1 Antike Grundlagen europäischen Denkens im

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2 r Wurzeln europäischer Denkhaltungen
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Antike Grundlagen europäischen Denkens
im Überblick
Für das Selbstverständnis des heutigen Europas ist die griechisch-römische
Antike von großer Bedeutung. Vom Althistoriker Christian Meier stammt die
Aussage, die Antike sei „wirkungsmächtiger Teil der europäischen Geschichte
des Mittelalters und der Neuzeit gewesen“. Deshalb müsse man „Europa nicht
einfach ethnisch, von den Völkern, sondern von dem her […] verstehen, was
diese Völker so eigenartig durchdrungen, sie herausgefordert, was ihnen so ungeheure Spielräume eröffnet, was sie (wenigstens mehrere von ihnen) zum
Beispiel seit dem sechzehnten Jahrhundert dazu befähigt hat, die ganze Welt
teils in Besitz zu nehmen, teils in Bann zu schlagen“ (Christian Meier: Kultur,
um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfänge Europas? München:
Siedler 2009, S. 11). Es geht also nicht um eine umfassende europäische Identität, sondern eher um Elemente und Spielformen dessen, was rückblickend als
typisch „europäisch“ bezeichnet werden kann.
Griechenland und Rom haben die Moderne in unterschiedlicher Weise geprägt. Bis heute haben sich mehrere Stränge eines antiken Erbes herausgebildet,
das die europäische Idee gerade in Zeiten politischen Einheitsstrebens deutlich
befördert. Die Griechen haben durch intensives Hinterfragen des menschlichen
Daseins kritischem Denken und damit auch der Demokratie als politischer
Ordnungsform entscheidende Anstöße gegeben. Die Römer haben durch die
Zeus entführt in Gestalt eines Stiers die
phönikische Königstocher Europa (griechische Vasenmalerei, um 490 v. Chr.).
Antike Grundlagen europäischen Denkens im Überblick r 3
Bildung eines Weltreichs und die damit einhergehende Romanisierung wichtige Erkenntnisse in Recht, Verwaltung, Kult und Kultur zu verbindlichem Allgemeingut gemacht. Möglich wurde dies v. a. dadurch, dass das Römische Reich
viele Jahrhunderte lang weite Teile der Welt umspannte. Griechisches Denken
und lateinische Sprache gingen letztlich eine Synthese ein, die über die Antike
hinaus prägend wurde. Europa profitiert hiervon bis heute in hohem Maße.
1.1 Grundformen europäischen Denkens in der griechischen
Antike: Empirie, Rationalität und Diskurs
Vom Mythos zum Logos
Die Menschen haben bereits in der Antike nach dem Ursprung und dem
Selbstverständnis aller Existenz gefragt. Entsprechende Antworten, insbesondere im Bereich der Physik, der Ethik und der Logik, lieferte ihnen die
griechische Philosophie („Liebe zur Weisheit“). Bisher selbstverständliche
Wahrheiten wurden so schleichend erschüttert. Der Mythos, ein komplexes
Geflecht aus fantastischen Sagen von Göttern, Halbgöttern, Helden sowie dem
Schicksal ganzer Völker und Geschlechter, begann zu bröckeln; insbesondere
der Glaube an das wirkmächtige Eingreifen von Gottheiten in das Weltgeschehen wurde infrage gestellt.
Den Mythos ersetzte das neue, rationale („vernunftorientierte“) Bewusstsein,
mit dem der Mensch als logisch denkendes Wesen nun an Statur gewann.
So entstanden auch die Philosophie und die Naturwissenschaft sowie erste
Formen ethisch-moralischer Reflexion. Durch die immer systematischere
Hinterfragung von Phänomenen des Alltags weitete sich der geistige Horizont
der Menschen, der an Wahrheit und Vernunft (beides gr. „logos“) orientiert
war. Vor allem Philosophen aus der Zeit vor Sokrates (ca. 470 – 399 v. Chr.), die
sog. Vorsokratiker, traten in den neu gegründeten Städten an der kleinasiatischen Küste Ioniens (der heutigen Westtürkei) und im griechischen Einflussgebiet Unteritaliens und Siziliens auf. Hier kam es auch zu ersten Kontakten
mit dem jahrtausendealten Wissen des altorientalischen Kulturkreises.
Konfrontiert mit fremden Denkweisen, warfen die Philosophen auf ihrer
Suche nach dem Ursprung der Welt immer neue Fragen auf, die die Grundlage
für die weitere Entwicklung der Philosophie legten. Gemeinsam war ihnen die
Frage nach dem Urstoff (gr. „arché“) jeder Existenz. Thales aus Milet (ca.
624 – 546 v. Chr.) etwa identifizierte diesen als Wasser. Zudem erkannte er die
Kugelgestalt der Erde, beschäftigte sich mit den Planeten, bestimmte die Höhe
ägyptischer Pyramiden, suchte physikalische Erklärungen für Überschwem-
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