Dankesrede von Dr. Hans-Peter Michel nach seiner Auszeichnung mit dem Menschrechtspreis 2015 der GBM Liebe Freunde, Thomas Mann lässt in seiner Erzählung »Der Tod in Venedig« den Schriftsteller Gustav von Aschenbach über die Verhältnisse reflektieren, unter denen dieser seine Bücher schreibt: »… denn die Kunst war ein Kampf, für welchen man heute nicht lange taugte. Ein Leben der Selbstüberwindung und des Trotzdem…«1 Das war geschrieben in der morbiden bürgerlichen Atmosphäre vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Projiziert auf die Gegenwart, wird man den Gedanken nicht los, dass diese Selbstüberwindung, dieses Trotzdem wieder aktuell ist. Wir sind erneut in morbide, gefahrvolle Verhältnisse geraten, in denen »die Verbindung von Bildung und Kunst zum Tode verurteilt ist, wenn sie ihre gesellschaftliche Funktion aufgibt« und »zum kurzen Event verkümmert«.2 Und ein Übel ist hinzugekommen: Wir sind gefordert, uns mit Lügen auseinanderzusetzen, auch über unsere Vergangenheit im Bereich der Künste. Noch einmal Thomas Mann: »Die Lüge ist unmännlich; sie ist die Waffe des Schwächlings, ziemlich oft des Gewalttätigen, nicht des starken Menschen.«3 Dem etwas Werte Bewahrendes entgegenzustellen, ist auch unsere Menschenrechtsorganisation angetreten. Die heutige Ehrung mit dem Menschenrechtspreis der GBM begreife ich als Zeichen der Achtung und Anerkennung der Bemühungen vieler. Und ich schließe sie alle in meinen Dank ein. Wenn ich zuerst meine Frau Maria nenne, mit der ich seit 57 Jahren verheiratet bin, meine ich nicht nur die treue, aufopferungsvolle Lebensgefährtin, ohne die ich nicht das geworden wäre, was ich heute bin, sondern auch die im Kulturbereich und als Autorin aktiv Tätige, die sich mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen einbringt und andere mitreißt. Mein Dank gilt dem vormaligen Freundeskreis Willi Sitte, den Autoren und Gestaltern des ICARUS; er gilt allen Künstlern, die in unserer Galerie bisher ausstellten, und jenen Malern, Graphikern, Bildhauern, Gebrauchsgrafikern, Karikaturisten, Kunsthandwerkern, Schriftstellern, Theaterleuten und Wissenschaftlern, mit denen ich zu einem großen Teil seit mehr als 40 Jahren freundschaftlich verbunden war und bin. Mein Dank gilt meinen Freunden in der GBM, vor allem dem Arbeitskreis Kultur. Dabei denke ich auch an jene, die – wie Horst Kolodziej, Klaus Pfützner und Klaus Georg Przyklenk – nicht mehr unter uns sind; an jene, die aus Krankheits- oder Altergründen nicht mehr so aktiv sein können, wie sie gern möchten; und an jene beiden engagierten Frauen, die nach einem vermeidbaren Konflikt nicht mehr Mitglieder der GBM sind, aber dem Arbeitskreis die Treue halten. Dem immer wieder neugierigen, wissbegierigen, klugen, selbstbewussten Publikum unserer Vernissagen und Lesungen ist ebenso zu danken wie dem Kunstarchiv Beeskow und meinen Partnern in der »jungen Welt«, der »UZ«, den »Marxistischen Blättern«, im Verlag Wiljo Heinen und denen in der GBM, die unsere »akzente« und die Schriftenreihe für Kultur gestalten. Ohne diese Partner wäre es um die öffentliche Wirksamkeit unserer Arbeit schlecht bestellt. Im Jahr 2015 erinnern wir nicht nur an den 60. Todestag Thomas Manns. Auch der 10. Jahrestag der Wiedereinweihung der Dresdener Frauenkirche wurde vor wenigen Wochen gefeiert, sehr pompös, indem sich die politische Prominenz wieder selbst beklatschte. Ein Jahr nach der Eröffnung dieses Bauwerks hatte ich unter dem Titel »Nachdenken in einem beseitigten Denkmal« einen Text geschrieben, mit dem ich mich nun bei Heidrun Hegewald für die Laudatio in aller Bewunderung für ihr künstlerisches Werk bedanken möchte: Aufgeführt wird Hans Werner Henzes 9. Sinfonie am 13. Februar 2006 zum Gedenken an das Dresdner Inferno – in großer Orchesterbesetzung, ergänzt durch zahlreiche Schlag- und Geräuschinstrumente, Chor und Orgel. Dieses Requiem nimmt Motive von Anna Seghers’ Roman »Das siebte Kreuz« auf. Der Komponist ließ sich ergreifen vom Schicksal der sieben KZHäftlinge, denen zunächst der Ausbruch gelang, die gehetzt, gejagt, gefangen, zu Tode gefoltert wurden und von denen nur einer überlebte. »Mein Stück handelt nicht von Bombennächten und Krieg«, sagte der Komponist in einem Interview, »aber doch von den Seelenzuständen der 1 Verfolgten, von den Ängsten und dem Schrecken eines Terrorregimes, von Tod und Verzweiflung und schließlich von Freiheit und Offenheit.«4 Ein solches Werk in der glanzvoll wiederaufgebauten spätbarocken Frauenkirche? Die Bänke sind gefüllt. Vor dem ersten Ton wandern die Blicke über Vergoldungen und Farbenspiele, erfassen den Raum, werden durch Architekturformen und Lichtführung nach oben gesaugt, verlieren sich in prachtvollen Details, erkennen irritiert denkmalpflegerische Konzessionen. Bewunderung für die archäologische Rekonstruktion, für eine ingenieurtechnische Meisterleistung mischt sich mit Unbehagen über das Verschwinden der Ruine dieser Kirche, eines der ergreifendsten Mahnmale gegen Faschismus und Krieg, über diesen Ort, an dem aus einem Menetekel ein Trugbild, eine vielfältig vermarktete »Ikone des Konsumismus« wurde. »Die bildlichste … Verkörperung des Grauens – aus dem Auge, aus dem Sinn, als wäre nichts geschehen.«5 Wenn der neue Sandstein seine Patina angesetzt haben wird, werden auch die in der Fassade verbauten brandgeschwärzten Alt-Steine ihre mahnende Funktion verlieren. In Coventry blieb die von Hitlers Luftwaffe zerstörte Kathedrale Saint Michael als Friedenszeichen erhalten; neben der Ruine entstand eine moderne neue Kirche. Hier in Dresden ist der Wiederaufbau ein Statussymbol. Der Trompetensolist und Dirigent Ludwig Güttler, den ich bei einem peinlichen Kniefall vor Kurt Hager während der letzten Tage der DDR-Kultur in Moskau im Oktober 1989 noch erlebt hatte, der sich in der »Wende« als Widerstandskämpfer gegen DDR-Unrecht profilierte, erblickte in einem Interview mit der an Nadelstreifenneonazis gerichteten Wochenschrift »Junge Freiheit« in dieser Rekonstruktion »eine Rückkehr der Deutschen zu ihrem nationalen Sein«; ohne sie hätte es in Deutschland eine »Fortdauer unseres Verwundetseins« gegeben und die Deutschen wären »im Schatten und Fluch« ihrer Vergangenheit verhaftet geblieben. Nun haben wir das also hinter uns und legen beruhigt das Vergangene ab. Lehren aus der Geschichte können wir getrost vergessen. Mahnung ist nicht mehr nötig. Hans Werner Henzes rebellische Musik bricht los, hoch wirbelnd zum Chaos der Angst, sinnlich, radikal, streng, mit einer solchen Stärke, dass uns und die meisten Zuhörer Erschütterung erfasst. Dröhnen und Schreien über dissonantem Klangteppich, Flüstern, Hektik, Atemlosigkeit, Hundegebell, animalischer Schrecken, schrilles Pfeifen, Schüsse, herauspeitschend aus bedrohlichem Ostinato, Kakophonien, eine Hölle für den Zorn, für den Stolz, für die Zärtlichkeit. Musikalische Dramatik voller Gegensätze und Farben, lyrisch verhalten und expressiv, Musik- und Wortsprache ineinander bindend, ins Gigantische gesteigert, schmerzhaft, panisch, in tausendfachen Brechungen anbrandend gegen das harmonische, visuell wohlklingende Mauerwerk, gegen vergoldete Oberflächen, gegen verunsicherte, blasiert blickende Lodenmantelträger, Ergriffenheit heuchelnde Gattinnen im Parkett und auf den Rängen, die Glockenkuppel bedrängend. Einzelne aus dem Publikum halten diesem Druck nicht stand und verlassen die Kirche. Das Mit-Leiden des Komponisten mit den Opfern der Hitler-Diktatur hat seine musikalische Gestalt gefunden. Die barocke Kulisse ist zu eng für diese Musik. Wenn die Orgel einfällt, sprengt sie nahezu den Raum. Ein größerer Widerspruch ist nicht denkbar: Musik und neugekünstelte Architektur wirken gegeneinander. Die Musik entspricht der Eindringlichkeit und Härte der literarischen Darstellung. Nichts wird verdunkelt oder verhüllt im Nebel »neuer« Musik. Henze erfasst auf extreme Weise die noch nicht vergangene Welt des Grauens und der Verfolgung. Seine 1997 uraufgeführte »Neunte« widmete er den Märtyrern des deutschen Antifaschismus. Ein neues Mahnmal ersetzt das verschwundene. Unter dem goldüberschütteten Gestein des Altars, versteckt hinter den Sängern des Chores: ein Nagelkreuz, das am 13. Februar 2005 in einem ökumenischen Gottesdienst an die Stiftung Frauenkirche übergeben wurde, unscheinbar, kaum wahrzunehmen im Formenschwulst, zusammengeschweißt aus Nägeln des Dachgebälks der zerstörten Kathedrale von Coventry, eine Form, die Bilder von Heidrun Hegewald ins Gedächtnis ruft: »Mutterverdienstkreuz in Holz«, »Anna selbdritt«, »Wir bringen das Kreuz«, »Luther«, »Die Mutter mit dem Kinde«, »Prometheus bemerkt das Spiel mit dem Feuer« und andere, in denen sie dieses Symbol auf unterschiedlichste Weise nutzt. 2 In das Erleben der Musik mischt sich die Erinnerung an eine Kohlezeichnung. Auch hier ein Kreuz als Hauptelement der Komposition, auch hier die Reduktion auf eine schlichte, das Wesentliche zeigende Form, aufsteigend als eine Vision, schlicht wie ein Zeichen, zugleich monumental wie das vielstimmige Dröhnen der Orgel. Es ist das letzte Blatt aus einer Reihe von Arbeiten zur Novelle »Esther«, die Bruno Apitz im KZ Buchenwald schrieb, die Geschichte einer Liebe, die Wärme und menschliche Würde suchte und sich im Todeslager nicht erfüllen durfte. Am Ende kann der Geliebte seine Esther nicht mehr tragen. Wie in Henzes Musik lebt Heidrun Hegewalds Realismus von Widersprüchen. Menschlichkeit steht gegen Vernichtung. Dem monolithisch, blockhaft erfassten Häftling fehlt die Kraft; die riesigen Hände hängen herab. Doch Esther schwebt vor seinem Körper, gehört noch im Tod zu ihm. Auch dieses Blatt ist ein Requiem - wie der gesamte, vierzehn Zeichnungen umfassende Zyklus. Wie eng diese Musik und diese bildende Kunst zusammen gehören, wird während des Zuhörens immer deutlicher. Auch Heidrun Hegewald schuf Werke zu Anna Seghers’ Œuvre, zu deren Roman »Überfahrt« - und zu anderen literarischen Arbeiten. Henze und die Malerin setzen in ihrer Kunst eine Tradition fort, zu der auch die Luigi Nonos zählt, der Chorwerke auf antifaschistische, sozialistische und revolutionäre Texte schuf. Denn Malerin und Komponist stellen Inhalte in den Mittelpunkt. Musik und Malerei sind mit ihren jeweils eigenen, doch innerlich verbundenen Mitteln emotionale Herausforderer. Sie haben die Macht, Gefühle zu wecken, die ganze Wahrheit spürbar, erlebbar zu machen, den schönen Schein zu entlarven, der über das Schreckliche so oft gelegt wird. Komponist und Malerin tragen ihre ganz eigenen Reaktionen auf Wirklichkeit nach außen. Sie malen und komponieren, wie sie fühlen; sie malen mit Farbklängen, in stufenreicher Harmonik oder in provokatorischen Dissonanzen; sie komponieren mit impressiven oder expressiven Formen; Musik ruft innere Bilder hervor; bildende Kunst erweckt Klänge in uns. Daraus entsteht ihre Wirkung. Beide schaffen einen Ausdruck, der auch Bekanntes, Vertrautes so verfremdet, dass man es auf neue Weise rezipieren kann. Beide vereint ein expressiver Grundduktus, eine extreme Gespanntheit, die den Betrachter, den Hörer anspringt. Beide sind davon überzeugt, dass – nach Brecht – die Kunst kein Schlaraffenland ist. Das geistig-emotionale Erleben der Musik Henzes gleicht den Empfindungen vor den Bildern der Malerin. Für beide trifft zu, was Helvétíus schrieb: »Leidenschaften … halten unsere Ideen in ständiger Gärung, befruchten in uns die Ideen, die bei kalten Seelen ebenso unfruchtbar wären wie der auf Stein gesäte Samen.«6 Die Malerin Susanne Kandt-Horn äußerte in einem Brief an Heidrun Hegewald: »… sozusagen schreiend oder mit tränenerstickter Stimme teilst Du dem Betrachter mit, was Dich empört, was Dich ängstigt, und versuchst, das Ungeheuerliche menschlichen Verhaltens so anzuprangern, dass es auch den Stumpfen berührt.«7 Henze malte neben seiner Kompositionsarbeit und arbeitete mit der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zusammen. Zu Heidrun Hegewalds Freunden gehören die Sängerin Gina Pietsch und der Schriftsteller Hermann Kant. Bildtitel weisen auf ihr tiefes Verhältnis zur Musik hin: »Der letzte Walzer«, »Tanz«, immer wieder das Tanzmeister-Thema als Gleichnis für Verführbarkeit, »Menuhin«, »Der Sänger«, »Die Macht der Musik und die falschen Töne« - das sind nur wenige Hinweise auf einen solchen – ständig politisch intendierten – Bezug. Für das neue Gewandhaus Leipzig malte sie 1981 »Die Tanzmeister, ein Bild über die falschen Töne«, das die Auftraggeber irritierte, weil es die hedonistische Funktion von Musik in keiner Weise bedient; bis heute hat es einen Platz, der das Betrachten schwer macht; es verbindet das überlieferte Motiv des Totentanzes mit Metaphern der Verführung zur Kriegsbegeisterung. Doch es gibt in ihrem Œuvre auch Bilder, die von Kompositionen angeregt sind, vor allem Landschaften, die die tiefe Emotionalität, die Liedhaftigkeit, die poetische Aussage, die Ausdruckskraft z.B. der Musik von Johannes Brahms in Formen und Farben umsetzen. So wird eine »Mecklenburgische Landschaft« zur Hommage an diesen Komponisten oder eine »Mondnacht in Wustrow« eine Erinnerung an ein Nocturne. Per aspera ad astra – das ist der Grundakkord solcher Bilder. Sie assoziieren oft einen Trauermarsch, fernab von freundlicher Erbauung. 3 Henze und Heidrun Hegewald gingen ihre Wege gegen Anfeindungen und Widerstände. Beide sind überzeugt, dass ihre Kunst ein soziales Gewissen haben muss, wenn sie bestehen und wirken will. Dass dies so ist und bleiben wird - mit dieser Sicherheit treten wir aus der Frauenkirche in das nächtliche Dresden. 1 In: Thomas Mann: Erzählungen, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1984, S. 243/244 Rüdiger Bernhardt: Erinnern an Thomas Manns Aktualität, in: Unsere Zeit vom 21. August 2015, S. 11 3 Thomas Mann: Thomas Masaryk, in: Zeit und Werk. Tagebücher, Reden und Schriften zum Zeitgeschehen, Berlin 1955, Gesammelte Werke, Zwölfter Band, S.770 4 Zitiert aus: Bernd Klempnow, Die Suche nach der Wahrheit hört nie auf, in: Sächsische Zeitung vom 13.2.2006 5 Manfred Sack, Architekturkritiker; zitiert aus: Marion Pietrzok, Die Kirche. Das Mahnmal. Das Wunder, in: Neues Deutschland vom 29./30.10.2005, S. 3 6 Claude-Adríen Helvétíus: Vom Geist, Berlin und Weimar 1976, S. 288 7 Angelika Haas u. Bernd Kuhnert (Hrsg.): Heidrun Hegewald – Zeichnungen. Malerei. Graphik. Texte, ARTEMISIA-PRESS 2004, S. 129 2 4