommen zwei
Disziplinen oder Arbeitsbereiche in Berührung miteinander. Wir Interpreten sind sehr dicht
dran an der Arbeit der Komponisten, wir setzen uns auseinander mit der Musikwissenschaft,
wir haben unsere eigenen Bereich, die Konzertkultur, und wir sind ganz dicht am Feld, das
sind unser Publikum und alle, die das öffentliche Musikleben bestimmen, beeinflussen und
letztendlich sind. Dasselbe gilt für die Arbeit mit Veranstaltern: Hier haben wir das Kuratorentum und die Marktforschung, und bei mir als Interpreten haben wir die Kunst des Programmierens und den direkten Kontakt mit dem Publikum.
Der ideale Interpret übernimmt also deiner Vorstellung gemäß heute eine wesentlich aktivere
Rolle und dehnt seine Aktivitäten auch auf Bereiche aus, die man früher eher als zweitrangig
und außerhalb der eigenen Verantwortung liegend betrachtet hat …
Richtig, ich sehe den Interpreten nicht mehr in einer dienenden, »nachschaffenden« Funktion,
sondern als einen selbstständig kreativen Partner in einem Prozess, der in dem Augenblick beginnt, wenn wir einen Komponisten mit einem neuen Stück beauftragen, der hinwegreicht
über die mögliche Zusammenarbeit im Kompositionsprozess, über die anschließende Übeund Evaluierungsperiode und das Zusammenstellen eines geeigneten Programmes, in dem das
Werk sich adäquat entfalten kann, und sich bis hin zu dem Augenblick auf der Bühne erstreckt, wenn wir das Stück präsentieren, eine Konzertaura schaffen und in Kommunikation
mit dem Publikum treten.
Hast du hierfür vielleicht ein Beispiel parat?
Ein Schlüsselerlebnisse für mich war die Realisierung von Karlheinz Essls Komposition Sequitur III für Violine und Live-Elektronik im Jahr 2008. 3 Als wir zusammen die Elektronik
ausprobiert haben – durch deren Einsatz entsteht bei der Aufführung eine kanonische Struktur
–, erlebten wir einen Dopplung- oder Wiederholungseffekt, der sich auf die Dauer beim Hören
etwas abnutzte: als ob etwas zweimal gesagt würde, einmal mit der akustischen Geige, dann
mit der synthetisch erzeugten aus den Lautsprechern. Ich habe Karlheinz damals überredet,
für die Wiedergabe meine E-Violine zu benutzen, und so haben wir das dann ausprobiert, und
das Stück hat sich daraufhin komplett gewandelt: Das Instrument und die daraus resultierende
Elektronik verschmolzen miteinander und wurden zu einer komplexen, morphenden Gestalt –
sehr, sehr schön. Hätte ich ihm diese Variante nicht suggeriert, wäre letzten Endes einfach ein
3
Ein Video-Mitschnitt des Werkes mit Barbara Lüneburg findet sich auf dem Internetportal YouTube (http://
www.youtube.com/watch?v=h4jdNip7ado, Zugriff: 1. März 2011).
anderes Stück daraus geworden. Karlheinz lässt es zwar heute gelegentlich auch mit akustischer Geige aufführen, aber für mich hat es durch den Einsatz der E-Violine eine neue Dimension erhalten.
Und darum geht es mir: Dass Interpreten aus ihrer Erfahrung heraus, zum Beispiel in Bezug
auf das Instrument, seine Klanglichkeit, Spielbarkeit, aber auch dessen Geschichte, einen anderen Blickwinkel auf die Komposition haben und andere Schichten und Möglichkeiten in
den Werken entdecken als die Komponisten. Aber die kreative Arbeit des Interpreten kommt
eben auch nach dem eigentlichen Kompositionsprozess noch zum Tragen: beim Üben und
Evaluieren, bei der Bühnengestaltung, in der Inszenierung eines Stückes, in der Kommunikation mit dem Publikum, in der Programmierung oder im Charisma eines Interpreten.
Inwiefern können solche Wechselwirkungen denn über den Zusammenhang mit einer einzelnen Komposition überhaupt nachhaltig sein?
Da ist das musicbox-project (2007–09) von Burkhard Friedrich ganz aufschlussreich. 4 Dabei
handelt es sich um eine Reihe von Stücken, die von Muzak inspiriert worden sind: Bei Muzak
ist der Interpret vollkommen unwichtig, Muzak existiert quasi unabhängig von uns Interpreten, berieselt uns ununterbrochen und ist ständig verfügbar in Hotellobbys, Kaufhäusern etc.
Als wir 2007 mit dem ensemble Intégrales das erste Stück aus der musicbox-Serie aufführten,
probierten wir in Absprache mit dem Komponisten, um jeden Preis den Schein von Kammermusik auf der Bühne aufrecht zu erhalten, obgleich es gar nicht darum geht und das Stück
auch nicht so angelegt ist. Nicht dass hier zwei Menschen miteinander musizieren ist relevant
für das Konzept, sondern dass es keinen Unterschied macht, ob und wann Musiker kommen
und gehen, dass unklar ist, was live und was von Band gespielt wird und dass letztendlich das
lebendige Interpretentum auf der Bühne durch den Vergleich mit Muzak ad absurdum geführt
wird. Dass das möglich ist, wird durch den Einsatz von Klicks für das Zusammenspiel, Loopund Delaygeräten und einem speziell konzipierten Soundtrack gewährleistet.
Nach unserer ersten »kammermusikalischen« Aufführung sprachen uns Leute aus dem Publikum an und sagten: Irgendwie weiß man nicht so recht, was da passiert – spielt ihr zusammen
oder spielt ihr nicht zusammen? Was ist da eigentlich los? Aufgrund dieses Kommentars habe
ich dann dem Komponisten gegenüber den Vorschlag für eine neue Realisierung gemacht: Die
Inszenierung des Stückes muss vollkommen anders sein, die Instrumente müssen auf der Bühne isoliert voneinander stehen, so dass wir Spieler keinen erkennbaren Kontakt zueinander haben, und wir können jederzeit auf die Bühne kommen und wieder gehen, losgelöst voneinander und letzten Endes auch von dem musikalischen Geschehen. So wird wie in einer Theaterinszenierung klar gemacht, worum es in dieser Komposition geht: beliebige Reproduktion von
Musik, die Reduzierung des Individualismus, die Verfügbarkeit von Konserven. Und es funktioniert hervorragend. Daraus ist dann eine ganze Serie von Stücken entstanden, die sich auf
immer extremere Weise mit der zugrundeliegenden Fragestellung befasst haben.
4
Klangbeispiele hierzu finden sich auf der Internetseite des Komponisten (http://www.burkhard-friedrich.
com/deutsch/archiv/audiogalerie.html, Zugriff: 1. März 2011).
Dies ist für mich ein Beispiel dafür, wie auf einer anderen Ebene, einem Bereich der typisch
ist für den Bereich der Interpreten, nämlich Performance, Bühnengestaltung und Inszenierung
eines Werkes, ausgehend von der Publikumsreaktion ein kreativer Austausch zwischen Komponist und Interpret stattgefunden hat, der nicht mehr mit dem Kompositionsprozess zu tun
hatte, aber in die Entwicklung und Aufführung der Folgestücke grundlegend hineingespielt
hat. Durch die Aufmerksamkeit für und das Wissen um den Aspekt der Performance und die
Wechselwirkung mit dem Publikum entsteht noch einmal ein anderer Ansatz.
Wäre es nicht wichtig, deine ganzen Erfahrungen auch irgendwie weiterzugeben, damit auch
andere Interpreten davon profitieren könnten?
Genau – daher plane ich für die nähere Zukunft auch, aus meiner Doktorarbeit eine Art Handbuch für vor allem Performer, aber auch für Komponisten zu machen, in dem die ganzen
Aspekte, die ich untersucht habe, noch detaillierter betrachtet und dargestellt werden. So dass
man etwa erfährt, wie überhaupt Kollaborationen mit Komponisten und Veranstaltern funktionieren, was man dafür tun kann, um die Zusammenarbeit zu einem schönen, für beide Seiten
fruchtbaren Erlebnis zu machen und wie weit die kreative Arbeit des Interpreten im Bereich
der Deutung und Interpretation von Stücken, der Programmierung, Bühnengestaltung usw. gehen kann. Das soll mit einem theoretischen Teil verbunden sein, der aber auch sehr stark an
die Praxis geknüpft ist und dadurch Anregungen dafür geben kann, wie man als Interpret
Kreativität heute neu denken kann.
Auswahldiskografie:5
a) Soloprojekte:
•
•
•
5
The Refined Ear, Coviello Classics COV60610 (CD 2006): Salvatore Sciarrino, Sei
capricci per violino (1975/76) / Georg Friedrich Haas, … aus freier Lust … verbunden… für Viola (1994/95, 1996); de terrae fine für Violine (2001) / Manfred
Stahnke, Capra für Violine in scordatura (1987)
Multimedia-Solo-DVD, Ahornfelder (2011, in Vorbereitung): Henry Vega & Emmanuel Flores Elías, Stream Machines and the Black Arts für E-Violine, Soundtrack und
Video (2010) / Alexander Schubert, Weapon of Choice für Violin, Sensor, Live-Elektronik und Live-Video (2009) / Yannis Kyriakides, Re: Mad Masters für E-Violine und
akustische Violine, Live-Elektronik, Soundtrack und Video (2010) / Dai Fujikura &
Tomoya Yamaguchi, Fluid Calligraphy für Violine und Video / Marko Ciciliani, Alias
für E-Violine, Live-Elektronik, Licht und Laser (2007)
Solo-CD, Coviello Classics (2011, in Vorbereitung): Johann Sebastian Bach, Partita dMoll BWV 1003 / Giacinto Scelsi, Xnoybis (1964) und L'âme ailée / L'âme ouverte
(1973)
Zu weiteren Informationen vgl. die Internetseite von Barbara Lüneburg (http://www.barbara-lueneburg.
com).
b) Mit dem ensemble Intégrales:
•
•
•
•
•
•
•
•
Burkhard Friedrich, Porträt-CD aus der »Edition Zeitgenössische Musik« des Deutschen Musikrats, Wergo WER 6554 2 (CD 2002), darin u. a.: FarbenSpiel für Violine
(1997)
European Young Generation, edition zeitklang ez-21019 (CD 2005), Kammermusik
von Yannis Kyriakides, Manca Tiziano, Christoph Bertrand, Sergej Newski, Bernfried
E.G. Pröve, Jennifer Walshe und Marko Ciciliani
Marko Ciciliani, Vor het hooren geboren, Coviello Classics COV 60601 (CD 2006),
darin u. a.: Matrosen, Leprakranke, Opiumraucher, Spione. Mit so ’ner Familiengeschichte, wie haben wir da was anderes werden können als Schlampen? für Viola
(2002)
Traces of Asia, Coviello Contemporary COV 60706 (CD 2008), Kammermusik von
Alireza Mashayeki, Misato Mochizuki, Kee-Yong Chong, Suren Soronzonbold, Jamilia Jazylbekova und Leilei Tian
Alpenglühen, col legno WWE 1 CD 20280 (CD 2009), Kammermusik von Wolfram
Schurig, Wolfgang Suppan, Karlheinz Essl, Christof Dienz und Bernhard Gander.
Burkhard Friedrich, the musicbox-project completed (2007–09), plakatif plak020 (CD
2010), darin u. a.: The Musixbox Final-Project für E-Violine, Live-Elektronik und
Soundtrack (2009)
Arturo Fuentes, Kammermusik, NEOS 10906 (CD 2010), darin: Lightness für Violine
und Live-Elektronik (2009)
Pasajes: Mexico, NEOS 11047 (CD 2010), Kammermusik von Gabriela Ortiz, Arturo
Fuentes, Alejandro Castaños, Georgina Derbez Roque, Juan José Bárcenas und Aleyda
Moreno, darin u. a.: Arturo Fuentes, Lawine für Viola und CD-Zuspielung (2009)
Herunterladen