Alex Angehrn, 9402 Mörschwil, Schweiz, www.sansui-angehrn.ch 1 Strichanfang: Der Einsatz Der Einsatz, auf Japanisch kihitsu 起筆 „den Pinsel aufsetzen“ oder rakuhitsu 落筆 „den Pinsel absenken“ ist der Vorgang, mit dem der Kalligraph die Kontrolle des Pinsels übernimmt und gleichzeitig das Profil für den Kopf des Elementes bestimmt. (Das deutsche Wort „Strichanfang“ bedeutet zwar das Gleiche, vermittelt aber die Feinheiten des Originalausdrucks zu wenig. Es geht um einen Anfang im Sinne von „in Angriff nehmen“, ähnlich verstanden wie beim Kampfsport. Das Wort „Einsatz“, wie es in der Musik verwendet wird, scheint mir dieses Gefühl zu vermitteln. Damit die Spitze ihre Funktion übernehmen kann, muss der Kalligraph sie im Moment des Einsatzes biegen und sie dann in dieser Position halten. Dank der Elastizität der Haare, setzt die Spitze den Druck in Modulationen des Strichs um und richtet sich beim geringsten Nachlassen wieder auf. Der Kalligraph senkt seinen Pinsel senkrecht ab, macht beim Kontakt mit dem Papier eine schnelle und leichte laterale Bewegung, damit die Pinselspitze sich krümmt und antwortet. Der Vorgang ist einfach, erfordert aber Geschicklichkeit. Ist die Bewegung zu langsam, können sich die Pinselhaare unter dem Druck lösen und die Spitzigkeit einbüssen. Die Bewegung muss recht heftig sein, um den Pinsel schnell zu führen. Die alten Texte vergleichen dies mit dem Blitzeinschlag oder mit dem Falken, der sich auf seine Beute stürzt. Wenn der Kalligraph beim Blattkontakt lediglich eine leichte Rückzugsbewegung Richtung Südosten macht, bekommt er einen spitzen Anfang rohô 露鋒, „entblösste Klinge“, auch direkter Einsatz genannt. Im laufenden Stil und in der Grasschrift ist diese Art des Einsatzes wegen seiner Lebendigkeit geschätzt (Unten im Bild). Beim Kaisho zieht man es vor, die Spur des ersten Kontaktes von Pinsel und Papier zu tilgen. Man versucht, den kalligraphischen Effekt zu verstärken, indem man jeden erkennbaren Hinweis auf den Herstellungsvorgang beseitigt und will auch die Form des Strichanfangs variieren können, indem man von Fall zu Fall das Profil weicher, runder oder massiver gestaltet. Man praktiziert dann den Einsatz, den die Japaner sôhô 蔵鋒, „versteckte Klinge“ nennen. Wir nennen ihn „indirekten Einsatz“ (Oben im Bild). Damit keine sichtbare Spur des Blattkontaktes zurückbleibt, setzt man die Pinselspitze im Inneren auf, sprich an einem Ort, der nachher im Zeichen eingeschlossen und von Tinte überdeckt sein wird. Statt mit dem Pinsel gleich nach Südosten wegzufahren, zieht er zuerst in die gegenläufige Richtung mit einem kurzen Ruck nach Nordwesten, dann in einer brüsken Wendung Richtung Südosten bei gleichzeitiger Erhöhung des Drucks in kontrollierter Bewegung (siehe Bild weiter unten). Alex Angehrn, 9402 Mörschwil, Schweiz, www.sansui-angehrn.ch 2 Diese 2-stufige Vorgehensweise, die Entschlossenheit und Geschicklichkeit erfordert, führt zu einer Form ohne Spitze, ohne irgendwelche Ausfransungen oder Kleckse, abgerundet und in sich geschlossen. Die Kalligraphen nennen diese Technik gyakunyû 逆入 „in umgekehrter Richtung hineingehen“ und fassen dies in der Lebensweisheit „um rechts hinauszugehen, gehe zuerst nach links, um hinabzugehen steige zuerst nach oben“. Der indirekte Einsatz ist wesentlich, weil man dank ihm jegliche Spur seiner Arbeit aufheben kann und das kalligraphische Element den Eindruck macht, es sei mühelos entstanden. Mit dem indirekten Einsatz lässt sich das Profil des Elements variieren. Die 2-stufige Durchführung gemäss obigen Ausführungen erlaubt bereits 10 bis 20 unterschiedliche Arten von Anfängen, wie links gezeigt. Gleich mitziehender Eintritt. Die Form der Pinselhaare kann bei diesem Einsatz manchmal ändern. Etwas von links oben eintreten. Im Extremfall ein schwacher und weicher Einsatz. Im 45-Grad-Winkel eintreten. Ergibt einen eckigen, harten Einsatz. Eintritt in noch steilerem Winkel. Ergibt im Extremfall einen starken, viereckigen Einsatz. Direkter Fall gerade von oben, Fortsetzung in den Übergang unter Nutzung des Widerstands der Pinselspitze . Dieser Einsatz verströmt intensive Kraft. Eintritt wieder direkt von oben, aber Fortsetzung in den Übergang mit einer Drehung der Pinselspitze . Ergibt einen rundlichen Einsatz. Ein Eintritt von rechts oben. Die Pinselspitze geht in einer Schlaufe drehend in den Übergang. Im Beispiel oben wird der Druck während der Drehung aufrechterhalten, manchmal, wie im unteren Beispiel wird der Druck, wenn es in den Übergang geht, abgeschwächt. Eintritt von der Unterseite. Die Pinselspitze wird in einer Schlaufe gedreht. Die Richtung der Rundung ergibt eine ansteigende Fortsetzung in den Übergang. Literatur: Jean François Billetter „Essai sur l’art chinois de l’écriture“